Der Konflikt um die Kooperative Schule und ihre Orientierungsstufe Schulreform und Politik
Hans Georg Lehmann
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Zusammenfassung
Der politische Konflikt um die Kooperative Schule und ihre Orientierungsstufe in Nordrhein-Westfalen wird als Modellfall eines modernen Schulkampfes dargestellt. Die Auseinandersetzungen entzündeten sich an den Bestrebungen der sozialliberalen Koalition in Düsseldorf, das bestehende dreigliedrige Schulsystem (Hauptschule, Realschule, Gymnasium) zu reformieren, insbesondere durch die integrierte Orientierungsstufe in den Klassen 5 und 6 des Sekundarbereichs I. Zur Konfrontation kam es, als die Landtags-fraktionen der SPD und FDP im November 1976 einen Gesetzentwurf zur Änderung des Schulverwaltungsgesetzes einbrachten, der vorsah, die Kooperative Schule als eigenständige Angebotsschule mit folgendem Aufbau einzuführen: die horizontal gegliederte Abteilung der schulformunabhängigen Orientierungsstufe (Klassen 5 und 6) sowie die vertikal gegliederten schulformbezogenen Abteilungen der Hauptschule und Realschule und/oder des Gymnasiums (Klassen 7— 9/10). Die Oberstufe des Gymnasiums (Sekundarstufe II: Klassen 11— 13) konnte bzw. sollte der Kooperativen Schule angeschlossen werden. Die CDU, die Kirchen und alle maßgeblichen Lehrer-und Elterngruppen — die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sowie der Verband Bildung und Erziehung (VBE) ausgenommen — bekämpften den Gesetzentwurf. Nach Flugblattaktionen und Großkundgebungen gegen die geplante Schulreform kam es zu Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Regierungskoalition, die sich jedoch (u. a. durch eine Revision des Gesetzentwurfs) bereinigen ließen. Nach der 2. Lesung schlossen sich zehn Lehrer-und Elternvereine zur «Bürgeraktion Volksbegehren“ zusammen. Sie leitete, nachdem der Gesetzentwurf vom Landtag am 26. 10. 1977 trotz aller Proteste verabschiedet worden war, eine plebiszitäre Gesetzesinitiative ein, um die Kooperative Schule nachträglich wieder zu Fall zu bringen. Das Volksbegehren vom 16. 2. bis 1. 3. 1978, von der CDU und den Kirchen unterstützt, erzielte einen überwältigenden Erfolg, da sich fast 30 °/o (erforderlich waren 20 °/o) der Wahlberechtigten in die ausgelegten Listen eintrugen. Unter dem Eindruck dieser bisher größten und erfolgreichsten Bürgerinitiative in der Bundesrepublik hob der Landtag auf Vorschlag der Landesregierung die gesetzlichen Bestimmungen über die Kooperative Schule und ihre Orientierungsstufe am 13. 4. 1978 wieder auf. Die langfristige Signalwirkung dieses schulpolitischen Fiaskos läßt sich noch nicht abschätzen.
I. Das Scheitern der Kooperativen Schule — Modellfall eines modernen Schulkampfes
Nach der verfassungsrechtlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland sind die Länder für das Schulwesen zuständig. Im Rahmen dieses Kulturföderalismus hatte bisher vor allem die Schulpolitik Hessens öffentliche Kontroversen ausgelöst, denn dieses Bundesland hatte eine Reihe aufsehenerregender pädagogischer Reformvorhaben eingeleitet. Ihre Anhänger sahen sie als beispielgebend für eine fortschrittliche Bildungspolitik in der Bundesrepublik an, die Gegner jedoch hielten sie für fragwürdige, vielfach sogar verwerfliche Experimente.
Mit dem Konflikt um die Kooperative Schule seit 1976 hatte sich der Schwerpunkt der Auseinandersetzungen um die Schulreform auf Nordrhein-Westfalen verlagert. Sie wurden dort in monatelangen erbitterten Streitigkeiten ausgetragen und schließlich in einem Volksbegehren entschieden. Diese „Schlacht" um die Koop-Schule, die mit ihrer Ablehnung geendet hat, trägt alle Züge eines Schulkampfes und verdient als Modellfall moderner schulpolitischer Konflikte besondere Aufmerksamkeit. In ihrer Tragweite sind die Auswirkungen dieses Schulkampfes vorerst noch gar nicht abzuschätzen: für das Bildungswesen des bevölkerungsreichsten und finanzstärksten Bundeslandes, aber auch in seinem Signal-charakter für die Schulpolitik der übrigen Länder. Die Modellstudie geht von der Hypothese aus, daß Schulfragen letzten Endes politische Fragen sind und folglich auch mit politischen Mitteln ausgetragen werden. Beim Schulkampf in Nordrhein-Westfalen haben gewiß pädagogische, psychologische, rechtliche, ideologische, religiöse, organisatorische und andere Motive eine maßgebliche Rolle gespielt, aber ausschlaggebend ist doch der politische Machtkampf gewesen, der das Schicksal der Koop-Schule besiegelt hat.
Die folgende Analyse will die wichtigsten politischen Vorgänge und Stationen der Konflikt-entstehung, des Konfliktverlaufs und der Koniliktbeilegung vergegenwärtigen. Da es sich um einen zusammenfassenden Rückblick handelt, muß auf Details verzichtet werden. Auch geht es darum, sachlich über Standpunkte und Argumente der am Schulkampf beteiligten wichtigsten Gruppen zu informieren, ohne eine von ihnen zu bevorzugen.
II. Die Konfliktentstehung
Abbildung 2
Tabelle 2: Gesamtschulen in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland Baden-Württemberg Bayern Berlin/West Bremen Hamburg Hessen Niedersachsen Nordrhein-Westfalen Rheinland-Pfalz Saarland Schleswig-Holstein Summe 6 3 24 4 7 65 13 27 2 1 5 157 4 2 — — 1 76 16 — 3 — — 102 1 8 — — — 9 — — 1 — 3 22 2 — 1 — 1 — — 4 11 13 26 4 9 150 29 27 7 1 8 285 4 7 7 — 7 28 2 9 5 — — 69 Land Bestehende Gesamtschulen nach dem Stand vom 1. 8. 1977 integrierte Quelle: Mitteilungen und Informationen des 18. Dezember 1977, S. 2.惡?
Tabelle 2: Gesamtschulen in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland Baden-Württemberg Bayern Berlin/West Bremen Hamburg Hessen Niedersachsen Nordrhein-Westfalen Rheinland-Pfalz Saarland Schleswig-Holstein Summe 6 3 24 4 7 65 13 27 2 1 5 157 4 2 — — 1 76 16 — 3 — — 102 1 8 — — — 9 — — 1 — 3 22 2 — 1 — 1 — — 4 11 13 26 4 9 150 29 27 7 1 8 285 4 7 7 — 7 28 2 9 5 — — 69 Land Bestehende Gesamtschulen nach dem Stand vom 1. 8. 1977 integrierte Quelle: Mitteilungen und Informationen des 18. Dezember 1977, S. 2.惡?
L Die Schulreform durch Einführung von Orientierungsstufen in den Klassen 5 und 6 a) Vorschläge zur Reform des dreigliedrigen Schulsystems Der bestehende dreigliedrige Aufbau des allgemeinbildenden Schulwesens in der Bundesrepublik Deutschland geht auf eine über 150-jährige Entwicklung zurück. Zwar sind Volksschule, Real-/Mittelschule und Gymnasium/Oberschule im Laufe der Industrialisierung immer wieder gesellschaftlichen und politischen Wandlungen angepaßt worden, aber das ändert nichts an der Tatsache, daß dieses Schulsystem im 19. Jahrhundert eine Gesellschaftsordnung widergespiegelt hat, die hierarchisch aufgebaut und. vor allem durch den Klassen-gegensatz zwischen Besitzbürgertum und Proletariat geprägt gewesen ist.
Seitdem nach dem Zweiten Weltkrieg Volksschule, Realschule und Gymnasium restituiert worden sind, verstummt in der Bundesrepublik nicht die Kritik: daß nämlich das dreigliedrige Schulsystem ein Relikt des 19. Jahr-B hunderts verkörpere („Drei-Klassen-Schulsy-stem") und folglich in einer modernen Demokratie nur noch historisch zu legitimieren, aber nicht mehr pädagogisch zu rechtfertigen oder bildungspolitisch vertretbar sei. Am weitesten geht wohl die neomarxistische These, wonach das bestehende Bildungswesen „fast ausnahmslos zur Reproduktion der Herrschaftsverhältnisse" diene: Die Volksschule, auch wenn sie mittlerweile Hauptschule heiße, „erzieht die arbeitenden Massen zu Lernverdrossenheit und Bildungsfeindlichkeit und garantiert, daß die Zahl der Lohnabhängigen nicht geringer wird"; „die Mittelstufe in den Gymnasien und Realschulen produziert den qualifizierten Facharbeiter und mittleren Angestellten"; „Fachhochschulen und Universitäten schließlich produzieren die höhere technische Intelligenz für Verwaltung und Industrie“
Der „Deutsche Ausschuß für das Erziehungs-und Bildungswesen" war 1953 von der Ständigen Konferenz der Kultusminister (KMK) und dem Bundesministerium des Innern als staatlich unabhängiges Expertengremium mit dem Auftrag berufen worden, Empfehlungen für eine Gesamtreform des bestehenden Bildungssystems auszuarbeiten. In seinem „Rahmenplan zur Umgestaltung und Vereinheitlichung des allgemeinbildenden öffentlichen Schulwesens" vom 14. Februar 1959 trat der Ausschuß zwar dafür ein, in der arbeitsteilig entfalteten Gesellschaft der Bundesrepublik an drei Bildungszielen des tradierten Schulwesens festzuhalten: „an einem verhältnismäßig früh an Arbeit und Beruf anschließenden, einem mittleren und einem höheren" Zugleich erstrebte er jedoch eine Schulreform insoweit, als er anregte, die Volksschuloberstufe zur Hauptschule als gleichwertige weiterführende Schule neben Real-und Oberschule fortzuentwickeln und eine schulformunabhängige, d. h. integrierte Förderstufe für alle 5. und 6. Klassen einzuführen In seinen späteren Empfehlungen zum Aufbau der Förderstufe (16. Mai 1962) und der Hauptschule (2. Mai 1964) konkretisierte das Gremium seine Vorschläge; u. a. plä-dierte es für eine Differenzierung des und 6. Klassen einzuführen 3). In seinen späteren Empfehlungen zum Aufbau der Förderstufe (16. Mai 1962) und der Hauptschule (2. Mai 1964) konkretisierte das Gremium seine Vorschläge; u. a. plä-dierte es für eine Differenzierung des Unterrichts innerhalb des Schulsystems in Gruppen oder in Kursen 4).
Der sogenannte „Bremer Plan“ (1959/60) der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) forderte die umfassende „Neugestaltung" des Schulwesens auf der Grundlage einer zehnjährigen Volksschulpflicht. Das 5. und 6. Schuljahr sollten zur integrierten „Mittelstufe" ausgebaut und von allen Schülern absolviert werden. Erst danach sah der Plan die Differenzierung des Schulwesens nach drei Zweigen vor. Der „Werk-Oberschule“ fiel dabei die Aufgabe zu, die Schüler auf „werktätiger Grundlage" auf die Arbeitswelt vorzubereiten: vor allem durch Sachunterricht, Sozial-und Weltkunde sowie musische Fächer 5).
