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Gemeinwohl und Minimalkonsens öffentliche und private Interessen in der Demokratie | APuZ 3/1978 | bpb.de

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APuZ 3/1978 Artikel 1 Grenzen politischer Toleranz in der offenen Gesellschaft. Zum Verfassungsgrundsatz der streitbaren Demokratie Der Streit um die „streitbare Demokratie".Zur Kontroverse um die Beschäftigung von Extremisten im öffentlichen Dienst Gemeinwohl und Minimalkonsens öffentliche und private Interessen in der Demokratie

Gemeinwohl und Minimalkonsens öffentliche und private Interessen in der Demokratie

Michael Stolleis

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Rede vom „Gemeinwohl" und den „öffentlichen Interessen“ — von Wissenschaftstheorie und Ideologiekritik längst als Leerformel erkannt und kritisiert — erfüllt praktische Funktionen: Sie wirbt um Loyalität und verschafft Legitimität, sie hat Integrationswirkung, sie vereinfacht und entlastet, sie kann eigene Interessen verhüllen und verleiht moralische Autorität. Die parlamentarische Demokratie der Gegenwart, die wegen des irreparablen Zerfalls religiöser und idealistischer Sozialmetaphysiken nicht mehr auf der Grundlage einer geschlossenen Gemeinwohlvorstellung regiert werden kann, braucht dennoch einen ethischen Minimalkonsens (Anerkennung von Abstimmungen, Minderheitenschutz, Gewaltverzicht), der im wesentlichen der Garantie der — jederzeit revisiblen — „Verfahren" dient. Das pluralistische Modell der Konkretisierung öffentlicher Interessen und ihrer Transformierung in einen rechtlich gesicherten Status weist strukturelle Defizite auf. Diese könnten, wenn nicht gerechtere Verfahren zugunsten von politisch machtlosen Minderheiten gefunden werden, zu einer Legitimationskrise des gesamten Systems führen. Der Entwicklung von Institutionen, die aus dem Verteilungskampf herausgenommen sind und über ausreichende Autorität verfügen (evtl. Stiftungen neuen Typs), wird hierbei große Bedeutung zukommen.

Auf eine im Frühsommer 1977 veröffentlichte Allensbacher Umfrage, ob es ein „Gemeinwohl", d. h. etwas, „was über die Einzelinteressen hinaus für alle gut und richtig ist", gebe, antworteten 44 Prozent der Bevölkerung über 16 Jahren in der Bundesrepublik mit Ja, während 42 Prozent meinten, auf den meisten Gebieten gebe es nur Interessengegensätze der verschiedenen Gruppen und Schichten. 14 Prozent der Befragten waren unentschieden. Bei näherer Betrachtung zeigte sich, daß der Glaube an ein transpersonales „bonum commune" bei FDP-Mitgliedern am stärksten, bei SPD-Mitgliedern am schwächsten verbreitet ist. Leitende Angestellte und Beamte sowie Freiberufliche bejahten mehrheitlich die Existenz eines „Gemeinwohls", während bei angelernten Arbeitern sich eine Mehrheit für das „Konfliktmodell" — wie man es nennen könnte — findet.

Was verbirgt sich hinter dieser Umfrage und was glaubten die Befragten zu antworten?

Uber welchen Gegenstand wird gesprochen, wenn die mit historischen Assoziationen überladenen Stichworte „Gemeinwohl", „Gemeinnutz", „Staatsräson" und „öffentliches Interesse" auftauchen?

Die Diskussion um diese Begriffe muß notwendig zu Grundsatzfragen der Sozial-und Rechtsphilosophie sowie des Staatsdenkens, insbesondere der Demokratietheorie, führen. Das „Gemeinwohl" und seine Synonyma bilden einen weiten und schwer faßbaren Topos der politischen Rhetorik, der gehobenen Alltagssprache und verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen, unter denen die alten „Staatswissenschaften" am intensivsten beteiligt sind. Daneben sehen sich alle historischen Wissenschaften und unter ihnen besonders die Verfassungs-und Ideengeschichte mit den Zeugnissen über theoretische und praktische Kämpfe um das „Gemeinwohl" konfrontiert.

I.

Beschäftigt man sich mit den Ergebnissen dieser Wissenschaften, so fällt auf, daß die Formel vom „Gemeinwohl", die so alt ist wie die Theoriebildung zu menschlichem Zusammenleben überhaupt, trotz aller — überzeugenden — Nachweise, es handle sich semantisch um eine „Leerformel", dennoch weiter für diskussionswürdig gehalten wird. Mit der Erklärung, es handle sich um eine „Leerformel", ist zwar eine klare wissenschaftstheoretische Aussage getroffen. Aber andere wissenschaftliche Disziplinen, die politische Öffentlichkeit und das Alltagsbewußtsein des Bürgers bleiben hiervon unberührt. Auf Historiker und Politologen, die sich nicht mit dem „Inhalt", sondern mit der „Funktion" solcher Begriffe beschäftigen, wirkt die Charakterisierung als „Leerformel" keineswegs abschreckend, im Gegenteil. Ebenso zeigen sich die Politiker aller Richtungen ganz unbeeindruckt vom wissenschaftstheoretischen Verdikt und haben keinen Zweifel an der „Gemeinnützigkeit" ihrer eigenen Absichten und Aktionen.

