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Nirgendwo zu Hause. Eine Jugend in der DDR | APuZ 23/1978 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 23/1978 Artikel 1 Vorwort der Redaktion Nirgendwo zu Hause. Eine Jugend in der DDR Die verdrängte Wirklichkeit. DDR-Literatur unter Erich Honecker 1971— 1978 Zur Wirksamkeit der politischen Erziehung in der DDR Bibliographie zu den Ereignissen des 17. Juni 1953

Nirgendwo zu Hause. Eine Jugend in der DDR

Gerald K. Zschorsch

/ 29 Minuten zu lesen

Geboren wurde ich, als meine Mutter mich schon längst vergessen hatte.

Ich gehörte einer Generation ohne Geschichte an. Vom Zweiten Weltkrieg verschont und von der Hungersnot danach ausgespart, blieben uns nicht einmal negative Erinnerungen. Wir hatten nichts, woran wir uns hätten orientieren können. So fing das alles an.

Daß mein Geburtsort in der damaligen Sowjetischen Besatzungszone lag, war reiner Zufall. Die Amerikaner hatten das Stück Vogtland gegen ein Fleckchen Berlin eingetauscht. Mein Vater war durch die Nazis Invalide geworden und meine Mutter war auf der Suche nach einer Karriere.

Ich wuchs auf, ordentlich und einigermaßen wohl behütet. Meine Eltern hatten wenig Zeit für mich, und so gab es andere, die sich um mich kümmerten. Als Sechsjähriger schenkte mir ein Sowjetsoldat eine Eiswaffel; an sein Gesicht kann ich mich heute noch erinnern. Dann kam die Schule.

Es fiel mir schwer, mich unterzuordnen, weil ich es nie gelernt hatte. Und so machte ich dieses Manko durch meine schulischen Leistungen wieder wett. Das klappte ganz gut, man ließ mich auch ansonsten zufrieden und zwang mich nie, in irgendeine Organisation einzutreten. Ich hätte es auch nicht gewollt. Es fehlte mir der Sinn und die Einsicht, mich in Haufen zusammenzuschließen. Das hat man mir später oft genug vorgeworfen:

Die Hose „Na Mensch, das gibt's doch nicht! Wegen der Hose?“

„Ja, weiter war nichts!“

„Da ru! ich gleich mal an, der Genosse Erfurt macht da Sachen .. . Erzähl mal, wie war das. Und das vor der ganzen Schule, konnte er dir das nicht allein sagen oder mich anrufen?"

„Vortreten mußte ich, beim Fahnenappell, und der Direktor fragte, was das soll, Blau-hemd und Jeans. In einer sozialistischen Oberschule gebe es so etwas nicht! Und überhaupt wäre mein Verhalten ihm schon lange aufgefallen."

„Er hat mir nie etwas davon gesagt, auch gestern auf der Sitzung nicht. Er hätte doch was sagen können." „Ja, weiß ich nicht.“ „Und dann?“ „Ich soll eine Stellungnahme dazu schreiben und sie ihm geben.“ „Was willst Du da schreiben?“ „Na, daß ich die Hosen praktisch linde und du nichts dagegen hast." „Das geht nicht, laß das mal, ich ruie ihn an, und kläre das. Es gibt viel Wichtigeres als diese Jeans“, sagte sie, und wählte eine Nummer. Im Spiegel runzelte sie ihre Stirn. Es war das Runzeln einer Jugendrichterin der Deutschen Demokratischen Republik. Meiner Mutter.

Es lief wirklich alles normal, und so wäre es auch sicher geblieben, hätte es nie den Prager Frühling gegeben. Mein Onkel hatte mich von zu Hause weggeholt, um sich um meine Erziehung zu kümmern. Er war Bürger der Tschechoslowakei und in Plauen am Theater engagiert. Durch ihn lernte ich Prag kennen und dann später fast das ganze Land. Ich habe ihm sehr viel zu verdanken. Während meiner Anwesenheit in Prag, im Frühjahr 1968, merkte ich, daß diese Menschen ganz anders waren als sonst. Sie führten auf den Straßen Diskussionen und unterhielten sich in Cafes über die Tische hinweg. Das hatte ich in der DDR noch nirgends bemerkt. Es war, wie soll ich sagen, ein wunderbares Gefühl. Mehr verstand ich nicht, denn obwohl ich mich damals schon mit Marxismus beschäftigt hatte, fehlte mir der Durchblick, was wahrscheinlich in erster Linie an meinem Alter lag. Ich war damals siebzehn Jahre.

Angeregt durch meinen Onkel und bedingt durch mein Interesse an Literatur, hatte ich schon angefangen, einiges zu schreiben. Es waren kleine Texte und Gedichte. Hier und da ein winziger Aufsatz über Literatur. Bei verschiedenen Bekannten hörte ich Bänder von Wolf Biermann. Ich habe mir nie vorstellen können, daß er in Ost-Berlin zuhause war. Es war einfach eine andere Welt für mich als die, die ich bis dahin erlebt hatte. Die Tschechoslowakei war auch ganz anders: Ich glaube, ich stand damals zwischen zwei Welten, die beide für mich neu waren. Mein altes DDR-Bild war angekratzt, und zwar ganz schön; und das neue Bild, von einer besseren Gesellschaft, hatte ich noch nicht verstanden. Ich besorgte mir alle möglichen Bücher, um mit diesem neuen Zustand für mich fertig zu werden:

Transit „Kommst du morgen früh mit?"

„Ich denk schon. Du mußt aber am Fenster klopfen, mein Bruder hat den Wecker."

. „Klar, mach ich."

, „Aber nicht wie das letzte Mal, da ist meine . Mutter aufgewacht, und ich konnte nicht r weg."

„Nein, ich mach schon leise."

„Hebst du verschiedene Artikel überhaupt auf?"

„Ja, aber nur bestimmte, auch bloß die vollständigen. Könnten die . Westler'nicht mal ganze Zeitungen wegschmeißen? Immer diese halben Sachen und dann noch verklebt oder voller Kaugummi."

„Na ja, die wissen es ja nicht, daß wir früh um halb sechs auf der Autobahn die Papierkörbe leeren.“

„Könnten sie aber.“

„Wie denn?"

„Wir können ihnen ja mal einen Zettel an den Papierkorb machen — Bitte nur ganze und saubere Zeitungen wegschmeißen!"

Es hat alles nichts geholfen. Was in den Büchern stand,. wußte ich schon; etwas Neues konnte ich da auch nicht entdecken, und so quälte ich mich mit meinen Zweifeln herum.