Der „Deutsche Bildungsrat", 1965 durch ein Verwaltungsabkommen zwischen Bund und Ländern gebildet, sollte — anders als der im gleichen Jahre aufgelöste „Deutsche Ausschuß“ — wirksame Empfehlungen für die Reform des Schulund Erziehungssystems vorlegen. Unter dem Einfluß schulreformerischer Impulse stehend, bekannte sich die Bildungskommission des Bildungsrats im „Strukturplan für das Bildungswesen“ vom 13. Februar 1970 zur horizontal gegliederten Stuienschule, die das traditionell vertikal gegliederte Schulwesen ablösen und mehr „Chancengleichheit" gewährleisten sollte. Zwar legte sich der Bildungsrat nicht auf die integrierte Gesamtschule fest, die er in Schulversuchen zu erproben empfahl, wohl aber sprach er sich dafür aus, die Bereiche des „organisierten Lernens" einander zuzuordnen und als ein einheitliches Ganzes bei gleichzeitiger Differenzierung zu organisieren: Elementarstufe (Vorschule), Primarstufe (1. bis 4. Klasse), Sekundarstufe I (5. bis 9. /10. Klasse) und Sekundarstufe II (11. bis 13. Klasse). Die Orientierungsstufe (entweder in Anlehnung an eine Grundschule oder an eine Sekundarschule) sollte innerhalb des gemeinsamen Unterrichts in den Klassen 5 und 6 „vermehrt individuelle Aufgaben" sowie „Gruppenbildungen zur gemeinsamen Aufgabenerledigung" fördern und so „auf die spä-tere Wahl eines geeigneten Ausbildungsschwerpunktes" vorbereiten
Die neue sozialliberale Bundesregierung Brandt/Scheel, die in ihrer Regierungserklärung angekündigt hatte, sie werde sich bevorzugt der Bildungsreform widmen, griff hauptsächlich Vorschläge des „Strukturplans" auf. Im „Bildungsbericht 70", den der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft aufgrund der 1969 neugeschaffenen bildungspolitischen Kompetenzen nach Artikel 91 a und b des Grundgesetzes vorlegte, forderte die Bundesregierung, die „Trennung zwischen den Schularten und zwischen den Hochschulformen" abzubauen und ein umfassendes differenziertes Gesamtschul-und Gesamthochschulsystem zu entwickeln. Das 5. und 6. Schuljahr sollte, wie vom Bildungsrat vorgeschlagen, als Orientierungsstufe ausgestaltet werden. „Nicht Auslese, sondern individuelle Förderung steht im Mittelpunkt"
Im Rahmen der neuen „Gemeinschaftsaufgaben" von Bund und Ländern wurde am 25. Juni 1970 durch ein Verwaltungsabkommen die „Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung" (BLK) geschaffen. Sie hatte u. a. die Aufgabe, einen Bildungsgesamtplan auszuarbeiten, der das Schulwesen einheitlich und verbindlich nach modernen Maßstäben reformieren sollte.
Bei der endgültigen Verabschiedung des Bildungsgesamtplanes am 15. Juni 1973 ließen sich jedoch grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten nicht überbrücken. Während sich der Bund und die sechs SPD/FDP-regierten Länder Berlin, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen dafür aussprachen, im Sekundarbereich I die „Organisationsform der integrierten Gesamtschule" einzuführen, meinten die fünf CDU/CSU-regierten Länder Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz, Saarland und Schleswig-Holstein, „daß in einem differenzierten Schulwesen die Förderung unterschiedlicher Begabungen besser gesichert werden" könne. Deshalb sei erst das Ergebnis der Versuchsprogramme für integrierte wie kooperative Gesamtschulen „bei gleichzeitiger Fortentwicklung des gegliederten Schulwesens" abzuwarten
Konsens bestand in der Bund-Länder-Kommission darüber, „daß die beiden ersten Schuljahre des Sekundarbereichs I zur Orientierungsstufe zusammengefaßt werden, in der alle Schüler ein einheitliches Bildungsangebot erhalten" Die fünf CDU/CSU-regierten Länder wollten sich jedoch nicht auf die schulformunabhängige Orientierungsstufe festlegen, wie die Bundesregierung und die übrigen sechs Länder, sondern es offen lassen, ob sie schul-formabhängig oder schulformunabhängig zu organisieren sei. Wegen dieser Sondervoten sind Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz, das Saarland und Schleswig-Holstein insoweit nicht an den Bildungsgesamtplan gebunden; denn die Beschlüsse, die die Regierungschefs des Bundes und der Länder am 20. September und 30. November 1973 gebilligt haben, binden nur jene Mitglieder, die ihnen zugestimmt haben.
Die Ständige Konferenz der Kultusminister der Bundesländer (KMK) verabschiedete am 28. Februar 1974 eine „Vereinbarung über die Orientierungsstufe (Klassen 5 und 6)" unter „Berücksichtigung der Beschlüsse der Bund-Länder-Kommission". Danach konnte die Orientierungsstufe sowohl schulformunabhängig eingerichtet wie auch schulformabhängig der Haupt-, der Realschule und dem Gymnasium zugeordnet werden. Die Lernangebote sollten für alle Schüler übereinstimmen, dabei jedoch Differenzierungsmaßnahmen dem „unterschiedlichen Lernverhalten und der individuellen Leistungsfähigkeit" Rechnung tragen b) Stand der Reformen in den einzelnen Bundesländern Die Vorschläge zur Schulreform, in der Öffentlichkeit lebhaft diskutiert und von den Parteien und Verbänden verschieden bewertet, haben dazu geführt, daß in den einzelnen Bundesländern das tradierte dreigliedrige Schulsystem zu unterschiedlichen Zeiten, aus unterschiedlichen Motiven und in unterschiedlicher Weise geändert worden ist. Eine einheitliche Struktur ist wegen der verwirrenden Vielfalt dieser Reformen und Reformversuche kaum mehr zu erkennen. Nur die Volksschule ist in den Bundesländern, wenn auch phasenverschoben, einheitlich abgelöst und durch zwei organisatorisch selbständige Schulformen ersetzt worden: die Grundschule (Klassen 1 bis 4) und die Hauptschule (Klassen 5 bis 9/10).
Nach dem neuesten statistischen Material, das der Tabelle 1 entnommen werden kann, ist der Ausbau der schulformunabhängigen („integrierten") Orientierungsstufe in Niedersachsen und in Hessen („Förderstufen") am weitesten fortgeschritten. Ihre Funktion übernimmt in Berlin/West und teilweise auch in Bremen die sechsjährige Grundschule. In Baden-Württemberg, Bayern und Hamburg laufen einige Schulversuche mit schulformabhängigen und schulformünabhängigen Orientierungsstufen; der Ausbau ist in Rheinland-Pfalz und ihre Einführung landesweit im Saarland vorgesehen. Lediglich Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen besitzen keine schulformunabhängigen Orientierungsstufen; Schleswig-Holstein plant auch nicht, sie einzurichten.
Neben und unabhängig von der Einführung der Orientierungsstufe in den Klassen 5 und 6 hat sich der Ausbau von Gesamtschulen vollzogen: Nach dem Stande vom 1. August 1977 gibt es insgesamt 285; davon sind 195 für das 1969 vereinbarte Experimentalprogramm der Kultusministerkonferenz gemeldet (Tabelle 2). Integrierte Gesamtschulen, die vor allem in Hessen und Berlin (West) bestehen, bedeuten: Alle Kinder eines Altersjahrgangs besuchen unabhängig von Begabung und Leistung ein und dieselbe Schule im Sekundarbereich I. Haupt-, Realschule und das Gymnasium (Klassen 1 bis 6) sind somit als eigenständige Einheiten aufgehoben („integriert").
In der kooperativen Gesamtschule dagegen bleiben Haupt-, Realschule und Gymnasium als selbständige Schulformen erhalten. Sie sind unter einem Dach oder in einem Schulzentrum organisiert und arbeiten eng miteinander zusammen („kooperieren"); z. B. werden die Schüler auch gemeinsam in schulformübergreifenden Kursen unterrichtet. Die meisten kooperativen Gesamtschulen, die am stärksten in Hessen vertreten sind und dort „schulformbezogene Gesamtschulen" heißen verfügen über eine integrierte Orientierungsstufe in den Klassen 5 und 6. 2. Die Konzeption der Kooperativen Schule in Nordrhein-Westfalen a) Schulpolitische Leitmotive der SPD/FDP-Koalition Am 7. April 1970 hatten Ministerpräsident Heinz Kühn und sein Stellvertreter, Innenminister Willi Weyer, das „Nordrhein-Westfalen-Programm 1975" veröffentlicht; darin wurden die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Ziele der nordrhein-westfälischen Landesregierung in den nächsten fünf Jahren vorgestellt. Dieser „mittelfristige Handlungsplan" kündigte u. a. an, daß die 1968 eingeleitete Reform von Grund-und Hauptschule (zuvor Volksschule) durch die „Entwicklung zur integrierten und differenzierten Hauptstufe" fortgeführt werde. Die langfristigen Ziele seien „die Kooperation und Verflechtung aller Formen der Hauptstufe“, d. h.der nach der vierjährigen „Grundstufe“ folgenden Klassen 5 bis 9 bzw. 10 der Haupt-, Realschule und des Gymnasiums, sowie die Erprobung und — soweit das Ergebnis von 30 Gesamtschulversu7 dien dies zulasse — die „allgemeine Einführung der Gesamtschule"
In ihrem Arbeitsprogramm gab die SPD/FDP-Koalition deutlich zu verstehen, daß sie die integrierte Gesamtschule favorisiere, wenngleich sie sich noch nicht endgültig darauf festgelegt hatte, sie in ganz Nordrhein-Westfalen einzuführen. Die SPD hatte sich bereits in ihrem programmatischen „Modell für ein demokratisches Bildungswesen" (Januar 1969) zur Gesamtschule im Sekundarbereich I („Mittelstufe") bekannt, und die FDP erstrebte nach ihren bildungspolitischen „Leitlinien" (1972) die sogenannte „Offene Schule" als „liberale Form der integrierten Gesamtschule" Die schulpolitischen Fernziele beider Koalitionsparteien unterschieden sich folglich nur in Nuancen.
Mit Kabinettsbeschluß vom März 1972 billigte die Landesregierung die Strukturplanung der Bund-Länder-Kommission, und das Kultusministerium beabsichtigte, „auf dem Wege zur integrierten Gesamtschule" bereits ab 1973 schrittweise „kooperative Schulen“ einzurichten. Sie sollten in den Klassen 5 und 6 eine schulformunabhängige Orientierungsstufe erhalten und danach so organisiert werden, daß Haupt-, Realschule und Gymnasium nebeneinander in einem „unterrichtsorganisatorischen, lehrplanmäßigen, personellen und auch engen räumlichen Verbund" zusammenwirkten 14).