Die Formel vom „Gemeinwohl" zeigt also, trotz der wissenschaftstheoretischen Qualifizierung als „Leerformel" (H. Kelsen, T. D. Weldon, E. Topitsch, G. Degenkolbe, H. Albert, K. D. Opp), ungebrochene Vitalität. Sie wird offenbar „gebraucht“, sie erfüllt wesentliche Funktionen sowohl im Bereich der theoretischen und praktischen Politik als auch im Verfassungs-und Verwaltungsrecht. Sie wirbt um Loyalität und verschafft Legitimität, sie hat Integrationswirkung, sie vereinfacht und entlastet (Gehlen, Luhmann). Wer sie glaubwürdig für sich in Anspruch nehmen kann, hat in der politischen Auseinandersetzung eine günstige Position besetzt. Er kann Mit freundlicher Genehmigung der Wirtschaftspolitischen Gesellschaft von 1947 in Frankfurt wird dieser Beitrag als Vorabdruck veröffentlicht. Er erscheint Mitte Februar in der Zeitschrift „Offene Welt", Nr. 104. den Gegner als eigennützig abgualifizieren und kann Anhängerschaft sammeln, ohne seine eigenen Interessen offenbaren zu müssen. Die Aufwertung der eigenen Interessen durch ihre Eingliederung in das „Gemeinwohl" verschafft gutes Gewissen und Durchsetzungsenergie, ja sie erweist sich als der eigentliche Motor jeglicher Parteiarbeit.

Diese Stichworte zur praktischen Funktion der Verwendung solcher Formeln sollen hier nicht weiter ausgeführt werden. Ich möchte vielmehr versuchen, durch einige Bemerkungen zur Ideengeschichte deutlich zu machen, warum und wie es zu dem bisherigen Endpunkt „Gemeinwohl als Leerformel" in der Wissenschaftstheorie gekommen ist. Es sind dies Bemerkungen zur Geschichte einer zunehmenden Spezialisierung und Verwissenschaftlichung der Betrachtungsweise, eines (wie mir scheint) irreparablen Zerfalls von religiösen und später philosophischen Gesamt-deutungen der Welt.

II.

1. Aristoteles, Thomas von Aquin Die aristotelische Lehre vom Staatszweck ist über Thomas von Aquins Zentralbegriff des „bonum commune" zum Ideal des mittelalterlichen politischen Denkens geworden. Die protestantische Welt nach der Reformation ist hiervon in gleicher Weise geprägt wie die katholische; denn die großen „Politiken“ des 17. und 18. Jahrhunderts (Bodin, 1576; Lipsius, 1589; Althusius, 1603; Wolff 1721) sind trotz aller Modernität vom scholastischen Denken des Mittelalters erfüllt und gleichzeitig Früchte der Neubelebung des Aristoteles durch Melanchthon. Für die Fürstenspiegel des Mittelalters und für die Politiken und Staatslehren, die die Entstehung des modernen Staates begleiten, gilt ohne Unterschied das bonum commune als Leitbild des irdischen Gemeinwesens. Wenn auch die konkreten Inhalte wechselten, so schienen doch die religiös begründeten Ideale von Frieden, Gerechtigkeit, Beförderung des Glaubens und Erhaltung des Gemeinwesens selbst unveränderlich. Das bonum commune war nach Ansicht seiner Interpreten unabhängig von den gerade herrschenden Meinungen der Staatsbürger und sonstigen empirischen Daten, es war eine normative Qualität des Gemeinwesens und ein sinnvoller Begriff innerhalb eines metaphysischen Systems.

Diese Traditionslinie geht ununterbrochen von Thomas von Aquin über Christian Wolff bis zu den heute maßgebenden Handbüchern der katholischen Soziallehre. In letzteren heißt es, das Gemeinwohl sei „ontologisch und metaphysisch eine den Gesellschaftsgliedem die menschliche Vollexistenz ermöglichende Eigenwirklichkeit des gesellschaftlichen Ganzen als solchen" (J. Messner, Das Naturrecht, 193). Das heißt, das Gemeinwohl ist unverändertes Leitbild für Existenz und Entfaltung des Gemeinwesens. Dieses Leitbild wird normativ (empirieunabhängig) formuliert. Es ist nicht-demokratisch insofern, als es als „wahres Gemeinwohl" ganz unabhängig vom Willen der betroffenen Individuen festgestellt und verwirklicht wird. Da es, völlig im Einklang mit seiner religiösen Tradition, von außerweltlichen Normen abgeleitet ist, wäre es auch inkonsequent, Debatten oder Abstimmungen über seinen Inhalt zuzulassen. 2. Das Naturrecht Strukturell ähnlich, wenn auch inhaltlich oft davon abweichend, sind die Umschreibungen des Gemeinwohls auf dem Hintergrund einer vom religiösen Ausgangspunkt gelösten normativen Sozialphilosophie. Die Versuche hierzu beginnen mit der Ausbildung eines religiös neutralen Naturrechts im Zeitalter der Glaubenskriege. In ihnen wurde freilich nur der Herrschaftsanspruch der Theologie bestritten, nicht aber der metaphysische Ausgangspunkt, der weit über das Naturrecht hinausreicht, verlassen. Die großen Systematiker des Naturrechts (Grotius, Pufendorf, Wolff) gehen bei der Bestimmung des Gemeinwohls methodisch keine anderen Wege als die Scholastik und später die Vertreter der idealistischen Philosophie im 19. Jahrhundert. Ob Christian Wolff 1721 das bonum commune als Vollkommenheit des Gemeinwesens versteht, ob Hegel den Staat als Wirklichkeit der sittlichen Idee und seine Einheit als „absoluten unbewegten Selbstzweck" beschreibt (Rphil. §§ 257, 258), ob am Ende des 19. Jahrhunderts die „Vollkommenheit des menschlichen Lebens" (Seidler), die „Vervollkommnung der Volksanlage" (Kjellen), „Schaffung und Erhaltung der Volkseinheit . . . Mitarbeit an der Geschichte der Menschheit" (O. Mayer), die „Verwirklichung aller durch die Kulturentwicklung bedingten Ideen und Interessen" (Rosenthal), die „Schaffung einer reinen Gemeinschaft frei wollender Menschen" (Stammler), die „Freiheit" (Paulsen), das „Gute" (Spann) oder ähnliche Formeln verwendet werden — in jedem Fall ruhen die Bestimmungsversuche des Gemeinwohls auf idealistischen, genauer: metaphysischen Fundamenten. In jedem Fall werden aus einem platonischen Ideenreich mehr oder weniger schlüssige normative Folgerungen gezogen, die — gerade weil sie gegen wissenschaftliche Kritik abgedichtet sind — ihren Überzeugungszauber lange Zeit hindurch ausüben konnten.