Einmal fiel mir die Strophe eines Liedes ein, das ich gleich zu Beginn des ersten Schuljahres gelernt hatte: „Im Kremlfenster brennt noch Licht, der große, weise Stalin schläft noch nicht."

Und ich erinnerte mich, wie man in Plauen aus einem Stalinpavillon eine öffentliche Bedürfnisanstalt gemacht hatte. Aber war der Mann denn damit vergessen, waren denn auch seine Jünger gestorben?

Bei einem Gespräch in Prag spuckte ein Bekannter meines Onkels bei dem Namen Stalin auf den Fußboden und stieß wilde, böhmische Flüche aus.

Ich kapierte langsam, sehr langsam — und dann fand ich auch noch, um das Chaos, das in mir war, zu vergrößern, in der hintersten Buchreihe des Bücherschrankes meines Onkels ein Buch, das schlicht und einfach hieß „Stalins Verbrechen". Es war von-einem Manne, von dem ich nie etwas gehört hatte: Leo Trotzki. Ich las es in zwei Nächten aus und war am Ende. Mein ganzes Bild über das Vaterland aller Werktätigen, die Sowjetunion, war zunichte. Und was war nun mit der DDR, mit dem Land, in welchem ich erzogen und aufgewachsen war?

Die Antwort kam von allein.

In der Nacht vom 20. -zum 21. August besetzten die Truppen des Warschauer Vertrages das Territorium der Tschechoslowakei. Auch DDR-Truppen überschritten die Grenze. Mein innerer Zwiespalt hatte sich von allein aufgehoben. Ich brauchte mich nicht mehr zu entscheiden:

Die Fahne „Ach so ist das! Wo haben Sie diese Fahne her?"

„Eine idiotische Frage, denn in jedem Warenhaus kann man Fahnen der sozialistischen Bruderländer kaufen. Auch die Fahne der Tschechoslowakei.“

„Und die haben sie da einfach gekauft? Einfach so? Oder aus einem bestimmten Grund?"

„Natürlich habe ich sie . einfach so'nicht gekauft, sondern weil man an bestimmten Tagen, in bestimmten Häusern einfach flaggen muß. Und unser Haus war ein solches.“

„War denn im August ein . solcher Tag'?“

„Na klar! Ich habe zu Hause und in der Schule gelernt, daß man auf bestimmte herausragende politische Ereignisse in einer bestimmten Form reagiert. Und am 21. August 1968 habe ich geflaggt.“

„Was war das denn für ein herausragendes Ereignis?"

„Ich habe es in den Geschichtsbüchern gelesen. Im Jahre 1938. Ein Verbrechen der Deutschen, der Einmarsch in die CSSR."

„Da haben Sie Recht, wirklich ein Verbrechen. Aber jetzt zur Sache, warum haben Sie geflaggt?“

„Wegen dem gleichen, dreißig Jahre später, mit anderen zusammen."

„Was?"

„Wieder der Einmarsch."

„Was heißt hier , Einmarsch'? Hilfe, brüderliche Hilfe unserer Armeen für das tschechoslowakische Volk.“

„Einmarsch kann auch , Hilfe'sein." „Das sagte ich doch.'„Fragt sich bloß, für wen?" „Na, für das tschechoslowakische Volk, oder wie?" „Ich meine, für die Konterrevolution." „Was? In welche Schule gehen Sie?“ — Dann habe ich sie gesehen, in ihren Uniformen und mit verbissenen Gesichtern. Die Bürgersteige wurden zur Seite gedrückt, wenn sie mit ihren Panzern um die Ecken bogen. Und ich dachte an das Jahr achtunddreißig, ein Verbrechen der Deutschen, der Einmarsch in die Tschechoslowakei. Dreißig Jahre später waren sie wieder mit dabei.

Ich habe mich so geschämt. Was sollten denn meine Freunde in Prag von mir denken. Ich war ja ein Deutscher. Es mußte doch irgend etwas passieren, es reichte doch nicht, die Augen niederzuschlagen.

In der Innenstadt habe ich dann Gedichte von mir verteilt; es ist sehr schade, ich kenne ihren Wortlaut nicht mehr. Es ist ja nun schon wieder zehn Jahre her, seit diesem großartigen Versuch in der Tschechoslowakei, einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz zu errichten. Diese Gedichte waren bestimmt keine Meisterleistung, aber ich mußte doch etwas sagen, mußte mich doch äußern, daß ich gegen diese Okkupation war und für die Souveränität dieses wunderbaren Landes mit seinen Menschen.

Die Reaktion auf das Verteilen meiner Flugschriften war sehr gespalten. Die einen wußten gar nichts von dem Einmarsch, die anderen behaupteten, die NATO wäre zuerst einmarschiert und jetzt würden unsere Truppen sie wieder vertreiben. Welch ein Hohn! Nur ganz wenige drückten mir die Hand und sagten: „Richtig, Junge, jetzt macht ihr endlich einmal was Vernünftiges, ihr seid doch die Freie Deutsche Jugend." Sehr lange hat alles nicht gedauert; ein Auto fuhr vor, und ich wurde gebeten, einzusteigen. Es waren die Herren aus der Gartenstraße, die Herren vom Ministerium für Staatssicherheit, kurz „Stasi" genannt.

Sie waren nicht höflich, nein, sie waren brutal. Erst zerrten und zogen sie an mir, dann sperrten sie mich in einen fensterlosen Keller, und dann war ich auch schon verhaftet. Wie schnell so was alles geht.

In einem Schnellverfahren wurde ich zu achtzehn Monaten Freiheitsentzug verurteilt. Da ich noch jugendlich war, kam für mich nur das Jugendgefängnis in Frage. Davon gibt es einige in der DDR: Torgau (Fischerinsel), Gräfentonna, Ichtershausen, Luckau, Rasnitz bei Leipzig und noch andere Lager, in die man uns Kinder, fast kahlgeschoren, einsperrte. Ich hatte mir bis dahin so etwas nie vorstellen können; ich hatte noch nie erlebt, wozu Jugendliche fähig sein können, wenn man sie einsperrt. Aus kleinen Dieben wurden Verbrecher. Die Brutalität des Systems übertrug sich auf die Psyche Minderjähriger:

Selbsterziehung „Wo warst Du heute Vormittag? Eure ganze Zelle mußte doch zum VO?"

„Du, da ist eine Sauerei passiert! Der kleine Mecklenburger, weißt Du, der neu zu uns gekommen ist, den haben sie gestern Nacht , angezündet'. Harry mußte wieder . beweisen', daß er der , Chef vom Kommando ist und hat den Kleinen zuerst in die Mangel genommen.

