Das Welternährungsproblem aus sozialer, ökonomischer und politischer Sicht
Otto Matzke
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Zusammenfassung
Die Lösung des Welthungerproblems — eines von vielen Teilproblemen der Unterentwicklung, d. h.der Armut — muß ein großes Bündel von Maßnahmen umfassen. Sie müssen weit über die technischen Aspekte der Produktionssteigerung hinausgehen. Neben einer „rationellen" Bevölkerungspolitik (welche ihrerseits ohne eine Verminderung der Armut allenfalls Teilerfolge erzielen kann) spielen zwei ineinander übergreifende Bereiche die Hauptrolle: 1. Maßnahmen zur Produktionssteigerung und 2. Schaffung der sozialen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Produktionssteigerung. Jede Produktionssteigerung — gleichgültig, ob sie durch Erweiterung der Anbauflächen oder durch Erhöhung der Erträge auf dem bereits kultivierten Boden erfolgt — erfordert erhebliche zusätzliche Investitionen. Viel komplexer als das Problem der Produktionssteigerung ist die wirtschaftlich-soziale Seite einer Gesamtstrategie, die die allgemeine ländliche Entwicklung einbeziehen muß. Sie umfaßt u. a. folgende Punkte: Schaffung von Arbeitsplätzen, Mobilisierung der breiten Massen, Landreform, Preispolitik, Schaffung eines effizienten Vermarktungsund Kreditsystems, Einführung geeigneter Technologien, Ausbau des Genossenschaftssystems. Wenn auch heute das Problembewußtsein weitgehend vorhanden ist (z. B. bei der Weltbank, der Internationalen Arbeitsorganisation und der OECD), so fehlt es doch an praktikablen Konzepten für den Einsatz der finanziellen Hilfe, insbesondere soweit es sich um Maßnahmen für bestimmte Zielgruppen handelt. Einigkeit besteht weitgehend darüber, daß es auf die Milderung der ländlichen Armut ankommt, und in diesem Zusammenhang kristallisieren sich immer deutlicher Ansätze heraus, welche im Rahmen integrierter Strategien vor allem auf die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Befriedigung der Grundbedürfnisse zielen. Es wurden Anfangserfolge erzielt, aber die Probleme bleiben gewaltig. Die Hauptverantwortung für die Verwirklichung jeder Strategie liegt bei den Entwicklungsländern selbst. Unzählige Kleinprojekte müssen zur Deckung der Grundbedürfnisse angepackt werden, nachdem jahrzehntelang das Denken in grandiosen Entwicklungsplänen dominiert hat. Dabei muß der individuellen Initiative weitgehend Raum gegeben werden. Der Marktmechanismus ist trotz vieler Mängel bisher noch der relativ beste Lenkungsmechanismus. Totalitär-kollektivistische Konzepte legen den Massen unermeßliche Leiden auf, ohne daß aber eine verbesserte Befriedigung der Grundbedürfnisse sichergestellt wäre.
I. Zur Zeit entspannte, aber labile Versorgungslage
Im Gegensatz zu den Jahren 1973 und 1974 macht das Stichwort „Hunger in der Welt“ zur Zeit kaum Schlagzeilen in den Massenmedien. Es gibt zwar auch jetzt in allen Kontinenten Gebiete, in denen akute Hungersnot herrscht, aber weltweit kann von einer gewissen Entspannung der Welternährungslage gesprochen werden.
Ist etwa eines der Ziele der UN-Welternährungskonferenz von 1974 schon erreicht, wonach innerhalb einer Dekade „kein Kind hungrig zu Bett gehen und keine Familie sich um das Brot für den kommenden Tag sorgen" soll? Kann wirklich schon von der „Ausrottung von Hunger und Unterernährung" im Sinne dieser Konferenz gesprochen werden?
Alle diese Fragen sind eindeutig zu verneinen. Die gegenwärtig zum Teil zu verzeichnende Entspannung ist in erster Linie auf die günstige klimatische Entwicklung und nicht auf einen grundlegenden Kurswechsel in der Agrarpolitik zurückzuführen.
Auch in den Entwicklungsländern in ihrer Gesamtheit stieg die Nahrungsproduktion in den beiden letzten Jahren um etwa drei Prozent.
Aber dieser Durchschnittswert liegt nicht nur wesentlich unter dem von der UNO für die laufende Entwicklungsdekade für erforderlich gehaltenen jährlichen Steigerungssatz von vier Prozent, sondern er verdeckt auch die erheblichen Ungleichheiten zwischen den einzelnen Entwicklungsländern, und er läßt den Bevölkerungszuwachs völlig außer acht. Setzt man die Steigerung der Nahrungsproduktion in den Entwicklungsländern in Beziehung zu der gestiegenen Kopfzahl der Bevölkerung, so ergibt sich ein völlig anderes Bild: Die Pro-
Kopf-Erzeugung stieg nur um weniger als ein Prozent, und auch dabei bestehen Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern. Greift man die 24 ärmsten afrikanischen Länder heraus und stellt man auf die Pro-Kopf-Erzeugung ab, so ergibt sich zwischen 1975 und 1976 nicht nur keine Steigerung der Produktion, sondern sogar ein Rückgang um 3, 3 Prozent!
Die weltweite — und wie gesagt im allgemeinen auch in den Entwicklungsländern zu verzeichnende — leichte Entspannung birgt die Gefahr in sich, daß die anhaltende Dringlichkeit umfassender — und sich nicht auf die Produktionssteigerung beschränkender — Maßnahmen verkannt wird und man die Dinge treiben läßt, so wie das vor der letzten Krise von 1972/74 der Fall war. Diese Befürchtung gilt insbesondere für die ärmsten Entwicklungsländer, in denen die Steigerungsrate unter dem Durchschnitt liegt. Mit Recht stellte der UNO-Welternährungsrat daher im Sommer 1977 bei der Würdigung der statistischen Meldungen fest: »Während sich oberflächlich betrachtet die Ernährungslage merklich gebessert hat, wurden die von der Welternährungskonferenz herausgearbeiteten Grundprobleme nicht gelöst.“ Wie die Krise im Jahre 1973 gezeigt hat, kann sich die Lage schnell verändern, wenn größere Produktionsgebiete durch ungünstige Wetterverhältnisse betroffen werden. Ein schlechter Monsun in Asien — und den Rekordernten der Jahre 1975 bis 1977 würden Mißernten folgen. Die Erfahrung lehrt, daß die Spanne zwischen Mangel und Überschuß überaus klein ist.
Die Dimension des Problems der Unterernährung wird durch Schätzungen der Weltbank und der FAO deutlich, wonach gegenwärtig mindestens etwa 500 bis 600 Millionen Menschen unterernährt sind. Dabei handelt es sich um die Ärmsten der Armen. Unterstellt man, daß der Anteil der Unterernährten an der Weltbevölkerung unverändert bleibt, so wäre schon für Mitte der achtziger Jahre mit mindestens 750 Millionen unterernährter Menschen zu rechnen. Wie noch darzulegen sein wird, gibt es insbesondere für diese Dimension des Hungerproblems bisher kein überzeugendes Lösungskonzept, zumal die Grundursachen für diesen Aspekt nicht in erster Linie produktionstechnischer Art sind, sondern sozio-ökonomischer Natur. Im Welternährungsrat wurden 43 Länder als die eigentlichen Hungergebiete identifiziert. Auf sie entfallen mehr als 50 Prozent der Bevölkerung aller Entwicklungsländer (ausgenommen China).
Der Ernst des Welternährungsproblems läßt sich in Zahlen nur unvollkommen ausdrücken. Die Lawine des Bevölkerungszuwachses rollt weiter, und es wird vielfach immer noch übersehen, daß ein Geburtenüberschuß von jährlich zwei Prozent gleichbedeutend mit einer Verdoppelung der Weltbevölkerung in 35 Jahren ist. Der Bedarf an Nahrungsmitteln wächst entsprechend. Selbst eine sofort einsetzende, effiziente weltweite Familienplanung — eine Utopie — würde nicht verhindern, daß sich die Weltbevölkerung von etwa vier Milliarden heute auf sechs Milliarden im Jahre 2000 vermehrt.
II. Zunehmende Gefahr einer Versorgungskrise
Ein Versorgungsengpaß — infolge des steigenden Lebensstandards und des anhaltenden Bevölkerungszuwachses — droht nach dem heutigen Stand der Erkenntnis von der zweiten Hälfte der achtziger Jahre an, und zwar unabhängig von der klimatischen Entwicklung. Wetterkatastrophen würden die Lage weiter verschärfen.
Das auf dem Gebiet der Weltagrarfragen führende International Food Policy Research Institute in Washington, dessen Schätzungen auch der Welternährungsrat übernommen hat, rechnet — unter den gleich zu erwähnenden Annahmen — damit, daß den Entwicklungsländern bereits im Jahre 1985 Getreide in einer Größenordnung zwischen etwa 150 bis 200 Millionen Tonnen fehlen wird (bei einer Eigenproduktion dieser Länder von etwa 376 Millionen Tonnen im Jahre 1976). Diese düstere Voraussage berücksichtigt sowohl die voraussichtliche Entwicklung der Nachfrage (durch Einkommenssteigerung und Geburten-zuwachs) als auch die der Produktion. Sie geht davon aus, daß die Agrartechnik und ihre Anwendung nur etwa im gleichen Tempo wie bisher fortschreitet und daß keine umwälzenden agrarpolitischen Maßnahmen getroffen werden. Es wird ferner unterstellt, daß es in den Entwicklungsländern bei der jährlichen Steigerung der Produktion um etwa 2, 5 Prozent bleibt (wie im Zeitraum 1960— 1974).
Ein Teil des zu erwartenden Defizits könnte — wie bisher — durch (kommerziell oder als Nahrungsmittelhilfe erfolgende) Einfuhren gedeckt werden. Die Deckung des verbleibenden Bedarfs wäre aber nur möglich, wenn die Entwicklungsländer ihre Nahrungsproduktion jährlich um mindestens durchschnittlich 4 Prozent erhöhen könnten. Haben sie das Potential, dieses Ziel so rechtzeitig zu erreichen, daß eine Krise vermieden werden kann? Auf diese Frage gibt es im wesentlichen drei völlig verschiedene Antworten.
Ernährung der Entwicklungsländer durch die Industrieländer?
Nach dieser These haben die meisten Hunger-länder auch auf mittlere Sicht nicht das Potential zur Selbstversorgung. Man traut ihnen weder die technischen Fähigkeiten noch die politische Kraft zu, um ihre eigene Produktion in dem erforderlichen Maß zu steigern. Nach dieser These müssen die Industrieländer daher ihre Produktionskapazitäten für Grundnahrungsmittel gewaltig ausbauen, um den zunehB menden Bedarf der Hungerländer mitzudek-ken. Dabei wird vor allem auf die großen, noch längst nicht voll genutzten Möglichkeiten in Nordamerika und Australien verwiesen. Gegen diese „Lösung" sind vordergründig insbesondere zwei Einwände zu erheben:
— Einerseits ist auch das Produktionspotential der Industrieländer nicht unerschöpflich, zumal ja auch über das Jahr 1985 hinaus gedacht werden muß, — und andererseits stellt sich die Finanzierungsirage.