Besonders eindrucksvolle und geschichtlich wirksame Umsetzungen derartiger Sozialmetaphysiken in unterdrückerische Herrschaftspraktiken sind im XX. Jahrhundert aufgetreten, zu einer Zeit also, als philosophiegeschichtlich der Zenit dieser Systeme längst überschritten war. a) Nachdem der Hegelianismus schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts zusammengebrochen war und er in der Staatslehre des ausgehenden 19. Jahrhunderts allenfalls noch untergründige Wirkungen entfaltete (L. v. Stein, O. Mayer), lebte er überraschenderweise nach 1919 als „Neo-Hegelianismus“ wieder auf. Er diente dabei als Vehikel, den erträumten autoritären Volksstaat gegen die schlechte Gegenwart der Weimarer Republik auszuspielen. Der Hegelianismus der zwanziger Jahre und die extreme politische Rechte waren eins (J. Binder), und so wurden die Hegelianer des Jahres 1933 mit einer gewissen Selbstverständlichkeit Nationalsozialisten (Binder, Larenz, E. R. Huber, Schönfeld, Dulckeit). Das von E. R. Huber geschriebene „Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches" (1939) applizierte denn auch mühelos die hegelsche Sittlichkeit auf Adolf Hitler und formulierte einen Begriff des wahren völkischen Gemeinwohls, den der Führer als Träger des höheren Wissens ohne (und notfalls gegen) das Volk durchzusetzen habe. b) Streckenweise — eben solange die Antikirchlichkeit des Nationalsozialismus noch nicht voll erkennbar war — waren sich Vertreter der katholischen Soziallehre mit ihrem metaphysischen antidemokratischen Gemeinwohlbegriff mit dem Nationalsozialismus einig. Aus zahlreichen Quellen läßt sich belegen, wie die Parole „Gemeinnutz vor Eigennutz" gerade in katholischen Kreisen als Erfüllung des thomistischen „bonum commune melius est quam bonum unius" gefeiert wurde. Der Naturrechtsscholastiker Johannes Messner, der als „einer der ideologischen Mentoren des christlich-autoritären Stände-staates in Österreich (1934— 1938) gelten darf" (Topitsch) — nach dem neuesten Verlagsprospekt des Freiburger Herder-Verlages als der „Altmeister der österreichischen Sozialwissenschaften" —, propagierte damals den autoritären Staat als Erfüllung thomistischer Prinzipien, und er war damals keineswegs allein. Es sei dies mit einem gewissen Nachdruck gesagt, weil die Zusammenhänge lange Zeit kaschiert wurden und noch werden. c) Der Ärger wird jedoch meist noch größer, wenn nachgewiesen wird, daß auch der zweite Schößling des deutschen Idealismus, Linkshegelianismus und Marxismus, strukturell den gleichen Denkschemata verhaftet ist. Der hegelsche Weltgeist wechselte nun vom dritten zum vierten Stand und nahm Wohnung beim Proletariat. Dem Proletariat wächst damit das Monopol des höheren dialektischen Denkens und damit ein Ausschließlichkeitsanspruch bei der Bestimmung des Gemeinwohls zu. Da es mit diesem Monopol offensichtlich noch nicht recht umzugehqn weiß, wird dieses im Herrschaftsmodell leninistisch-stalinistischer Prägung weiterverlagert auf eine Gruppe Auserwählter, in der das Wissen über das „wahre Wohl" der Menschheit kulminiert. Dort findet auch — in perfekter Abdichtung vom empirischen Willen der Bevölkerung — die Konkretisierung des Gemeinwohls statt. Das Gemeinwohl ist auf diese Weise wieder, wie im 17. Jahrhundert, „arcanum imperii". Es hat metaphysische Qualität und kann deshalb — dies ist der große herrschaftsideologische Vorteil — niemals durch den platten Nachweis desavouiert werden, die Bevölkerung habe, empirisch befragt, ganz andere Ansichten über ihr Glück und über das Gemeinwohl. 3. Der wissenschaftstheoretische Positivismus Sowohl der Nationalsozialismus als auch die sowjetische Staatsscholastik samt Anhang haben mit bezeichnender Einmütigkeit alle Ideologiekritik, soweit sie ihnen selbst gefährlich wurde, als „bürgerlich", „zersetzend", „platt positivistisch", „eindimensional" usw. verworfen. Sie versuchten damit auch alle jene Varianten der Gemeinwohlkonkretisierung zu treffen, die sich um eine Bestimmung des Gemeinwohls unter Berücksichtigung des tatsächlichen Willens der Betroffenen bemühten. Diese Varianten verband zunächst einmal nicht mehr, als daß sie die Fiktion eines soge-nannten „wahren Willens" des Volkes im Gegensatz zum empirisch wirklichen Willen als herrschaftsideologischen Trick durchschauten und anprangerten, daß sie weiter von der Überzeugung getragen waren, über letzte Werte wie das „Gemeinwohl" lasse sich wohl diskutieren und abstimmen, nicht aber wissenschaftlich stringent entscheiden, und schließlich, daß sie politisch demokratisch im Sinne westlicher Tradition waren.