Du weißt ja, das übliche! , Fischköpfe'sind Scheißkerle, fressen nur Fisch und Rüben, , Flachlandbewohner', die nicht lesen und schreiben können, usw. Das hat der Kleine sich nicht gefallen lassen und meinte, Harry sei nicht viel besser, und daß es keine Kunst wäre, alten Omas die Handtaschen zu stehlen und ihnen dann noch mit einem Stein auf den Kopf zu schlagen."

„Das hat Harry getroffen.“

„Das kannst Du aber glauben. Und wie! Er ging auf den Mecklenburger los, schlug ihn mit dem Gesicht gegen den Schrank und sagte grinsend: , Warte ab, heute Nacht...'“

„Und dann?“

„Nach dem Einschluß haben er und seine zwei Gorillas den Kleinen aus dem Bett geholt, zwei Schläge in den Magen, einen in die Fresse, und dann haben sie ihn auf das Klo gestellt. Du, der hatte wahnsinnige Angst.“ „Und dann?“

„Haben sie in das Klobecken Zeitungen gelegt und mit Bohnerwachs beschmiert. Einer hat dem Kleinen den Mund zugehalten und dann haben sie das Zeug angezündet. Es gab eine Stichflamme und der Kleine wollte vom Klo runter. Sie haben ihn festgehalten und mit einmal blieb er dann auch von allein ste- hen und schaute auf seine Oberschenkel, an denen die Haut anfing zu platzen. Wimmernd kroch er später in sein Bett. Früh konnte er nicht aufstehen, und als ihm der Wärter die Decke wegzog, sah er auch, warum. Und deshalb waren wir dann alle gleich beim VO."

„Und ihr habt alle zugeschaut, keiner hat ihm geholfen?“

„Du, ich bin doch nicht verrückt, wenn du was sagst, bist du nächste Nacht in der gleichen Lage, und dir hilft auch keiner. So etwas nennt man hier , Selbsterziehung! ’“

Da stand ich also im Innenhof und sah, wie eine Gruppe von vielleicht zwanzig bis dreißig Jugendlichen im Exerzierschritt an mir vorüberzogen.

Sie hatten dunkle Kleidung an, eine Art Kadettenuniform und auf dem Kopf ein dunkles Käppi. Ihr Haarschnitt, insofern man ihn unter der Kopfbedeckung noch erkennen konnte, war fürchterlich. Die Ohren stachen gegen den Himmel wie Flügel.

Ich glaube, selbst die Preußen hätten da nicht mitgemacht. Und das alles war auf einem Kopf, dessen Gesicht bleich, verständnislos, listig, abgestumpft und kalt sich ausdrückte. Es war ein grauenhafter Anblick.

Ich hatte noch meine Zivilsachen an, und so sah ich aus wie ein Exot. In wenigen Minuten war aber auch das vorbei. Da war ich dann einer unter vielen. Nur meine frische Gesichtsfarbe ließ mich die ersten Tage noch auffallen.

Es bedurfte nicht einmal einer Woche, um sie auszulöschen. Dieses Gefängnis war früher eine alte Wasserburg und während des Faschismus Zuchthaus. Hier wurden -zig Todesurteile vollstreckt. In der Waschküche konnte man noch sehen, wo das Fallbeil gestanden hatte. Uber dem großen Stahltor, oben auf dem Dach, war eine kleine Glocke; bei jeder Hinrichtung wurde sie angeschlagen. Das war noch nicht einmal fünfundzwanzig Jahre her.

Ich wurde aufgeteilt, d. h. in ein Kommando eingewiesen, nachdem ich einige Tage auf dem „Zugang" verbracht hatte. Dort wird man über die Anstalt unterrichtet und muß Fragebögen ausfüllen. Es war alles so seltsam fremd und bedrückend. Als ich vom Friseur kam, schaute ich in den Spiegel und mußte heulen; ich erkannte mich nicht. Aber bei diesem Alltag hier bleibt wenig Zeit zum Nachdenken. Entweder man paßt sich an, um des überlebens willen, oder man geht kaputt. Es gibt nur wenig Spielraum, um einigermaßen anständig zu bleiben. Die meisten meiner Mitgefangenen hatten schon etliche Verwahranstalten hinter sich und waren auf die Terminologie dieses Milieus eingeschworen. Ich kann es bis zum heutigen Tage nicht verstehen, wie man sich mit so etwas abfinden kann. Das einzige erstrebenswerte Ziel war, sich so viele Vorteile wie nur möglich zu verschaffen. Egal, auf wessen Kosten. Zuletzt ging es aber immer auf Kosten der Mitgefangenen. Vor allem die, welche schwach waren und sich nicht wehren konnten, waren die Leidtragenden. Sie waren Butler, Leibwächter, Zigarettenbeschaffer, Schuhputzer, Schneider, eine zusätzliche Portion Wurst und „Geliebte" im Bett.

Die „Chefs" sorgten dafür, daß es auf dem Kommando ruhig war und alle Anweisungen der „Erzieher" befolgt wurden. Das Wort „Erzieher" kann ich bis heute nicht hören. Ab und zu ging einer der Muskelmänner zu weit und wurde dann einfach in eine andere Anstalt versetzt. Aber auch dort kam er immer wieder auf die Füße. Ohne diese Menschen wäre diese Art von Strafvollzug nie denkbar, und ohne diesen Strafvollzug wäre dieser Menschenschlag nicht denkbar. Ohne beides, direkt oder indirekt, wäre dieses System nicht denkbar, aber ohne solch ein System gäbe es beides nicht — ich hoffe es zumindest. Da es nun aber real existiert, gibt es das alles, und es ist ein Teufelskreis, der zu wenig Ritzen hat, daß man entwischen könnte. Es ist die Mechanik einer toten Gesellschaft:

Zwei Finger sind doch keine Hand „Vierzehn Zentimeter sagst du?“

„Es können auch dreizehn oder zwölf oder fünfzehn sein. So genau weiß ich das nicht. Auf alle Fälle hat die Tür ihr Gewicht! Und bestes Holz, deutsche Eiche, da ist kein Nagel drin, alles fugenlos eingepaßt und schichten-weise geleimt. Was da beim Zuschlägen dazwischen kommt, erkennst du nicht wieder.“ „Und da hat er seine Finger reingehalten?“

„Ja, hinten, zwischen der Tür und der Wand, genau in der Mitte zwischen der oberen und der unteren Türangel."

„Und dann?"

