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Wandlungen im französischen Kommunismus? Der 22. Parteitag der Kommunistischen Partei Frankreichs | APuZ 17/1976 | bpb.de

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APuZ 17/1976 Artikel 1 Wandlungen im französischen Kommunismus? Der 22. Parteitag der Kommunistischen Partei Frankreichs „Historischer Kompromiß" oder Volksfront? Die Kommunistische Partei Italiens auf dem Wege zur Regierungsbeteiligung

Wandlungen im französischen Kommunismus? Der 22. Parteitag der Kommunistischen Partei Frankreichs

Klaus Burkhardt

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Zusammenfassung

Der 22. Parteitag der KPF hat allgemein starke Beachtung gefunden, weil er als spektakulärer Umschwung einer kommunistischen Partei gedeutet wurde. Die vorliegende Darstellung geht der Frage nach, inwieweit diese Einschätzung gerechtfertigt ist. Im Mittelpunkt der Diskussion steht dabei die Anerkennung des parlamentarisch-pluralistischen Systems als institutioneller Rahmen für das zukünftige Wirken der Partei. Daraus ergeben sich Differenzen zu den von Moskau ausgegebenen Richtlinien für kommunistische Parteien, die schon vor dem Parteitag zur öffentlichen Kritik der KPdSU führten. Die direkte und indirekte Kritik an der Vorherrschaft des Kremls wurde durch die Abschaffung des Bekenntnisses zur „Diktatur des Proletariats" besonders augenfällig. Sie erfolgte unter Berufung auf Marx und Lenin mit der Begründung, daß dieser Begriff nicht mehr zeitgemäß sei. Gegenüber allen bisher realisierten Sozialismusmodellen propagiert die KPF einen Sozialismus in den Farben Frankreichs auf der Grundlage einer Demokratisierung des gesamten öffentlichen Lebens. Dazu gehören die „bürgerlich" -demokratischen Freiheitsrechte ebenso wie eine durch Vergesellschaftung kapitalistischer Großunternehmen und durch Mitbestimmungsrechte der Arbeiterschaft zu gewährleistende Wirtschaftsdemokratie. Diese Ziele können nach Meinung der KPF nur in Zusammenarbeit mit den Sozialisten erreicht werden, was ein Festhalten an der Linksunion unumgänglich macht. Allerdings nimmt dabei die KPF die führende Rolle einer Avantgardepartei der Arbeiterklasse für sich in Anspruch. Die Propagierung bürgerlicher Moralpostulate ist einerseits auf die Gewinnung neuer Wählerschichten ausgerichtet, gewiß aber auch auf Bedürfnisse in Mitgliedschaft und Funktionärskader zurückzuführen. Obwohl die Fragen der innerparteilichen Demokratie und des proletarischen Internationalismus nach wie vor nicht emdeutig beantwortet wurden, muß von einem bemerkenswerten Wandel der KPF gesprochen werden. Die eindeutig bekundeten demokratisch-pluralistischen Tendenzen können nicht nur als taktische Manöver hingestellt werden. Mag auch der von der Parteiführung durchgesetzte Kurs Teile der Mitgliedschaft noch nicht erfaßt haben, so läßt sich doch voraussagen, daß seine Beibehaltung die Bewußtseinsbildung in der Partei in immer stärkerem Maße beeinflussen wird.

Die Entwicklung der KPF in der V. Republik bis zum 22. Parteitag Eine Bestandsaufnahme der Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF) zum Zeitpunkt des 22. Parteitages muß von zwei zentralen Aspekten in der Entwicklung der Partei ausgehen: erstens vom Verhältnis der KPF zur internationalen kommunistischen Bewegung und zweitens von ihrer Stellung im Parteien-system der V. Republik. Trotz zum Teil erheblicher Verzögerungen bei der Entstalinisierung der KPF hielt Moskau auch nach dem 20. Parteitag der KPdSU an der uneingeschränkten politischen und ideologischen Unterstützung der französischen Bruderpartei fest; dies um so mehr, als die Partei — angesichts der autonomistischen Bestrebungen der KPI — zum wichtigsten und größten Verbündeten im kapitalistischen Ausland geworden war. Darüber hinaus war es im Zeichen der beginnenden sowjetisch-chinesischen Auseinandersetzung sowohl innen-als auch außenpolitisch wichtig für die Sowjetunion, sich auf die Unterstützung der französischen Genossen verlassen zu können. Auf französischer Seite wurde dies garantiert durch die Person Maurice Thorez', der — ab 1930 uneingeschränkter Führer der Partei — Jahrzehnte hindurch keinen Zweifel an der Treue zur KPdSU aufkommen ließ. Die Reaktionen auf die sowjetische Intervention in Ungarn 1956 und die ambivalente Haltung in der CSSR-Krise 1968 schienen die Unverbrüchlichkeit der Freundschaft beider Parteien zu bestätigen. Die übereinstimmende Haltung mit der KPdSU in der Frage des Weltkommunismus wurde zusätzlich durch deckungsgleiche außenpolitische Zielvorstellungen — wie z. B. die Haltung zum militärischen und politischen Einfluß der USA in Europa — untermauert; dabei kam der KPF der Gleichklang mit der eigenwilligen Auffassung de Gaulles von der außenpolitischen Unabhängigkeit und der Größe Frankreichs auch innenpolitisch zugute. Und nicht zuletzt übernahm der zentralistische Internationalismus für die Führungsgruppen der Partei eine Schutzfunktion gegen zentrifugale Tendenzen und entsprach so den internen Notwendigkeiten.

Gerade aber die straffe innerparteiliche Organisation, die Dokumentation eines einheitlichen Parteiwillens und die Geschlossenheit ihrer Mitglieder ließen die KPF zu einer Ausnahmeerscheinung im französischen Vielparteiensystem werden. Hinzu kommt, daß die KP nicht nur die mitgliedermäßig größte und wirtschaftlich stärkste Parteiorganisation des Landes ist, sondern auch mit Hilfe der CGT große Teile der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft ansprechen kann. Dennoch gerieten die Kommunisten ins innenpolitische Abseits: neben der Benachteiligung durch das absolute Mehrheitswahlsystem mit zwei Wahlgängen und die Wahlkreiseinteilung trug dazu vor allem die Opposition gegen die Machtübernahme de Gaulles die diffuse Haltung in der Algerienfrage und die bündnis-politische Inflexibilität bei. Dies änderte sich mit dem Referendum zur Direktwahl des Staatspräsidenten 1962 und mit dem daraus resultierenden Übergewicht der Exekutive. Die nun beginnende Konzentration des Parteiensystems auf zwei heterogene Blöcke beendete die kommunistische Isolation und führte letztlich zur Festigung der Stellung der Partei innerhalb des Blockes der Linken.