Damit ist, im Gegensatz zu den bisher skizzierten und strukturell durchaus miteinander verwandten Typen der Gemeinwohlkonkretisierung, die dritte bedeutende Hauptströmung bezeichnet. Sie ist bestimmt von einem prinzipiellen Mißtrauen gegen die politische Ausbeutung von Metaphysiken und Heilslehren aller Art, sie hat ihre Ursprünge im wissenschaftstheoretischen Positivismus von Comp-te bis zum „Wiener Kreis", sie zählt Hume und Bentham zu ihren Erzvätern.

Die zahlreichen Verzweigungen dieser dritten Hauptströmung können hier nicht dargestellt werden. Es genügt wohl festzuhalten, welche Wirkungen die mit ihr verbundene philosophische Revolution — das Ende der Metaphysik — ausgelöst hat. Es ist offenbar, daß sowohl die magisch-religiöse als auch die metaphysisch-idealistische Weltdeutung heute keinen ausreichenden Konsens mehr finden. Man mag dies bildhaft ausdrücken, indem man sagt, diese Theoriegebäude seien „zerfallen", man mag quantifizierend sagen, an die Stelle von Einheitsweltanschauungen sei — wenigstens dort, wo praktische Entfaltungsfreiheit herrscht — ein Pluralismus von Weltanschauungen getreten. Das bedeutet, daß auch über den Inhalt des Gemeinwohls eine einheitliche normative Antwort aller Gesellschaftsmitglieder nicht mehr möglich ist. Da jede dieser konkurrierenden Weltanschauungen andere und sich gegenseitig ausschließende Zielvorstellungen über den letzten Zweck des Daseins und demgemäß auch über die Grundorientierung des mächtigsten irdischen Herrschaftsverbandes Staat entwickelt, ist mit dem Verlust der religiösen bzw. als Religionsersatz dienenden philosophischen Gesamtorientierung auch eine einheitliche, für alle verbindliche Gemeinwohlkonzeption unwiderruflich verlorengegangen.

Konsequenterweise wird deshalb das „Gemeinwohl" auch als beliebig auffüllbare Wort-hülse bezeichnet. Sofern es nur empirisch als beschreibende Abkürzung für eine Vielzahl gleichgerichteter Kollektivinteressen verwendet wird, gilt dies zwar nicht. Sobald „Gemeinwohl" aber als wertbezogene Formel für das materielle oder immaterielle Wohlergehen von Familie, Stamm, Volk, Staat oder Menschheit bzw. als Appell an alle, sich in bestimmter Weise „gemeinwohlorientiert" zu verhalten, verwendet wird, setzt die Ideologiekritik ein. Sie fragt danach, wer sich dieser Formel bedient, in wessen Interesse und warum insbesondere die Verhüllung der eigenen Interessen durch das ethisch positiv besetzte „Gemeinwohl" so viel attraktiver ist als die konkrete Benennung dieser Interessen. Angesichts dieser (sehr vereinfachten) Situation, die man je nach Einstellung als Ende der christlich-abendländischen Metaphysik beklagen oder als Sieg des Rationalismus über Magie, Mythos und Herrschaftsideologien feiern mag, stellt sich die Frage, wie im Staat, der offenbar ohne wertorientierte politische Entscheidungen nicht auskommt, trotz des religiös-philosophischen „Zusammenbruchs der Werte" regiert werden kann. Denn dort müssen permanent Prioritäten gesetzt, müssen Wünsche erfüllt oder versagt werden. Dazu bedarf es der Bewertung, d. h.der Orientierung an einer Wertskala. Da über diese Wert-skala aber sowohl im Grundsatz als auch — und gerade — im Detail Dissens besteht, bleibt nur der formale Ausgleich durch Verfahren.

III.