„Dann hat er gewartet, bis einer die Tür zuschmeißt.“ Sobald Türen offenstehen, gibt es immer einen, der glaubt, sie zumachen zu müssen. Kugelblitz kam, sah die offene Tür, fing schon am Anfang des Flures an zu schreien und trat mit seinem Stieiel gegen die oiienstehende Tür. Die schlug zu; ein Schrei stand im Korridor und zwischen den Türangeln sah man zwei Kinderfinger, mit einem Hautfetzen am Holz der Zellentür kleben. Dann fielen sie zu Boden. Kugelblitz sagte: . Mein Gott, was hast du da gemacht?'In einer Minute waren sie im Revier. Auf dem mattschimmernden Flur der Jugendstrafanstalt G., nahe der Scheuerleiste, wo altes Bohnerwachs sich schwarz färbte, lagen die zwei Finger eines Kindes.“

„Und warum hat er das getan?“

„Er war ein stiller Typ, schwach war er auch und ein wenig zart. Jeder stieß ihn herum und wegen Lappalien wurde er schikaniert. Demütig nahm er alles hin, nur in seinen Augen wurde es naß. Er war kein jugendlicher Verbrecher, wie seine Mitgefangenen, er war ein Kind, das Zigaretten in Selbstbedienungsläden geklaut hatte. Das mit der Tür hat er getan, weil er nicht länger die Launen der , Chefs', der stärkeren Mitgefangenen, ertragen konnte. In vier Monaten sollte er entlassen werden.“

Es war die Hölle für mich; andere durchlebten nur ihren Alltag. Sie kannten nichts anderes. So mancher von denen hat heute bestimmt lebenslänglich und sitzt in Brandenburg oder Bautzen ein. Sie werden da auch sterben. Für sie gab es nie eine Chance. Nach achtzehn Monaten wurde ich dann entlassen. Ich ging nach Plauen zurück, wo mich mein Onkel erwartete. Er besorgte mir eine Arbeit am Theater. Mühsam versuchte ich, diese Vergangenheit aufzuarbeiten, was durch die tägliche Konfrontation mit meiner Umwelt sehr schwierig war. Am stärksten belastete mich meine Voreingenommenheit der DDR gegenüber: Ich hatte ihr Herzstück, das Gefängnis, kennengelernt. Aber ich strengte mich an, nicht verbittert zu sein, um auch bestimmte Mechanismen beurteilen zu können. In dieser Zeit habe ich eine Unmenge geschrieben. Mir kam es darauf an, mein eigenes „Ich" zu finden und zu verstehen. Nur wenige Kilometer von Plauen entfernt saß der Reiner Kunze in Greiz in seiner Wohnung. Seine Gedichte haben mir sehr geholfen. Er war zu einer fünfjährigen „Ruhepause" verdammt, bis dann 1973 sein „Brief mit blauem Siegel“ erscheinen konnte. Es war sein letztes DDR-Buch.

Durch das Theater animiert, schrieb ich ein Märchenstück mit dem Titel: „Das Land der sieben Flüsse". Es liegt seit meiner zweiten Verhaftung im Sommer 1972 in den Tresoren des Ministeriums für Staatssicherheit. Keiner machte mir Vorhaltungen wegen meiner Haftzeit. Nur in einer Diskussion anläßlich einer Premiere sagte der Parteisekretär des Theaters zu mir: „Ich hoffe, du hast deine Vergangenheit noch nicht vergessen." Er ist heute Kulturreferent in der Stadtverwaltung. Aus meiner heutigen Sicht war die zweite Haft schon vorprogrammiert. Es war wie ein Strudel, ein Sog, der von einer bestimmten Geschwindigkeit an alles mit sich reißt. Schon deshalb, weil die Vergangenheit immer mehr Gegenwart wurde und ich wie ein Irrer, taumelig, mich mittendrin befand.

Im Frühjahr 1972 war ich noch einmal in Prag. Wie hatte sich diese Stadt verändert! Die Menschen liefen geduckt umher und machten kaum den Mund auf. Es war ein lautloses Aneinandervorübergehen. Und wie hatte ich diese Stadt noch in Erinnerung! Diese schöne, goldene Stadt, die Stadt mit den offenen Mündern. Als ich auf der Karlsbrücke stand, spuckte ich in das Wasser der Moldau, -ein vorübergehender Passant schaute mich erstaunt an. Mir war zum Heulen zumute. Seitdem habe ich diese Stadt nie wieder gesehen; man verweigerte mir das Visum. Im Monat August war es dann wieder soweit.

Anläßlich eines Vierländertreffens in Plauen spielte ich in der Innenstadt einige meiner Lieder und trug Gedichte vor.

Expression Kenn ein Land, wo die Blumen aus Glas, wo die Bäume versteinert sind.

Wo nur dornig wächst das Gras, wo feurig bläst der Wind.

Kenn ein Land, wo regiert nur die Nacht, wo der Funke glimmt und erlischt.

Wo man niemals wieder mehr lacht, wo man Masken trägt, statt ein Gesicht. Kenn ein Land, wo man Sterne verehrt, wo man Menschen zu Göttern macht.

Wo man fördert das, was verkehrt, wo man hinter Mauern erwacht.

Kenn ein Land, wo man scharf ist auf Blut, wo man Kinder zu Greisen macht.

Wo man schlecht ist, und man sagt gut, wo man's weinen hört fast jede Nacht. Kenn ein Land, wo die Liebe zum Tod, wo das Nicht-Sein erstrebenswert ist. Wo die Menschen in geistiger Not, wo man eines Tages zerbricht. Kenn den Tag, wo ein jeder bezahlt, wo entschieden wird, wer, wie und wann. Wo man letztmalig hört einen Schrei, wo man sich wieder anschauen kann.

Im Nu hatte sich ein großer Zuhörerkreis gebildet; wir haben über meine Texte diskutiert und auch gestritten. Als es Abend war, ging ich nach Hause; am nächsten Morgen, während der Proben, hat man mich dann abgeholt. Der Intendant machte ein ängstliches Gesicht, als die vier Herren mich abführten. Er hatte ja immerhin die Verantwortung für dieses Haus. Sie waren sehr nett; den ganzen Tag und auch die Nacht über. Dann war die Hausdurchsuchung beendet; auf dem Schreibtisch des Vernehmers türmte sich ein Berg Papier. Es waren meine Manuskripte und meine Abschriften von verbotenen Büchern. Er schrie, erst leise und beherrscht, dann immer lauter werdend und mit geschwollener Stirnader.