Der programmatische Wandel Diese Polarisierung konnte aber nur dann genutzt werden, wenn es der KPF gelang, aus ihrer ideologischen Erstarrung — vor allem im Hinblick auf eine Zusammenarbeit mit den Sozialisten — auszubrechen. Die von Thorez in den ersten Jahren der V. Republik bevorzugte Aufrechterhaltung der monolithischen Autorität der Organisation über eine geringer werdende Mitgliederbasis hatte zu einer sterilen Opposition geführt, die nicht mit dem Angebot einer politischen Alternative gekoppelt war. Das mühsame Abrücken vom Stalinismus, tradierte Klassenkampfparolen und dogmatisches, moskautreues Verhalten prägten lange Zeit das Bild der Partei in der Öffentlichkeit. Doch noch unter der Führung von Thorez setzte ein strategischer Umschwung ein, der sich zunächst in dem Arrangement mit den Verfassungsrealitäten der V. Republik manifestierte. Unter Berufung auf ein Thorez-Interview mit der Times wurde ein für Frankreich spezifischer Übergang zum Sozialismus propagiert, der das sowjetische Vorbild als durchaus abwandelbar erklärte.

Obgleich die Partei bemüht war — und ist —, ihre programmatischen und ideologischen Änderungen durch Thorez-Zitate abzusichern, fanden die eigentlichen Innovationen erst unter Waldeck Röchet statt. Er stellte die Interessen der französischen Linken vor die des an Moskau sich ausrichtenden sozialistischen Lagers und nutzte die Chance zur Annäherung an die Sozialisten durch die Unterstützung Mitterrands bei den Präsidentschaftswahlen 1965. Im Frühjahr 1966 wurde dann mit Billigung des ZK eine Broschüre publiziert, in der sich die Partei für ein gemeinsames Programm der Linken, den friedlichen Übergang zum Sozialismus und eine Parteienpluralität aussprach

Ungeachtet der außen-und innenpolitischen Rückschläge des Jahres 1968 trat die Partei, deren staatstragende Funktion im Mai 1968 selbst von einigen Gaullisten anerkannt worden war, 1969 mit dem programmatischen Manifest von Champigny „für eine fortgeschrittene Demokratie — für ein sozialistisches Frankreich" an die Öffentlichkeit. Das Manifest bestätigte den friedlichen Weg zum Sozialismus, der „zugleich den Besonderheiten (und) den Traditionen Frankreichs Rechnung tragen müsse" Es deutete die heute von Marchals geforderte „Union des französischen Volkes" an, indem es für die sozialistische Umwandlung der Gesellschaft die Gewinnurig der Mehrheit des Volkes für unerläßlich erklärte. Und ferner wurde — als Vorstufe zum Sozialismus — die „fortgeschrittene Demokratie" definiert durch die Souveränität eines allgemein gewählten Parlamentes, die Garantie der Gedanken-und Meinungsfreiheit, der Versammlungs-und Koalitionsfreiheit, der Freiheit der Gewerkschaften und des Streikrechts sowie die Anerkennung der Glaubensfreiheit und der Religionsausübung. Ohne indes längerfristige Perspektiven aufzuweisen, bekräftigte Röchet diese Aussagen nochmals in seinem Buch „Die Zukunft der Kommunistischen Partei Frankreichs"

Hielt es schon Röchet für eine Notwendigkeit, sich auf dem Weg zum Sozialismus der Unterstützung der Sozialisten zu versichern, so wurden die bündnispolitischen Bemühungen unter seinem Nachfolger Georges Marchais intensiviert. Das ZK verabschiedete im Oktober 1971 ein „Programm für eine demokratische Regierung der Volksunion" das einerseits die bis dahin erfolgten Änderungen festschrieb, andererseits aber auch für die KPF der Ausgangspunkt für das gemeinsame Regierungsprogramm mit den Sozialisten war. Mit diesem Aktionsp ogramm, das zum Ziel hat, den Weg zum Sozialismus zu ebnen, akzeptierte die Partei nicht nur ihre Rolle innerhalb der französischen Demokratie, sondern dokumentierte gleichzeitig nach außen hin Diskussions-und Kompromißbereitschaft sowie Offenheit. Die offensichtliche Annäherung an das pluralistisch-parlamentarische System mit der Zielprojektion eines Sozialismus in den Farben Frankreichs fand ferner ihre Ergänzung und Vertiefung in Marchais’ „Demokratischer Herausforderung" wie auch in seinem Rechenschaftsbericht auf dem 21. Parteitag. Besondere Beachtung verdient dabei die ohne Einschränkung übernommene grundsätzliche Wertschätzung der Rechte und Freiheiten der bürgerlichen Demokratie.

Was man sich unter der politischen und ökonomischen Demokratie der Kommunisten, den Kernstücken des blau-weiß-roten Sozialismus, nun real vorzustellen habe, erklärte die Partei im Mai 1975 der Öffentlichkeit nochmals mit der „Deklaration, der Freiheiten" die nach ihrer Auffassung der französischen Verfassung vorangestellt werden soll. Obgleich ein Großteil der Aussagen schon, in der „demokratischen Herausforderung" publiziert worder war, kam auf dem Hintergrund der innersowjetischen Verhältnisse einigen Forderungen eine über die französische Situation hinausgehende Bedeutung zu: Foltermethoden, Internierung in Heilanstalten, Entzug der Staatsangehörigkeit sowie Identifizierung von Partei und Staat wurden grundsätzlich mißbilligt (Art. 3, 4, 17 und 76 der „Deklaration").

Der 22. Parteitag Signalisierte die „Deklaration der Freiheiten" die Eigenständigkeit der Partei, so wurden die autonomistischen Bemühungen im Vorfeld des Parteitages durch eine gemeinsame Erklärung der KPI und der KPF im November 1975 intensiviert wichtigster Punkt war dabei die Zurückweisung des politischen und ideologischen Führungsanspruches der KPdSU. Die französischen Genossen gingen — zum ersten Male in ihrer Geschichte — mit der direkten Kritik an Moskau sogar noch einen Schritt weiter: auf einen im französischen Fernsehen gezeigten Film über ein sowjetisches Straflager bei Riga reagierte das Politbüro prompt und unmißverständlich. Die ideologische Kluft schien sich weiter zu vergrößern, als Marchais im Januar im französischen Fernsehen erklärte, die „Diktatur des Proletariats" habe bei der Realisierung des Sozialismus in den Farben Frankreichs keine Bedeutung mehr

Dieser für die kommunistische Bewegung bis dahin wesentliche Begriff wurde in der Resolution des Politbüros für den Parteitag denn auch verabschiedet. Die Resolution, die eine Synthese aller Positionen und Analysen der letzten Jahre darstellt, die Mittelpunkt der Parteitagsdiskussionen war und schließlich einstimmig angenommen wurde, stand bezeichnenderweise unter dem Motto: „Was die Kommunisten für Frankreich wollen" Ihre zentralen Themen waren die demokratischen Freiheiten, die Abkehr von der „Diktatur des Proletariats", der Sozialismus ä la franaise und die Moral (s. dazu unten). Als sich die über 1 500 Delegierten vom 4. bis 8. Februar in Saint-Ouen zum Parteitag trafen, konnten sie schon auf eine intensive, z. T. heftig und kontrovers geführte Diskussion dieser Themen in den einzelnen Zellen, in der „Humanite" und in den theoretischen Schriften zurückblicken. Unter Wahrung des demokratischen Zentralismus setzte sich jedoch keiner der eingereichten Abänderungsanträge durch, wie auch sämtliche nicht geheimen Abstimmungen ohne Enthaltungen oder gar Gegenstimmen durchgeführt wurden