1. Geschlossene Gesellschaften Fragt man nach der Art und Weise der Gemeinwohlkonkretisierung im Staat, nach Verfahren und deren Legitimationswirkung, nach den „Inhalten“ des Gemeinwohls oder — wenn man bei deren Festlegung resigniert — nach den Personen und Mächten, die zu seiner Festlegung berechtigt sein sollen, so zeigt sich eine ganz ähnliche Entwicklungslinie wie die soeben skizzierte: In Zeiten und Gebieten mit „geschlossener Weltanschauung" sind sowohl die Inhalte des Gemeinwohls als auch die Instanzen, die seine Verkündung und Anwendung monopolisiert haben, von vornherein festgelegt. Jeder Versuch eines einzelnen oder einer Gruppe, eine Art „Privat-Gemeinwohl“ zu formulieren und durchzusetzen, wird in religiös bestimmten Zeiten als'Sünde, in säkularisierten Herrschaftsgebilden aber als Revolution gebrandmarkt und unterdrückt. Erfahrungsgemäß gelingt diese Unterdrückung nur, wenn die Führungsschicht an die eigene Gemeinwohl-Norm auch selbst glaubt. Dazu bedarf es funktionierender Mechanismen der Selbstideologisierung. Diese bestehen entweder in sakralen Traditionen und Ritualen oder — aktueller — in einem durch Charisma oder Terror zusammengeschweißten Parteiapparat, der am Gängelband einer fiktiven, unumstößlichen Wahrheit jeden Abweichler zur „Selbstkritik" zwingt oder ihn unschädlich macht. Selbst grundlegende Kursänderungen oder die revolutionäre Ersetzung der Führungsgruppe werden legitimiert durch den Nachweis der Übereinstimmung mit den jeweils geltenden „heiligen Texten" (Parteiprogramme, Schriften der „Klassiker", Verlautbarungen der „Führer" etc.). Wo die Verehrung des erleuchteten Führers und alleinigen Gemeinwohlinterpreten gottesdienstähnliche Züge annimmt — so zu beobachten etwa im Nationalsozialismus, im faschistischen Italien, in der Türkei unter Atatürk, zu Lebzeiten Stalins und Maos, im heutigen Albanien und Nordkorea —, verschwindet regelmäßig die reale Figur des Führers hinter seiner propagandistisch erzeugten Maske, aus deren Mund oft sybillinisehe Worte kommen, die dann dem Interpretationskampf der Machtgruppen anheimfallen. 2. Die Demokratie des Grundgesetzes Wenn derartige „geschlossene" Sozialordnungen durch den Zerfall ihrer ideologischen Grundlagen und durch die schwieriger werdende Beherrschung von sich emanzipieren-den Schichten durchlässiger und offener werden, dann zerfällt auch das einheitliche Idol eines Gemeinwohls. Es gerät, meist zum Schrecken seiner bisherigen privilegierten Interpreten, in die öffentliche Diskussion. Die Beteiligung von jedermann am Räsonnement über die letzten Ziele von Staat und Gesellschaft ist deshalb ein untrügliches Anzeichen dafür, daß eine Epoche geschlossener Wertvorstellungen zu Ende geht. Auf Instabilität deutete es hin, wenn, wie angeblich im 16. Jahrhundert in Italien, die Sackträger in den Markthallen über die „ragion di stato" diskutierten, und ein ähnliches Signal für den Abbruch einer Epoche mit geschlossenen Gemeinwohlvorstellungen ist die (von Kant so begeistert aufgenommene) Devise Friedrichs des Großen: „Räsonniert, aber gehorcht!"; denn freies Denken im unfreien Staat ist ein nicht lange erträglicher Widerspruch. Wenn vollends der Wertpluralismus faktisch allgemein anerkannt ist und die Verfassung ihn sogar normativ durch Gewährung von Glaubens-und Gewissensfreiheit, Meinungs-und Pressefreiheit, Versammlungs-, Vereinigungsund Parteigründungsfreiheit (Art. 4, 5, 8, 9, 21 I S. 2 GG) garantiert, dann lautet das Problem folgendermaßen: — Wie entsteht aus dem Chaos divergierender Einzelwillen ein Gemeinwille? — Welche sozialethischen Basissätze müssen akzeptiert sein, damit die Bündelung der Einzelwillen zum Gemeinwillen gelingt? — Wie läßt sich von einem „Gemeinwohl" sprechen, wenn die einzelnen — außer ihren natürlichen egoistischen Gegensätzen — auch noch uneins sind über das letzte Ziel und den Zweck des Gemeinwesens?

Die Demokratie antwortet hierauf formal. Sie verweist auf das Mehrheitsprinzip und (immer stärker) auf verschiedene Möglichkeiten der Entscheidungsteilhabe („Partizipation"). Die Bürger untereinander oder ihre Repräsentanten stimmen über eine Frage ab, bilden ad hoc den konkreten Gemeinwillen und schreiben ihn ggf. in einer länger wirkenden Norm fest. Das Ergebnis dieser Abstimmung muß zunächst einmal fiktiv als dem Gemeinwohl dienlich akzeptiert werden; denn in Ermangelung inhaltlicher Kriterien der Wahrheit muß die formale Qualität der Mehrheit entscheiden. Wird die Mehrheit morgen anderer Meinung, dann kann sie den heutigen Beschluß umstoßen und nunmehr das Gegenteil zum konkreten Gemeinwillen erheben. Was den fiktiven Gemeinwillen von den mehr oder weniger gebündelten Interessenäußerungen der großen Menge unterscheidet, ist also das politisch akzeptierte und rechtlich geordnete Verfahren der Abstimmung.

Damit überhaupt Abstimmungen stattfinden und die Transformation des Willens der vie41 len in den Gemeinwillen rechtlich wirksam vollzogen werden kann, müssen freilich Spielregeln (Basissätze) beachtet werden: Es muß geklärt sein, wer zur Abstimmung berechtigt sein soll, es muß akzeptiert sein, daß Mehrheit entscheiden, d. h. daß der Beschluß auch für die Unterlegenen bindend sein soll.

In diesen Spielregeln stecken politische Optionen: für Gewaltlosigkeit, für Regelhaftigkeit, für Diskurs. Ob darüber hinaus ein Konsens über „Grundwerte" vorhanden und nötig ist, wird derzeit heftig diskutiert (G. Gorschenek, 1977). Die Strafrechtsreform, der internationale Terrorismus, Energie-und Umweltschutzfragen bieten genügend Stoff.

Welche Position man auch in der „Grundwerte-Debatte" beziehen mag — sicher ist, daß in den Grundrechten und im Verfahren das Ethos des weltanschaulich neutralen demokratischen Staates materialisiert ist: der gegenseitige Respekt, die Fairneß bei der Austragung von Meinungsverschiedenheiten, die Anerkennung von Abstimmungen als rechtsverbindlichen Fiktionen des Gemeinwillens, der Schutz von Minderheiten und (nochmals) die Verwerfung von Gewalt.

IV.

1. Durchdringung von öffentlichen und privaten Interessen Untersucht man vor diesem modellartigen (normativen) Hintergrund die empirischen Interessen von Individuen, so zeigt sich, daß nur ein Teil dieser Interessen vom Staat wahrgenommen und verarbeitet wird. Den wohl größten Teil ihrer Interessen (i. S. v. objektiv vorhandenen „Wünschen") befriedigen die Individuen teils autonom, teils in Kooperation mit anderen, in Ehe, Familie, Betrieb, Verein, Verband, Gemeinde usw. Man hat sich dabei angewöhnt, die Interessen, die der einzelne allein oder in Kooperation mit anderen befriedigen kann, „Privatinteressen" zu nennen. Sie sind typischerweise kurzfristig.