Ich fühlte mich eigenartiger Weise sehr stark, als ich sah, wie ohnmächtig er war. Gegen Morgen wurde ich in die Untersuchungshaft-anstalt des Ministeriums für Staatssicherheit nach Karl-Marx-Stadt gebracht. Es lag mitten in der Stadt, auf einem kleinen Hügel, Kaßberg genannt. Hier hatte man schon früher die Arbeiter dieses Industriebezirks auf die. brutalste Art und Weise mißhandelt. Egal, unter welchem System. Darin gleichen sich so manche! Ich wurde aus dem Auto „ausgestiegen" und rannte einen langen Gang entlang. Er mündete in einen Vorraum, wo ich mich ausziehen mußte und einen Trainingsanzug bekam. Dann ging eine Tür auf, und ich sah das Zellenhaus.

In zwei Etagen links und rechts die Zellentüren; in der Mitte waren Stahlnetze gespannt. Es sollte keiner das Recht haben, sich selbst zu töten.

Die Zelle war wie üblich, zwei mal vier Meter. Das Fenster war zugemauert mit Steinen aus Glas. Hinter mir schloß sich die Tür aus Eichenholz. Ich war allein.

Montag/1. Tag Das Licht klatschte lautlos in die Zelle, es war sieben Uhr. Los hoch. Der Wärter der Nachtschicht schlug mit dem Schlüssel gegen die Tür. Jetzt mußte alles sehr schnell gehen, in wenigen Minuten war Schichtwechsel.

Die Klappe in der Tür krachte nach unten und der lange Schnabel der 10 Liter Kaffeekanne wippte ungeduldig rauf und runter. Ein Schuß von dieser schwarz-braunen Soße, mit buntschillernder Oberfläche, gelangte auf diesem Wege in meinen roten Plastik-Becker. Ein wiederliches Gesöff, wovon man nach längerem (Jahren) Genuß schwarze Zähne bekam. Da war der Tee „Marke Bahndamm" ein echt guter Schluck, vor allen Dingen war er warm, nicht heiß, nur so ein bißchen angenehm im Magen. Im Zellenhaus war Betrieb, die Klappe ging wieder auf, und Brot, Marmelade und ein Plastikmesser wurde hereingereicht. Jetzt ganz schnell die Marmelade auf das Brot gekratzt, denn die Klappe ging schon wieder auf und das stumpfe, zerkaute, „gefährliche" Plastikmesser mußte abgegeben werden. Ich habe während meiner ganzen Untersuchungshaft mir nie vorstellen können, daß sich damit jemand das Leben nehmen kann, und trotzdem war dieses kleine, häßliche Plastikmesser der „Augapfel" der „Genossen" vom Wachregiment. Dazu eine kleine Episode, welche ich mit einem Unterleutnant des „Wachregimentes F. D." erlebt habe.

Ich hatte einmal, als das Plastikgeschirr des Abendbrotes abgeräumt wurde, vergessen, das gewisse Messer mit abzugeben. In der Eile des Schichtwechsels (der unmittelbar nach dem Essen war) hatte es auch keiner bemerkt, und so hatte ich in meiner Zelle von da an eines dieser Messer. Dadurch konnte ich in Ruhe meine Brote schmieren. Eines Tages war Zellendurchsuchung (Filzung). Ich hatte das Messer immer in einer Spalte unter dem Tisch versteckt, so auch an diesem Tag. Die ganze Zelle wurde auf den Kopf gestellt. Ich selbst mußte mich in der Nachbarzelle nackt ausziehen — peinlichste Untersuchungen auch in Mund und After. Dann wurde ich zurückgebracht und der Unterleutnant sagte zu mir: „Ja, ja, Zschorsch, wir sind da sehr genau."

Ich dachte mir, das wollen wir mal sehen und knipste das Lichtsignal an der Zellentür an; als der „Genosse" Unterleutnant kam, hielt ich ihm todernst mein Messer unter die Nase und sagte: „Das hier haben sie vergessen."

Er wurde ganz blaß, nahm das Messer und machte die Klappe wieder zu. Wenige Minuten später ging die Tür auf, ich wurde wiederum in die leere Nachbarzelle geführt und der „Genosse" Unterleutnant fragte mich mit freundlicher Stimme: „Nun sagen Sie mal Zschorsch, wo haben sie bloß das Messer versteckt, das gibt’s doch gar nicht, also, wo war es?"

Ich grinste bloß und verlangte, in meine Zelle zurückgeführt zu werden. Jedesmal, wenn dieser Mensch wieder Dienst hatte, konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen und fast immer wurde danach meine Zelle auf den Kopf gestellt. Ohne Erfolg, es war nichts zu finden — ich hatte ja auch nichts zu verstekken. Nach dem Frühstück noch ein bißchen Schlaf, mit dem Kopf auf dem Tisch, das ging aber nicht immer, es kam darauf an, wer Dienst hatte. Am Anfang konnte ich da nie schlafen, es war eine Qual. Zuerst schliefen einem die Beine und Füße ein, dann die Hand, auf der der Kopf lag, und dann tat einem der Arsch weh, auf welchem man saß. Doch nach und nach entwickelte man verschiedene Techniken, so daß ich nach einem halben Jahr sogar auf dem Tisch träumen konnte. Welch ein Erlebnis!

Es gab zwei Riesenschläge (die doppelten Riegel der Zelle wurden zurückgeschlagen), der Schlüssel drehte sich im Schloß und „Äffchen" (um des besseren Unterschiedes willen hatte jeder meiner Bewacher von mir einen Namen bekommen) murmelte: „Freistunde." Ha, Freistunde — wieso überhaupt „Stunde", wo es doch nur 15 Minuten waren, allein in einem Käfig, in einer Box, von 4 mal 3 Metern? Uber dir ein Posten mit Maschinenpistole oder nur Pistole, manchmal waren es auch zwei.

Sport zu machen war verboten, Gymnastik war erlaubt.

Zurück in die Zelle, und laufen, in der Zelle im Kreis laufen und denken, nachdenken über alles, über Stalin und die Russische Oktoberrevolution, Lenin und Gorki, Majakowski und die Rolle der damaligen deutschen KPD, Komintern, Nichtangriffspakt, Faschismus und Exil in der Sowjetunion, Herwarth Walden, Max Hoelz, Heinrich Vogeler und Heinrich Kurella — und dann die Prozesse und Trotzki und dann Frieden 45, ach nein, Waffenstillstand, Gruppe Ulbricht und der XX. Parteitag der KPdSU 56, in der DDR, aus dem Stalinpavillon eine öffentliche Bedürfnisanstalt machen, in meiner Heimatstadt Plauen, und dann 68, Frühling in Prag, und danach? Erster Knast, Mensch, für ein Kind noch — und jetzt der zweite Knast — auch fast noch ein Kind — das hält man nur im Laufen aus, zehntausend Schritte, und dann wieder von vorn, Stimme an der Tür: „Jetzt machen Sie mal hier keine Hektik, setzen Sie sich hin." Nach 5 Minuten wieder laufen, immer im Kreis, an der Stelle ist das Linoleum ganz abgelaufen, wer wohl schon vor mir? Im Dritten Reich war es Gestapo-Gefängnis, wer wohl damals? — Die Klappe fällt, Mittag, eine Schüssel voll, jede Woche am gleichen Tag das Gleiche.