Stand der Parteitag auch ganz im Zeichen der ideologischen und politisch-praktischen Neuorientierung, so nahm daneben die Diskussion der . nationalen Frage'einen breiten Raum ein. In diesem Zusammenhang kritisierte Marchais vor allem den „neuen Atlantismus", der sich in allen Bereichen durchsetze Während die französische Eigenständigkeit auf industriell-technologischem und energiepolitischem Gebiet durch die USA gefährdet werde, sei es auf der kommerziellen, monetären, militärischen und politischen Ebene die Bundesrepublik, die nach Meinung des Generalsekretärs versuche, die Unabhängigkeit und Souveränität Frankreichs zu untergraben: „Dem deutschen Imperialismus .. . fehlt nur der freie Zugang zum Atompotential." Und weil zu befürchten sei, daß bei einer gesamteuropäischen Regelung der Atlantiker Giscard sich dem Atlantiker Schmidt und damit — zugunsten der Monopole — dem Wirtschaftsriesen Bundesrepublik Deutschland unterordne, sei die momentane französische Politik „ein nationaler Verzicht". Ähnlich argumentierte die ehemalige Abgeordnete und heutige ZK-Angehörige Vaillant-Couturier, die zudem nicht nur Franz Josef Strauß und die CDU des Revanchismus bezichtigte, sondern ebenso die Demokratiekonzeption der deutschen Sozialdemokratie sowie „deren Berufsverbote" angriff. Eine Alternative zur europäischen Frage stand indes nicht zur Debatte; zur Begründung der Absage an eine gemeinsame Außen-, Wirtschafts-und Verteidigungspolitik schien wie zu Zeiten der Okkupation und der Resistance der Hinweis auf die Stärke Deutschlands auszureichen. Eine — wie auch immer geartete — europäische Einigung müsse unvermeidlich eine bundesrepublikanische Dominanz nach sich ziehen; ohne Unabhängigkeit und nationale Souveränität aber gibt es laut Marchals keine Freiheit für Frankreich

Die soziale Zusammensetzung des Parteitages Zum 22. Parteitag stellte die KPF sich so stark wie nie zuvor in der V. Republik dar. 1522 Delegierte repräsentierten eine halbe Million Parteimitglieder, die in 8 072 Betriebszellen sowie 5 457 ländlichen und 9 649 lokalen Zellen organisiert sind. Zwar wird der Parteibeitritt von 93 873 Franzosen im Jahr 1975 auf Grund der hohen Mitgliederfluktuation relativiert, ein Anwachsen der Partei ist aber dennoch unverkennbar, überraschend ist dabei der hohe Anteil junger Parteigenossen (der offizielle Bericht spricht von einer Drei-Viertel-Mehrheit der 18-bis 35jährigen) und der der Frauen (über 30 0/0 gemäß der gleichen Quelle).

Man kann davon ausgehen, daß der Parteitag diese Konstellation widerspiegelte: So befanden sich unter den Delegierten 484 Frauen, das sind 31, 8 °/o; auf dem 19. Parteitag 1970 betrug der Anteil der Frauen nur 21, 7 °/o. Das Durchschnittsalter lag bei 32, 5 Jahren, wobei 48, 5 °/o der Delegierten unter 30 Jahren alt waren. 46, 5 0/0 wurden als Arbeiter eingestuft, 21 °/o als Angestellte. Schüler und Studenten spielten mit 2 °/o ebenso kaum eine Rolle wie die freien Berufe mit 1, 4 °/o und die Handwerker und Kaufleute mit 0, 9 °/o.

Die Delegierten aus den Betriebszellen waren in der Überzahl: Von ihnen arbeiteten 507 in Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten, doch stellten die Großunternehmen (mit mehr als 5 000 Beschäftigten) davon nur 72. Die Delegierten aus privaten Unternehmen waren mit 44, 6 °/o, die aus öffentlichen mit 24, 3 °/o und die aus nationalisierten mit knapp 10 °/o im Verhältnis zur Gesamtzahl vertreten. Hinzu kommt, daß die meisten gewerkschaftlich organisiert sind und nur 283 Delegierte keine Parteischule besucht haben. Aufschlußreich ist ferner ein Blick auf die Dauer der Parteizugehörigkeit. 77 der 1 522 Delegierten, von denen 148 ein öffentliches Amt bekleiden, traten der Partei in der Zeit von der Gründung (1920) bis 1944 bei, 184 in der Zeit von 1945— 1957, 328 von 1958— 1967, 475 von 1968— 1972 und 458 ab 1972.

Die KPF präsentierte sich also der Öffentlichkeit als eine junge, dynamische, in der ArbeiteTschaft verwurzelte Partei. Man befolgte die von der Parteiführung ausgegebene Losung, möglichst junge Mitglieder für den Parteitag zu delegieren, was in doppelter Hinsicht von Bedeutung ist: Einerseits konnte Marchais sicher sein, daß die jungen Delegierten, die sich ohne den ideologischen Ballast der Vergangenheit recht pragmatisch mit den französischen Realitäten des Jahres 1976 auseinandersetzen, seine Vorstellungen bereitwilliger aufnehmen würden als die älteren Mitglieder. Andererseits bieten die Jungen die Gewähr für die Umsetzung der neuen Linie in die tägliche Parteiarbeit. Beides garantierte sowohl die Absicherung des von Marchais eingeschlagenen Weges als auch eine Stärkung der Position des Generalsekretärs innerhalb der Partei.

Die demokratischen Freiheiten Der hohe Stellenwert, den die Partei den Freiheitsrechten beimißt entspringt dem Bemühen, republikanisch glaubwürdig und demokratisch zuverlässig zu erscheinen. Gleichzeitig ist es ein Versuch, mit der Parti Socialiste auf dem Gebiet der demokratischen Garantien zu konkurrieren. In der Resolution wird die Abschaffung der Ausbeutung als Voraussetzung aller Freiheit gesehen und in enger Anlehnung an die „Deklaration" vom Mai 1975 die Beibehaltung der demokratischen Errungenschaften sowie weitgehende Partizipation gefordert.