Je größer nun die sozialen Einheiten sind, die der Interessenbündelung und -durchsetzung dienen, um so stärker widmen sie sich typischerweise mittel-und langfristigen Interessen. Ob sich die größte soziale Einheit, der Staat, dementsprechend wirklich der langfristigen Interessen annimmt, soll noch offen-bleiben. Jedenfalls wird deutlich, daß die Kategorisierung der Interessen nach der Zeitdimension („Lebensdauer der Interessen") die Unterscheidung von „Privatinteressen" und „öffentlichen Interessen" willkürlich erscheinen läßt. Aus der sozialwissenschaftlich-empirischen Perspektive wirkt diese Unterscheidung ebenso fiktiv wie die zugrunde liegende Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, von Privatleben und öffentlichem Leben. Denn es ist evident, daß der vermeintlich neutrale Staat durch „private" bzw. halb-„öffentliche" Gruppierungen ebenso gesteuert wird, wie umgekehrt der „Leistungsstaat" den ehemals „freien" gesellschaftlichen Raum besetzt. Sowohl der hilflos den Gruppen ausgelieferte Staat als auch der übermächtige große „Entmündiger", werden als Vision beschworen, manchmal sogar vom gleichen Autor. 2. Konsequenzen für den Staat Wenn das Faktum der Durchdringung von Staat und Gesellschaft, von öffentlich und privat, richtig ist — wie auch immer man es deuten mag —, so ergeben sich Konsequenzen für die Verarbeitung von Interessen im Staat und ihre Verdichtung zum „Gemeinwohl". a) Unhaltbar wird offenbar die einfache Zuweisung der Privatinteressen zu den Bürgern, des Gemeinwohls zum staatlichen Bereich i. e. S., also zur Bürokratie. Keineswegs betreffen alle Interessen des einzelnen nur seinen Privatbereich — der Mensch ist weder nur homo oeconomicus noch nur eigennützig — und keineswegs ist alles, was der Staat unternimmt, a priori gemeinwohlorientiert! b) Der Aufnahme bestimmter privater Interessen in den Bereich des Öffentlichen entspricht die Loslösung des „Öffentlichen" aus seiner Staatsbezogenheit. Dahinter stehen fundamentale Wertverschiebungen. Wenn das Private nicht mehr als der vom Staat zu unterjochende (und schon sprachlich diskriminierte) „Eigennutz" mit dem „neutralen" Gemeinwohl konfrontiert, sondern als legitimes Interesse respektiert und geschützt wird, entfernt sich notwendig auch der Schwerpunkt des Gemeinwohls von dem im traditionellen Sinn verstandenen „Staat“. Wichtige, insbesondere langfristige private Interessen wer-B den permanent in das öffentliche Interesse transformiert und erlangen dessen Qualität. Das bedeutet, daß die Legitimation einer Maßnahme allein durch Berufung auf das Gemeinwohl (öff. Interesse) nicht gelingen kann, weil dies einen stabilen Konsens über Abgrenzbarkeit von privat und öffentlich und über den Inhalt des Gemeinwohls voraussetzen würde. Genauer: Für sich genommen ist die Berufung auf die Formel „Gemeinwohl" sinn-und nutzlos, eben weil ihr Gegenbild, das „Privatinteresse", nicht automatisch rang-niedriger ist und weil eine breite „Mischzone" zwischen beiden besteht.

c) Es bedeutet aber andererseits, daß die Unterscheidung zwischen öffentlichen Interessen und anderen Interessen nur formal getroffen werden kann. Ein „Interesse" — gleichgültig, ob es durch Private, durch Interessengemeinschaften, Verbände, Kirchen, Stiftungen oder durch staatliche Instanzen selbst formuliert worden ist — erhält eine spezielle Rechtsqualität erst durch eine verbindliche Entscheidung staatlicher Organe. Der Staat hat zwar kein Monopol bei der Artikulation öffentlicher Interessen, wohl steht es ihm aber zu, den durch politische Entscheidung ausgewählten Interessen rechtlichen Vorrang zu verleihen. Dies unterscheidet den Staat von allen anderen Organisationen und Verbänden. Dies ist auch der sinnvolle und unaufgebbare Kernbestand der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, von Herrschaft und Macht. In diesem Sinne kommt dem Staat eine spezielle „Qualifikationskompetenz'' zu. 3. Faktische und normative Bindungen Daß der Staat hierbei nicht frei ist, braucht nicht eigens betont zu werden. Zwar könnten theoretisch alle Interessen in öffentliche transformiert werden. Aber so wenig wie in Wirklichkeit alle gegen alle kämpfen (Konfliktmodell) oder in „herrschaftsfreiem Diskurs" das Gemeinwohl „finden" können (Habermas), so wenig kann der Staat des Grundgesetzes Beliebiges mit dem Qualitätssiegel des Gemeinwohls versehen. Vielmehr bestehen zahlreiche faktische und normative Bindungen. Jede Opposition, die an die Macht gelangt, erfährt die Begrenztheit des Handlungsspielraums schmerzlich, und sie stößt darüber hinaus auf nicht ohne weiteres auflösbare normative Bindungen:

Es sind dies alle Sätze des geltenden Rechts, die eine Aussage über den Vorrang bestimmter Interessen enthalten, vor allem die Grundrechte und das Verfahrensrecht, das bestimmt, wer auf Entscheidungen wann und in welcher Intensität einwirken kann. 4. Defizite Die Dominanz von Verfahren, der Respekt vor der Mehrheitsentscheidung, die Tugenden der Fairneß und des Gewaltverzichts setzen ungefähr gleichstarke Partner voraus, die sich auf einer gemeinsamen „Ebene" miteinander messen können. a) Wer zu schwach ist, um sich überhaupt zu artikulieren, kann in dem scheinbar so idealen Pluralismus-Modell nicht mithalten. Wer keine Lobby hat und deshalb den gewählten Repräsentanten nicht ernsthaft unangenehm werden kann, wird bekanntlich beim Verteilungsprozeß der Güter und Chancen nur gnadenhalber berücksichtigt.