Noch im Juni 1973 kündigte der Halbzeitbericht des Nordrhein-Westfalen-Programms an, daß kooperative Schulen, „die zu integrierten Gesamtschulen fortentwickelt werden können", planerisch vorbereitet werden. Damit sei neben dem Gesamtschulversuch ein „weiterer Schritt auf dem Wege zur Integration der Schulformen in der Sekundarstufe I eingeleitet" Demgemäß sah der Kabinettsentwurf eines Gesetzes zur Änderung des Schulverwaltungsgesetzes vom 1. Juni 1973 vor, daß für die Sekundarstufe I auch eine Gesamtschule errichtet oder die Kooperative Schule in eine Gesamtschule überführt werden könne, sofern die pädagogischen und schulorganisatorischen Voraussetzungen vorlägen
Als sich der Termin der Landtagswahlen näherte, rückte die Regierung vor allem auf Veranlassung der FDP-Mitglieder immer mehr von ihrem Gesetzesvorhaben ab, sei es aus politischen, sei es aus rechtlichen Erwägungen: Am 19. März 1974 ließ sie den Begriff „Kooperative Schule" fallen, und im Februar 1975, wenige Wochen vor der Landtagswahl am 4. Mai 1975, strich sie auch die schulformunabhängige Orientierungsstufe aus dem Gesetzentwurf. Verwirklicht wurde nur ein Aspekt der Schulreformpläne: die bereits im Nordrhein-Westfalen-Programm vorgesehene Ausbildung der Lehrer nach Schulstufen (Primarstufe, Sekundarstufe I und II sowie stufenübergreifende Sonderpädagogik) anstelle von Lehrern nach Schulformen (Grundschule, Hauptschule, Real-schule, Gymnasium, Berufsschule und Sonder-schule) b) Die , Koop-Schule'— Etappe oder Alternative zur integrierten Gesamtschule?
Nachdem die SPD/FDP-Mehrheit bei den letzten Landtagswahlen bestätigt worden war, griff sie ihre zeitweise zurückgestellten Schulpolitik sehen Leitziele erneut auf, wenngleich modifiziert. In ihrer Koalitionsvereinbarung vom 27. Mai 1975 beschlossen die Fraktionen beider Parteien u. a.: „In Schulzentren werden die schulformunabhängige Orientierungsstufe und die drei weiterführenden Schulen in der Kooperativen Schule mit einer nach Möglichkeit kollegialen Schulleitung zusammengefaßt" Um die „Chancengleichheit“ und die „Durchlässigkeit" zu verbessern, sollten Inhalte und Ausleseverfahren in den Klassen 5 und 6 vereinheitlicht und die bereits in Gymnasium und Realschule üblichen Erprobungsstufen auch auf die Hauptschule ausgedehnt werden.
Ministerpräsident Kühn betonte in seiner Regierungserklärung am 4. Juni 1975, die alte und neue Koalition werde in der Schulpolitik ihren Reformweg „besonnen weitergehen". Die Gesamtschule solle in dem bisher vorgesehenen Umfang von 30 Schulversuchen weiter erprobt und die Kooperative Schule — wie in der Koalitionsvereinbarung geplant — eingeführt werden
Diese Grundsatzdokumente ebenso wie der nicht von der Regierung, sondern von den Fraktionen der SPD und FDP eingebrachte Gesetzentwurf zur Änderung des Schulverwaltungsgesetzes ließen offen, worauf die Kooperative Schule letztlich abzielte: Sollte sie, wie bisher geplant, eine Etappe auf dem Wege zur integrierten Gesamtschule sein? Oder aber ihre Alternative, d. h. das Endziel sozialliberaler Schulreform? Es deutete alles darauf hin, daß die Regierungskoalition in dieser Prinzipien-frage inzwischen selbst uneinig war.
Die Vertreter der SPD forderten nach wie vor die integrierte Gesamtschule, waren sich jedoch der Schwierigkeiten bewußt, sie als Regelschule einzuführen. So erklärte Kultusminister Jürgen Girgensohn im Landtag bei der ersten Lesung des Gesetzentwurfes am 25. November 1976, daß für ihn die Kooperation im Schulwesen „der Anfang der Integration" sei. „Ich glaube, daß die Kooperative Schule ein Zwischenstadium zur integrierten Gesamtschule sein wird, und von diesem Glauben lasse ich mich auch nicht abhalten." Diese viel-zitierten Worte des zuständigen Ministers haben später im Kampfe gegen die , Koop-Schule'eine maßgebliche Rolle gespielt.
Der Koalitionspartner legte Wert darauf, vor dem Landtag diesem „persönlichen Glaubensbekenntnis“ des Kultusministers öffentlich zu widersprechen: Es sei, wie Wolfgang Heinz als Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP betonte, weder durch die Beschlüsse der FDP-Fraktion noch die Koalitionsvereinbarung gedeckt. Solange nicht der Schulversuch „Integrierte Gesamtschule" wissenschaftlich ausgewertet sei, bestehe ihr gegenüber ein Vorbehalt, der verhindere, daß die FDP ihre gesetzliche Einführung bejahe
Alles in allem: Der Stand der pädagogischen Erprobung von Gesamtschulen, außergewöhnliche bildungspolitische Vorbehalte in der Öffentlichkeit, verfassungsrechtliche Barrieren und nicht zuletzt die Mehrheitsverhältnisse im Landtag dürften den Schulreformern der Regierungskoalition nahegelegt haben, vorerst die Einführung der Gesamtschule zurückzustellen, da sie sich „in absehbarer Zeit" als Regel-schule nicht hätte verwirklichen lassen Die Kooperative Schule bot sich als Ausweg, Kompromiß und Alternative an; auch ließ sie sich später — unter veränderten Umständen — leicht in die integrierte Gesamtschule überführen. So blieben alle Türen offen. c) Der Gesetzentwurf der SPD/FDP-Fraktion zur Einführung der , Koop-Schule'
Der Gesetzentwurf zur Änderung des Schulverwaltungsgesetzes, von den Landtagsfraktionen der SPD und FDP am 9. November 1976 eingebracht, wurde vor allem mit den Zielvorstellungen des Bildungsgesamtplans (vgl. Kap. II 1 a) begründet Die Kooperative Schule solle im Zeichen des Geburtenrückganges das örtlich und regional gleichwertige Bildungsangebot sichern sowie die Chancengleichheit und Durchlässigkeit im Sekundarbereich I erhöhen. Pädagogisch erstrebe sie insbesondere, die Schüler individueller zu fördern, die Bildungsmöglichkeiten durch die Kooperation mehrerer Schulformen zu erweitern und die „soziale Koedukation durch Zusammenführung aller Schüler" zu verbessern. Organisatorisch wolle sie gewährleisten, daß die vorhandenen Kapazitäten besser genutzt werden: personell beim Lehrereinsatz und bei der Schulleitung, räumlich bei den Schulanlagen (Schulzentren), planerisch bei Lern-und Lehrmitteln, Verwaltung, Rationalisierung, Schülertransport u. a. m.
Kernstück der geplanten Novelle im Artikel I war der neue § 5 a, der in das Schulverwaltungsgesetz eingeführt werden sollte. Danach konnten in einem „Schulzentrum" die Schulen der Sekundarstufe I zu einer Kooperativen Schule vereinigt werden. Zu den „personellen, räumlichen und schulorganisatorischen Voraussetzungen“ gehörte, daß die Koop-Schüle in der Regel über mindestens vier Züge verfügte und alle Abschlüsse der Sekundarstufe I anbot. Drei Kombinationen von Schulformen waren zugelassen: 1. Hauptschule + Realschule + Gymnasium; 2. Hauptschule + Realschule; 3. Hauptschule + Gymnasium. Die Oberstufe* des Gymnasiums (Sekundarstufe II) konnte (spätere Fassung: sollte) der Koop-Schule angeschlossen werden (§ 5 a Abs. 1).
Im Unterschied zum bestehenden Schulsystem sah § 5 a Abs. 2 für die , Koop-Schule'als eigenständige Schule (nicht aber neue Schulform) folgenden Aufbau vor (vgl. Abb.): 1. Die horizontal gegliederte Abteilung der schulformunabhängigen Orientierungsstufe (Klassen 5 und 6); 2. die vertikal gegliederten schulformbezogenen Abteilungen der Haupt-, der Realschule und des Gymnasiums in der zugelassenen Kombination (Klassen 7 bis 9/10). Die Abteilungen hatten „schulfachlich" zusammenzuarbeiten, insbesondere ihr Unterrichtsange-bot abzustimmen und in Teilbereichen „schul-formübergreifende Lerngruppen" zu bilden. innerer Differenzierung (z. B. Gruppenarbeit im Klassenverband), in der Klasse 6 nach äußerer Differenzierung in Englisch und Mathematik auf zwei Anspruchsebenen (Fachleistungskurse außerhalb des Klassenverbandes) sowie in Deutsch nach flexibler Differenzierung (Einzelbegründung zu § 5 a Abs. 3)
Nach dem ergänzten § 10 Abs. 2 konnten die Gemeinden ihrer Verpflichtung, Hauptschulen und, soweit erforderlich, Realschulen und Gymnasien zu errichten, auch nachkommen, wenn sie eine Kooperative Schule mit entsprechenden Abteilungen einführten. Es blieb somit der Gestaltungsfreiheit der Schulträger überlassen, ob sie sich für die traditionellen Einzelschulformen oder — bei Vorliegen der Voraussetzungen — für die Koop-Schule entschieden. Die Aufbau des bestehenden vertikalen dreigliedrigen Schulsystems (links) und der geplanten horizontal/vertikal gegliederten Kooperativen Schule (rechts)
Die schulformunabhängige Orientierungsstufe auf der Basis der KMK-Vereinbarung vom 28. Februar 1974 (vgl. Kap. II 1 a) sollte die Schüler nach einheitlichen Lehrplänen individuell fördern und die Entscheidung über ihren weiteren Bildungsgang erleichtern (§ 5 a Abs. 3). Zur Eignungsermittlung diente u. a. differenzierter Unterricht: In der Klasse 5 nach Gesetzvorlage ermächtigte den Kultusminister, die Schulaufsicht für Versuchs-und Koop-Schulen durch Rechtsverordnung gesondert zu re-* geln. Das Gesetz sollte bereits am 1. August 1977, also mit Beginn des Schuljahres 1977/78, in Kraft treten.
Bereits bei der ersten Lesung des Gesetzentwurfs am November 1976 kam es im Landtag zwischen den Regierungsparteien und der Opposition zur Konfrontation 25). Der Widerstand der CDU, in dieser Härte nicht erwartet, löste den schulpolitischen Konflikt aus. Er verschärfte sich in den folgenden Monaten immer mehr und entwickelte sich schließlich zum Schulkampf.
III. Der Konfliktverlauf
Abbildung 3
Abbildung 3
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1. Die Formierung der Koop-Schulgegner a) Die CDU Die schroffe Haltung der CDU zur Koop-Schule überraschte deshalb, weil die Opposition selbst am 15. November 1971 im Landtag beantragt hatte, ein Versuchsprogramm „Kooperative Gesamtschule" durchzuführen, um so „die Reform der gesamten Sekundarstufe I einzuleiten“ Zwar handelte es sich um ein Schulexperiment, das die CDU beantragt hatte, sie gab jedoch in praxi den Versuchsvorbehalt auf, als der Abgeordnete Nagel am 13. September 1973 im Kulturausschuß forderte, zum 1. August 1974 in Nordrhein-Westfalen die erstrebten „Kooperativen Schulen" einzuführen und „Formen der Kooperation zwischen Hauptschule, Realschule und Gymnasium" zu erproben Nagel wurde daher später neckisch als „Vater" oder „Erfinder" der Kooperativen Schule tituliert.