Es ist kaum vorstellbar, daß die Entwicklungsländer über ausreichende Mittel verfügen werden, um Einfuhren im erforderlichen Ausmaß zu bezahlen (Größenordnung für je 100 Millionen Tonnen Weizen einschließlich Fracht etwa 50 Milliarden $!). Eine Finanzierung im Rahmen der Entwicklungshilfe würde die dafür insgesamt verfügbaren Mittel weit überschreiten.
Massive Nahrungsmittelhilfe kann überdies wie ein „süßes Gift" den Willen zur Selbsthilfe mindern, wenn sie nicht sorgfältig geplant wird. Durchschlagend ist aber vor allem eine andere Erwägung: Die weitgehende Abhängigkeit der Hungerländer von ausländischen Nahrungsmitteln würde auf eine fortgesetzte Vernachlässigung ihrer eigenen Landwirtschaft hinauslaufen, d. h.des entwicklungspolitisch wichtigsten Teils ihrer nationalen Wirtschaft, in welchem durchschnittlich noch etwa 60— 80 Prozent der Bevölkerung tätig sind. Das Angewiesensein auf Nahrungseinfuhren ist gleichbedeutend mit politischer Abhängigkeit vom Lieferanten. Nahrung würde zur „Waite“ werden.
Die Entwicklungsländer ihrem Schicksal überlassen?
Nach einer zweiten, apokalyptisch anmuten-den These ist die Chance einer Anzahl von Ländern, ihre Eigenproduktion von Grundnahrungsmitteln ausreichend zu steigern, so gering, daß man sie im Interesse aller anderen Länder ihrem Schicksal überlassen müßte. Es werde ohnehin ein Zeitpunkt kommen, in welchem auch die Überschüsse der Industrieländer nicht mehr ausreichen würden, um allen Hungerländern zu helfen. Alle Anstrengungen müßten auf die Länder konzentriert werden, welche eine echte Überlebenschance haben. Damit werden Probleme eines Versorgungsnotstands mit Nahrung berührt, welche unter den Stichworten „Triage“ -und „Rettungsboot Konzept“ in den letzten Jahren vor allem in den USA leidenschaftlich erörtert worden sind.
Nach dem Triage-Konzept, das einer bestimmten militärärztlichen Kriegspraxis entlehnt ist, werden im Falle des Fehlens von Ärzten, Instrumenten und Medikamenten die Verwundeten in drei Kategorien eingeteilt: diejenigen, welche auch ohne sofortige Hilfe überleben würden, diejenigen, die in jedem Fall unrettbar verloren sind, und diejenigen, die nur bei sofortiger ärztlicher Hilfe eine Überlebenschance haben. Parallel dazu geht das Rettungsboot-Konzept davon aus, daß jedes Boot nur eine beschränkte Aufnahmekapazität besitzt. Wenn diese fast erreicht ist, stehen die Bootsinsassen vor dem Problem, welche Auswahl sie aus der Masse der Schiffbrüchigen treffen sollen, um eine Überbeanspruchung zu vermeiden, da diese den Tod sowohl der Insassen als auch der Neuaufgenommenen bedeuten und daher niemandem nützen würde.
Es gibt in den USA ernst zu nehmende Stimmen, die dem Triagebzw. Rettungsboot-Konzept bereits aktuelle Bedeutung zusprechen möchten. Hilfe, vor allem Nahrungsmittelhilfe, ist in dieser Sicht eher schädlich als nützlich, wenn ihre Gewährung nicht zu einer Dauerlösung des Ernährungsproblems beiträgt. Rein karitative, das Übel nicht an der Wurzel anpackende Hilfe kann von diesem Standpunkt aus sogar unethisch sein, da sie langfristig noch größeres Elend schafft, als sie mildert.
Der durch den Club of Rome auch in Europa bekanntgewordene Jay Forrester (Massachusetts Institute of Technology) hat das einmal so ausgedrückt: „Die geretteten Menschen werden sich weiter vermehren. Hilfe führt zu einer noch größeren Anzahl krisengefährdeter Menschen, zu noch größerem Bedarf an Hilfe und schließlich zu einer Situation, die selbst die Hilfe nicht mehr bewältigen kann.“
In einem offiziellen Hearing im US-Kongreß verteidigte der Oko-Biologe Garrett Hardin (California University) seine in vielen Publikationen vertretene These: „Wenn das Boot sinkt, ertrinken alle. Complete justice, complete catastrophe." Der Abgeordnete John Dingell, welcher das Hearing geleitet hat, wurde in einem Interview mit der New York Times nicht weniger deutlich: „Wir können solche Entscheidungen weder moralisch noch politisch treffen." Aber — so meinte Dingell — manche politischen Entscheidungen werden nicht bewußt getroffen, sondern ergeben sich von selbst: „The hard fact of the matter is that nature is probably going to make those judge5 ments for us . . . Triage is going to come upon us whether we like it or not."
Die Triageund Rettungsboot-Konzepte waren im Jahre 1975 der Ausgangspunkt für Gesetzentwürfe von Kongreßabgeordneten aus Kalifornien und anderen Bundesstaaten, wonach die USA die Nahrungshilfe an Länder einstellen sollen, die keine „vernünftigen und produktiven“ Anstrengungen zur Eindämmung ihres Bevölkerungswachstums unternehmen. Einer der hinter dieser Initiative stehenden Abgeordneten, Jerry Litton, bekam Berge von Briefen, in welchen die ganze Entwicklungshilfe als sinnlos kritisiert wurde. Der berühmte Tropenagronom und Buchautor Paddock schloß sich diesen Thesen an und meinte zynisch: „Wir könnten alle aufhören, Fleisch zu essen und damit 800 Millionen Menschen durchbringen. Aber wenn die Weltbevölkerung in einem Jahr um 90 Millionen wächst, was geschieht dann in neun Jahren?“
Die im Zusammenhang mit den Triage-und Rettungsbootkonzepten angestellten Erwägungen blieben natürlich nicht ohne Widerspruch. Senator Hubert Humphrey nannte die Triage-und Rettungsboot-Konzepte „obszön“, und der Politikwissenschaftler Peter Henriot (Jesuit) meinte: „Ehe wir beginnen, Leute aus dem Rettungsboot zu werfen, sollten wir zumindest erst einmal die Golfschläger über Bord werfen.“ Allerdings würde Paddock wohl zu dieser im Grunde nur auf Zeitgewinn ausgehenden These wie beim Beispiel des Verzichts auf Fleischkonsum die Frage stellen: Und danach? Robert McNamara bezeichnete die beiden Konzepte nicht nur als „moralisch verwerflich“, sondern auch als „technisch falsch“.
Dauerlösung nur durch Mobilisierung des Eigenpotentials der Entwicklungsländer Die Mehrheit aller Fachleute ist sich heute über eine dritte These einig, daß nämlich die Entwicklungsländer ein beträchtliches, längst nicht voll genutztes Eigenpotential zur Steigerung ihrer Nahrungsproduktion besitzen. Das gilt sowohl für die technische als auch für die ökologische Seite der Produktion. Nicht nur das bereits erwähnte Internationale Food Poli-cy Research Institute in Washington, sondern auch der Welternährungsrat und die FAO sind der Meinung, daß die Entwicklungsländer in der Lage sind, ihre Nahrungserzeugung jährlich um mindestens 4 Prozent zu steigern. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch zwei unter der Leitung der Nobelpreisträger Wassily Leontief und Jan Tinbergen für die Vereinten Nationen bzw.den Club of Rome erarbeitete Studien (1976): „Zukunft der Weltwirtschaft" (Leontief) und „Wir haben nur eine Zukunft“ (Tinbergen). Die Leontief-Studie hält eine Steigerungsrate von 5 Prozent für notwendig und möglich.
III. Notwendigkeit einer umfassenden Strategie
Freilich stellt die Beseitigung des Hungers und der Unterernährung in den Entwicklungsländern nur einen von vielen Aspekten der Unterentwicklung, d. h.der Armut, dar. Die Strategie zur Lösung des Problems muß daher ein großes Bündel von Maßnahmen umfassen, die weit über die technischen Aspekte der Produktionssteigerung hinausgehen. Neben einer „rationellen“ Bevölkerungspolitik (die ihrerseits ohne eine Verminderung der Armut allenfalls Teilerfolge erzielen kann) spielen zwei ineinander übergreifende Bereiche die Hauptrolle: 1. Maßnahmen zur Produktionssteigerung und 2. Schaffung der sozialen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Produktionssteigerung und die Verteilung der produzierten Nahrungsmittel.
Eine einseitig auf Produktionssteigerung ausgerichtete Strategie könnte nur begrenzte Erfolgsaussichten haben.
Die Möglichkeiten zur Steigerung der Nahrungsproduktion Stellt man einmal ausschließlich auf die produktionstechnische Seite ab — was, wie gesagt, angesichts ihre untrennbaren Verflechtung mit den sozio-ökonomischen Aspekten nur einen begrenzten Aussagewert hat —, so bestehen hauptsächlich zwei Möglichkeiten:
— Erweiterung der Anbauflächen;
— Erhöhung der Erträge auf dem bereits kultivierten Ackerland, d. h. Steigerung der Produktivität. (Die zusätzliche Nutzung des Potentials der Meere und die Produktion „unkonventionelB ler" Nahrungsmittel bleiben hier außer Betracht.) In den letzten zehn Jahren ergaben sich 15 Prozent des jährlichen Produktionszuwachses aus der Zunahme der Anbaufläche, 85 Prozent aus der Steigerung der Flächenerträge. Die verstärkte Nutzung beider Formen der Produktionsreserven hängt u. a. auch von der Preispolitik in den Anbauländern ab.
IV. Erweiterung der Anbauflächen
Von der festen Landoberfläche der Erde (etwa 13, 4 Milliarden ha) werden heute nur rund 10 Prozent (etwa 1, 36 Milliarden ha) als Ackerland genutzt. Etwa 22 Prozent entfallen auf Wiesen und Weiden, rund 30 Prozent auf Wald. Die Industrieländer (weniger als 30 Prozent der Weltbevölkerung) verfügen über rund 47 Prozent des genutzten Ackerlandes.
Zu der entscheidenden Frage, welche zusätzlichen Flächen möglicherweise noch als Acker-land gewonnen werden könnten, gibt es viele spekulative, ja utopische Konzepte, zumal es an einem ausreichend klar umrissenen Begriff des „potentiellen Ackerlandes" fehlt. Feststehen sollte allerdings wohl, daß eine Bodenfläche nicht schon deswegen als Ackerland in Betracht kommt, weil sie mit dem Pflug bearbeitet werden kann.