Diese alltägliche Beobachtung ließe sich mit Details zur Förderung der Interessen von Kindern, ausländischen Arbeitnehmern, alten Menschen, Geisteskranken, Nichtseßhaften und Obdachlosen belegen. Die sogenannten „Randgruppen" können (anders etwa als wohlhabende und sprachgewaltige „Bürgerinitiativen") den Konkurrenzkampf um die Definition der „öffentlichen Interessen" nicht wirksam beeinflussen. b) Eine parallele Beobachtung läßt sich an den langfristigen Interessen machen, den Interessen an unserer Zukunft und denen der noch ungeborenen Generationen. Auch sie werden im Zweifel vom robusten Egoismus der heute Lebenden verdrängt. Die bekannten Probleme der Zerstörung der Umwelt, der Erschöpfung der Energiereserven, des Nord-Süd-Gegensatzes der Welt, der Sicherung der Ernährung usw. beruhen hierauf. Welche Interessen die künftigen Generationen haben werden, vermag niemand genau zu sagen. Sicher ist nur, daß unser heutiges Verhalten den praktischen Handlungsspielraum unserer Enkel und Urenkel entscheidend beeinflussen wird.

Fragt man nun, wer in der Lage sei, diese „Interessen der Zukunft" schon heute gewissermaßen „treuhänderisch" zu erforschen und wahrzunehmen, so stellt sich Ratlosigkeit ein; denn weder die „Interessenverbände*, die ganz auf Durchsetzung aktueller Interessen angelegt sind ’), noch die Kirchen, die nur ganz bedingt und mehr formal „Interessenvertreter" sind, scheinen dazu fähig zu sein. Der Staatsapparat, in dessen Schoß man herkömmlich auch das Wohl und Interesse des Ungeborenen gelegt hat, erweist sich in der Demokratie als außerordentlich kurzatmig, weil seine Funktionäre sich alle vier Jahre die Macht erwerben müssen und deshalb begreiflicherweise vorziehen, die kurzfristigen Interessen der lebenden Wahlberechtigten zu befriedigen als in die Zukunft zu investieren.

Auch spricht leider alle bisherige Erfahrung dagegen, aus dem staatlichen Bereich langfristige Überlegungen zu den „öffentlichen Interessen" der Zukunft zu erwarten.

c) Seit längerem ist daher der Gedanke erörtert worden, ob nicht Institutionen geschaffen und Sondervermögen bereitgestellt werden könnten, die sich gerade um solche — von der Binnenstruktur der Demokratie typischerweise vernachlässigten — Interessen kümmern sollten. Diese Institutionen und Vermögen hätten den Vorteil, aus dem „demokratischen Verteilungskampf" herausgenommen und für Forschungsarbeit sowie Bewußtseinsveränderung der Öffentlichkeit freigestellt zu sein. Dies ist der Grundgedanke der Max-Planck-Institute, der Tätigkeit des Stifterverbandes der Deutschen Industrie sowie zahlreicher anderer Stiftungen. über die Mängel des gegenwärtigen Stiftungsrechts, die traditionelle Staatsbezogenheit des Gemeinwohlverständnisses und die Traditionalismen der steuerrechtlichen Förderungen von Stiftungen zu sprechen, gehört nicht mehr zu meinem Thema. Es ist aber unverkennbar, daß hier ein wesentliches praktisches Defizit bei der Konkretisierung der öffentlichen Interessen in der Demokratie liegt.

V.

1. Die Rede vom „Gemeinwohl" und den „öffentlichen Interessen", von Wissenschaftstheorie und Ideologiekritik längst als Leer-formel erkannt und kritisiert, erfüllt praktische Funktionen: Sie wirbt um Loyalität und verschafft Legitimität, sie hat Integrationswirkung, sie vereinfacht und entlastet, sie verhüllt eigene Interessen und verleiht moralische Autorität. 2. Die Kritik an einer naiven Verwendung des Gemeinwohl-Topos setzt den Zerfallsprozeß der großen metaphischen Gebäude der abendländischen Philosophie von Aristoteles und Thomas von Aquin bis zu Hegel und Marx voraus. Eine allgemeinverbindliche wertorientierte Sinndeutung der Welt existiert nicht mehr. 3. Obwohl der irreparable Zerfall religiöser und philosophischer Sozialmetaphysiken sich schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts abzeichnete, hat das 20. Jahrhundert besonders unterdrückerische Umsetzungen metaphysisch aufgeladener Gemeinwohlvorstellungen in politische Herrschaft erlebt (Faschismus, Stalinismus). Die Ideologen dieser Systeme haben einmütig den naturwissenschaftlich geschulten philosophischen Positivismus (M. Weber, Mannheim, Kelsen, Popper) als „zersetzend" bekämpft — von ihrem Standpunkt aus mit Recht.

4. Das Ende der Metaphysik und der Aufstieg der Demokratie steten in einem historischen Zusammenhang.

5. Die Konkretisierung d. „Gemeinwohls" oder der „öffentlichen In... ssen“ in der Demokratie kann — in Ermangelung einer verbindlichen (d. h. auch: potentiell unterdrückerischen) Ethik — im wesentlichen nur formal geschehen. Diskussion und Konsens, Mehrheitsentscheid über Sachfragen oder Verfahren, über Weiterdelegation der Entscheidungskompetenz, Rückbindung der repräsentativ getroffenen Mehrheitsentscheidung an den Volkswillen durch Partizipationsmöglichkeiten sind die hauptsächlich praktizierten Formen der Konkretisierung.