Diese damals von den Regierungsparteien abgelehnten schulpolitischen Initiativen entsprachen dem „Schulreformprogramm" (1971) der CDU; es hatte u. a. die Orientierungsstufe gefordert, ohne sich allerdings — wie später auch die CDU/CSU-regierten Länder im Bildungsgesamtplan — auf die integrierte (schulformunabhängige) oder kooperative (schulformabhängige) Variante festzulegen Noch auf ihrem bildungspolitischen Kongreß in Münster am 15. Februar 1975 wollte die CDU die „Kooperation zur Leitidee der Schulstruktur" machen, in Rheinland-Pfalz hatte sie bis Mai 1977 30 schulformunabhängige sowie etwa 600 schulformabhängige Orientierungsstufen eingerichtet, und im Saarland und in Niedersachsen sollte die Orientierungsstufe schulformunabhängig landesweit eingeführt werden
Obwohl die CDU selbst Schulversuche mit der Kooperativen Schule beantragt hatte, sprach nun der Oppositionsführer Heinrich Koppler davon, daß man die Kinder in Nordrhein-Westfalen „einmal mehr zu weißen Mäusen im ideologischen Labor von SPD und FDP“ machen und durch die „Hintertür die integrierte Gesamtschule" einführen wolle . Im Gegensatz zu dem, was die CDU bisher erklärt und z. T.selbst praktiziert hatte, verwarf Koppler nun auch die Orientierungsstufe. In ihr „werden die Kinder zwei Jahre lang unter einen pausenlosen Prüfungsdruck gestellt. Und am Ende ist nichts gewonnen für eine sachgerechtere Beurteilung" Wie läßt sich dieser Kurs-wechsel erklären?
Als die CDU Kooperative Schulen zu erproben empfahl, ging es ihr hauptsächlich darum, die integrierte Gesamtschule als Regelschule zu verhindern Nachdem diese Gefahr gebannt war, befürchtete die Partei, die Koop-Schule, „der schwerwiegendste und folgenschwerste Eingriff in das Schulwesen seit 1945" (MdL Albert Pürsten), diene dazu, die Gesamtschule auf Umwegen einzuführen, so daß sie auch von der bislang befürworteten Orientierungsstufe abrückte. Sie stand bei dieser sukzessiven Revision ihrer Schulpolitik unter dem maßgeblichen Einfluß der öffentlichen Meinung, vor allem der Kirchen, Lehrer-und Elternverbände. Die CDU hatte sich diesem bildungspolitischen Trend angepaßt und erstrebte, von ihm auch parteipolitisch zu profitieren. b) Die Lehrerverbände Der Deutsche Philologenverband trat von Anfang an als schärfster Gegner der Koop-Schule hervor. Diese einflußreiche und finanz-starke Interessenvertretung der Gymnasiallehrer/innen (insgesamt ca. 55 000 Mitglieder) hatte bereits heftig gegen die Einführung der Stufenlehrerausbildung protestiert. Nun sprach der Landesvorsitzende Burkhard Sprenger von einem „hinterlistigen Gesetzestrick", mit dem das gegliederte Schulwesen, insbesondere das Gyihnasium, zerschlagen werden solle. Er proklamierte den „legalen Widerstand mit allen Mitteln“ In seinen Zeitschriften („Bildung aktuell", „Die höhere Schule") sowie zahlreichen Publikationen und Flugblättern erläuterte der Verband seinen Standpunkt Er beeinflußte vor allem Lehrer, Eltern, Schüler und CDU-Funktionäre, zu denen enge Kontakte bestanden.
Der Verband Deutscher Realschullehrer mit etwa 15 000 Mitgliedern schloß sich dem Votum des Philolögenverbandes an. Die Vertreterversammlung präzisierte ihre Haltung am 20. /21. Mai 1977 in Bonn
Scharf ablehnend reagierten auch der Verein katholischer deutscher Lehrerinnen und der Bund Freiheit der Wissenschalt. Sie warfen der Koop-Schule vor, sie sei pädagogisch „unverantwortlich" und bildungspolitisch „unehrlich"
Ebenso hart ins Gericht mit dem Gesetzentwurf ging der Deutsche Lehrerverband, in dem unterschiedliche Lehrerorganisationen mit etwa 168 000 Mitgliedern zusammenarbeiten. Der Präsident dieses Dachverbandes, Clemens Christians, sah in der Koop-Schule den „entscheidenden Angriff auf das Gymnasium" mit der Absicht, es „erbarmungslos in die Zange" zu nehmen und „zum Sterben" zu verurteilen Der Verband Bildung und Erziehung konnte sich als Mitglied mit seinem abweichenden Votum nicht durchsetzen (III 2), doch hielt sich der Deutsche Lehrerverband in Zukunft mit negativen Werturteilen mehr zurück. c) Die Elternverbände Heftigen Protest gegen den „Generalangriff auf das dreigliedrige weiterführende Schulwesen" erhob die Landeselternschalt der Gymnasien, in der sich Vorsitzende der Schulpflegschaften an Gymnasien in Nordrhein-Westfalen zusammengeschlossen haben. In einem Schreiben vom 28. Januar 1977 an den Landtagspräsidenten begründete der Vorsitzende Heinz Post ausführlich die grundsätzlichen Bedenken gegen den Gesetzentwurf
Ebenso entschieden ablehnend reagierten folgende Elterngruppen in Nordrhein-Westfalen: Der Verband der Elternschaiten Deutscher Realschulen, die Landesschulpllegschalt, die Katholische Elternschaft Deutschlands und der nach hessischem Vorbild gegründete Eltern-verein Nordrhein-Westialen. Diese offiziell parteipolitisch unabhängigen Organisationen befürchteten u. a., die Koop-Schule werde das Elternrecht beeinträchtigen, das „bewährte“ gegliederte Schulwesen zerstören, die „sozialistische Einheitsschule" vorbereiten und den Kindern schwere psychologische/pädagogi-sche Schäden zufügen, vor allem durch Prüfungsstreß, Klassenwechsel und Schulexperimente. d) Die Kirchen Auch die beiden christlichen Kirchen, von jeher besonders engagiert in Schulfragen, hielten mit ihrer Kritik am Gesetzentwurf nicht zurück. Relativ distanziert äußerte sich die evangelische Kirche. Sie forderte zunächst eine „Phase der Konsolidierung" im Schulwesen, da Eltern, Lehrer und Schüler allgemein beunruhigt und verunsichert seien. Obwohl sie die gute Absicht des Entwurfs, das Bildungsangebot vor allem im ländlichen Raum zu verbessern, anerkannten, blieben nach Ansicht der Landessynoden in Westfalen und im Rheinland „wesentliche pädagogische Bedenken" bestehen, hauptsächlich ge-gen die schulformunabhängige Orientierungsstufe
Schärfer fiel das Votum des Sekretariats der katholischen Bischöfe in Nordrhein-Westfalen aus. Es lehnte die Koop-Schule „aus pädagogischen und bildungspolitischen Gründen" uneingeschränkt ab, u. a. auch deshalb, weil sie die verfassungsrechtlich verbürgten Bekenntnisschulen (Art. 12 LV) gefährde Die Kritik richtete sich in erster Linie gegen die integrierte Orientierungsstufe.
Die Haltung der beiden Kirchen, vor allem der katholischen, wirkte auf die CDU und konfessionelle Organisationen zurück. So wandten sich u. a. auch die Arbeitsgemeinschaft der Katholischen Verbände in den Bistümern, das Katholische Männerwerk Deutschlands, die zuständigen Abteilungen der Generalvikariate, Pfarrgemeinderäte und Geistliche in Erklärungen gegen die geplante Einführung der Kooperativen Schule 2. Partielle Verbündete der Koop-Schule Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft im Deutschen Gewerkschaftsbund gehörte nur mit Einschränkungen zu den Verfechtern der Koop-Schule. Denn diese etwa 170 000 Mitglieder starke Organisation befürwortete uneingeschränkt die integrierte Gesamtschule als Regelschule und sah deshalb keinen Grund, den Gesetzentwurf „als entscheidenden bildungspolitischen Fortschritt zu feiern“. Die Vorlage galt als „zu unpräzise" und als „nicht ausreichend erklärt“, so daß sie Verwirrung stifte, -auch binde und vergeude sie Energien, die „sinnvollerweise der Stärkung und dem Ausbau der Gesamtschule" hätten zugute kommen sollen
Je mehr sich allerdings die „Antikampagne“ („künstlich erzeugte Hysterie") gegen die Koop-Schule verschärfte, um so eher neigte der Landesvorstand NRW der GEW dazu, die Kritik am Gesetzentwurf zurückzustellen und ihn gegen „egoistische Angriffe" zu verteidigen Anders als etwa die Landesschülervertretung, die ebenfalls für die integrierte Gesamtschule votierte und deshalb trotz „positiver Elemente" die Vorlage ablehnte, stellte sich die GEW hinter die Koop-Schule, als sie immer stärker in das Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik geriet Dies war jedoch mehr Rückendeckung, weniger Parteinahme für sie. Der Verband Bildung und Erziehung (VBE), der etwa 75 000 Mitglieder vertritt, darunter viele Hauptschullehrer, begrüßte zunächst die Gesetzesvorlage. Jedoch distanzierte sich der Landesvorsitzende Albert Balduin nachträglich mehr oder weniger von diesem Votum, indem er es schrittweise modifizierte und vor einer „überstürzten Einführung der Koop-Schule" warnte. Er plädierte zuletzt für eine Zusammenarbeit von Haupt-und Realschule, wollte aber das Gymnasium als selbständigen Teil des Schulwesens ausdrücklich erhalten wissen Da der VBE, beeinflußt wohl vom Deutschen Lehrerverband als Dachorganisation, von seinem ursprünglich grundsätzlich positiven Votum abrückte, kann er noch viel weniger als die GEW dem „echten" Anhang der Koop-Schule zugezählt werden. Trotz gewisser Sympathien für sie hielt sich der Verband mehr aus dem Schulkampf heraus, als sich in ihm zu engagieren.
Es ergibt sich somit als Fazit: Weder unter den Lehrer-noch unter den Elternverbänden gab es eine maßgebliche Organisation, die sich mit der Kooperativen Schule identifizierte.
Die Städte und Gemeinden, denen der Gesetz-entwurf anbot, unter bestimmten Voraussetzungen Koop-Schulen als Schulträger zu errichten, hielten vorerst mit Stellungnahmen zurück; sie hingen stark — wenngleich nicht nur — von parteipolitischen Entscheidungen und ihren Mehrheiten in kommunalen Selbstverwaltungsgremien ab. Bei der Anhörung im Landtag betonten die Vertreter des Städte-tages Nordrhein-Westfalens wie auch des nordrhein-westfälischen Städte-und Gemeindebundes im wesentlichen übereinstimmend, daß der Gesetzentwurf es zwar im Zeichen zurückgehender Schülerzahlen erleichtere, organisatorische Schulfragen zu bewältigen, daß er jedoch verschiedener „Verbesserungen" bedürfe. Im übrigen sei die Meinungsbildung der Kommunen noch nicht abgeschlossen
Lediglich kommunalpolitische Organisationen, die direkt oder indirekt mit den Regierungsparteien oder mit der Opposition zusammenarbeiteten, wie z. B. die Sozialdemokratische Gemeinschaft für Kommunalpolitik in Nordrhein-Westfalen oder die Kommunalpolitische Vereinigung der CDU, engagierten sich im Schulkampf a priori für oder gegen den Gesetzentwurf. Im allgemeinen bekundeten die Kommunen — selbst in den sozialdemokratischen Hochburgen des Ruhrgebietes — nach Umfragen nur geringes Interesse, Kooperative Schulen zu errichten 3. Die Eskalation vom Schulstreit zum Schulkampf
* a) Flugblattkrieg kontra und pro Kooperative Schule Die Gegner der Kooperativen Schule beschränkten ‘sich nicht darauf, gegen den sozialliberalen Gesetzentwurf zu protestieren; sie trugen den Konflikt auch in die Öffentlichkeit. Anfangs agierten die einzelnen Gruppen spontan auf eigene Initiative, doch stimmten sie ihre Kampagne immer mehr aufeinander ab. So organisierten sie nach und nach einen regelrechten Flugblattkrieg gegen die Kooperative Schule.