Eine nüchtern-realistische Wertung kann auch heute noch von einer Studie des Wissenschaftlichen Beratungsausschusses des US-Präsidenten aus dem Jahre 1967 ausgehen. Auf der Basis dieser Studie und unter Berücksichtigung weiterer Forschungsarbeiten kommt der Harvard-Professor Roger Revelle nach Abwägung aller Faktoren zu dem Ergebnis (1976), daß die nutzbare Ackerfläche von gegenwärtig etwa 1, 36 Milliarden ha bis zum Jahre 2000 auf 4, 23 Milliarden ha erweitert werden kann.
Die größten ungenutzten Reserven an potentiell nutzbarem Ackerland aller Entwicklungsländer liegen in Südamerika und Afrika, während das Erweiterungspotential in Asien relativ gering ist. Die in Lateinamerika und Afrika reichlich vorhandenen Landkapazitäten würden allerdings den Millionenmassen in Asien nur zugute kommen, wenn man an Wanderungsbewegungen gewaltigen Ausmaßes zwischen den Kontinenten denken könnte.
Die technische Möglichkeit der Ausweitung der Anbauflächen ist freilich nur ein Aspekt. Von entscheidender praktischer Bedeutung ist die Kostenfrage. Die darüber vorgenommenen Schätzungen geben eine gewisse Vorstellung von den in Betracht kommenden Größenordnungen, nämlich einen Finanzbedarf von „mehr als 700 Milliarden $" für Asien, Südamerika und Afrika: Wenn man diese Investitionssumme über 25 Jahre verteilen würde, so würden sich die jährlichen Kosten auf 30 Milliarden belaufen, also weniger als ein Prozent des gegenwärtigen Weltprodukts. Vergleichsweise sei erwähnt, daß sich die Weltausgaben für Rüstungen 1975 auf 280 und 1976 auf 334 Milliarden Dollar belaufen haben. Andererseits betrugen die Kosten der gesamten Entwicklungshilfe 1976 24 Milliarden Dollar.
Während die vorliegenden Schätzungen immerhin gewisse Vorstellungen über die technische „Machbarkeit“ und den Finanzbedarf erlauben, sind die Auswirkungen der für erforderlich gehaltenen Umwandlungen von Landflächen in Ackerland auf die Umwelt nur völlig unzulänglich erforscht. Beispielsweise birgt die in großem Maßstab vorgenommene Abholzung von Tropenwäldern zur Gewinnung von Ackerland nach dem heutigen Stand der Kenntnis die Gefahr, daß der gerodete Boden sich schon in kurzer Zeit unter der Sonneneinstrahlung durch chemische Veränderungen in Wüste verwandelt. Diese und zahlreiche andere Probleme können kaum ernst genug genommen werden.
V. Intensivierung der Erzeugung (Steigerung der Produktivität)
Wenn auch die von Land zu Land verschiedenen Möglichkeiten der Produktionssteigerung durch Gewinnung zusätzlichen Ackerlandes genutzt werden müssen, so sind sich alle Sachverständigen darüber einig, daß — vor al-lem kurz-und mittelfristig — die Hauptanstrengungen der Entwicklungsländer der Intensivierung der Erzeugung auf den bereits kultivierten Flächen gelten müssen. In vielen Entwicklungsländern wird Landwirtschaft zum Teil noch wie vor Jahrhunderten betrieben. Daher erreichen die Erträge je Flächeneinheit z. B. für Getreide im Durchschnitt der Entwicklungsländer nicht mehr als etwa ein Viertel der Erzeugung in den leistungsfähigsten Industrieländern. Während z. B. die USA je Hektar 55 dz Mais erzeugen, liegt der Durchschnittssatz in den Entwicklungsländern bei nur 14 dz. Japan produziert 55 dz Reis per Hektar verglichen mit einem Durchschnitt von 18 dz in den Entwicklungsländern.
Um höhere Erträge zu erzielen, bedarf es zahlreicher Maßnahmen wie z. B.der folgenden: Bessere Bodenvorbereitung, Bewässerung, verbesserte Düngung, Verwendung von Hochleistungssaatgut, Pflanzenschutz, Verminderung von Verlusten nach der Ernte. Auch die Mechanisierung ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Sie darf aber nicht schematisch durch Übernahme der Systeme hochentwickelter Länder erfolgen, sondern muß der Lage in jedem einzelnen Land, insbesondere dem Überangebot von Arbeitskräften, angepaßt werden.
Die Erwähnung von Hochleistungssaatgut löst das Stichwort „Grüne Revolution“ aus. Die dahinterstehende Technik beruht auf einer Kombination der Verwendung von Hochleistungssaatgut, verstärkten Gaben richtig ausgewählten Düngers und ausreichender Bewässerung. Das Saatgut ist das Ergebnis langjähriger züchterischer Bemühungen, die Pflanze durch Kreuzung verschiedener Sorten so „umzubauen", daß sie bei ausreichenden Wassermengen mehr Stickstoff aufnimmt und die Sonneneinstrahlung besser nutzt. Die neue Technik ermöglicht Ernteerträge, welche beim Mehrfachen des Gewohnten liegen. Einer spektakulären Welle des Optimismus über die Auswirkungen der „Grünen Revolution" folgte eine Periode des Pessimismus. Neben sozialen und wirtschaftlichen Problemen (z. B. Benachteiligung der armen Bauern) ergaben sich neue technische Fragen (z. B. zusätzliche Risiken der Verbreitung von Pflanzenkrankheiten und -Schädlingen). Bald setzte sich die Erkenntnis durch, daß man erst am Anfang der „Revolution" stehe und daß es zur vollen Ausnutzung des Potentials der neuen Sorten noch umfassender Forschungsarbeiten bedarf. Die Anbautechnik, die Düngung und Bewässerung müssen den örtlichen Gegebenheiten angepaßt werden. Aber trotz aller Rückschläge und noch zu lösender Probleme stellt die neue Technik unter allen Einzelmaßnahmen die wichtigste Hoffnung für eine Steigerung der Hektar-Erträge in vielen Entwicklungsländern dar. Allerdings kommen wegen des Bewässerungsproblems in absehbarer Zeit kaum mehr als etwa 30 Prozent des Ackerlandes für die Verwendung der Hochleistungssorten in Betracht. „Mensch oder Schwein“?
Im Zusammenhang mit der Förderung der Tierzucht wird oft die Frage aufgeworfen, wie die Nutzung des knappen Landes zwischen dem Bedarf für die direkte menschliche Ernährung und für Viehfutter am zweckmäßigsten aufgeteilt werden soll. Der Holländer Sicco Mansholt — früherer Präsident der Europäischen Gemeinschaft — hat dieses Dilemma durch die Formel „Mensch oder Schwein“ besonders drastisch herausgestellt, und der Franzose Rene Dumont charakterisiert die Fleischesser sogar als „Kannibalen“. Beide gehen — zutreffend — davon aus, daß durch die Verwendung von Getreide als Viehfutter — statt direkt für die menschliche Ernährung — etwa sechs Siebentel der im Getreide enthaltenen Kalorien verlorengehen. Allein in den entwickelten Ländern werden jährlich 300 Millionen t Getreide verfüttert — eine Menge, die größer ist als der Jahresbedarf Indiens und Chinas für die menschliche Ernährung. Verstärkte Viehzucht hat in den USA in den letzten zehn Jahren zu einer Erhöhung des Getreideverbrauchs um 16 Prozent, in der Sowjetunion sogar um 30 Prozent geführt. Die These, wonach den Armen das Brot vorenthalten wird, damit die Rinder der Reichen Fleisch ansetzen, würde allerdings an Durchschlagskraft gewinnen, wenn man aufzeigen könnte, wie die Senkung des Fleischverbrauchs bei den Reichen den Hungrigen zugute kommen würde. Da Nahrungsmittel nicht wie Wasser in kommunizierenden Röhren automatisch hin-und herströmen, müßte man den Armen auch die Kaufkraft geben, um das durch Konsumbeschränkung „freigewordene" Getreide zu erwerben.
Soweit die Viehfütterung durch verbesserte Verwendung von Heu, Stroh, Ernteabfällen und Nebenprodukten erfolgt, entfallen die vorerwähnten, nicht zu bagatellisierenden Probleme.
VI. Gewaltiger Investitionsbedarf
Die Steigerung der Produktion, gleichgültig ob durch Erweiterung der Anbaufläche oder durch Erhöhung der Erträge je Flächeneinheit, erfordert gewaltige Investitionen.
Die Welternährungskonferenz schätzte — in eher problematischer Weise — den jährlichen Finanzbedarf für landwirtschaftliche Investitionen auf 16 bis 18 Milliarden S, um eine Steigerung der Nahrungsmittelproduktion um 4 Prozent im Jahre möglich zu machen.
Nach Schätzungen des Welternährungsrats vom Juni 1977 müßten mindestens 8, 3 Milliarden $des jährlichen Finanzbedarfs durch bilaterale und multilaterale Hilfe aufgebracht werden. Das wären etwa 2, 3 Milliarden S mehr als in den Jahren 1975 und 1976. Ein Teilbetrag der Differenz könnte durch den neu gegründeten Internationalen Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung (IFAD) gedeckt werden, welcher mit einem Anfangskapital von etwa einer Milliarde S im Januar 1978 seine Tätigkeit aufgenommen hat.
Diesen Schätzwerten für die kommenden Jahre stehen folgende Zahlen über das Volumen der — multilateral und bilateral — für die der Landwirtschaft in den Entwicklungsländern gewährten finanziellen Hilfe gegenüber: Je 5, 5 Milliarden 8 für die beiden genannten Jahre und 2, 1 Milliarden S im Jahre 1973. Auf die multilaterale Hilfe entfielen davon fast zwei Drittel. Die OPEC-Länder brachten 1975 etwa 700 Millionen S für Agrarhilfe auf.
Das Kriterium der Bedürftigkeit der einzelnen Empfängerländer für die Agrarhilfe wurde bisher nur in völlig unzulänglicher Weise berücksichtigt. Im Jahre 1975 erhielten 26 Länder mit einem Pro-Kopf-Einkommen von weniger als 150 8 im Jahr, d. h. die Ärmsten der Armen, nur 33 Prozent der gesamten Agrarhilfe, obwohl auf diese Ländergruppe 45 Prozent der Bevölkerung der Dritten Welt entfallen.