In seinem Rechenschaftsbericht betonte Marchais die Einheit von Freiheit, Demokratie und Sozialismus, die nur im „täglichen revolutionären Kampf der Arbeiterklasse" für eine umfassende ökonomische, soziale und politische Demokratisierung gewährleistet werden könne. Die einzige von Marchais als bürgerlich apostrophierte Freiheit wies er weit von sich: „Die Freiheit, die Arbeiter auszubeuten." Das kommunistische Ideal aber, das Marchais den Delegierten offerierte, kleidete er in die Worte Pablo Nerudas: „Ich will in einer Welt ohne Exkommunizierte leben. Ich werde niemanden exkommunizieren. Ich werde auch nicht morgen dem Priester von El Tabo sagen: Sie können niemanden taufen, weil Sie Antikommunist sind'. Ich werde auch nicht einem anderen sagen: , lch werde Ihr Gedicht, Ihr Werk nicht veröffentlichen, weil Sie Antikommunist sind'. Ich will in einer Welt leben, in der die Menschen nur mensch-lieh sind, ohne jeden anderen Titel als diesen, ohne sich eine Regel in den Kopf zu setzen, ein Wort, ein Etikett . . . Ich will, daß man niemanden mehr vor dem Bürgermeisteramt auflauert, um ihn festzunehmen, ihn auszuweisen . . . Ich will, daß die große Mehrheit, die einzige Mehrheit, daß alle reden, schreiben, lesen, hören und sich entfalten können."

Behandelt die Partei einerseits die Verteidigung der Freiheiten als eine prinzipielle Frage, so kann diese andererseits zugleich als wichtiger Faktor in bezug auf das Verhältnis KPF — KPdSU gelten. Noch am Vorabend des Parteitages warf der KPF-Sekretär Paul Lau-ren im Rundfunk der Sowjetunion vor, sie schränke die individuellen Freiheiten und besonders die freie Meinungsäußerung ein und auch Marchais stellte Divergenzen mit der Bruderpartei fest: das kommunistische Ideal, dessen Ziel das Glück der Menschen sei, werde durch ungerechte und ungerechtfertigte Handlungen befleckt. Diese Handlungen seien keineswegs eine obligatorische Folge des Sozialismus, fügte er hinzu. ZK-Mitglied Henri Malberg wurde noch deutlicher: Falsche Ideen müsse man mit richtigen Ideen bekämpfen, ohne sich irgendwelcher Repressionsmittel zu bedienen. Geschehe aber letzteres in irgendeinem sozialistischen Land, so füge das auch den französischen Kommunisten Schaden zu.

Die Diktatur des Proletariats Noch auf dem 17. Parteitag 1964 hatte Marchais erklärt: „Das Konzept der Diktatur des Proletariats in Frage zu stellen, würde bedeuten, auf den Boden der bürgerlichen Demokratie abzugleiten" Das entsprach damals durchaus der allgemein üblichen, offiziellen Auffassung des . sozialistischen Lagers In der Resolution für den 22. Parteitag fehlte nun erstmals dieser marxistisch-leninistische Begriff. Er wurde ersetzt durch die Aussage, daß es „nur die repräsentative politische Gewalt des arbeitenden Volkes gestattet, die radikalen ökonomischen und sozialen Umwandlungen zu verwirklichen" Die Begründung dafür lieferte Marchais in seinem Rechenschaftsbericht: Da die KPF zur Durchsetzung ihrer Politik die Zustimmung der großen Mehrheit der Bevölkerung, wie sie durch freie Meinungsäußerung in allgemeinen Wahlen zum Ausdruck komme, für unumgänglich halte, entspreche dieser Begriff nicht mehr den Realitäten. Im übrigen — so der Generalsekretär — erinnere die „Diktatur" automatisch an faschistische Regime, an die Verneinung der Demokratie. Das Proletariat stelle zwar nach wie vor den bedeutenden Kern der Arbeiterklasse dar, repräsentiere aber nicht deren Gesamtheit. Eben diese sei aber die Legitimationsbasis der angestrebten sozialistischen Macht.

Obgleich sich ein — wenn auch geringer — Teil der Parteimitglieder in der Diskussion vor dem Parteitag für eine Beibehaltung der „Diktatur" aussprach folgten alle Redner in St. -Ouen der Argumentation Marchais', daß das Konzept der Diktatur des Proletariats nicht mehr den heutigen sozialen Strukturen Frankreichs entspreche und folglich das, was veraltet sei, abgeschafft werden müsse. Die Schwierigkeit schien indessen die zu sein, die Abschaffung des Begriffes mit den von Marx, Engels und Lenin erarbeiteten Grundsätzen des wissenschaftlichen Sozialismus zu rechtfertigen, an denen die KPF — ungeachtet anderslautender Interpretationen — festzuhalten bemüht ist. Folglich wurde die Änderung damit begründet, daß weder der historische noch der dialektische Materialismus ein bindendes Schema für die soziale Revolution vorschreibe. Man könne ferner — so wurde argumentiert — keine konkrete Klassenanalyse treffen, wenn man sich dabei auf Texte beziehe, die aus anderen, unterschiedlichen Situationen hervorgegangen seien. Lenin selbst habe sich gegen das Eintrocknen von Gedanken sowie gegen die Entwicklung zum Kommunismus unter Beseitigung der Mannigfaltigkeit und der Aufhebung der nationalen Unterschiede gewehrt Historisch gesehen, erkannte man die Notwendigkeit der Diktatur an, da — wie z. B. 1917 in Rußland — die zahlenmäßige Minorität des Proletariats das Interesse der großen Mehrheit wahrnahm und darüber hinaus die Errungenschaften der Revolution zu verteidigen hatte. Diese Voraussetzungen seien jedoch im Jahre 1976 in Frankreich nicht gegeben — und nicht zu erwarten. Die KP sei seit 1920 zu einer starken, selbstbewußten Partei geworden, deren Strategie die „Diktatur des Proletariats" nicht mehr entspreche: „Das Kind ist dermaßen gewachsen, daß es die Kleider wechseln muß" Das geschehe — nach Ansart — um so leichter, als die „Diktatur des Proletariats" auch ein Problem des Vokabulars darstelle, die KPF jedoch keinen „Wortfetischismus" betreibe. Darüber hinaus sei die Streichung dieses Begriffes geradezu eine originäre Bereicherung des Marxismus-Leninismus, denn sie erfolge auf dessen Grundprinzipien und schließe die marxistische Interpretation der konkreten politischen Situation mit ein.

Besteht die Partei einerseits darauf, daß es sich bei dieser Frage nicht nur um eine formale Modifikation handelt und der Marxismus keine Sammlung von Dogmen ist, so muß sie sich andererseits — ihrem Selbstverständnis nach — gegen den Vorwurf des Revisionismus schützen. Darum heißt es unter Berufung auf den marxistisch-leninistischen Standpunkt, daß die Notwendigkeit, den Klassenkampf voranzutreiben, unverändert bestehe, wobei der Arbeiterklasse die führende Rolle bei der Transformation der Gesellschaft zufalle. Da aber die KPF — objektiv gesehen — die einzige Organisation der Arbeiterklasse sei, müsse sie folglich auch weiterhin die Rolle der Avantgarde übernehmen. Doch gelten nun Schutz und Ausbreitung der demokratischen Errungenschaften als das permanente Ziel, das unter Einbeziehung und Mitarbeit anderer, gleichgestellter sozialer Schichten erreicht werden soll.