Da sich die Koalitionsparteien herausgefordert fühlten, antworteten sie ihrerseits mit Flugblattaktionen, um auf die Diskussion einzuwirken. Die SPD brachte ein Informationsfaltblatt mit einer Auflage von zunächst 120 000 Exemplaren heraus und gab eine Million Flugblätter in Auftrag Pressekonferenzen, Resolutionen, Flugblätter/-schriften, Plakate, Anzeigen und Autoaufkleber vermittelten bereits im Januar/Februar 1977 den Eindruck, als befände sich Nordrhein-Westfalen im Wahlkampf. Zeitungskorrespondenten konstatierten einen „Schulstreit von hessischen Ausmaßen“
Trotz aller Flugblatt-und Aufklärungs-Aktionen sowie der Drohung, Verfassungsklage gegen die Kooperative Schule zu erheben, falls der Gesetzentwurf verabschiedet werde, gelang es CDU und Lehrer-/Elternverbänden vorerst nicht, eine Bresche in die Einheitsfront der Koalition zu schlagen. Im Gegenteil: Die unerwartet vehementen Angriffe bestärkten die Landtagsfraktionen von SPD und FDP darin, ihrerseits Solidarität zu üben und Gelassenheit zu demonstrieren. So erklärte der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion, Christoph Zöpel, noch am 1. Februar 1977 vor der Presse, in seiner Fraktion gebe es „nicht den Ansatz von Neigung", die Kooperative Schule fallenzulassen, und auch die FDP-Fraktion ließ durch ihren Parlamentarischen Geschäftsführer Wolfgang Heinz versichern, sie halte „einstimmig" am gemeinsamen Gesetzentwurf fest
b) Großkundgebungen als Nlachtdemonstration Der Schulkonflikt erreichte eine neue Dimension, als die Gegner des Gesetzentwurfs mit Großkundgebungen den „Generalangriff“ (Koppler) gegen die Kooperative Schule eröffneten. Sie wollten ihren Anhang und ihre Macht demonstrieren, aber auch Zeugnis für die Entschlossenheit ablegen, sie zu gebrauchen. Der Schulstreit, der bislang noch konventionelle „hessische“ Züge getragen hatte, eskalierte nun zum Schulkampf. Er übertraf an Schärfe alle bisherigen schulpolitischen Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik Deutschland.
Die Welle der Großkundgebungen leiteten die Landeselternschaft der Gymnasien, der Verband der Elternschaften Deutscher Realschulen, der Elternverein NRW, der Philologenverband und der Deutsche Lehrerverband am 2. Februar 1977 in Bad Godesberg ein. Unter dem Motto „Keine weiteren Experimente mit unseren Schulen!" protestierten etwa 2 000 Lehrer und Eltern gegen den ihres Erachtens verfassungswidrigen Gesetzentwurf Das „Trommelfeuer" (WAZ), das sich gegen die Kooperative Schule richtete, erreichte den Höhepunkt auf der bisher größten westdeutschen Kundgebung von Lehrern und Eltern: Am 9. Februar 1977 versammelten sich in Essen etwa 13 000 bis 15 000 Demonstranten, um ihrem Ärger über die sozialliberalen Schulreformpläne Luft zu machen. Die zentral organisierte Veranstaltung, für die der Philologen, verband NRW je Bus einen Zuschuß von DM 100, — gewährte, legte ein beredtes Zeugnis davon ab, wie entschlossen die Gegner der Koop-Schule waren, Widerstand bis zum äußersten mit allen legalen Mitteln zu leisten. Unter frenetischem Beifall deklamierte Heinz Post, der Vorsitzende der Landeselternschaft der Gymnasien: „Dies ist ein echter Volksaufstand !" Diese Großkundgebungen verfehlten nicht den Eindruck auf die Repräsentanten der sozialliberalen Koalition. Trotz aller verbalen Beschwörungen begann die Einheitsfront der Regierungsparteien Risse zu zeigen. 4. Risse in der sozialliberalen Koalition a) Der innerparteiliche Konflikt in der FDP Zweifel an der geplanten Schulreform artikulierte zuerst der FDP-Landesvorsitzende Horst-Ludwig Riemer, zugleich stellvertretender Ministerpräsident und Wirtschaftsminister. Der Bundesvorsitzende Hans-Dietrich Genscher teilte diese Bedenken: Er warnte vor übereilten Schritten und insbesondere davor, die Partei in einen Schulstreit nach dem „Hessen-Modell'' zu verwickeln. Wie Zeitungen meldeten, bezweifelte auch Bundespräsident Scheel die Berechtigung der Kooperativen Schule
Der Streit in der FDP spitzte sich weiter zu: Die Landtagsfraktion hielt am Gesetzentwurf fest, während führende Parteipolitiker und -mitglieder Bedenken gegen ihn hegten und deshalb den Fraktiohsvorsitzenden Hans Koch angriffen Die Kluft, die sich zwischen Landesvorstand und Landtagsfraktion aufgetan hatte, konnte jedoch auf einer gemeinsamen Sitzung am 10. Februar 1977 notdürftig überbrückt werden: Danach war sich die FDP darin einig, daß „die weitere parlamentarische Behandlung des Gesetzentwurfs nicht unter Zeitdruck stehen” dürfe und „mit Sorgfalt alle Hinweise und Anregungen zur Verbesserung des Gesetzentwurfes” zu prüfen seien Dieser Beschluß implizierte zweierlei: daß die ursprünglich am 28. April 1977 geplante zweite Lesung zu vertagen sei und daß der Entwurf einer kritischen Prüfung bedürfe.
Wie tief trotz dieses Kompromisses die Meinungsverschiedenheiten in der FDP wurzelten, offenbarte der Landesparteitag in Münster Ende April 1977. Dort lieferten sich Anhänger und Gegner des Gesetzentwurfs stundenlange erbitterte Wortgefechte. Die Delegierten konnten sich nicht einigen und beauftragten schließlich den FDP-Landeshauptausschuß, am 4. Juni 1977 endgültig die Weichen zu stellen. Auf diesem „kleinen Parteitag" setzte sich Riemer mit dem Argument durch, daß der inzwischen geänderte Gesetzentwurf verfassungsrechtliche und sonstige Bedenken ausgeräumt habe; werde er auch jetzt noch abgelehnt, so gefährde dies die Koalition mit der SPD, aber auch die Glaubwürdigkeit der FDP. Die Minderheit unter dem Düsseldorfer Regierungspräsidenten Achim Rohde hatte empfohlen, von der Revisionsklausel des Koalitionsvertrages Gebrauch zu machen und den umstrittenen Gesetzentwurf vorerst nicht weiter zu beraten, zumal die „Schlappe" der SPD bei den hessischen Kommunalwahlen auf ihre Schulpolitik zurückzuführen sei b) Spannungen zwischen Regierung und Regierungsfraktionen
Die sozialliberale Koalition geriet nicht nur wegen massiver Eltern-, Lehrer-und CDU-Proteste sowie Differenzen innerhalb der FDP ins Wanken, sondern auch wegen Spannungen, die zwischen der Regierung und den sie tragenden Landtagsfraktionen aufbrachen. Die Krise verschärfte vor allem ein Interview, das Ministerpräsident Kühn der „Rheinischen Post“ gewährte; es bestärkte den Verdacht, daß die Regierung allenfalls „im Prinzip" hinter der Kooperativen Schule stehe. Kühn plädierte u. a. dafür, die Gesetzesvorlage behutsam zu beraten, das Schulwesen nicht „durch Nivellierung der Wissensvermittlung und der Erziehungsziele nach unten" zu demokratisieren sowie „den Eltern keine Lösungen durch knappe parlamentarische Mehrheitsentscheidung" aufzuzwingen
Das Interview des Ministerpräsidenten und die offene Kritik seines Stellvertreters Riemer befremdeten die Koalitionsfraktionen, da das Ka-binett ihrem Gesetzentwurf am 23. November 1976 zugestimmt hatte. Kühn hatte ihn in der Haushaltsdebatte am 2. Februar 1977 noch gegen Angriffe der CDU, die eine Verfassungsklage ankündigte, verteidigt und auch im SPD-Landesausschuß (erweiterter Landesvorstand) eben erst gutgeheißen
Den „vertikalen" Konflikt zwischen der Regierung und den sie stützenden sozialliberalen Abgeordneten sollte eine Anzeigenaktion, die das Kabinett zugunsten der Kooperativen Schule betrieb, entschärfen. Jedoch lösten die Zeitungsinserate, für die Kultusminister Girgensohn verantwortlich zeichnete, neue Kontroversen aus. Die CDU beschuldigte am 10. März 1977 im Landtag die Regierung, sie verschleudere Steuergelder und verstoße gegen das neueste Urteil des Karlsruher Bundesverfassungsgerichts, das die von Regierungen finanzierte staatliche Wahlpropaganda zugunsten regierender Parteien für unzulässig erklärt hatte 5. Der Kampf um das Gesetz des Handelns a) Die Revision des Gesetzentwurfes Allen Schwierigkeiten zum Trotz gelang es der Koalition, die verlorengegangene Initiative zurückzugewinnen. Dies geschah durch die Revision des Gesetzentwurfs mit folgenden Zielsetzungen: Erstens sollte sie die Meinungsverschiedenheiten, die die Koalition belasteten, durch Kompromisse überbrücken; zweitens sollte sie verfassungsrechtliche Bedenken ausräumen, die gegen die Vorlage erhoben worden waren, und damit einer Verfassungsklage den Boden unter den Füßen entziehen Der am 24. Mai 1977 veröffentlichte revidierte Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen modifizierte und konkretisierte die ursprüngliche Vorlage wie folgt :
1. Die Voraussetzungen, unter denen der Kultusminister eine Kooperative Schule genehmigen durfte, wurden präzisiert. Dies sollte die staatliche „Kompetenzordnung''gewährleisten, d. h.den verfassungsrechtlichen Einwand entkräften, die Errichtung der Kooperativen Schule bleibe der Entscheidungsfreiheit der Gemeinden überlassen. Daher mußte die Kooperative Schule das ortsnahe Bildungsangebot unter Berücksichtigung der überörtlichen schulischen Versorgung sichern oder erweitern. Um eine Zwerg-oder Mammutschule zu verhindern, wurden mindestens vier und höchstens acht Züge vorgeschrieben (§ 5 a Abs. 1 Satz 2).