Alle bisher bekannten Schätzungen des Investitionsbedarfs tragen stark spekulativen Charakter und sind mit Vorsicht aufzunehmen. Sie lassen insbesondere die reale Aufnahmefähigkeit (Absorptionsfähigkeit) der Entwicklungsländer für von außen zufließende Ressourcen außer acht. Hinzu kommt, daß manche UNO-Organisationen, und zwar insbesondere die FAO und der Welternährungsrat der UNO, die massive Verstärkung des Ressourcentransfers in der Form von Krediten und verlorenen Zuschüssen als Conditio sine qua non hinzustellen pflegen, ohne die Notwendigkeit der Eigenanstrengungen der Empfängerländer mit gleicher Deutlichkeit transparent zu machen. Dem Transfer zusätzlicher Ressourcen von außen wird damit eine Alibi-Funktion gegeben, um unzureichende Bemühungen mancher Entwicklungsländer zu verdecken. Wenn — wie im folgenden darzulegen versucht wird — der Hauptengpaß für die Steigerung der Nahrungsmittelproduktion nicht in technologischen Maßnahmen der Produktionserhöhung liegt, sondern in der Lösung komplexer und politisch heikler sozio-ökonomischer Probleme, so ist es nicht zu verantworten, die diesbezüglichen Eigenanstrengungen der Entwicklungsländer durch Warten auf verstärkte Ressourcenzuflüsse noch weiter hinauszuzögern. Viele Maßnahmen hängen überhaupt nicht oder nur teilweise von der Verfügbarkeit äußerer Ressourcen ab (z. B. ausreichende Anreize für die Landwirte, insbesondere kostendek-kende Preise; Maßnahmen der Landreform; Schaffung von Infrastrukturen aller Art, gegebenenfalls auch durch öffentliche Arbeitsprogramme). Auch die Durchsetzung diesbezüglicher Entscheidungen ist ohne die Verfügbarkeit gewisser Ressourcen nicht möglich. Zum mindesten aber könnten wesentliche erste Schritte mit eigenen Mitteln und — durch richtige Prioritätenbestimmung — im Rahmen des bereits bestehenden Volumens der Auslandshilfe eingeleitet werden. Die vorerwähnten Zusammenhänge werden vielfach — bewußt oder unbewußt — ignoriert, obwohl sie entwicklungspolitisch für Geber-und Nehmer-länder von fundamentaler Bedeutung sind.
VII. Die sozio-ökonomischen Aspekte des Welternährungsproblems
Wie erwähnt, stellen die Maßnahmen zur Produktionssteigerung nur einen von mehreren Bereichen einer Gesamtstrategie zur Sicherung der Welternährung dar. Noch sehr viel komplexer ist die wirtschaftlich-soziale Seite der Strategie, zumal mit ihr auch, direkt oder indirekt, die „Lösung" des Problems des Bevölkerungszuwachses verbunden ist. Es besteht heute weitgehende Übereinstimmung insbesondere über folgende — bei allen Überlegungen über eine Strategie der ländlichen Entwicklung zu berücksichtigende — Punkte
1. Selbst die beste Agrartechnik nützt wenig, solange ihre Anwendung aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen — insbesondere wegen Fehlens eines aufnahmefähigen Marktes mangels kaufkräftiger Nachfrage — nicht sinnvoll wäre. Eine nachhaltige Steigerung der Agrarproduktion ist nicht isoliert, sondern nur im Rahmen der Förderung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung denkbar.
Die Unterernährung ist nicht immer die Folge eines unzureichenden Produktionspotentials. Der eigentliche Funktionszusammenhang — oder besser: der Circulus vitiosus — lautet: Arbeitslosigkeit — Armut — fehlende kaufkräftige Nachfrage — geringe (vorwiegend auf den Eigenbedarf beschränkte) Produktion von Nahrungsmitteln — Unterernährung.
Ohne die Schaiiung von Arbeitsplätzen und die damit bewirkte Bildung von Kaufkraft für Hunderte von Millionen von Menschen, die heranwachsen und noch geboren werden, kann das Welternährungsproblem nicht gelöst werden.
4. In den nächsten Jahrzehnten kommt den ländlichen Gebieten der Entwicklungsländer entscheidende beschäftigungs-und damit entwicklungspolitische Bedeutung zu. Eine Ankurbelung der Agrarproduktion — als wesentlicher Bestandteil einer Strategie ländlicher Entwicklung — würde nicht nur die Nahrungsversorgung verbessern, sondern auch — bei Anwendung einer vernünftig angepaßten Technik — gleichzeitig Arbeitsplätze und damit Kaufkraft schaffen. 5. Ohne die Mobilisierung der breiten Massen — in geeigneten Fällen auch durch öffentliche Arbeiten — der ländlichen Bevölkerung sind die vorerwähnten Ziele unerreichbar. Sie müssen motiviert werden, Nahrungsmittel über ihren Subsistenzbedarf hinaus zu erzeugen.
6. Rein technisch ausgerichtete Interventionen (wie z. B. fachliche Beratung, vergünstigte Bereitstellung von Produktionsmitteln und Kredithilfen 2)) sind wichtig, reichen aber meistens nicht aus, um die Masse der kleinen Produzenten zu motivieren oder sie darüber hinaus in einem Prozeß nachhaltiger ländlicher Entwicklung zu integrieren.
7. In vielen Ländern ist eine radikale Landreform unerläßliche Voraussetzung für eine Produktionssteigerung und die ländliche Entwicklung. 8. Entscheidende Bedeutung kommt auch einer rationellen Preispolitik zu: „Wenn etwa Agrarpreise niedrig gehalten werden, um städtische Verbraucher mit niedrigem Einkommen zu subventionieren, gibt es für die Landwirte keinen Anreiz zur Produktionssteigerung.“ 3) Ohne Preisanreize können keine zusätzlichen Produktionsmittel (z. B. Dünger) eingesetzt oder weniger fruchtbares Land unter den Pflug genommen werden. Bauern in Entwicklungsländern reagieren auf Preise nicht unbedingt anders als Bauern in entwickelten Ländern. Gerade diesem Aspekt wird oft noch nicht gebührende Beachtung geschenkt, zumal sich die verantwortlichen Regierungen nicht gern an ihre diesbezüglichen Unterlassungssünden erinnern lassen. Das sich in vielen Ländern stellende Dilemma, einerseits die städtischen Massen mit billigen Lebensmitteln zu versorgen, andererseits aber die Nahrungsproduktion zu steigern, kann nicht durch Festhalten der Preise unter einem kostendeckenden Niveau gelöst werden. Den Bedürftigen muß gegebenenfalls durch verbilligte (staatlich subventionierte) Rationen geholfen werden. Billige Nahrungsmittel, die nicht produziert werden, lassen sich auch nicht verteilen. 9. Ein wesentlicher Faktor bei der Motivierung der kleinen Produzenten ist die Schaffung eines effizienten Vermarktungssystems, welches den von Land zu Land verschiedenen Verhaltensweisen dieser Gruppe Rechnung trägt (nicht zuletzt auch ihrer Furcht vor jeder zusätzlichen Form der Abhängigkeit oder Un-terdrückung) Für den bisher nur für den Eigenbedarf produzierenden Kleinbauern ist das Vermarktungsproblem eine unerläßliche Voraussetzung für jede Produktionssteigerung.
10. Nicht die hochmodernste, kapitalintensivste Technologie ist die richtige Technologie für den Kleinbauern und die ländliche Entwicklung allgemein, sondern eine angepaßte Technologie („appropriate technology“). Es ist anzustreben, „ein vernünftiges Gleichgewicht zwischen arbeits-und kapitalintensiver Technologie herzustellen mit dem Hauptziel, das Wachstum und die Beschäftigung zu maximieren und die Grundbedürfnisse zu befriedigen“ Die „angepaßte“ Technologie muß u. a. die reichliche Verfügbarkeit an (insbesondere ungelernten) Arbeitskräften berücksichtigen und von der Erkenntnis ausgehen, daß größere Produktionseffizienz nicht identisch ist mit dem Einsatz einer kapitalintensiven Technologie 11. Trotz vieler negativer — kostspieliger — Erfahrungen mit Genossenschaften in den Entwicklungsländern kann auf ein bis zum letzten Dorf reichendes System von Genossenschaften nicht verzichtet werden. Der Versuch allerdings, dabei das Genossenschaftskonzept der Industrieländer schematisch auf die Entwicklungsländer zu übertragen, mußte scheitern. Die Krise des Genossenschaftswesens in den Entwicklungsländern kann nur durch Konzepte überwunden werden, welche den völlig anderen Bedingungen und menschlichen Verhaltensweisen in diesen Ländern entsprechen.
12. Für die Anhänger einer „konventionellen“ Strategie besteht auch weitgehend Konsens bezüglich des komplexen Problems „cash-* oder „lood-crops“. Auch in den armen Ländern muß die Landwirtschaft dazu beitragen, Devisen zu verdienen, um damit die Einfuhr lebenswichtiger Güter bezahlen zu können. Die Situation ist allerdings von Land zu Land verschieden. Wenn feststeht, daß ein Entwicklungsland mit einem Nahrungsmitteldefizit durch Produktion und Export von cash-crops in der Lage ist, sich kurzfristig mehr an Grundnahrungsmitteln zu verschaffen als durch („direkte“) Eigenproduktion, stellen cash-crops die relativ beste Antwort zur Dekkung des Nahrungsdefizits dar. Etwaige Um-stellungen („Diversifikation“) bedürfen sorgfältiger Prüfung — übrigens zweigen gerade auch totalitäre Regime mit mehr oder minder kollektivisierter Landwirtschaft Agrarprodukte (einschließlich der im Land dringend benötigten Grundnahrungsmitteil) für den Export ab, weil sie für die Einfuhr anderer Güter Devisen brauchen.
VIII. Hilfe von außen
Die bilaterale und multilaterale Entwicklungshilfe steht bereit, um zur Lösung auch der Probleme sozio-ökonomischer Natur finanziell beizutragen — auch in „weichster" Form und durch verlorene Zuschüsse. Woran es allerdings fehlt, ist nicht nur (und wohl nicht einmal in erster Linie) die Verfügbarkeit an finanzieller Hilfe von außen — gleichgültig, ob als Kapital-, technische oder Nahrungsmittel-Hilfe —, sondern praktikable Konzepte, die sich in konkrete Pläne und Aktionen Umsetzen lassen (siehe auch oben Kap. VI). In seiner ersten Ansprache vor dem Gouverneursrat des Internationalen Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung (IFAD) stellte der Präsident des Fonds, Al-Sudeary, im vollen Bewußtsein der Problematik fest, daß „ein Mangel an solide konzipierten Projekten besteht, welche geeignet sind, den multilateralen und bilateralen Finanzierungsinstitutionen unterbreitet zu werden.