Schüssel raus, wieder laufen, mit der Hand in der Tasche fummel ich an meinem Geschlecht, Mensch, und jetzt, das Licht geht an, eine fürchterlich summende Leuchtstoffröhre, jetzt in der Luft draußen laufen, im großen Gefängnis jenseits dieser Mauer, ach, da sind doch auch wieder Mauern, oben mit Stacheldraht! 5 Uhr, Abendbrot, auch wieder das berühmte Messer, das zerkaute. Klappe auf, das Plastikgeschirr aus der Zelle, und jetzt noch drei Stunden, dann ist Nachtruhe. Das Licht summt und dann waschen, dann Licht aus, aber nur kurz, alle zehn Minuten wird es wieder angemacht. Lichtkontrolle nennt man das. Und schlafen nur auf dem Rücken und mit dem Gesicht zur Zellenmitte; auf dem Bauch und mit dem Gesicht zur Wand schlafen ist verboten. Wer sich doch einmal „verlegt", wird geweckt, ein Schlag mit dem Schlüsselbund gegen die Tür. Die Hände immer auf der Decke, wer kann da noch onanieren? Wer schon?

Man hört, wie das Haus atmet, wie es lebt und doch tot ist! Und dann immer dieses Licht. Am Anfang schläft man nur zehnminutenweise, später gibt sich das. Wer gewöhnt sich wohl nicht?

An das Licht ja, aber nicht an den Zustand!

Dienstag/2. Tag Der Kaffee schmeckt schon wieder so, als ob da etwas drin wäre. Bei der „Freistunde" pfeift einer neben mir in der Box: „Brüder, zur Sonne zur Freiheit", der Posten schnauzt ihn sofort an. Dann rennt er in der Box, wahrscheinlich immer auf der Stelle. Wie sonst?

Der Posten schnauzt wieder.

Dann Stille.

Dann sagt er ganz laut: „Ich will wieder rein, besser drinnen als draußen, man wird je nur verrückt."

Der Posten brüllt: „Ruhe, Mann", drückt auf eine Klingel, und der Mann neben mir wird abgeholt.

Mittwoch/3. Tag Unruhe im Haus. Wenn man länger da ist, merkt man sofort, wenn etwas los ist.

Da verweigert irgend jemand auf dem gegenüberliegenden Gang das Essen.

Welch ein Verbrechen! Neben „Selbstmord" das Schlimmste, was man machen kann.

Das Motiv?

Anwalt sprechen, auf Eingaben keine Antwort, schlechte ärztliche Versorgung, das „Nichtaushändigen“ von Post.

Erfolg?

Erst gut Zureden, dann Zwangsernährung. Und dann?

Wird bei der Urteilsfindung berücksichtigt! Wie?

Ein halbes Jahr länger!

Warum?

Wegen „Verletzung der Normen des sozialistischen Strafvollzuges"!

Donnerstag! 4. Tag Mir ist schlecht und ich lege mich auf die Pritsche. Werde mehrmals aufgefordert aufzustehen. Kann aber nicht, alles dreht sich, wenn ich die Augen öffne. Wahrscheinlich Kreislauf. Die Tür geht auf, drei Mann kommen in die Zelle und schleppen mich in die untere Etage. Drei Stunden Stehzelle, zu klein zum Umfallen. Ich hänge da wie ein nasser Sack, meine Knie sind aufgeschlagen. Wie gern würde ich mich hinsetzen, aber es geht nicht.

Ich stehe wie in einem Pfeiler.

Nach drei Stunden wieder nach oben.

„Das nächste Mal die ganze Nacht“, sagte mir der Major.

Freitag! 5. Tag Duschen.

Fünf Minuten.

Es reicht gerade.

Wäsche wechseln und Nägel schneiden.

Eine rostige, stumpfe Nagelzange, abklemmen, nicht schneiden. Auch wieder ein „Augapfel", ein sehr kostbarer.

Der „Genosse" paßt höllisch auf, daß da nichts passiert. Er bekommt lieber herumspritzende Nägel ab, als etwas weiter wegzugehen.

Was die wohl schon für Füße gesehen haben? Manche brauchen die Nagelzange nicht.

Sie haben ihre Füße im Minenfeld gelassen.

Samstag/6. Tag Abends, es ist schon Nachtruhe, schreit jemand. „Ich will zu meinem Mann, laßt mich raus hier."

Eine Frau.

Sie waren in den hinteren Zellen.

Die Frauen.

Die Stimme eines Mannes, ihres Mannes. „Christel, ich bin hier, es wird alles gut, bald sind wir frei."

Rennen im Treppenhaus, eine Tür wird aufgeschlossen, die Tür der Frau. Stimmengemurmel. Zelle zu, schleifende Geräusche.

Auf der Treppe, nach unten.

Die Frau ruft: „Hans!"

Ihr Ruf wird zum gurgelnden Geräusch. Stille.

Im Erdgeschoß hört man das Klappen der Tür zum Keller.

Da hört sie keiner mehr.

Stille.

Sonntag/7. Tag Ich mache die Lampe über der Zellentür an. Ich habe Durst.

Es dauert.

Es kommt keiner.

Die Posten haben Sonntag, wie alle „Werktätigen". Ich verzichte auf meinen Kaffee, zum Wohle des „Volkes".

Morgen ist Montag.

Nach einem Jahr machte man mir den Prozeß. Zuerst vor dem Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt; die Verhandlung fand unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Anwesend war nur eine Parteigruppe und der SSD. Das Urteil lautete auf fünfeinhalb Jahre verschärften Strafvollzug. Ich legte gegen dieses Urteil Berufung ein. Nicht, weil ich mit einer milderen Strafe rechnete, sondern weil ich mich an das Alleinsein in meiner Zelle gewöhnt hatte. Es graute mir vor dem . Strafvollzug'.

Paradox ist es; ich wollte so lange wie möglich in der Untersuchungshaft bleiben. Man wurde da im großen und ganzen nicht behelligt. An die Schreikrämpfe der Vernehmer hatte ich mich gewöhnt. Ansonsten war es mir dann auch egal, wie man meine Gedichte interpretierte.