6. Verfahren bedürfen, um überhaupt zu funktionieren, und um „Unterdrückung durch Verfahren" zu verhindern, eines ethischen und (grund-) rechtlich abgesicherten Fundaments des gegenseitigen Respekts, der Fairneß bei der Austragung von Meinungsverschiedenheiten, der Anerkennung von Abstimmungen als rechtsverbindlichen Fiktionen des Gemeinwillens, des Minderheitenschutzes und der Verwerfung von Gewalt. Verfahren müssen außerdem jederzeit revisibel sein, wenn ihre Anwendung zu einer Bedrohung dieser Grundlage führt.

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7. Die in rechtlich geordneten Verfahren bestimmten Interessen oder Interessenbündeln vermittelte Qualifikation macht die Interessen von einzelnen, Gruppen, Verbänden oder Parteien zu „öffentlichen". Die Unterscheidung zwischen privaten und öffentlichen Interessen ist nicht mehr als eine formale Qualifikation, die in der Vielfalt kurz-, mittel-und langfristiger Interessen am ehesten langfristigen und verallgemeinerungsfähigen Interessen verliehen zu werden pflegt.

8. Mit steigender Dauerhaftigkeit und Verallgemeinerungsfähigkeit der Interessen korreliert regelmäßig die Größe des sozialen Verbandes, von dem die Befriedigung der Interessen erwartet wird, d. h. die kurzfristigen und im eigentlichen Sinn „privaten" Interessen werden meist autonom in Familie und engerem Lebenskreis befriedigt, die mittelfristigen Interessen werden typischerweise von mittelgroßen Verbänden sowohl befriedigt als auch „verwaltet" (Gewerkschaften, Parteien), während die langfristigen Interessen am ehesten dem Staat zugewiesen werden. Bei der Verarbeitung langfristiger Interessen durch den Staat ist allerdings zu beachten: 9. Das pluralistische Modell des Inputs von „gesellschaftlichen" Interessen und des Outputs von Leistungen und Entscheidungen im „öffentlichen" Interesse weist strukturelle Defizite auf, da es zwischen Input und Output bestimmte Interessen „ausfiltert". Je mehr diese Defizite als strukturelle erkannt werden, also nicht den Charakter von Betriebsunfällen haben, desto stärker wird das gesamte System in eine Legitimationskrise geraten.

Der Ausweg aus dieser Krise liegt allerdings nicht in der Zertrümmerung des Modells, sondern in der Verbesserung seiner Verfahren aufgrund von Folgediskussionen; denn die Rückkehr zur „geschlossenen Gesellschaft" und ihrem von oben nach unten — unter Ausschluß von Kritik — bestimmten Gemeinwohl ist keine Alternative. 10. „Ausgefiltert" in diesem Sinne werden Interessen, die sich in dem skizzierten Modell nicht oder nur schlecht durchsetzen können, sei es, daß sie zur Artikulation nicht oder noch nicht fähig sind, sei es, daß sie sich zwar artikulieren, aber nicht durchsetzen können. Es sind dies die Interessen von Nichtwahlberechtigten (Ausländer, Kinder, Geisteskranke), von schwer Organisierbaren (z. B. Konsumenten, Frauen, Freischaffende, Behinderte) sowie die Interessen der noch Ungeborenen.

Für sie müssen Organisationen geschaffen werden, die aufgrund ihres Konfliktpotentials oder aufgrund von wissenschaftlicher Autorität mit Aussicht auf Erfolg „treuhänderisch“

tätig werden könnten. Ob hierzu Stiftungen grundsätzlich geeignet sind und ob eine Neuorientierung des geltenden Stiftungsrechts dazu notwendig ist, bedarf noch der Klärung.

Literaturhinweise:

Forsthoif, Wer garantiert das Gemeinwohl?, in:

Rechtsstaat im Wandel, 2. Aufl. München 1976, 39— 49.

Gorschenek (Hg.), Grundwerte in Staat und Gesellschaft, München 1977.

Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, Frankfurt 1970.

Ders., Das Mehrheitsprinzip als Strukturelement der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, JZ 1977, 241 ff.

Isensee, Verfassungsgarantie ethischer Grundwerte und gesellschaftlicher Konsens, NJW 1977, 545 ff.

Kelsen, Aufsätze zur Ideologiekritik, Neuwied 1964.

Martens, Öffentlich als Rechtsbegriff, Frankfurt 1969 Stolleis, Staatsraison, Recht und Moral in philosophischen Texten des späten 18. Jahrhunderts, Meisenheim 1972. , Ders., Gemeinwohlformel im nationalsozialistischen Recht, Berlin 1974.

Ders., Gemeinwohl, in: Evangelisches Staatslexikon, 2. Aufl. Stuttgart 1975.

Ders., (Hg.), Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert, Frankfurt 1977.

Topitsch, Die Sozialphilosophie Hegels als Heilslehre und Herrschaftsideologie, Neuwied 1967.

Ders., Vom Ursprung und Ende der Metaphysik, Wien 1958.

Ders., Mythos, Philosophie, Politik, Zur Naturgeschichte der Illusion, Freiburg 1969.

Weldon, The Vocabulary of Politics, Harmondsworth (Engl) 1955.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Michael S toi leis, Dr. jur., geb. 1941; Studium der Rechtswissenschaft in Heidelberg, Würzburg und München; Professor für Öffentliches Recht an der Universität Frankfurt seit 1975. Veröffentlichungen u. a.: Staatsraison, Recht und Moral in philosophischen Texten des späten 18. Jahrhunderts, 1972; Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, 1974; Quellen zur Geschichte des Sozialrechts, 1976; Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert, 1977 (Hrsg.).