2. Die Orientierungsstufe, nunmehr inhaltlich und organisatorisch näher umschrieben, sollte die Lernfähigkeit fördern, auf die weiteren Bildungsgänge vorbereiten und die Entscheidung über die geeignete Schullaufbahn verbessern (§ 5 a Abs. 3 Sätze 1— 4).
3. Das vielfach reklamierte Elternrecht wurde gesetzlich verankert: Danach wirkten die Erziehungsberechtigten in der Orientierungsstufe u. a. bei der Ein-und Umstufung in den Fachleistungskursen mit. Am Ende der Klasse 6 konnten sie auch gegen die „Empfehlung" der Schule über den weiteren Bildungsgang ihrer Kinder entscheiden (§ 5 a Abs. 3 Sätze 5— 7). 4. Ein neuer § 5 b verpflichtete Haupt-, Real-schule und Gymnasium, die Erprobungsstufe (schulformabhängige Orientierungsstufe) jeweils in den Klassen 5 und 6 einzuführen. Sie sollte „in Zusammenarbeit mit den Erziehungsberechtigten die Entscheidung der Schule über die Eignung des Schülers für die gewählte Schulform sicherer" machen. b) Zweite Lesung trotz verschärfter Proteste . Die Gegner der Kooperativen Schule reagierten auf den geänderten Gesetzentwurf unisono scharf ablehnend. Die CDU sprach von „Schönheitschirurgie", der Philologenverband von einem „Täuschungsmanöver", die Landeselternschaft der Gymnasien von „Bildungschinesisch’'und der Realschullehrerverband von „Flickschusterei". Das Sekretariat der katholischen Bischöfe in Nordrhein-Westfalen erklärte, die bereits vorgebrachten Bedenken seien „keineswegs entkräftet, sondern vielmehr noch verstärkt" worden
Die Koalition habe, so entrüsteten sich ihre Gegner, alle Proteste „in den Wind geschlagen" und sich nur juristisch besser abgesichert, um einer Verfassungsklage vorzubeugen. Da ihre Erfolgschancen, die das im Auftrag des Realschullehrer-und Philologenverbandes NRW erarbeitete Rechtsgutachten Ossenbühls außergewöhnlich günstig beurteilt hatte, beträchtlich gesunken waren, versprachen sich die Gegner der Kooperativen Schule nun mehr davon, notfalls gegen sie ein Volksbegehren zu initiieren. Wie Oppositionsführer Koppler bereits am 1. März 1977 erklärt hatte, war die Idee für ein solches Volksbegehren erstmals aus dem „Verbandsbereich" an ihn herangetragen worden Sie wurde seitdem mehrfach als Alternative zur bisher favorisierten Verfassungsklage erwogen. Damit sollte der „gefährliche Unmut” (Sprenger) der Bevölkerung gegen die Kooperative Schule in „verfassungsrechtliche Bahnen” gelenkt werden.
Der Landtagsausschuß für Schule und Kultur, der sowohl Gruppenvertreter wie Sachverständige angehört hatte, billigte den revidierten Gesetzentwurf und überwies ihn an das Plenum. Der Landtag billigte ihn trotz CDU-Pro-tests am 29. Juni 1977 in 2. Lesung mit 103 gegen 93 Stimmen. Die Opposition hatte zuvor nach § 81 der Geschäftsordnung eine 3. Lesung erwirkt und erneut mit einem Volksbegehren gedroht. Ministerpräsident Kühn, der erstmals versicherte, die Landesregierung stehe „in vollem Umfang" hinter dem überarbeiteten Entwurf, forderte Koppler auf, das Volksbegehren nicht nur zu unterstützen, sondern selbst zu initiieren: „Wagen Sie die Befragung des Volkes! ” c) Aui dem Wege zum Volksbegehren: Chancen und Risiken Mit der Revision des Gesetzentwurfes und seiner 2. Lesung hatte die Koalition die Zügel wieder in den Griff bekommen, die ihr zeitweilig zu entgleiten drohten. Der Gegner stand nun vor einer folgenschweren Entscheidung: Entweder zu resignieren oder aber weiter zu kämpfen, d. h. neue Wege zu suchen, die Kooperative Schule doch noch zu verhindern, nachdem alle bisherigen Kampfmittel gescheitert waren und auch feststand, daß sich die Koalition nicht durch neue Kampagnen davon werde abhalten lassen, ihre Schulpläne zu verwirklichen.
In diesem Dilemma bot sich als Ausweg das verfassungsrechtliche Institut des Volksbegehrens an, da Verfassungsklage zu erheben nach der Revision des Gesetzentwurfs wenig erfolgversprechend erschien. Es barg allerdings hohe Risiken in sich: Die verfassungsrechtliche Hür-de, 20 °/o der Wahlberechtigten in Nordrhein-Westfalen zu aktivieren, d. h. etwa 2, 4 Millionen Unterschriften gegen die Kooperative Schule zu sammeln, ließ sich nur schwer überwinden, von den Kosten, dem Aufwand und den unvorhersehbaren Konsequenzen eines gescheiterten Volksbegehrens ganz zu schweigen. Bisher hatte es in Nordrhein-Westfalen erst ein Volksbegehren gegeben: Als 1974 der Wattenscheider Textilfabrikant Klaus Steil-mann eine Bürgerinitiative gegen die umstrittene kommunale Neugliederung gründete, konnte sie „nur" etwa 720 000 Personen (6 °/o der Wahlberechtigten) dazu bewegen, sich in die Unterschriftslisten einzutragen, und blieb daher weit unter dem Quorum.
Trotz des Risikos, sich vorzeitig festzulegen, beschlossen acht Lehrer-und Elternvereine unter dem Einfluß des Philologenverbandes und der Landeselternschaft der Gymnasien schon Anfang Juli 1977, ein Volksbegehren zu wagen, sofern die Koalition den revidierten Gesetzentwurf gegen die Stimmen der Opposition in 3. Lesung verabschiede. Am 7. Juli 1977 entschied das gemeinsame Landespräsidium der rheinischen und westfälischen CDU, dieses Volksbegehren nachdrücklich zu unterstützen. Der Bundesvorsitzende Helmut Kohl stellte sich voll hinter diesen Beschluß, da die Kooperative Schule „der bisher umfassendste strategische Angriff auf die Einheitlichkeit des Schulsystems" sei
Die katholische Kirche engagierte sich nach der 2. Lesung stärker als bisher im Schulkonflikt, so daß er nun Züge eines „Kulturkampfes" anzunehmen begann. In allen Kirchenzeitungen der nordrhein-westfälischen Bistümer erschienen Artikel, die die Kooperative Schule verurteilten und zum Volksbegehren gegen sie ermunterten; in einem gemeinsamen Hirtenbrief vom 30. August 1977, der von allen Kanzeln verlesen wurde, baten Kardinal Höffner (Köln), Erzbischof Degenhardt (Paderborn) und die Bischöfe Hemmerle (Aachen), Hengsbach (Essen) und Tenhumberg (Münster) sogar beschwörend die Landtagsabgeordneten, den Gesetzentwurf nicht zu verabschieden Die evangelische Kirche, die sehr viel mehr Zurückhaltung übte, ermutigte die Eltern erst auf den Landessynoden in Westfalen am 3. November 1977 und im Rheinland am 13. Januar 1978 dazu, „von ihrem Entscheidungs-und Mit-wirkungsrecht Gebrauch zu machen”, obwohl Präses Immer zuvor das Volksbegehren als „in der Sache unangemessen” bezeichnet hatte
Am 1. September 1977 gründeten zehn formell überparteiliche Vereine aus Nordrhein-Westfalen die „Bürgeraktion Volksbegehren gegen die Kooperative Schule": 1. Philologenverband (Düsseldorf); 2. Elternverein (Bonn); 3. Landesschulpflegschaft (Gelsenkirchen); 4. Realschullehrerverband (Bochum); 5. Katholische Elternschaft (Essen); 6. Verein katholischer deutscher Lehrerinnen (Essen); 7. Landeselternschaft der Gymnasien (Mönchengladbach); 8. Arbeitsgemeinschaft von Schulpflegschaften im Regierungsbezirk Münster (Gladbeck); 9. Verband der Elternschaften deutscher Real-schulen (Wuppertal) und 10. Landesarbeitskreis Schule im Bund Freiheit der Wissenschaft (Bonn). Als 11. Mitglied schloß sich nachträglich noch die im Januar 1978 gegründete Evangelische Elterninitiative der Bürgeraktion an. Damit hatten sich außer der GEW und dem VBE alle maßgeblichen Lehrer-und Elternverbände definitiv entschlossen, den Kampf gegen die Kooperative Schule neu aufzunehmen.
Die Bürgeraktion, die eigene Zeitungen, Flugblätter, Autoaufkleber und Spendenaufrufe herausbrachte, arbeitete eng mit der CDU zusammen. Doch entwickelten sich kleinere Konflikte; denn anders als die Bürgeraktion, die erstrebte, ihren formell überparteilichen Charakter zu bewahren, beabsichtigte die CDU nicht nur, die Kooperative Schule zu verhindern, sondern auch, den allgemeinen politischen Unmut gegen die sozialliberale Regierung zu lenken und sie eventuell zu stürzen Die Streitigkeiten, u. a. wegen eines CDU-Autoaufklebers („Auch in der Schule — uns zuliebe — Freiheit statt Sozialismus") und wegen der vom niedersächsischen Kultusminister Werner Remmers (CDU) angekündigten landesweiten Einführung der schulformunab-hängigen Orientierungsstufe, konnten jedoch* zumindest vor der Öffentlichkeit beigelegt werden d) Sozialliberale Reaktionen und 3. Lesung Die Koalition hatte zwar die Initiative im Schulkampf zurückgewonnen, geriet jedoch teilweise schon wieder in die Defensive. Um den Gegnern der geplanten Schulreform offensiv zu begegnen, hatte nämlich der SPD-Landesparteitag am 25. 726. Juni 1977 in Duisburg ein Volksbegehren zugunsten der Gesamtschule beschlossen, damit jedoch die Regierung in Verlegenheit gestürzt und die FDP-Führer verärgert. Ministerpräsident Kühn betonte deshalb bei der 2. Lesung im Landtag auf Angriffe der CDU, der Parteitag werde das Handeln der Regierung nicht bestimmen Die Pläne, die Gesamtschule als Regelschule einzuführen, obwohl die Landesverfassung die Hauptschule institutionell garantierte, favorisierten vor allem die Vereinigung „Gesamtschule e. V.“ und die GEW, die angekündigt hatte, bei einem Volksbegehren den DGB einzuschalten, damit die wahre Stimme des Volkes Gehör fände Die FDP hatte bereits erklärt, sie lehne ein Volksbegehren zur integrierten Gesamtschule ab
Um die Kampagne von Schulleitern und Lehrern gegen die Kooperative Schule zu stoppen, untersagte Kultusminister Girgensohn mit Erlaß vom 25. Juli 1977 die Verteilung von Informationsmaterialien, Flugblättern, Spenden-aufrufen u. ä. an Schüler und über sie an ihre Eltern. Dieser bald so genannte „Maulkorb-und Knebelerlaß" bewirkte jedoch das Gegenteil von dem, was er bezweckte: Er forderte Lehrer, Eltern und Schüler heraus, gegen das „verordnete Informationsmonopol" der Regierung aufzubegehren und sich im Schulkampf zu engagieren. Die Opposition trug diesen Streit am 12. Oktober 1977 vor den Landtag
Die Versuche der Koalition, die Einheitsfront ihrer Gegner zu sprengen, führten zwar zu* Geheimverhandlungen mit dem Philologenverband. Sie scheiterten jedoch endgültig einen Tag vor der 3. Lesung, da die Fraktionsführer Dieter Haak (SPD) und Hans Koch (FDP) es ablehnten, auf die integrierte Orientierungsstufe zu verzichten
Bei der 3. Lesung am 26. Oktober 1977 traten die Regierungsparteien geschlossen auf. Die Koalitionssprecher versicherten übereinstimmend, die Kooperative Schule sei „kein Vehikel für die Gesamtschule", sondern unabhängig von ihr zu sehen. Auch betonten sie, das Volksbegehren werde scheitern Nach vierstündiger Debatte billigte der Landtag das „Gesetz zur Änderung des Schulverwaltungsgesetzes''mit 104 SPD-/FDP-gegen 95 CDU-Stimmen. Die Landesregierung fertigte die Novelle am 8. November 1977 aus und veröffentlichte sie im Gesetz-und Verordnungsblatt 6. Argumente und Motive im Streit um die Koop-Schule a) Politische und gesellschaftliche Kriterien Die meisten Parteinahmen pro oder contra Kooperative Schule verhielten sich reziprok zueinander: Was ihre Gegner gegen sie vor-brachten, bestritten ihre Anhänger und umgekehrt. Argumente waren im Schulkampf vor allem politische Waffen der Auseinandersetzung und Agitation, weniger rationale Hilfsmittel der Meinungsbildung und Urteilsfindung.