Ob die Partei mit ihrer Loslösung vom Dogmatismus vorwiegend innenpolitische Überlegungen in ihr Kalkül einbezog, sei vorläufig dahingestellt. Sicher ist, daß in einer zentralistisch gegliederten Parteiorganisation ideologische Schwenkungen nur unter großem Substanzverlust revidiert werden können. Indem die KPF nun mit der Diktatur des Proletariats einen zentralen analytischen Begriff aufgibt, der nicht nur affektiv besetzt ist, sind die daraus resultierenden Konsequenzen unter Einbeziehung der Eigendynamik daher längerfristig anzusetzen. Im übrigen steht diese Frage in engem Zusammenhang mit den oben skizzierten Freiheiten. Die leninistische Diktatur des Proletariats ist nun einmal nicht vereinbar mit den postulierten und garantierten bürgerlichen Freiheiten, die nach Auffassung der KPF auch die Freiheit des Anders-denkenden mit einbeziehen. Damit ist die Partei nicht dem „Luxemburgismus" verfallen; es handelt sich vielmehr um einen Teilaspekt des eigenen Sozialismus in den Farben der Trikolore.

Der Sozialismus in den Farben Frankreichs Angesichts ihrer historischen Entwicklung mußte es sich die KPF lange Zeit gefallen lassen, daß ihre Sozialismusvorstellung am Vorbild der sozialistischen Länder — insbesondere der UdSSR — gemessen wurde. Das Bekenntnis zu den demokratischen Freiheiten und die damit verbundene Kritik an Moskau wie auch die Absage an den Bürgerkrieg und an die zu errichtende Diktatur bedeuten jedoch einen weitgehenden Bruch mit der bisherigen Linie. In der Resolution und im Bericht Marchais findet sich zudem eine konkretere Antwort auf die Frage nach dem französischen Sozialismus:

Die KPF wendet sich gegen die Übernahme eines schon realisierten Sozialismusmodells; sie akzeptiert lediglich generelle Regeln und universelle Prinzipien des Sozialismus, wie z. B. das Gemeineigentum an Produktionsmitteln, die zentrale Planung, die Demokratisierung des gesamten nationalen Lebens, die Macht der Arbeiterschaft und den führenden Einfluß einer Avantgardepartei, die sich vom wissenschaftlichen Sozialismus leiten läßt. Im wirtschaftlichen Bereich fordert die Partei deshalb die Nationalisierung aller großen Unternehmen, einschließlich des Handels-und Dienstleistungsgewerbes. Der ökonomisch weniger relevante Sektor des „kleinen Eigentums" bei Handwerk, Handel und Kleinindustrie sowie die landwirtschaftlichen Familienbetriebe bleiben davon ebenso ausgenommen wie auch alle persönlichen Konsum-und Gebrauchsgüter. Die durchgängige Eigentumsform soll weniger die nationale als — unter dem Vorzeichen der Dezentralisierung — vielmehr die kooperative städtische, departementale und regionale Form sein; damit hofft man die Partizipation aller Beteiligten an ökonomischen und sozialen Entscheidungen zu erleichtern. Vor allem aber soll die Orientierung an den Bedürfnissen der Bevölkerung gewährleistet werden durch freiwillige Kooperation auf der Basis des Wettbewerbs. Dadurch erst würden die Vertretung aller Interessen garantiert und das Eigentum und die Unabhängigkeit jedes einzelnen respektiert. „Eine Uniformität . . ., einen Kasernenkommunismus wollen wir nicht."

Dem Staat fällt die Aufgabe zu, das soziale und ökonomische Leben nach den Interessen der Bevölkerung anzuregen und zu regeln, wobei autoritäre Vormundschaft ebenso ausgeschlossen wird wie Bürokratismus. Der sozialistische Staat soll bemüht sein, die persönlichen Interessen und das allgemeine Interesse in Einklang zu bringen. Dazu bedarf es nach Ansicht der französischen Kommunisten in allen Bereichen der Zustimmung in Form von allgemeinen Wahlen nach dem Verhältniswahlrecht. Auch der Opposition soll die Möglichkeit der vollen politischen Entfaltung dauerhaft belassen werden. Dies setzt jedoch voraus, daß „keine Partei den Staat dominieren, noch sich mit ihm identifizieren" darf. Es bedeutet ferner eine nicht nur parlamentarische Zusammenarbeit mit anderen gleichberechtigten demokratischen Parteien auf der Basis gleicher Rechte und Pflichten für jeden Partner. Auch im sozialistischen System soll also im politischen, ökonomischen und kulturellen Bereich Pluralität herrschen. Die Errichtung dieses Systems wiederum kann nur das Werk der Majorität sein — unter der Voraussetzung der Überein-stimmung von politischer und arithmetischer Mehrheit.

Da Mehrheiten sich ändern können, respektiert die KPF ausdrücklich den Willen des Volkes — auch in der Frage des Regierungswechsels. Indem die Partei sich darüber hinaus gegen Unterdrückung, Totalitarismus und , pouvoir personnel wendet und die parlamentarisch-demokratischen Gepflogenheiten respektieren will, grenzt sie sich deutlich nach „links" ab. Die Vorstellungen kleiner aktiver Gruppen werden entschieden zurückgewiesen, die mit „Gewalt die Massen beugen und zur Revolution mitreißen" wollen, da es sich hierbei um den Weg in die Isolation, des Abenteuers und der Niederlage handele. Marchais drückt das folgendermaßen positiv aus: „Wir wollen eine auf Majorität basierende Volksbewegung, die sich demokratisch durch Kampf und das Mittel der allgemeinen Wahl artikuliert." Mit anderen Worten: „Sozialismus, das ist Demokratie jusqu’au bout'."

In einem Land wie Frankreich, in dem, gemessen an vergleichbaren Industrienationen, ein großes Potential an sozialer Unzufriedenheit vorhanden ist und in dem ein hochgradiger Zentralismus den Gegensatz Provinz—Paris in allen Bereichen des öffentlichen Lebens zunehmend verschärft, kann eine solche politische und wirtschaftliche Alternative auf fruchtbaren Boden fallen. Dem steht jedoch gegenüber, daß das von der KPF vorgeschlagene Modell in vielen Punkten vage und ohne genauere Spezifikationen bleibt: Soll z. B. die freiwillige Kooperation auf der Grundlage des freien Wettbewerbs institutionalisiert werden, und wenn ja, wie will man dabei Bürokratisierung vermeiden? Wer definiert das allgemeine Interesse und die Bedürfnisse der Bevölkerung? Wie verhält es sich mit der Abwägung privater und öffentlicher Güter bei der Nationalisierung, und welche Rolle spielt dabei die , Sachkompetenz'von Gewerkschaften und Parteien? Sicher, das von den Kommunisten vorgelegte Konzept kann in dieser Form kein detailliertes Programm sein; dennoch wird die Partei auf konkrete Verfahrensfragen konkrete Antworten geben müssen, zumal sie das weitaus exakter gefaßte gemeinsame Regierungsprogramm mit den Sozialisten aus dem Jahre 1972 nur als Ausgangsposition für die Errichtung eines französischen Sozialismus sieht.