Auch der Weltbank fehlt es nicht an Problembewußtsein. Die Lage der ländlichen Armen und der Armen im allgemeinen wurde von Weltbankpräsident Robert McNamara in seiner besonders stark beachteten Rede im Herbst 1973 in Nairobi überaus plastisch dargestellt. Er wies darauf hin, daß sie keinen gerechten Anteil am Wirtschaftswachstum ha-ben und in einem „Zustand der Unterernährung, des Analphabetentums und der Verwahrlosung lebten". Er folgerte aus der bisherigen Erfahrung, daß sich „die Einkommensunterschiede lediglich vergrößern werden, sofern nicht Maßnahmen ergriffen werden, die unmittelbar den Ärmsten zugute kommen". Für ihn stand schon damals fest, daß „es daher keine echte Alternative zur Produktivitätssteigerung in der Landwirtschaft (gibt), wenn wirklich Fortschritte in der Beseitigung der absoluten Armut auf dem Lande erzielt werden sollen"
Es ist schwer begreiflich, wenn Ernest Feder den — in seiner Sicht auf finsteren Zielsetzungen basierenden — Nairobi-Plan der Weltbank u. a. durch den Hinweis zu darauf diskreditieren versucht, daß McNamara ganz freimütig bekannte, man habe noch keine klaren Antworten auf die sich stellenden komplexen Probleme Eine solche Haltung spricht für und nicht gegen die Bank. Unverständlich ist es, die Bank für die politische Machtvertei-lung in den Empfängerländern mit der Begründung verantwortlich zu machen (so Feder), daß „der Transfer von Geld und Inputs in den Sektor der Kleinbauern wenig, wenn überhaupt etwas, an der Agrarstruktur oder am wirtschaftlichen, sozialen und politischen Status der Armen auf dem Land angesichts der grundbesitzenden Elite verändert". Feder selbst hat außer einer totalitärkollektivistischen „Lösung" kein Patentkonzept anzubieten, um die gegebenen Strukturen in den souveränen Entwicklungsländern von heute auf morgen zu modifizieren, und seine Kritik an der Bank läuft daher im Grunde auf den Vorwurf hinaus, daß die Bank nicht die Propagierung einer radikalen und gewaltsamen Agrarrevolution auf ihr Banner geschrieben hat.
Das Problem, mit bestimmten Hilfsmaßnahmen bestimmte Zielgruppen zu erreichen, ist alt. Es ist . unvermeidbar', daß ländliche Entwicklungsprogramme (wie z. B. Bewässerungsvorhaben, Straßenbau, Einführung verbesserter Erziehungssysteme) den weniger armen Schichten mindestens ebenso viele Vorteile bringen wie den ganz Armen. Aber, wie ein wäre ILO-Papier mit Recht hervorhebt, es unrealistisch, darauf zu bestehen, daß alle Programme nur den Armen nützen. Das Administrative Committee on Co-ordination der UNO (ACC) hat daher die Empfehlung ausgesprochen, daß soche Programme „in erster Linie („pr. imarily") den ländlichen Armen Nutzen bringen n). Auch bei sonstigen Hilfsmaßnahmen für die Armen werden in fast jedem Regierungssystem — und gerade auch in einem totalitären — die etablierten (Macht-) Eliten in der Lage sein, direkt oder indirekt von Maßnahmen mitzuprofitieren, die für bestimmte Zielgruppen unternommen werden. Hier muß der Geber seinen Einfluß geltend machen. Ein multilateraler Geber pflegt bei solchen heiklen Uberwachungsmaßnahmen eine stärkere Position zu haben als ein bilateraler („ugly American", „ugly German"). An der Verfeinerung der Überwachung wird gearbeitet, aber eine hieb-und stichfeste Lösung kennt bisher niemand übrigens ist es reiner Wahn anzunehmen, daß in kollektivistischen Systemen die Gefahr der Fehlleitung von Ressourcen völlig ausgeschlossen ist und daß sich die Machthaber absolut uneigennützig verhalten. Die Erfahrungen mit allen Planwirtschaften liefern Beispiele gigantischer Fehlleitungen von Ressourcen. Die Planungs-Bürokratie vergeudet in der Regel Ressourcen, weil sie nicht gezwungen ist, die ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen auf die produktivste Weise einzusetzen. Daß sich die Machthaber in kollektivistischen Systemen bei ihrer Art von Herrschaft über Menschen durchweg uneigennütziger verhalten als Menschen in anderen Systemen, ist eine historisch widerlegte Legende. Als autoritäre Herrscher haben sie es allerdings leichter, unerwünschte Publizität über ihr Verhalten zu unterdrücken.
IX. Unerläßliche Landreform
Die in Abschnitt VII unter Punkt 7. erwähnte Landreform ist ein Teilaspekt der Agrarreform Landreform im engeren Sinne betrifft sowohl die Eigentums-und Besitzverhältnisse am Boden als auch die Bewirtschaftungsformen Wie der (in Fußnote 13 zitierte) hochrangige FAO-Sonderausschuß feststellte, ist es ein „Grundprinzip", daß „der Nutzen aus der Bebauung des Bodens denjenigen zustehen soll, welche ihn bearbeiten". Damit wird das Problem des Eigentums am bebauten Land nicht direkt berührt. Aber: Im Zuge der Landreform müssen — so der Bericht — „die ländlichen Massen von den gegenwärtigen Landeigentümern unabhängig werden, und zwar entweder infolge einer Änderung der Eigentumsverhältnisse oder durch eine gesetzliche Regelung betr. die Teilpacht oder die Pacht".
Der FAO-Sonderausschuß war sich völlig klar darüber, daß Landreform identisch ist mit „Umverteilung der Macht“ zugunsten der bäuerlichen Massen. Entscheidungen über Landreformen sind daher politische Entscheidungen, welche von der Einstellung der regierenden Klassen (so der Bericht) bezüglich der Notwendigkeit von Veränderungen abhängen. Für den Fall, daß es in dieser Hinsicht an einer positiven Einstellung fehlt, weist der Bericht des Sonderausschusses auf die Möglichkeit der Einflußnahme durch „andere soziale Schichten" („other social strata") hin: „In einigen Fällen fand die Neustrukturierung graduell und innerhalb des Rahmens flexibler politischer Institutionen statt ... In anderen Fällen gingen den Agrarreformen radikale und revolutionäre Umwandlungen voran.“
Bemerkenswert und von aktueller Bedeutung ist der Standpunkt des Sonderausschusses zu dem heiklen Problem, inwieweit die UNO und ihre Sonderorganisationen auf Maßnahmen der Agrarreform in einzelnen Mitgliedsländern Einfluß nehmen können. Der Ausschuß hält zwar daran fest, daß jede Nation ihre eigenen Prioritäten bestimmt, ohne daß darauf von außen eingewirkt werden darf. Aber er stellt andererseits klar:
„Die Selbstbestimmung muß den Prinzipien der Charta entsprechen ... Es ist die Pflicht der Vereinten Nationen und ihrer Organisationen, sich nachdrücklich zu solchen Themen und zu den Grundsätzen zu äußern, welche sie dazu angenommen haben . . . Ihre Position muß absolut klar sein, und sie müssen in Übereinstimmung mit dieser Position handeln." Die FAO-Konferenz von 1971 nahm von dem Bericht des Sonderausschusses Kenntnis und empfahl ihn mit einigen abschwächenden Floskeln der Beachtung der Mitgliedsländer („consistent with the conditions prevailing in each of them"). Den bilateralen Gebern von technischer und Kapital-Hilfe wurde empfohlen, Entwicklungsländer bei Agrarreform-Maßnahmen nach den für internationale Hilfsorganisationen geltenden Kriterien zu unterstützen
Die FAO-Konferenz von 1977 entschied, daß die seit längerem geplante Sonderkonferenz für Agrarreform und ländliche Entwicklung („World Conference on Agrarian Reform and Rural Development") in der Zeit vom 12. bis 21. Juli 1979 in Rom stattfinden soll. Die Konferenz wird sich insbesondere mit den Proble-len der institutionellen Veränderungen befas-en, die für die ländliche Entwicklung und die Kobilisierung der ländlichen Massen erforder-ich sind. Sonderbeauftragter des Generaldiektors der FAO für die Konferenz ist der Chiene Santa Cruz.
iroße Erwartungen können an diese Verantaltung kaum geknüpft werden. Konzeptuell . at der hochrangige FAO-Sonderausschuß in einem Bericht von 1971 alles grundsätzlich Vichtige ausreichend klar gesagt. Ein echter lolitischer Durchbruch ist seitdem in den meiten Ländern nicht erkennbar. Bezeichnend var der Kommentar des nigerianischen Land-virtschaftsministers in öffentlicher Sitzung ler letzten FAO-Konferenz, wonach mit „klei-ien konkreten Ergebnissen“ zu rechnen sei, ind zwar „weil Landreformen auf sozialen ind politischen Prinzipien beruhen, die von . and zu Land stark unterschiedlich sind". Trotz der gebotenen Skepsis kommt der Kon-erenz für Agrarreform aber Bedeutung zu. Sie ietet die Gelegenheit, der Weltöffentlichkeit rneut die Wichtigkeit der ländlichen Entvicklung im Rahmen der gesamten Entwickungspolitik vor Augen zu führen und hervorzuheben, daß ohne eine Agrarreform (einschließlich der Landreform) Fortschritte kaum zu erzielen sind. Die Abhaltung der Konferenz enthält eine Mahnung an die Machteliten in ien hinsichtlich ihrer Agrarstrukturen besonders rückständigen Länder; sie bietet vor allem auch die Gelegenheit, die Lage in den einzelnen Ländern transparent zu machen.
Die Position der Weltbank zum Stichwort Landreform ist klar In dem in Nairobi vorgelegten „Aktionsprogramm" erklärte McNamara die Bereitschaft der Weltbankgruppe, . Land-und Pachtreformprogramme zu unterstützen, indem wir den Kleinbauern notwendige Starthilfen in der Folgephase geben sowie bei technischen und finanziellen Problemen von Landkäufen und -Zusammenlegungen mitwirken".