Außergewöhnlich einflußreich war die These, die Kooperative Schule diene dazu, das „bewährte" gegliederte Schulwesen abzuschaffen, insbesondere das Gymnasium. Als Vorstufe zur Gesamtschule, die entweder mit einer „sozialistischen Erziehungsanstalt" identifiziert oder aber als Etappe auf dem Weg zu ihr gedeutet wurde, erschien die Koop-Schule als eine „getarnte Zwischenstation auf dem Marsch" zum Einheitsschulsystem Einwände, die Kooperative Schule sei eigenständig, wiesen ihre Gegner zurück, indem sie sich auf die Entstehungsgeschichte des Gesetzentwurfs, die ursprünglichen Intentionen der Regierungskoalition und Äußerungen führender SPD-Funktionäre beriefen.
Viele besorgte Eltern sahen in der Kooperativen Schule ein Instrument, gesellschaftspolitische Veränderungen gegen ihren Willen herbeizuführen und die Schüler dem Elternhaus zu entfremden. Derartige Ängste mobilisierten vor allem konservative Eltern gegen die sozialliberale Schulpolitik.
Unter dem Eindruck von „Schulstreß" und schlechten oder vermeintlich schlechten Erfahrungen mit „Schulreformen“ neigten Eltern oft zu einem pädagogischen Quietismus. Er artikulierte sich in der vielzitierten Losung, die Schule brauche endlich Ruhe statt Reformen. Herrschte dieses Motiv vor, so ließ es sich nachträglich leicht mit Argumenten ausschmücken. Sie boten sich während der schulpolitischen Auseinandersetzungen von selbst an und brauchten nur rezipiert zu werden.
Gesellschaftliches Status-und Prestigedenken spielte im Schulkampf ebenfalls eine wesentliche Rolle: bei Eltern, die ihre Kinder traditionell aufs Gymnasium schicken oder schicken wollen, aber auch bei Studienräten und Realschullehrern, die befürchteten, die Koop-/Gesamtschule gefährde ihren „Stand”. Indem diese den Beruf des Hauptschullehrers aufwertete, stellte sie das eigene tradierte Rollenverständnis in Frage; auch drohte sie, die Anfangsgehälter im Sekundarbereich I zu „nivellieren", wenn alle dort unterrichtenden Lehrer die Besoldungsgruppe A 13 (höherer Dienst) erhielten. Derartige — meist unausgesprochene — „Standesinteressen” ließen sich in der Öffentlichkeit am leichtesten mit sachlich vorgeschobenen Argumenten, die lediglich eine Alibifunktion erfüllten, verfechten. b) Verfassungsrechtliche Kriterien Alle gegen die Koop-Schule eingestellten Gruppen warfen dem Gesetzentwurf vor, geltendes Recht zu verletzen, insbesondere die Landesverfassung. Als Hauptgründe wurden u. a. aufgeführt
1. Der Gesetzentwurf überlasse den Gemeinden und sonstigen Schulträgern, darüber zu beschließen, ob sie eine Kooperative Schule einführen wollten oder nicht. Er verstoße damit gegen die demokratische Kompetenzordnung, d. h. gegen den rechtsstaatlichen Geset-78 zesvorbehalt, der dem Parlament gebiete, solche Grundsatzfragen selbst förmlich zu entscheiden. 2. Die Kooperative Schule entwerte das „natürliche Recht der Eltern, die Erziehung und Bildung ihrer Kinder zu bestimmen" (Art. 8 Abs. 1 LV NRW), indem sie ganz oder teilweise das Lehrerkollegium ermächtige, über deren Schullaufbahn zu entscheiden. 3. Die Kooperative Schule zerschlage oder gefährde das bestehende gegliederte Schulwesen, das „durch die Mannigfaltigkeit der Lebens-und Berufsaufgaben bestimmt" werde (Art. 10 Abs. 1 LV NRW). Sie zerstöre insbesondere die institutionell garantierte Hauptschule. 4. Das Recht, Bekenntnisschulen einzurichten (Art. 12 Abs. 4 und 6 LV NRW), werde durch den Gesetzentwurf beeinträchtigt. 5. Die Kooperative Schule verursache Schulwirrwarr und Schulchaos; sie zerstöre dadurch die gebotene rechtliche Einheitlichkeit des Schulsystems in der Bundesrepublik Deutschland. Diesen verfassungsrechtlichen Einwänden trugen die Regierungsparteien teilweise Rechnung, denn sie überarbeiteten den Gesetz-entwurf. Das hatte zwei Folgen: Erstens, daß die Gegner der Kooperativen Schule den Schwerpunkt ihrer Kritik auf pädagogische und psychologische Argumente verlagerten, und zweitens, daß sie ihren ursprünglichen Plan, Verfassungsklage zu erheben, fallen ließen und sich dazu entschlossen, ein Volksbegehren einzuleiten. c) Pädagogische und psychologische Kriterien Die pädagogischen und psychologischen Vorzüge, die sich die Regierungsparteien von der Koop-Schule versprachen, bestritten ihre Gegner; sie gewährleistete ihrer Ansicht nach weder größere Chancengleichheit noch höhere Durchlässigkeit noch bessere individuelle Förderung u. a. m. Im Gegenteil: Die Orientie-rungsstufe unterwerfe alle Schüler in ihrer Vorpubertät einem zweijährigen permanenten Prüfungsstreß und verschärfe dadurch den Leistungsdruck; sie überfordere praktisch begabte Kinder, unterfordere jedoch theoretisch begabte; sie vertage die Entscheidung über die künftige Schullaufbahn, ohne die Prognosesicherheit zu verbessern; sie verstümmele die bisher „leistungsfähigen" weiterführenden Schulen zu pädagogisch unvertretbaren Restschulen; sie zerstöre durch häufigen Klassen-und Lehrerwechsel vor allem in Fachleistungskursen persönliche Bindungen und verschlechtere so die Lernbedingungen namentlich leistungsschwächerer Schüler. Als „Mammutschule" /„Lernfabrik" mache die Koop-Schule „schulkrank" und nivelliere zudem das gesamte Bildungsangebot; auch schränke sie die Auswahlmöglichkeiten innerhalb einzelner Schulzweige ein und behindere die Entfaltung besonderer Begabungen. Die Losung hieß daher: „Macht Koop kaputt, bevor Koop Kinder kaputt macht".
Gegner wie Anhänger des Gesetzentwurfs beriefen sich auf pädagogische und psychologische Forschungsergebnisse sowie wissenschaftliche Autoritäten Die Interpretationen und Voten blieben allerdings kontrovers, da empirisch eindeutig abgesicherte Untersuchungen immer noch fehlen. Gegen die Koop-Schule wurde daher häufig eingewandt, sie sei das größte und zugleich pädagogisch völlig ungesicherte Schulexperiment in der Bundesrepublik. Es lägen zwar praktische Erfahrungen über Orientierungsstufen und Gesamtschulen aus verschiedenen Bundesländern vor, nicht jedoch über die Kooperative Schule, wie sie speziell in Nordrhein-Westfalen geplant sei. In der Tat war der einzige Schulversuch im Schulzentrum Saaler Mühle in Bergisch Gladbach (Otto-Hahn-Schule in Bensberg) schon nach kurzer Anlaufzeit abgebrochen bzw. für gescheitert erklärt worden d) Schulorganisatorische, insbesondere demographische Kriterien Je mehr sich die Regierungsparteien mit ihrer pädagogisch/psychologischen Argumentation in die Defensive gedrängt sahen, um so nachdrücklicher beriefen sie sich auf schulorganisatorische, insbesondere demographische Notwendigkeiten des Gesetzentwurfs. Danach schuf die Koop-Schule überhaupt erst die Voraussetzungen dafür, einen geordneten Schulbetrieb und ein angemessenes Bildungsangebot bei sinkenden Schülerzahlen aufrechtzuerhalten. Vor allem auf dem Lande müßten weiterführende Schulen geschlossen werden, wenn es nicht gelinge, die vorhandenen Kapazitäten unter dem gemeinsamen Dach einer Koop-Schule optimal zu nutzen: Personell im Schüler-und Lehrereinsatz und bei der Schulleitung, räumlich in Schulzentren sowie finanziell durch ebenso sparsame wie effektive Verwendung von Steuergeldern.
Die Gegner des Gesetzentwurfs bestritten zwar nicht, daß die Schülerzahlen in den kommenden Jahren rapide zurückgehen, sie bezweifelten allerdings, daß die aus statistischen Prognosen abgeleiteten schulpolitischen und -organisatorischen „Sachzwänge" stichhaltig seien Selbst wenn ein Schulzentrum die Schulkosten dämpfen könnte, so verlängere es doch die Schulwege und erhöhe damit die Schülertransportkosten, von den Umbauten an vorhandenen Schulen und ihrer mangelhaften Ausnutzung bei sinkenden Schülerzahlen ganz zu schweigen.