Besonders im Hinblick auf diese Linksunion ist es von Interesse, daß die KPF den Anspruch erhebt, die Rolle der Avantgarde mit führendem Einfluß zu spielen. Daß sie sich dabei als . revolutionär'bezeichnet, kann insofern übergangen werden, als es sich allem Anschein nach hier um ein verbales Relikt handelt, das nur die Funktion der innerparteilichen Integrationsideologie erfüllt. Folgt man der Resolution, so ist die Partei deshalb revolutionär, weil sie den Kapitalismus durch den Sozialismus ersetzen will, wobei Revolution nicht als Synonym für Gewalt gebraucht wird. Was aber den führenden Einfluß der „Avantgarde" betrifft, so ist zumindest Skepsis angebracht. Zwar versicherte Marchais, daß der Führungsanspruch der KPF keinem Monopol entspreche und daß die Partei eine Identifizierung mit dem Staatsapparat ablehne. Wenn dies tatsächlich der Fall wäre, müßte die KPF sich als demokratische Partei verstehen, die sich von anderen Parteien nur noch im ideologischen Bereich unterscheidet. Dann aber müßte sie auch — als Vorwegnahme der sozialistischen Demokratie — unter Verzicht auf den demokratischen Zentralismus alter Prägung demokratische Perspektiven in der eigenen Organisation eröffnen. Die Rolle der Avantgarde dürfte demnach eigentlich nur als moralischer Anspruch verstanden werden. Dasselbe gilt für den führenden Einfluß, den die Partei aus der Tatsache ableitet, daß sie die konsequenteste Verteidigerin der Interessen der Arbeiterschaft sei. Sie habe besonders in den Betrieben als Massenpartei die beste Verbindung zur Arbeiterklasse und stehe ihr mit politischem Scharfblick, Aufopferung und Entschlossenheit im alltäglichen Kampf zur Seite. Gegen diese Selbsteinschätzung kann man allerdings einwenden, daß die Partei Mitterands — von anderen Voraussetzungen ausgehend — mit gutem Recht zum gleichen Ergebnis gelangen könnte.

Die KPF hält aber eben nicht aus ideologischen Gründen an der Rolle der Avantgarde fest, sondern vor allem deshalb, um damit innerhalb der Linksunion einen Machtanspruch ableiten zu können. Obgleich die Parti Socialiste (PS) in St. -Ouen weitgehend von verbalen Angriffen verschont blieb, kam die Kontroverse zwischen beiden Parteien durch die kommunistische Konzeption der „Union des französischen Volkes" zum Ausdruck, die der sozialistischen „Klassenfront" gegenübergestellt wurde. Die „Union", die für die KPF eine essentielle Komponente ihrer Politik darstellt, ist nach den Worten Marchais'weder eine „Rumpelkammer noch ein Sammelbecken der Unzufriedenen" sondern vielmehr eine Union all derer, die sich an der Seite der Arbeiterklasse — als dem Kern der Bewegung — auf der Basis des gemeinsamen Programms der Linksunion gegen den Kapitalismus zur Wehr setzen wollen. Damit meldet die KPF von vornherein ihren Führungsanspruch an. Dem setzen die Sozialisten ihre „Klassenfront" entgegen, die sie für das geeignete Mittel halten, die Aktivierung aller sozialen Schichten gleichermaßen und ohne Präjudizierung eines Machtanspruches zu gewährleisten, während sie in der „Union" die Gefahr des „Wiederauflebens der alten Taktik der nationalen Front" sehen. Der Unterschied zwischen „Klassenfront" und „Union des französischen Volkes" liegt demnach weniger in der politischen Zielsetzung; es handelt sich vielmehr um die angestrebte Stellung der KPF und um ihr Verhältnis zur PS innerhalb des gemeinsamen Bündnisses.

Die zum Teil pathetisch verteidigte „Union des französischen Volkes" ließ dennoch keinen Zweifel an der 1972 begründeten Links-union aufkommen, die nach wie vor zum festen Bestandteil der nationalen KP-Politik zu zählen scheint. Die Gefahr, daß die reformistische PS ohne das kommunistische , Korrektiv'innerhalb der Linksunion zur „Praxis der Klassenkollaboration" zurückkehren könnte, mag die KP bestärken, an ihrer Strategie festzuhalten. Letztlich bietet nur die Zusammenarbeit mit den Sozialisten der KP die Gewähr, die politische Isolation endgültig hinter sich zu lassen. Da aber die Linksunion auf dem freien Wettbewerb beider Partner aufgebaut ist, kann man zukünftigen Auseinandersetzungen mit Interesse entgegensehen.

Die Frage der Moral Bemerkenswerterweise ist unter den Mitgliedern der Partei keine Frage so heftig diskutiert worden wie die der Moral Dies wird verständlicher auf dem Flintergrund der allgemeinen Diskussion, die sich während der letzten beiden Jahre in Frankreich um die Probleme der Pornographie, der Prostitution und der öffentlichen Moral drehte. In der Resolution wurde darauf hingewiesen, daß das gleichzeitige Zusammentreffen von moralischer Krise und Krise der kapitalistischen Gesellschaft die „Fäulnis des Systems" und die „Dekadenz der Welt“ manifestiere.

Im Gegensatz zu den konkreten Auseinandersetzungen innerhalb der einzelnen Zellen kam die Diskussion auf dem Parteitag nicht über allgemeine Stellungnahmen hinaus. So betrachtete Marchais in seinem Bericht den moralischen Aspekt mehr als ideologischen Bestandteil denn als Sittenvorschrift. Darin wurde er teilweise vom Politbüromitglied Kanapa unterstützt, der feststellte, daß die KPF eine politische Partei sei und nicht alle Probleme eines Individuums der politischen Zu-ständigkeit unterlägen Gleichwohl nahm er für die KPF in Anspruch, sich gegenwärtig und zukünftig um alle Bereiche des nationalen Lebens, inklusive der moralischen Dimension, zu kümmern. Dies ist — nach Kanapa — nicht möglich, ohne das moralische Erbe Frankreichs zu bejahen und aufzunehmen, was an anderer Stelle die ideologische Untermauerung darin fand, daß es idealistisch und undialektisch sei, mit den traditionellen Werten zu brechen Dabei wurde unterschlagen, daß die herkömmliche Moral in vielen praktischen Fragen dem im Wege steht, was in sozialer Hinsicht wünschenswert wäre. Die so für problemlos erklärte Aufrechterhaltung der moralischen Kontinuität aber ist anscheinend nur mit Hilfe einer Partei möglich, die — wie die KP — solche Attribute für sich reklamiert wie: Respekt vor der menschlichen Persönlichkeit, Gerechtigkeit, Edelmut, Güte, Sauberkeit, Ehrlichkeit, Brüderlichkeit und Sittsamkeit Und im Gegensatz zu den kleinbürgerlichen Anarchisten ist es — so die offizielle Version — ein Teil der kommunistischen Verantwortlichkeit gegenüber der Nation, wenn man sich über die „moralische Gesundheit der französischen Gesellschaft" Sorgen macht. Die moralisch gesunde Gesellschaft aber kennt nach den Aussagen der Partei keine Pornographie und keine Skandale, sondern z. B. eine „harmonische Familie" sowie eine Entfaltung der Persönlichkeit, die nicht auf die „Möglichkeit reduziert ist, irgendwas, irgendwo, irgendwie zu machen".