Aber McNamara hat keine Illusionen über die Durchführbarkeit von Landreformen. Er rechnet damit, daß „sich Mitglieder des politischen Machtgefüges, die über großen Grundbesitz verfügen, Reformbestrebungen widersetzen werden. Aber die „wirkliche Frage" ist für ihn nicht die, „ob eine Landreform politisch leicht durchsetzbar ist, sondern ob eine permanente Verschleppung einer Reform poli-tisch vertretbar ist. Eine ständig zunehmende Ungleichheit stellt eine wachsende Gefahr für die politische Stabilität dar" McNamara appelliert an die Regierungen der wohlhabenden Länder, solche Entwicklungsländer, die den politischen Mut haben, das Problem der Armut auf dem Lande anzupacken, nachhaltig zu unterstützen. In diesem Appell zur Bevorzugung von Ländern, die bereit sind, ihre Agrarstrukturen zu modernisieren, liegt — angesichts der nicht unbeschränkten Verfügbarkeit von Ressourcen für die Entwicklungshilfe — indirekt eine durchaus legitime „Interferenz" zum Nachteil solcher Länder, die zu Reformen nicht bereit sind (ganz im Sinne der zitierten Empfehlungen des FAO-Sonderaus-schusses)
X. Die Bedeutung des Agrarsektors im Rahmen der ländlichen Entwicklung
Die Entwicklung des Agrarsektors — und damit auch die Lösung der sozial-ökonomischen Aspekte — ist untrennbar mit der gesamten ländlichen Entwicklung verbunden Einen guten Überblick über das Gesamtproblem bietet ein Weltbank-Papier nach dem Stande von Ende 1974 Die darin vertretenen Grund-thesen sind die folgenden: „Das zentrale Konzept der ländlichen Entwicklung ist das eines Prozesses, durch welchen die ländliche Armut gemildert wird, und zwar durch nachhaltige Steigerungen der Produktivität und der Einkommen der Arbeiter und Haushalte mit niedrigen Einkommen. Der Akzent liegt auf der Steigerung der Produktion und Einkommen und nicht in einer bloßen, Umverteilung laufender Einkommen und des vorhandenen Besitzes, obwohl eine Besitzumverteilung wünschenswert oder sogar wesentlich innerhalb einer Gesamtstrategie der ländlichen Entwicklung sein kann, welche Produktionsziele mit Zielen der Verteilung und der Gerechtigkeit verbindet."
Das ILO-Aktionsprogramm von 1976 welches im Dezember 1976 auch durch die UNO-Generalversammlung angenommen wurde, basiert auf einer entwicklungspolitischen Gesamtstrategie, welche die Schaifung von Arbeitsplätzen und die Befriedigung der Grundbedürfnisse (basic needs) zum Hauptziel erklärt Dabei wird in dem ILO-Programm der Förderung der ländlichen Entwicklung hohe Priorität eingeräumt und insbesondere auch die Notwendigkeit von Agrarreformen im weitesten Sinne betont Der Hauptakzent liegt auf der Förderung einer Massenbeteiligung der ländlichen Bevölkerung
Ein nach der Verabschiedung des vorerwähnten Aktionsprogramms erarbeitetes ILO-Pa-pier befaßt sich spezifisch mit den Problemen der ländlichen Entwicklung. Dabei wird davon ausgegangen, daß ländliche Entwicklung vor allem die Verbesserung der Lebensbedingungen der Armen anzustreben hat:
„Eine solche Verbesserung ist durch Maßnahmen herbeizuführen, die die ländlichen Armen befähigen, ihre Produktivität und ihre Einkommen durch vollere Beschäftigung in landwirtschaftlichen und nichtlandwirtschaftlichen Aktivitäten zu steigern. Das bedeutet, daß sie Zugang zu Boden, Kapital und Information haben müssen. — Maßnahmen mit diesen Zielen müßten sich auf spezifische . Armuts-Gruppen'richten, wobei Kleinbauern, Pächter, Teil-pächter und Landlose einzubeziehen sind. In vielen Fällen bedeutet das einen scharfen Bruch mit den bisherigen Politiken und Programmen, die nicht spezifisch auf Armuts-Gruppen zielten und die in ihren Auswirkungen — mit oder ohne Absicht — in erster Linie den Großbauern, Großgrundbesitzern und anderen relativ wohlhabenden Gruppen zugute kamen... Ländliche Entwicklung in diesem Sinne erfordert die Umlenkung erheblicher öffentlicher Ressourcen weg von laufenden anderen Programmen und von ländlichen Gruppen mit Ausnahme der Armuts-Gruppen. Eine solche Politik macht die Mobilisierung zusätzlicher Ressourcen (z. B. durch Besteuerung) erforderlich."
Auch die OECD hat sich neuerdings dem Konzept einer Strategie zur Deckung der Grundbedürfnisse verschrieben Sie ist sich aber sehr wohl der Tatsache bewußt, daß kaum „eine Nation in diesem Jahrhundert bereit sein dürfte, einen Minimum-Lebensstandard als politisches Ziel für länger als eine vorübergehende Notstandsperiode zu akzeptieren" Viele Entwicklungsländer pflegen Versuche, sich auf solche Minimum-Standards zu einigen, als übertechnokratisch und paternalistisch mit größter Skepsis zu betrachten. Die OECD erblickt eine Antwort auf dieses heikle Problem darin, daß sie Strategien zur Deckung der Grundbedürfnisse als — von Land zu Land verschiedene — Teile von „integrierten Strategien für die nationale Entwicklung" gewertet sehen möchte. Dieses Konzept dürfte der Empfindlichkeit der Entwicklungsländer Rechnung tragen. Es handelt sich nicht darum, die gesamte Entwicklungspolitik aus-schließlich auf die Deckung von Grundbedürfnissen auszurichten, sondern innerhalb einer umfassenden Strategie der Deckung der Grundbedürfnisse höchste Priorität zu geben. In diesem Zusammenhang sollte auch nicht ignoriert werden, daß die UNO-Generalver-sammlung das ILO-Aktionsprogramm von 1976 einschließlich des Konzepts der basic needs übereinstimmend angenommen hat.
Dem ländlichen Sektor wird von der OECD zwar auch heute noch nicht ausdrücklich Spitzenpriorität eingeräumt, aber es ist doch immerhin von einer „more central role for rural development" die Rede Im „ 1977 Review" findet sich der Satz: „Im Gegensatz zu früher herrscht nunmehr Übereinstimmung darüber, daß in fast allen Entwicklungsländern der ländliche Fortschritt wesentlich ist für eine breite wirtschaftliche Entwicklung und eine gerechtere Verteilung und ihres Nutzens." Die heutige Position der OECD kommt somit in etwa der der ILO nahe.
Der Vorsitzende des Development Assistance Committee der OECD, Maurice Williams, erkennt an, daß die Unzulänglichkeiten des gegenwärtigen Systems der Entwicklung offensichtlich seien Aber er meint, daß es „zu viele Verbesserungs-Vorschläge gäbe, welche utopische Lösungen durch größere Veränderungen in den Machtstrukturen und in der Umverteilung des Reichtums als Voraussetzung für die Entwicklung anstreben". Nach Auffassung von Williams sind „revolutionäre Umwälzungen" zwar nicht auszuschließen („may eventually come to pass”), aber breite . internationale Unterstützung kann wahrscheinlich eher für evolutionäre Veränderungen mobilisiert werden. Diese evolutionären Maßnahmen müssen — so Williams — ungerechte Engpässe in der internationalen Wirtschaftsordnung beseitigen und den laufenden Prozeß strukturellen Wandels erleichtern" sowie zu einer konzertierten Anstrengung beitragen, um den Schwachen und Armen zu helfen
Diese Grundthesen verdienen Zustimmung. Von außen kann nur auf Maßnahmen evolutionären Charakters Einfluß genommen werden. Bisher liegt der Hauptakzent (etwa 70 Prozent) der ländlichen Förderungsmaßnah-men (entsprechend den Wünschen der Regierungen der Empfängerländer) auf der Bereitstellung landwirtschaftlicher Produktions-und Betriebsmittel. Nur der Rest (etwa 30 Prozent) wird für Straßenbau, Wasserversorgung, Erziehungswesen und sonstige Leistungen verwendet. Die Weltbank ist bereits bemüht, stärkeren Akzent auf die anderen Elemente der ländlichen Entwicklung zu legen, obwohl diese schwerer zu handhaben sind
Die Empfängerländer selbst müssen davon überzeugt werden, daß eine Akzentverschiebung notwendig ist, da das Problem nicht einfach durch Erhöhung des gesamten Hilfsvolumens gelöst werden kann.
In diesem Zusammenhang sollte auch eine — nicht nur in Ausnahmefällen gemachte — Erfahrung Berücksichtigung finden: Gerade manche der armen Entwicklungsländer sind nicht mehr bereit, sich der knappen Verfügbarkeit an Mitteln anzupassen. Chenery erwähnt den Fall, daß arme Länder die von Slum-Bewohnern selbst gebauten primitiven Behausungen niederreißen und dann Renommierbauten erstellen, welche nur wenige Bewohner aufnehmen können. Die simpel anmutende Erkenntnis, daß — in jedem Regierungssystem — die Beschränkung auf Verbesserung der bestehenden Notsiedlungen der breiten Masse am wirksamsten helfen würde, wird ignoriert. Ähnliche Beispiele bieten auch einige kostspielige Bewässerungsvorhaben und Industrie-Investitionen. Chenery’s Folgerung: „Eine der wichtigsten Lehren, die wir aus der chinesischen Erfahrung ziehen können, ist es, Entwicklungsprojekte dem vorhandenen Einkommensniveau anzupassen, so daß sie für die ganze Bevölkerung reproduziert und vervielfältigt werden können."
über die von der Weltbank in den ersten vier Jahren seit der Verkündung des Nairobi-Programms im Herbst 1973 gemachten Erfahrungen heißt es in einer Bankveröffentlichung: „Der Anfang ist ermutigend, aber die Probleme, die sich aus dem Bemühen ergeben, die ländlichen Armen mit effizienten Lösungen zu erreichen, sind gewaltig ... Die Bank hat noch viel zu lernen, und zwar sowohl aus ihren Problemen als auch aus ihren Erfolgen 'Die Hauptverantwortung für die Verwirklichung der im einzelnen gewählten Strategie liegt bei den Entwicklungsländern selbst Aber die Industrieländer sollten dafür Sorge tragen, daß die Verwirklichung guter Programme und Projekte nicht am Mangel äußerer Ressourcen (einschließlich der technischen Hilfe) scheitert.
Es hat sich herumgesprochen, daß die ländliche Entwicklung gerade hinsichtlich der sozio-ökonomischen Aspekte keine leichte Aufgabe ist und daß man für ihre Lösung nicht in Jahren, sondern Jahrzehnten denken muß. Unzählige Kleinprojekte, d. h. weitgestreute Investitionen, müssen im Rahmen des heute weithin akzeptierten Konzepts der Deckung der menschlichen Grundbedürfnisse angepackt werden, nachdem jahrzehntelang das Denken in grandiosen Entwicklungsplänen dominiert hat. Schon 1963 machte Malcolm D. Rivkon auf die Gefahren eines so einseitigen Angehens der Probleme aufmerksam: „I doubt that developing countries need more lessons in the art of thinking high. They desperately need guidance in the Science of thinking small." Alle Maßnahmen zur Lösung der sozio-ökonomischen Aspekte wären zum Scheitern verurteilt, wenn sie nicht weitmöglichst der Eigeninitiative der Beteiligten ausreichenden Spielraum geben würden. Die Privatinitiative kann durch einen Lenkungsmechanismus von oben zwar bis zu einem gewissen Grade gesteuert und kontrolliert, aber sie kann nicht durch ihn ersetzt werden. Es wäre auch ein völliges Verkennen der menschlichen Natur und Verhaltensweisen, grundsätzlich eine leistungsmäßige Differenzierung unter dem Slogan der Gleich-heit verhindern zu wollen Unternehmerische Funktionen und Fähigkeiten müssen gefördert und nicht verteufelt werden, so weit sie sich organisch in eine Strategie einordnen lassen.