IV. Die Konfliktbeilegung
1. Das Volksbegehren gegen die Kooperative Schule — Höhepunkt des Schulkampfes a) Rechtliche und tatsächliche Voraussetzungen des Volksbegehrens Das verfassungsrechtliche Institut des Volksbegehrens, in Art. 2 LV gleichberechtigt neben Wahl und Volksentscheid gestellt, ermöglicht es, Landesgesetze „zu erlassen, zu ändern oder aufzuheben" (Art. 68 Abs. 1 LV), soweit sie nicht Finanz-, Steuer-und Besoldungsfragen betreffen. Erfolgreich ist das Volksbegehren dann, wenn sich mindestens ein Fünftel der Wahlberechtigten in Nordrhein-Westfalen fristgerecht eigenhändig in öffentlich ausgelegte Listen einträgt
Die Bürgeraktion Volksbegehren hatte unmittelbar, nachdem sie gegründet worden war, damit begonnen, Ortskomitees in fast allen Gemeinden und Städten zu organisieren und bei ihren Mitgliedern und Anhängern „Solidaritätsspenden" zu sammeln. Erst nach dieser Vorbereitungsphase beantragte sie am 20. Dezember 1977 beim Innenminister, ein Volksbegehren mit dem Ziel zuzulassen, alle Passagen über die Orientierungsstufe und Kooperative Schule im novellierten Schulverwaltungsgesetz ersatzlos zu streichen; erhalten blieb somit nur der neue § 5 b SchVG, der die Erprobungsstufe in der 5. und 6. Klasse an allen weiterführenden Schulen errichtete
Innenminister Burkhard Hirsch (FDP) sicherte der Bürgeraktion, die mehrfach betonte, es gehe ihr lediglich darum, das „Koop-Schulgesetz“ aufzuheben, nicht aber darum, die Regierung zu stürzen, ein „objektives Verwaltungsverfahren" zu. In einem umfangreichen Erlaß gab er Anordnungen und Hinweise an Gemeinden und Städte, „zumutbare Eintragungsmöglichkeiten" anzubieten und sie nicht nur während der regelmäßigen Dienstzeit, sondern zeitweise auch an Wochenenden geöffnet zu halten b) Die Durchführung des Volksbegehrens Die Landesregierung beschloß am 10. Januar 1978, die Auslegung von Eintragungslisten zuzulassen; ihre Herstellungs-und Versandkosten mußten die Antragsteller vorstrecken Eintragungsberechtigt waren alle wahlberechtigten Bürger des Landes Nordrhein-Westfalen; die Eintragungsfrist begann am 16. Februar und endete am 1. März 1978. Die Eintragungsstellen und -Zeiten gaben die Gemein-
den/Städte in Amtsblättern, in der Lokalpresse und durch Hinweisschilder bekannt.
Im Januar 1978 leitete die Bürgeraktion mit Hilfe der CDU, die das Volksbegehren nach eigenen Angaben mit 800 000 DM unterstützte, die „Mobilisierungsphase" ein. Sie diente dazu, das Volksbegehren unmittelbar vorzubereiten: durch Flugblätter, Autoaufkleber, Inserate, Plakate, eigene Zeitungen, Informationsmaterialien, Leserbriefe, Pressekonferenzen, Versammlungen, Rednerschulung und mündliche Agitation von Haus zu Haus, in Straßenaktionen oder per Telefon. Die Hauptarbeit leisteten die überall gegründeten örtlichen Komitees und Bürgerinitiativen, die vor allem auf dem Lande außergewöhnlich aktiv waren.
Die Koalitionsparteien verhielten sich, mit der Propaganda und Agitation der Bürger-aktion und der CDU verglichen, außergewöhnlich zurückhaltend. Die FDP trat kaum in Erscheinung; die SPD begnügte sich im wesentlichen mit der Verteilung von Flugblättern, in denen sie — wie auch der DGB — den Bürgern nahelegte, dem „überflüssigen“ Volksbegehren fernzubleiben
In ganz Nordrhein-Westfalen herrschte Wahlkampfatmosphäre: Bürgeraktion und CDU forderten durch Handzettel, Zeitungen, Plakate, Anzeigen, Hauswurfsendungen, Straßendiskussionen, Telefon-und Mundpropaganda zur Beteiligung am Volksbegehren auf, Verteiler-ringe informierten fast alle Wahlberechtigten durch graue Benachrichtigungskarten (die amtlichen Wahlbenachrichtigungen ähnelten) über Eintragungslokale und -Zeiten; Fahrten-dienste boten kostenlose Beförderung zu ihnen an. Als besonders einflußreich erwiesen sich Zeitungsmeldungen, wonach Bundespräsident Scheel beabsichtigte, sich als Vater dreier schulpflichtiger Kinder am Volksbegehren zu beteiligen sowie Gerüchte, welche Eltern die Angst einjagten, die Koop-Schule diene dazu, den Kommunismus einzuführen. Die katholische Kirche unterstützte das Volksbegehren massiv; viele Geistliche forderten die Gläubigen sogar von der Kanzel dazu auf, sich in die Listen einzutragen. Die Regierungsparteien und ihre Kommunalpolitiker sahen sich von vornherein in die Verteidigung genötigt, da CDU-Vertreter sie wochenlang mit Vorwürfen überschütteten, das Volksbegehren zu behindern, insbesondere im Ruhrgebiet, wo es zu wenig Eintragungsstellen gebe c) Das Ergebnis des Volksbegehrens Der überwältigende Erfolg, den die Initiatoren des Volksbegehrens erzielten, übertraf alle Prognosen von Meinungsforschern. Danach hatten sich 3 637 207 Bürger, d. h. 29, 9 0/o von 12 184 710 Berechtigten, in die Listen eingetragen. Für einen Erfolg hätten 2 436 942 Unterschriften von Wahlberechtigten (= 20 0/o) ausgereicht.
Die Koop-Schule, insbesondere für ländliche Gebiete gedacht, wurde vor allem in den 31 Landkreisen abgelehnt: von 37, 5 0/0 der dort wohnenden 6, 7 Millionen Wahlberechtigten. Selbst in den 23 Städten an Rhein und Ruhr unterzeichneten 20, 5 °/o der dort wohnenden 5, 5 Millionen Wahlberechtigten; nur neun kreisfreie Städte blieben unter dem Quorum, insbesondere die SPD-Hochburgen Gelsenkirchen (12, 8%), Herne (13%), Dortmund (14, 3%), Bochum und Oberhausen (je 16, 2 %). Eintragungsrekorde verzeichneten die Kreise Höxter mit 59, 9 % und Paderborn mit 57, 1 % der Wahlberechtigten; aber auch in den Kreisen Borken, Coesfeld, Euskirchen, Heinsberg und Olpe unterschrieb mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten. 2. Die Wende des Schulkampfes Die Regierungskoalition, vom Ergebnis des Volksbegehrens schockiert, trat an der ganzen Front den Rückzug an. Ministerpräsident Kühn erklärte schon am 2. März 1978, die Landes-regierung werde nach dieser „Niederlage“ dem Landtag empfehlen, die gesetzlichen Bestimmungen über die Kooperative Schule aufzuheben Die Landesvorsitzenden der Koalitionsparteien Rau (SPD) und Riemer (FDP) akklamierten umgehend, während die Bürger-aktion und die CDU ihren „Sieg“ feierten. Auf dem kommunalpolitischen SPD-Landesparteitag in Leverkusen am 4. März 1978 bekannten sich die Delegierten jedoch erneut zur Gesamtschule, die sie aber als Angebotsschule einzuführen empfahlen. Sie stimmten allerdings darin überein, daß das „Koop-Modell" kampflos aufzugeben sei. Die Partei zog damit Konsequenzen aus dem „Lehrstück mit negativen Charakter" (Hans Koschnick)
Die Landesregierung hatte das rechtswirksam zustande gekommene Volksbegehren unter Darlegung ihres Standpunktes unverzüglich dem Landtag zugeleitet. Er mußte nun darüber beschließen, ob er der plebiszitären Gesetzesinitiative nachkommen oder aber, ob er, falls er sie ablehnte, zwangsläufig binnen zehn Wochen einen Volksentscheid herbeiführen wollte. Dann entschied die Mehrheit der mit „Ja" oder „Nein" stimmenden wahlberechtigten Bürger (Art. 68 Abs. 2 LV). Der Landtag zog bereits am 13. April 1978 einen Schlußstrich unter die Koop-Schule, indem er, wie von der Regierung vorgeschlagen, den Gesetz-entwurf der Bürgeraktion zur Änderung des Schulverwaltungsgesetzes in erster und zweiter Lesung einstimmig verabschiedete
Mit diesem „Begräbnis dritter Klasse" hatte die Kooperative Schule ein Fiasko erlitten, das in der deutschen Schulgeschichte beispiellos ist. Sie war an der bisher größten und erfolgreichsten Bürgerinitiative in der Bundesrepublik Deutschland gescheitert. Bedeutet das eine Signalwirkung des Schulkampfes für alle Bundesländer? „Wenn der Bürgerwille in un-serem Lande noch etwas gilt, so muß das Volksbegehren in Nordrhein-Westfalen Signalwirkung für die Schulpolitik auch in all den Bundesländern haben, die ebenfalls mit integrierten Schulsystemen experimentieren.“ Diese Forderung des Bundes Freiheit der Wissenschaft machten sich inzwischen vor allem CDU/CSU-Politiker und Lehrer-/Elternverbände zu eigen. So sah der bayerische Kultusminister Hans Maier in dem Volksbegehren eine „bildungspolitische Wasserscheide"; mit ihm sei die „Gesamtschule als Regelschule für die Bundesländer erledigt“ Der hessische CDU-Vorsitzende Alfred Dregger richtete an die Regierung in Wiesbaden die „unüberhörbare Warnung“, in Zukunft nicht mehr den Elternwillen in der Schulpolitik zu mißachten
Die in der Bürgeraktion zusammengeschlossenen elf Verbände wollen vorerst weiter Zusammenarbeiten und vor allem kritisch beobachten, wie die 30 Gesamtschulversuche bis 1980 in Nordrhein-Westfalen verlaufen. Der Philologenverband deutet das Volksbegehren als klare Willenserklärung der Bürger, das „bewährte, gegliederte Schulwesen" zu erhalten und weiterzuentwickeln; er fordert nun, die Stufenlehrerausbildung rückgängig zu machen, da es sinnlos sei, Lehrer für Schulen auszubilden, die es gar nicht gebe und geben werde.
Nach dem Volksbegehren in Nordrhein-Westfalen ist die Schulpolitik in der Bundesrepublik Deutschland nicht leichter, sondern schwerer geworden. Das gilt insbesondere für die Schulreform. Gewiß: Die Kooperative Schule ist gescheitert, aber die Probleme, die sie lösen sollte, sind geblieben. Künftige Schulpolitik wird sich in erster Linie daran messen lassen müssen, inwieweit es ihr gelungen ist, diese Probleme zu bewältigen — nicht im Interesse einer gesellschaftlichen Gruppe oder politischen Partei, sondern im Interesse der heranwachsenden Generation.
Hans-Georg Lehmann, Dr. phil., geb. 1935; 1966— 1974 im Auswärtigen Amt, zugleich Lehrbeauftragter; 1976 Habilitation; Dozent für Politikwissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Rheinland, Abteilung Bonn, und Lehrbeauftragter an der Abteilung Köln. Veröffentlichungen u. a.: Die Agrarfrage in der Theorie und Praxis der deutschen und internationalen Sozialdemokratie. Vom Marxismus zum Revisionismus und Bolschewismus, Tübingen 1970 (italienisch 1977); Der Reichsverweser-Stellvertreter. Horthys gescheiterte Planung einer Dynastie, Mainz 1975; In Acht und Bann. Politische Emigration, NS-Ausbürgerung und Wiedergutmachung am Beispiel Willy Brandts, München 1976; Carlo Schmid — Bibliographie, hrsg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn-Bad Godesberg 1977; Der Oder-Neiße-Konflikt. Eine Analyse der internationalen und innenpolitischen Auseinandersetzungen um die deutsch-polnische Grenze, erscheint 1979 in München. — Zahlreiche Zeitschriftenaufsätze.
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