Entspricht die Beschäftigung mit der Moral nun dem Bemühen, die Ablehnung des Dogmatismus in allen Bereichen ernst zu nehmen, um „im Geiste unserer Zeit die Bedeutung des Marxismus für . . . die Moral .. . neu (zu) durchdenken?" Wohl kaum. Denn erstens ist die ideologische Eigenständigkeit der KPF — noch — nicht weit genug fortgeschritten, und zweitens sind die Adressaten solcher Überlegungen leicht auszumachen: Katholiken wie bürgerlicher Mittelstand sind für moralische Postulate empfänglich, besonders wenn diese eigenen Tugendvorstellungen zu entsprechen scheinen. Dem hohen Stellenwert, den die Frage der Moral vor und während des Parteitages einnahm, scheinen also vor allem taktische Überlegungen zugrunde zu liegen; die KP begibt sich damit — im Unterschied zu den Sozialisten — auf ein Feld, das sie offenbar für fruchtbar hält. Ob es der Partei jedoch gelingt, die eigenen Mitglieder und die von der Partei angesprochenen Bevölkerungskreise von der Vereinbarkeit moralischer Forderungen und individueller Freiheiten zu überzeugen, wird sich in Zukunft erweisen. Nicht umsonst hat die katholische Kirche heute noch Mühe, mit einigen der bürgerlichen Freiheiten ihren Frieden zu schließen.

Schlußbetrachtung Obgleich der 22. Parteitag von Marchais als außergewöhnliches Ereignis bezeichnet wurde, gelang es der Partei nicht, die Öffentlichkeit nachhaltig davon zu überzeugen, daß sie einen Wandel von historischem Rang vollzogen habe. Dafür ging die Schwenkung auf allen Ebenen zu schnell und zu reibungslos vonstatten. Für den Beobachter glich sie eher einer Verordnung von oben als einer von der Überzeugung einer breiten Parteimehrheit getragenen Notwendigkeit. Dies ist einer der Gründe, weswegen dem neuen Kurs das Odium der Unglaubwürdigkeit noch anhaftet. Ein anderer Grund ist im innenpolitischen Erfolgszwang der Partei zu sehen, demzufolge der Wandel nur allzugut in das wahltaktische Kalkül eines ehrgeizigen „Parteimanagements" paßt. Das Ziel, den Vormarsch der PS aufzuhalten und die linken Massen ins Lager der eigenen Partei zurückzuführen kann nur dann voll realisiert werden, wenn die KPF auch für neue soziale Wählerschichten attraktiv und wählbar erscheint.

Eben dies versuchte die KPF durch die Betonung der demokratischen Freiheiten und durch die Akzeptierung des parlamentarisch-pluralistischen Systems unter Beweis zu stellen. Die Abkehr von der „Diktatur des Proletariats" nimmt dabei einen zentralen Platz ein. Zu dem Versuch, Reizschwellen durch ein radikaldemokratisches Image abzubauen, kommt ferner ein Phänomen, das mit dem französischen Nationalcharakter zusammen-zuhängen scheint. Auch eine kommunistische Partei muß sich in Frankreich offenbar stärker als in anderen Staaten an den nationalen Traditionen orientieren, wenn sie als Massen-partei auf Dauer erfolgreich sein will. Neben dem Bekenntnis zur Demokratie ist es vor allem die nationalistische Komponente, die im französischen Volksbewußtsein eine tragende Rolle spielt. Mit dem 22. Parteitag schwenkte die KPF voll auf diese Tradition ein. Gerade unter dem Zwang, die nationale Reputierlichkeit nachzuweisen, konnte man schon in der Vergangenheit eine Diskrepanz von Ideologie und Praxis erkennen. So war die Partei in der Zeit der Volksfrontregierung, in der Nachkriegszeit 1944— 1947 und im Mai 1968 durchaus bereit, tagespolitischen und nationalen Belangen den Vorrang vor ihrer eigenen Ideologie zu geben.

Da die KPF im öffentlichen Leben Frankreichs nun eine demokratisch organisierte und legitimierte Mehrheit fordert, muß sie sich die Frage gefallen lassen, warum sie dieses Prinzip in ihrer eigenen Organisation ablehnt. Bisher zumindest ist von innerparteilicher Opposition und ihrer Duldung nicht viel zu spüren; doch ist es fraglich, ob bei starken innerparteilichen Kontroversen die Integrationsklammer des Marxismus-Leninismus noch ausreicht, die Parteieinheit zu wahren. Einstweilen blieb die Emanzipation vom Dogmatismus auf die Parteieliten beschränkt, und das nachdrückliche Festhalten am demokratischen Zentralismus, auf dem Parteitag erneut bekräftigt, bietet einigen Anlaß zur Skepsis.

Skepsis erscheint ebenfalls angebracht, wo es um das Problem des proletarischen Internationalismus geht. Zwar versteht die Partei ihn nicht mehr als kritiklose Anerkennung und Unterstützung der Sowjetunion, doch konnte sie sich bisher auch noch nicht eindeutig für einen Polyzentrismus in der kommunistischen Weltbewegung entscheiden. Daß ein Internationalismus, der sich nicht am Kreml-Kurs orientiert, leicht als „Antisowjetismus" verketzert werden kann, dokumentierte der Leiter der sowjetischen Parteitagsdelegation, das Politbüromitglied Kirilenko. Nicht etwa der Verzicht auf die Diktatur des Proletariats, sondern die Angriffe auf die Verletzung der Menschenrechte in der UdSSR stellten für ihn eine Abart des Antisowjetismus und damit die eigentliche „Todsünde'1 der KPF dar Dabei hatte Marchais in seiner Rede ausdrücklich den „Antisowjetismus" als Verbrechen an den Interessen der Arbeiterklasse und der Völker verurteilt. Die Politik der KPF macht jedoch deutlich, daß sie den nationalen Erfolg eindeutig vor die spezifischen Interessen des Kremls stellt, daß sie aus innenpolitischen Interessen alles daran setzt, die Hypothek der Moskauhörigkeit abzutragen Nur so ist es auch zu verstehen, daß die französischen Kommunisten auf der Welle eines jakobinisch geprägten Nationalismus in außenpolitischen Fragen selbst die Konkurrenz mit den Gaullisten nicht scheuen. In diesen Kontext ist auch der verbalradikale Vorwurf des Imperialismus gegenüber der Bundesrepublik Deutschland einzuordnen. Daß dabei die EG im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen steht, läßt tiefgreifende Differenzen mit der italienischen KP und mit den Sozialisten erwarten. Die politische Frage nun, ob es sich beim Wandel der KPF ausschließlich um ein taktisches Manöver handelt, muß sicherlich verneint werden. Taktische Elemente spielen bestimmt eine bedeutende Rolle, doch ginge es nur um Taktik, hätte die KPF wohl kaum so weitreichende Änderungen vorgenommen, da sie damit rechnen mußte, daß von diesen gewisse Sachzwänge ausgehen würden. Die Eigendynamik in Mitgliederschaft und Wähler-erwartung lassen einen Rückschritt nicht mehr zu. Ferner stellen die einem taktischen Manöver zugrunde liegenden Motivationen nicht unbedingt das erreichte Ergebnis in Frage. Schließlich zeigt sich die KPF, wie am Beispiel ihrer Auffassungen zur Moral — dort präsentierte sie sich geradezu als Systemstabilisator — und ihrer Wirtschaftskonzeption aufweisbar, ohnehin weit von revolutionärer Tradition entfernt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zur Haltung der KPF in der CSSR-Krise s. Heinz Timmermann, Zögernde Autonomisten. Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln 22/1970.