Die in diesem Zusammenhang geübte maßlose Kritik am Marktmechanismus, der als „ein äußerst schlechter Lenkungsmechanismus" hingestellt wird macht sich die Sache zu leicht, zumal statt des Markts kein besserer Mechanismus angeboten werden kann Ein echter Dialog wird nicht gerade dadurch erleichtert, daß manche Diskussionsteilnehmer alle konkreten Gegenargumente mit globalen Thesen wie z. B.denen von Butzel zu überrollen versuchen: „Wir gehen von der Prämisse aus, daß die Menschen jetzt ein Recht zum Leben haben. Wenn . Entwicklung'bedeutet, daß die Masse der Menschen — um menschenwürdig leben zu dürfen — auf zukünftige Ziele vertröstet werden muß, verzichten wir lieber auf . Entwicklung’". Bisher haben die radikalen Heilsverkünder weder praktikable noch schnell zu verwirklichende Konzepte angeboten.
XL Die Position der Bundesrepublik Deutschland
Die Bundesrepublik Deutschland hat sich in ihrem neuesten „Bericht zur Entwicklungspolitik" noch nicht zu einer eindeutigen Annahme des Konzepts der Befriedigung der Grundbedürfnisse entschließen können. Sie scheint dem Konzept allerdings aufgeschlossen gegenüberzustehen und verfolgt die einschlägigen internationalen Bemühungen „mit großem Interesse". Die Zurückhaltung bezüglich des Konzepts der Grundbedürfnisse dürfte auf ähnlichen Erwägungen beruhen wie die mancher Entwicklungsländer, die sich dagegen verwahren, das Ziel eines Minimum-Lebensstandards als Ziel der mittel-und langfristigen Entwicklungspolitik hinzunehmen. Vielleicht entschließt man sich aber auch in Bonn dazu, eine Strategie zur Deckung der Grundbedürfnisse als Teil einer integrierten Strategie für die nationale Entwicklung zu akzeptieren, so wie dies in der OECD der Fall ist (siehe Kap. X).
Unabhängig von der Entscheidung über die Frage der Annahme des Konzepts der Befriedigung der Grundbedürfnisse räumt die Bun-desrepublik Deutschland der Agrarhilfe in ihrem entwicklungspolitischen Gesamtkonzept hohe Priorität ein. So heißt es in den von der Bundesregierung im Juni 1975 verabschiedeten 25 Thesen zur Zusammenarbeit mit den Ländern der Dritten Welt („Gymnicher Thesen"): „Die Bundesregierung wird in Anbetracht der gefährdeten Nahrungsmittelversorgung der Entwicklungsländer die ihr für die Zusammenarbeit zur Verfügung stehenden Mittel so weit wie möglich auf die ländliche Entwicklung in den Partnerländern konzentrieren." Auch in der „Entwicklungspoliti-sehen Konzeption der Bundesrepublik Deutschland" (Fassung von 1975) wird die Wichtigkeit des Agrarsektors hervorgehoben, wenn es dort heißt, daß man „in Übereinstimmung mit den Beschlüssen der Welternährungskonferenz der Förderung dieses Sektors besondere Bedeutung beimißt" Die „Gymnicher Thesen" geben dem Agrarsektor offensichtlich höhere Priorität als die „Konzeption". Der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit äußerte sich bei der Erörterung des Bundeshaushalts 1977 im Bundestag im Sinne der „Gymnicher Thesen".
Die Umsetzung dieses Konzepts in die Praxis stellt die Verwaltung und die Durchführungsstellen vor schwierige Probleme und Aufgaben Bei der technischen Hilfe liegt der An-teil der Landwirtschaft seit etwa fünf Jahren bei rund 50 Prozent des Gesamtvolumens dieser Hilfsform, was gegenwärtig als Optimum betrachtet wird. Bei der Kapitalhilfe werden die einschlägigen Zusagen für 1976 mit nur 78, 7 Millionen DM ausgewiesen (4, 9 Prozent der gesamten projektgebundenen finanziellen Zusammenarbeit! ). Als Grund für dieses bescheidene Volumen wird die sich aus strukturellen Ursachen ergebende „relativ geringe Absorptionsfähigkeit vieler Entwicklungsländer" angeführt. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und der Kreditanstalt für Wiederaufbau mußten immer wieder feststellen, daß die „Agrarvorhaben wesentlich komplizierter (sind) als reine Infrastruktur-oder Industrievorhaben" Dabei spielen vor allem technische, soziale und juristische Schwierigkeiten eine Rolle. Die Vorhaben der ländlichen Entwicklung erfordern nach den deutschen Erfahrungen lange Planungs-und Anlaufzeiten „mit vielen Risiken des Verwerfens zunächst als aussichtsreich erscheinender, später sich aber als nicht sinnvoll erweisender Vorhaben" Auch die Durchführung genehmigter Projekte stößt immer wieder auf unvorhergesehene Schwierigkeiten. Die deutschen Erfahrungen decken sich danach mit denen der Weltbank. Schwerpunkt der deutschen Agarhilfe ist gegenwärtig Afrika. Aber im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) ist man der Auffassung, daß eine Konzentration der Hilfe auf eine mehr oder weniger große Ländergruppe nicht möglich ist und (so Treitz) „daß das sogenannte Gießkannenprinzip keinesfalls so nachteilig ist, wie oft beklagt wird". Dabei wird selbstverständlich angestrebt, die ärmsten Länder vorrangig zu berücksichtigen. Die deutsche Hilfe zur Förderung der Landwirtschaft umfaßt nach der amtlichen Darstellung insbesondere folgende, die sozialen Probleme nicht direkt berührenden Maßnahmen:
— Förderung der pflanzlichen Erzeugung, insbesondere durch Beratung und Bereitstellung von Produktionsmitteln und Krediten für kleinbäuerliche Betriebe, sowie Schaffung von Bewässerungssystemen, — Maßnahmen des Pflanzenschutzes, — Erschließung von Landflächen für die tierische Erzeugung und Intensivierung der Viehwirtschaft, — Veterinär-medizinische Maßnahmen, — Maßnahmen angepaßter landwirtschaftlicher Mechanisierung, — Schaffung von Vermarktungssystemen (insbesondere für den Absatz von Erzeugnissen kleinbäuerlicher Betriebe), — Verbesserung der landwirtschaftlichen Produktionsgrundlagen und agroforstliche Maßnahmen (Boden, Wasser), Aufbau von Gen-Banken, — Intensivierung der Gewinnung von tierischem Eiweiß aus der Küsten-und Binnen-fischerei sowie der Aquakultur. Grundlage für die deutschen Hilfsmaßnahmen ist die Agrarforschung. Die Bundesrepublik ist Mitglied der von der Weltbank, dem UN-Entwicklungsprogramm (UNDP) und der FAO getragenen „Beratungsgruppe Internationaler AgrarforschungDie Gruppe fördert zehn internationale Agrarforschungszentren in Afrika, Asien und Lateinamerika. In den Jahren 1975 und 1976 wurden deutscherseits für diese Zentren insgesamt 22 Millionen DM bereitgestellt.
XII. Revolutionär-kollektivistische Lösungen?
In den obigen Ausführungen wurden die Aspekte einer „konventionellen" Strategie dargelegt, welche grundsätzlich von einer — radikale Maßnahmen nicht ausschließenden — evolutionären Veränderung ausgeht, die auch der Eigeninitiative der Betroffenen einen Spielraum gewähren möchte. In scharfen Kontrast dazu stehen Stimmen, welche als „letztliche Antwort" an die Einführung einer „Zentralverwaltungswirtschaft" oder an die „Kollektivierung der Landwirtschaft" den-45) ken. Es ist hier nicht der Platz, um über die unzähligen Konzepte zu berichten, welche in solche oder ähnliche Richtung gehen. Jedoch sei hier eine Neuerscheinung . stellvertretend“ hervorgehoben, weil sie den utopischen Charakter fast aller derartiger auf heilsverkündenden Ideologien beruhenden Konzepte besonders transparent macht.
Vier asiatische Wissenschaftler haben als Studiengruppe eine „Alternative Strategie für die ländliche Entwicklung in Asien" vorgelegt Die Studie, welche neben der Behandlung von Grundsatzfragen auch über die praktischen Erfahrungen in Indien, Bangladesh, Sri Lanka und China berichtet, verdient trotz ihres utopischen Charakters ernste Beachtung. Hier können nur die konzeptionellen und „strategischen" Aspekte kurz zusammengefaßt und kommentiert werden.
Das Grundproblem sehen die vier Autoren darin, einen Weg aufzuzeigen, um die . kreative Initiative der Massen im ländlichen Asien für die allumfassende Entwicklung ihres Lebens frei zu setzen und zu mobilisieren". Das bisherige Entwicklungsmodell ist in ihrer Sicht gescheitert, und zwar hinsichtlich der äußeren und der inneren Komponenten: — Die äußere Hilfe war quantitativ und qualitativ unzureichend und trug zur Vergrößerung des Wohlstandsgefälles bei (Probleme der Verschuldung, der terms of trade, unheilvoller Einfluß der multinationalen Unternehmen, Transfer falscher Technologien). — Was die innere Komponente angeht, so kamen die Ressourcen vorwiegend aus den ländlichen Gebieten, wobei die Ausbeutung der Bauern eine entscheidende Rolle spielte. Die Machthaber waren unfähig, durch Zwangsmaßnahmen das notwendige Volumen der Kapitalakkumulation zu erreichen.
Die Agrarproduktion stagnierte.
Sie qualifizieren das bisherige Modell als ein „technokratisches“, charakterisiert durch technische Modernisierung, Management-Effizienz und Streben nach Wachstum des Nationalprodukts. Es hat nach ihrer Auffassung schweren Schaden angerichtet, indem es die Mobilisierung der Eigenkräfte und die Gestaltung des eigenen Schicksals unmöglich machte. Dieses Modell — so meinen sie — kann in den meisten Ländern nicht durch „Reformen" verbessert werden, sondern es kommt nur ein grundlegend neues Modell in Betracht, welches die . Mobilisierung des Menschen* in den Vordergrund stellt, um — und dieser Punkt wird betont — „überschüssige Arbeitskraft in Produktionsmittel zu verwandeln". Diese Mobilisierung hat folgende Voraussetzungen:
,, a) „Kollektivistische Verhältnisse bei der Produktion, b) Wahl der geeigneten Technologie und c) self-reliance, welche hinsichtlich der Beziehungen nach außen wirtschaftliche Unabhängigkeit durch Abkoppelung von bestehenden globalen Beherrschungsbzw. Abhängigkeits-Beziehungen bedeutet."