Bezeichnend war nur, wie man z. B. das Gedicht „Expression" eindeutig als „DDR-Gedicht" auswies. Es taucht nirgends das Wort DDR auf, und trotzdem fühlte man sich angesprochen. Sie hatten sich selbst in dem Gedicht wiedererkannt! Die Berufungsverhandlung fand dann einige Wochen später vor dem Obersten Gericht der Deutschen Demokratischen Republik statt. Der Generalstaatsanwalt war der Ankläger. Ich mußte zu dieser Verhandlung nicht erscheinen. Sie wurde in Abwesenheit durchgeführt. Das Urteil: vier Jahre verschärfter Freiheitsentzug.

Dann mußte. ich meine Sachen packen und ging auf Transport. Das Endziel sollte Cottbus in der Lausitz sein. Die Fahrt erfolgte in Eisenbahnwaggons :

Grotewohl-Expreß „Morgen ist Dienstag. Da kommt der Grotewohl-Expreß an. Die ganze Nacht wird da wieder im Zellenhaus Krach sein. Bist du schon einmal mit dem gelahren?“

„Ja, bin ich, mehrmals, von Nord nach Süd und von Ost nach West. Er braucht immer zehn Tage, bis er einmal um die DDR gefahren ist. Im Winter geht es ja, aber im Sommer! Vier Leute gehen normalerweise mit angezogenen Knien in den Verschlag, aber sie stecken auch fünf und sechs da hinein. Einmal am Tag gibt es etwas zu Trinken und man wird auf die Toilette geführt. Ab zehn Uhr abends wird der Waggon von dem Zug abgehängt, und man wird nachts in eine der U-Haften, irgendwo, gebracht. Am Morgen wird der Waggon wieder an einen Zug gehängt und die Fahrt geht weiter. Du siehst nichts, hörst nur das Stampfen der Räder. Keiner, der mit diesem Zug fährt, weiß, was das für ein Wagen ist, der letzte. Einmal bin ich von Magdeburg nach Gera gefahren. Auch wieder im letzten Wagen. Der Zug war ein Interzonenzug, der weiter in den Westen fuhr. Man führte uns den ganzen Zug entlang, und die Westler starrten uns mit leicht getönten Sonnenbrillen nach. Natürlich dachte jeder, daß wir Verbrecher seien. Daß wir einstiegen, in den letzten Wagen, das sah keiner, der Blickwinkel war zu klein. Trotzdem fuhren wir im gleichen Zug. Doch jeder stieg woanders aus. Stell dir vor, es passiert ein Zugunglück; es hat keiner eine Möglichkeit, aus diesen Zellensärgen zu entkommen. Lebendig wirst du begraben.“

Ich kam an, in der alten sorbischen Stadt Cottbus. Das Gefängnis stand schon seit Kaisers Zeiten. Es war ein roter Backsteinbau. Der kommunistische Schriftsteller Albert Hotopp hatte hier einst von 1923 bis 1926 drei Jahre seines Lebens wegen „Hochverrats" verbracht. Dort schrieb er auch seine ersten Erzählungen. 1934 emigrierte er in die Sowjetunion, wo er 1941 verhaftet wurde und seitdem als „verschollen" gilt. Hotopp fiel den stalinistischen Säuberungen zum Opfer.

Und nun kam alles wieder wie gehabt. Erst einige Tage auf dem Zugang und dann die Aufteilung auf die Arbeitskommandos. Arbeit war Pflicht; der Verstoß dagegen wurde mit Arrest bestraft. Die Anstalt war fast leer, als ich nach Cottbus kam. Es hatte ja im Herbst 1972 eine Amnestie stattgefunden; aber nach gut dreizehn Monaten kamen sie alle wieder. Man schloß regelrechte Wetten ab, wer in den nächsten Tage ankommen würde. Bald hatte sich die Insassenzahl um das Doppelte gesteigert. Wir waren über eintausend Mann; früher waren hier höchstens fünfhundert. Es gab keinen Platz mehr und das Essen wurde schlechter und weniger. Ich war in einer Zelle von vierundzwanzig Quadratmetern einer von sechzehn Gefangenen.

Die Betten standen vierstockweise übereinander. In der Mitte war ein kleiner Platz für den Tisch und sechzehn Hocker. Links und rechts an der Wand ein Waschbecken.

Wir haben im Dreischichtensystem gearbeitet für die Kamerafirma „VEB Pentacon", Dresden. Also gefeilt, gebohrt, gefräst, gestanzt, gedreht und geschliffen. Der Aluminiumstaub saß in jeder Falte der Haut. Ich habe diese Kameras sehr oft hier in den Auslagen von Fotogeschäften gesehen. Ich bin nie hineingegangen.

Ansonsten war in diesem Haus alles sehr alt und überholungsbedürftig. Auch die Bibliothek:

Bücher „Ich möchte bloß wissen, warum ich im Knast bin?" „Was, w* ieso?

„Ich war vorhin in der Bücherei."

*„Und?

„Da hab ich mir die Kataloge angeschaut und ich dachte, ich träume. Weißt du, was es da für Bücher gibt?“

„Na ja, die besten sind es nicht!"

„Klar sind es die besten! Ich muß erst in den Knast gehen, um mir aus einer öllentlichen Bibliothek Bücher ausleihen zu können, für deren Besitz sonst der Knast auf einen wartet!“ „Bücher, was für Bücher?“

„Hier, schau an! Gedichte von Biermann, von Kunze, von Hüchel; Bücher von Hans Mayer und von Lukäcs!

Ist das nicht Idiotie?

Im Knast darf ich das Lesen, weswegen ich im Knast bin!“

„Meinst du, die wissen das, was für Bücher sie in ihrer Bibliothek haben?“

„Nein, bis jetzt noch nicht. Die wissen gar nicht, wer Biermann ist.“

Exekution „Du bist neu hier?“

„Ja, ich bin vorige Woche aus Torgau gekommen.“ „Was hast du da gemacht?"

„Ich war Kalfaktor.“

„Torgau, Torgau? Sind da nicht die Zellen der Todeskandidaten?"