  2. Die KPF hatte sich als einzige etablierte Partei gegen die Investitur de Gaulles ausgesprochen und verlor dann auch bei den Legislativwahlen im November 1958 von 146 Sitzen 136.

  3. Abgedruckt in: Maurice Thorez, Oeuvres choisies en trois volumes, tome 2, S. 451 ff., Edition Sociales, 1966.

  4. Vgl. dazu: Annie Kriegel, The French Communist Party and the Fifth Republic, in: D. Blackmer /S. Tarrow, Communism in Italy and France, Princeton 1975, S. 75 ff.

  5. Waldeck Röchet, Le marxisme et les chemins de l'avenir, Ed. Sociales, 1966, S. 61 f. und 65 f.

  6. Das „Manifest du parti communiste frangais; pour une democratie avancee, pour une France so-

  7. Ebenda, S. 49 f.

  8. Waldeck Röchet, L’avenir du parti communiste franais, Grasset 1969.

  9. Changer de cap. Programme pour un gouvernement democratique d’union populaire, Ed. Sociales, 1971.

  10. Georges Marchais, Le defi democratique, Gras-set, 1973.

  11. Vivre libres, Projet de declaration des libertes soumis ä la discussion des Franais, Edition de „L'Humanite", 1975.

  12. Abgedruckt in: Cahiers du Communisme (CdC), 12/1975, S. 131 ff.

  13. Vgl. dazu Le Monde vom 9. 1. 1976.

  14. Document preparatoire au 22e congres du parti communiste francais; ce que veulent les communistes pour la France, -France Nouvelle, Nr. 1566, November 1975.

  15. Allein bei der geheimen Wahl des Zentralkomitees wurden 13 der vorgeschlagenen Kandidaten nicht einstimmig gewählt.

  16. Der Rechenschaftsbericht Marchais'wurde abgedruckt in: L’Humanite vom 5. 2. 1976.

  17. Vgl. L'Humanite vom 9. 2. 76.

  18. S. dazu auch das erst kürzlich erschienene Buch des ZK-Mitglieds Pierre Juquin, Liberte, Grasset, 1975.

  19. S. dazu auch: Pablo Neruda, Ich bekenne — ich habe gelebt. Memoiren, Darmstadt/Neuwied 1974, S. 306.

  20. Vgl. dazu Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 4. 2. 1976.

  21. Zit. nach Le Monde vom 4. 2. 1976.

  22. So ist im „Kleinen Politischen Wörterbuch", Berlin 1973, und bei G. Klaus/M. Buhr, Philosophisches Wörterbuch, Berlin 1972, zu lesen: „Die Diktatur des Proletariats ist von zentraler Bedeutung für den siegreichen Kampf der Arbeiterklasse. Sie ist die Voraussetzung für den Aufbau des Sozialismus und das entscheidende Kriterium für den revolutionären Charakter und die Wissenschaftlichkeit der Ideologie."

  23. Document preparatoire, a. a. O., S. 8.

  24. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 13. 2. 76 spricht von ca. 7 0/0; vgl. ferner: SZ vom 7. /8. 2. 76.

  25. So der Abgeordnete Gustave Ansart, Mitglied des ZK und des Politbüros in seiner Rede; s. dazu auch: W. I. Lenin, Der „linke Radikalismus", die Kinderkrankheit des Kommunismus, in: W. I. Lenin, Ausgewählte Werke, Bd. V, S. 546 f., Frankfurt 1971.

  26. So das ZK-Mitglied Francois Billoux in St. -Ouen.

  27. S. dazu Document preparatoire, a. a. O., S. 7 ff., und den Bericht Marchais'in: L'Humanite vom 5. 2. 1976.

  28. So Georges Marchais in seinem Rechenschaftsbericht, a. a. O.

  29. Document preparatoire, a. a. O., S. 8.

  30. Zit. nach Le Monde vom 10. 2. 1976.

  31. Document preparatoire, a. a. O., S. 8.

  32. Das gemeinsame Regierungsprogramm der Sozialisten und Kommunisten in Frankreich, hrsg. von Werner Goldschmidt, Köln 1972.

  33. S. dazu auch Claude Quin, Classes sociales et union du peuple de France, Ed. Sociales, 1976.

  34. Zit. nach Le Monde vom 6. 2. 1976.

  35. Ebenda.

  36. Vgl. dazu Le Monde vom 4. 2. 1976.

  37. Bericht der Antragskommission für den 22. Parteitag, vorgetragen von Jean Kanapa; obgleich es viele Abänderungsanträge zur „Moral" gab, wurde die Formulierung in der Resolution beibehalten.

  38. Vgl. Nicole Mayer-Fabbri, Quelle morale encrise?, in: CdC 12/1975, S. 62 ff.

  39. Diese Attribute wurden im Bericht Kanapas der KPF zugeschrieben.

  40. Roger Garaudy, Marxismus im 20. Jahrhundert, Reinbek 1969, S. 65.

  41. Bereits im Sommer letzten Jahres war die Partei-spitze durch Umfragen alarmiert worden, als auf Grund der Situation in Portugal die Spannungen zwischen KP und PS zugenommen hatten und sich zuungunsten der Kommunisten auszuwirken begannen.

  42. Im Gegensatz zu früheren Parteitagen konnte der sowjetische Delegationschef nicht direkt zu den Delegierten sprechen, sondern mußte sich mit einer Rede auf einer von der KPF organisierten Veranstaltung in Nanterre begnügen; s. Le Monde vom 10. 2. 1976.

  43. In diesem Zusammenhang ist es ferner von Interesse, daß Marchais nicht am Parteitag der KPdSU teilnahm, sondern einen Vertreter entsandte.

Weitere Inhalte

Klaus Burkhardt, geb. 1947 in Neumünster; Studium der Politikwissenschaft und Geschichte in Mannheim; seit 1975 Assistent am Lehrstuhl für Politische Wissenschaft und Zeitgeschichte IV der Universität Mannheim. Veröffentlichung: Die Wählerinitiativen im Wahlkampf 1972, in: D. Just/L. Romain. (Hrsg.), Auf der Suche nach dem mündigen Wähler, Bonn 1974 (zusammen mit Heidrun Abromeit).