Nach Auffassung der Verfasser haben „verschiedene asiatische und nicht-asiatische Länder“ (sie werden nicht spezifiziert) bewiesen, daß „eine totale nationale menschliche Mobilisierung Akkumulationsraten erreichen kann, welche sogar die der kapitalistischen Methoden (auch im besten Fall) übertreffen“. Für die Autoren ist daher die Überlegenheit ihrer Strategie der „Akkumulation durch Massenmobilisierung" für die meisten (!) asiatischen Länder „offensichtlich“. Das . Endziel der Entwicklung muß die Entwicklung des Menschen sein, d. h. die Verwirklichung und Entfaltung seines kreativen Potentials“. Schon am Anfang der Studie wird bemerkenswerterweise darauf hingewiesen, daß die . kollektivistische Methode nicht immun gegen eine De-generierung" ist. Dabei wird an „gewisse Formen scheinbarer kollektivistischer Produktionsverhältnisse“ gedacht, in welchen die Produktionsmittel „theoretisch sozialisiert, aber in Wirklichkeit von einer Neo-Elite kontrol-liert" werden. Diese Gefahr sei in »einigen kollektivistischen Ländern erkannt worden, wo ein Kampf in der Superstruktur (!) stattfindet". Konkrete Beispiele werden auch hier nicht genannt, es wird aber bemerkt, daß der „Ausgang dieses Kampfes der Zukunft angehört“. Das Zugeständnis solcher Problemfälle hält die Autoren freilich nicht von der These ab, daß „ihre“ Strategie „die einzig historisch bekanntgewordene Methode des Kampfes des Menschen gegen sich selbst ist, um sich selbst zu entwickeln“.
Nach dieser Einleitung wundert es den Leser kaum noch, wenn in der Studie Entwicklung als ein Prozeß definiert wird, durch welchen die „menschliche Gesamtpersönlichkeit gesteigert" wird. Die diesbezüglichen unscharfen Formulierungen lassen ein Originalzitat geboten erscheinen:
„...development is a process by which one’s Overall personality is enhanced. This is so for society as well as for an individual. For society the identity is collective. Thus development for society means development of the collective personality of society.“
Dem spätestens an dieser Stelle zu erwartenden Einwand, die Studie propagiere eine „ländliche Utopie“ (Ausdruck der Autoren), glauben die Verfasser durch den Hinweis auf die Erfahrungen mit dem „community spirit" in „vielen Stammes-Gesellschaften“ (tribal so-cieties) begegnen zu können; sie scheuen sich nicht, als konkrete Beispiele von heute die Khasis im indischen Meghalaya-Staat und einige (nicht genannte) Inseln im Pazifik anzuführen. (Bei den Khasis handelt es sich nach Brockhaus um ein mutterrechtliches Bergvolk, welches an Geister glaubt und einen besonderen Ahnenkult treibt. Fürwahr, ein jede weitere Argumentation abschneidendes Beispiel!) Alle diejenigen, welche etwa meinen, es gäbe ein schnellwirkendes Patentrezept zur Lösung der ländlichen Probleme, müssen sich von der Studie tief enttäuscht fühlen. Dort stellen die vier Wissenschaftler fest, daß selbst das Ziel der Sicherstellung eines „Minimums von Nahrung, Kleidung und Unterkunit' für viele Länder Asiens ein „langfristiges Ziel ist, welches über die kurzfristigen materiellen Möglichkeiten hinausgeht“. Dann folgen — fast brutal — die entscheidenden Sätze: „Damit bleibt auf kurze Sicht das Problem, die Moral zu stützen. Die Lösung liegt in der Richtung, Werte zu schaffen, welche das Gefühl der Selbsteriüllung in der (kurzfristig notwendigen) austerity als solcher geben. Solche Selbsterfüllung ist nur möglich, wenn die austerity von allen im Rahmen einer kollektiven Anstrengung für den Fortschritt geteilt wird."
Die Studie glaubt — und ihr utopischer Charakter wird damit noch deutlicher —, daß die von den Massen hinzunehmenden schweren Einschränkungen durch ein System „kollektiver und teilhaberischer Demokratie“ durchgesetzt werden können. Sie lehnt die Vorherrschaft jeder Minorität über die Massen ab, insbesondere die „Diktatur der Elite“. In dem System der „teilhaberischen Demokratie" gibt es keinen Platz für eine „machtausübende, wenn auch noch so intelligente Führung“. Die Autoren fürchten jeden Ansatz für eine Führung, da jede Führungselite für sie unvereinbar ist mit dem Prinzip der „collective personality". Sie bezeichnen es aber als erforderlich, einen „Mechanismus auszudenken“, welcher das sich stellende Problem löst. Ein eigenes Rezept bieten sie nicht an.
Der angestrebte paradiesische Zustand einer „teilhaberischen Demokratie" tritt allerdings — auch in der Sicht der vier Wissenschaftler — nicht automatisch ein, sondern er muß durchgesetzt werden. In dieser Beziehung schlagen die Autoren der Studie einen völlig anderen Ton an. Da „reformerische" Maßnahmen ihres Erachtens nicht den gewünschten Endzustand der Teilhaber herbeiführen werden, plädieren sie für eine revolutionäre Durchsetzung: „Die (bestehende) Herrschaft muß dadurch gebrochen werden, daß die Beherrschten sich kollektiv gegen die Herrscher erheben." Während sie glauben (oder vorgeben zu glauben), daß man in der auf lange Sicht zu verwirklichenden teilhaberischen Demokratie ohne straffe und harte Führung auskommen könne, da man ja einen ganz neuen Menschen schaffen will, betonen die Verfasser der Studie um so entschiedener die Notwendigkeit einer effizienten Führung während der Periode, die zur Erreichung der Ausgangsposition erforderlich ist, d. h. in ihrem Zungenschlag bis zu dem Zeitpunkt, in welchem die „Massen an die tatsächliche Macht“ kommen. Der Prozeß der „Befreiung" der Massen von dem gegenwärtigen Machtgefüge ist ein fortlaufender. Dem ersten revolutionären Schlag werden weitere folgen „um die Gesellschaft zu einer immer höheren Stufe des kollektiven Lebens und Gewissens zu bringen“. In der „Befreiungsphase" ist neben der Ausrottung des „engen individualistischen Denkens" die „Zerstörung der Herrschafts-und Abhängigkeitsverhältnisse in der Gesellschaft" erforderlich. Im Zusammenhang mit der Mobilisierung der Massen raten die Verfasser zur Einbeziehung „insbesondere der Jugend", welche häufig „durch die Alte-ren unterdrückt werde und bemüht sei, sich zu artikulieren und selbst zu bestätigen".
Allerdings wünschen sie, daß die „Führung ihre Machtstellung nicht für persönliche Privilegien benutzt". Völlig offen bleibt, mit welchen Mitteln die zur Führung Erkorenen nach Vollendung der Revolution veranlaßt werden können, abzutreten und die weitere Lösung der Probleme der „teilhaberischen Demokratie" zu überlassen. Niemand kann die neuen Machthaber daran hindern, mit der Kraft ihrer Worte (und mit Gewalt) „überzeugend" darzulegen, daß die Revolution noch längst nicht abgeschlossen sei und sie daher — natürlich im „wohlverstandenen" Interesse der Massen — die Macht nicht abgeben können. Die Revolution ist ein fortlaufender Prozeß.
Das in der Studie entwickelte Konzept ist in keiner Weise originell, sondern naiv, wirklichkeitsfremd und brutal. Trotz aller verbalen Dementis sucht es das Heil in einer totalitären Kollektivisierung und glaubt an eine Fabrik des neuen Menschen. Die vorhandenen Macht-eliten werden durch andere ersetzt, und nichts läßt es als sicher erscheinen, daß die neuen Machthaber für die Massen wirklich bessere Herren sein werden als die alten. Den Massen werden für ein langfristig utopisches Konzept für sofort und ohne zeitliche Begrenzung unermeßliche Leiden auferlegt, ohne daß überzeugend dargetan wird, wie dadurch die Dekkung der Grundbedürfnisse besser gesichert werden kann als durch Reformen an den bestehenden Systemen. Alles in allem stellt die Arbeit ein Beispiel für das dar, was Heinz-Dietrich Ortlieb kürzlich als „Irrationalisierung der Welt-und Entwicklungspolitik" definiert hat, eine Politik, welche mit einem hohen Grad von Wahrscheinlichkeit am schwersten die Entwicklungsländer selbst treffen werde. Das chinesische Modell, dessen Schwächen nicht übersehen werden sollten, ist anderweitig nicht ohne weiteres nachvollziehbar.
Den kollektivistischen Thesen seien zum Abschluß einige Thesen von Richard F. Behrendt gegenübergestellt
„Durch die Inthronisierung des Staates als Entwicklungs-Demiurgen konserviert und intensiviert man gerade solche Faktoren, die bisher am stärksten zur Unterentwicklung beigetragen haben ... Die autoritär-zentralistischen Methoden, die mit dem Mangel an spontaner Entwicklungsbereitschaft in der Masse der Bevölkerung gerechtfertigt werden, können diese Probleme nicht lösen, -sie verewigen sie vielmehr ... Die Nation als bestimmende Entwicklungseinheit ist unrealistisch. Der Staat als universaler Entwicklungsträger ist unwirksam. Die neue Macht-Elite als Entwicklungsoligarchie ist unsozial."
Otto Matzke, Dr. jur., Dipl. -Volkswirt, geb. 1911; von 1962 bis Anfang 1974 Stellvertretender Direktor bzw. Direktor der Project Management Division im UN/FAO World Food Programme, Rom; vorher im auswärtigen Dienst der Bundesrepublik Deutschland; gegenwärtig ständiger Mitarbeiter der Neuen Zürcher Zeitung, insbesondere für Welt-Rohstoff-Fragen, für Probleme der Welternäh-rung und -landwirtschaft sowie die damit verbundenen entwicklungspolitischen und institutioneilen Fragen. Veröffentlichungen u. a.: Hunger und Uberschuß, Bonn 1969; Plündern die Reichen die Armen aus? — Die entwicklungspolitische Bedeutung der Rohstoffe, Bonn 1971; Entwicklungspolitik ohne Illusion (zusammen mit Hermann Priebe), Stuttgart 1972; Die Dritte Welt und die Agrarpolitik der EG-Länder, Frankfurt 1974; Der Hunger wartet nicht — Die Probleme der Welternährungskonferenz 1974, Bonn 1974; Rohstoff-Fonds — Utopie und Wirklichkeit (Auszug aus einem Gutachten zur Problematik des Gemeinsamen Fonds der UNCTAD), Bonn 1977; Nahrung als weltpolitisches Machtinstrument, in: Umstrittene Weltwirtschaftsordnung (Hrsg. Daniel Frei), Zürich 1977; Institutionelle Proliferation in der internationalen Ernährungsadministration, in: Bürokratie — Motor oder Bremse der Entwicklung?, Bern 1977.
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