„Ja, erzählt man sich." „Und stimmt es?“

„Es kann keiner beweisen! Es gibt da in Tor-gau einen Flügel in der Anstalt, da darf niemand hin, und manchmal in der Nacht hört man von dort Schreie. Die anderen Häftlinge sagen dann: , Heute ist dem seine letzte Nacht. ’ Sie bleiben in Torgau, die hundert Tage ab der Verurteilung; in dieser Zeit können sie noch ein Gnadengesuch einreichen. Wenn es nicht hilft, werden sie in der Nacht vom hundertsten zum einhundertundersten Tag erschossen. Sie kommen dann in ein Auto mit Kastenaulbau; vorn sitzen der Fahrer, ein Staatsanwalt, ein Richter und ein Wärter — hinten der Gefangene, auf einem Stuhl angeschnallt, hinter ihm, im Genick, der Schußautomat. Und dann fahren sie zwanzig bis dreißig Kilometer in der Umgebung spazieren. Irgendwann, irgendwo, während die ser Fahrt, löst sich der Schuß und keiner weiß so richtig, wo es genau war.

Damit gibt es auch keinen . offiziellen'Hinrichtungsort." „Ich stelle mir das Warten auf diesen Schuß fürchterlich vor. überhaupt, auch schon die hundert Tage vorher; Tag und Nacht ist die Zelle erleuchtet.

Vor der Gittertür sitzt ständig ein Posten und paßt auf, daß du dir nichts antust.

Auf ihre Gerechtigkeit wollen sie nicht verzichten." Man kann sehr wenig über ein Gefängnis erzählen; man muß es erleben, um diese Situation zu verstehen. Jeder macht andere Erfahrungen und auch die Auswirkungen sind verschieden. Eines ist aber bei allen gleich — man darf es nicht vergessen! —: Es wurde uns Unrecht angetan.

Ich schlief und arbeitete mich so die Jahre hindurch, machte mir Gedanken, wie es denn weitergehen sollte, nachdem ich entlassen war. Klar war mir, daß es nicht leicht werden würde; ich war ja Rückfalltäter, und dazu noch einer, der seine Tat nicht bereute. Was hätte ich auch bereuen sollen? Weihnachten stand vor der Tür. Bald würde das Jahr 1975 anfangen.

Wir hatten gerade Nachtschicht gehabt, lagen in den Betten, es war taghell in der Zelle, als die Tür aufgeschlossen wurde und mein Name fiel. Ich mußte mich anziehen, meine Sachen packen und auf den „Effekten" die Zivilsachen anziehen. Dann wurde ich in einen Kleinbus eingesperrt; es gab nirgends Fenster, man fuhr mehrere Stunden offenbar über die Autobahn. Als wir anhielten sah ich, daß ich wieder in Karl-Marx-Stadt war. Was soll ich denn hier, ging es mir durch den Kopf. Jetzt ging alles sehr schnell. Man führte mit mir ein Gespräch, das damit endete, daß man mir mitteilte, man lege keinen Wert mehr auf meine Anwesenheit in diesem Staat.

Ich konnte dazu nichts sagen. Mit dieser Nachricht hatte ich nie gerechnet. In einer kleinen Zelle wartete ich auf meinen Abtransport.

Ballade vom Abschied Wer hat uns denn geboren, War es der Mutter Schoß? Hinter all den großen Toren, Wo wir so viel verloren, War es die Kindheit bloß? Wer hat uns denn erzogen Uns noch so viel gelehrt? Wer hat uns denn belogen Uns tausendfach betrogen Daß das nie wiederkehrt?

Wer hat uns denn verraten, War es nicht dieser Staat? Mit all seinen Soldaten, Den „Ersten-Mai-Plakaten“ zertrat er unsre Saat.

Wer hat uns denn verboten, Daß es auch anders geht? Wer hat den Strich gezogen, Von unten schräg nach oben Und sich dann umgedreht?

Doch werden wir nie schweigen, Zu viel steht auf dem Spiel, Wir werden uns nicht neigen, Nie unsre Rücken zeigen, Denn es wiegt viel zu viel.

Wir werden immer wissen, mein Freund, Auch sind wir nicht mehr da, Daß viele uns vermissen, Wenn wir die Segel hissen, Weil es das letzte war.

Wir fuhren nach Herleshausen, ich konnte nicht sprechen, ich konnte nicht einmal denken.

Von Ost nach West Die Sitze im Auto waren weich und bequem. Ein gutes Auto! Westdeutsche Wertarbeit.

Ich stieg aus. An der deutsch-deutschen Grenze. Ein eigenartiges Gefühl.

„Gehen Sie schon", sagte der Mann vom Staatssicherheitsdienst zu mir. „Hier ist unsere Reise zu Ende!“

Reise? Bei Nacht und Nebel, wer reist da schon? ich war am Ende!

Ging auf dem letzten Meter DDR-Gebiet in Richtung Westen. Nach dreiundzwanzig Jahren wurde ich nicht mehr gebraucht, mußte ich mein Land verlassen.

Hier in dem Land, in welchem ich geboren wurde, ging ich von Deutschland nach Deutschland — ging ich in das Exil?

Jetzt war ich also im Westen; was sollte ich da? Aber es muß ja weitergehen, habe ich mir gesagt. Die warten ja nur darauf, daß du kaputtgehst. Den Gefallen werde ich euch nicht tun, dachte ich mir, und hab’ also angefangen, alle möglichen Dinge. Wenn du den Knast geschafft hast, dann schaffst du auch dieses Land, hab'ich mir immer wieder gesagt. Es hat sehr lange gedauert, bis ich einigermaßen klarkam. Hier ist ja alles so anders; hier ist ja alles so deutsch-deutsch: Die Linken schlachten sich gegenseitig ab und die anderen warten auf ihre Chance. Es ist bestimmt sehr schwer, in solch einem System anständig zu bleiben.

Hier in der Bundesrepublik Deutschland fungieren Mechanismen, die erst durch unmittelbare Betroffenheit sichtbar werden und einem doch so manche Rätsel aufgeben. Wer kann sich da noch dagegen wehren, wenn er es nie gelernt hat? So manches hier erinnert mich an das Land, aus welchem ich Weggehen mußte; und so vieles erinnert mich an Deutschland, an den Flecken auf der Landkarte, durch den eine Mauer aus Stein und Beton geht. Mittlerweile hat sie sich verinnerlicht und geht durch das Herz und den Kopf; unsere Seele ist zerrissen in ein „hier" und ein „dort".

Vor kurzem war ich in einem Nachbarland; da sind die Menschen anders und überhaupt: Es wird mich keiner zwingen müssen. Dieses Land hier werde ich freiwillig verlassen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. VO = Verbindungsoffizier für besondere Angelegenheiten vom Ministerium des Innern (Gefängnisverwaltung) zum Ministerium für Staatssicherheit. Er ist für alle besonderen Vorfälle, die in einer Anstalt geschehen, verantwortlich.

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