Schuljugend und Neo-Faschismus -ein akutes Problem politischer Bildung
Hartmut Castner /Thilo Castner
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Zusammenfassung
Der Verfassungsschutzbericht für 1977 belegt eindringlich die bedrohlich wachsende Agitation sowie den militanten Aktionismus neofaschistischer Gruppen. Die Autoren verfolgen bei ihrer Analyse der rechtsradikalen Umtriebe primär die Auswirkungen neofaschistischer Propaganda auf Jugendliche im Schulbereich, zeigen die Hilflosigkeit und Unfähigkeit vieler Schüler, das Phänomen Faschismus intellektuell, moralisch oder emotional bewältigen zu können, und belegen eine zunehmende Anfälligkeit für neofaschistische Ideologien und Wertvorstellungen. Bei der Ursachenerforschung dieser „Faschismusanfälligkeit" von Teilen der Schuljugend wird nachgewiesen, daß neben einer mißglückten Entnazifizierung auch die Politische Bildung nach 1945 für diese Entwicklung verantwortlich zeichnet, weil sie die Erziehung zur Demokratie nicht nachhaltig genug mit einem offensiven Konzept gegen die nationalsozialistische Ideologie gekoppelt hat. Ferner stellen die Autoren Indizien, Fragen und Hypothesen zusammen, die andeuten, daß unter Umständen die massiv um sich greifende Konsumerziehung, die extensive Verwöhnung von Kindern im familiären Bereich und die gesellschaftlich gebilligte Verherrlichung von Gewalt und Grausamkeit bei jungen Menschen „Ich-Schwäche" begünstigen, die ihrerseits faschistoide Wertmuster und Traditionen im Sinne eines Vorbildschemas und psychischen Halts nach sich ziehen kann. Es wird aussichten Erinnerungen an die Weltwirtschaftskrise der Weimarer Republik und deren Nährbodenfunktion für die faschistische Mentalität wachrufen müssen. In den abschließenden Bemerkungen zu einer notwendigen Abwehrstrategie gegen die Verführung Jugendlicher zum Neo-Faschismus und zu einer fundamentalen Verankerung antifaschistischen, demokratischen Verhaltens im Alltag weisen die Autoren auf bedenkliche Defizite bei Parteien, Gewerkschaften, Massenmedien und im Schulunterricht hin und stellen einen Verbund von Maßnahmen zusammen, der nur dann wirksam werden kann, wenn die Mehrheit der demokratischen Bürger, Gruppen und Institutionen ohne Verniedlichung und Beschwichtigung gegen jede Form aufkeimenden Neo-Faschismus aktiv und bewußt Widerstand leistet. Die Autoren gehen bei der Analyse von ihren eigenen Erfahrungen mit neofaschistischen Aktivitäten in der Schulpraxis aus.
Vorbemerkung
Nicht eine abstrakt-wissenschaftliche Problemstellung veranlaßt uns, hier dem Zusammenhang von Jugend und Neo-Faschismus nachzugehen, sondern die unmittelbare eigene Betroffenheit aus unserem Schulalltag. Folglich erheben unsere Ausführungen auch nicht den Anspruch, eine fundamentale, strukturelle Analyse des neofaschistischen Umfeldes und seiner Rückwirkung auf Jugendliche zu leisten. Wir wollen lediglich einige uns relevant erscheinende Phänomene aufzeigen, Hypothesen formulieren und vorsichtig Möglichkeiten andeuten, wie man den Einfluß des Neo-Nazismus auf die Schuljugend wirkungsvoll bekämpfen kann.
Vielleicht dienen unsere Fragen, Erfahrungen und Befürchtungen anderen Schülern, Studenten, Lehrern und Erziehern dazu, Anzeichen neofaschistischer Mentalität oder Aktivität kritischer wahrzunehmen und entschlossen zurückzuweisen. Wir wollen uns nicht eines Tages von unseren Kindern fragen lassen müssen, warum wir zum zweiten Mal in der deutschen Geschichte zu denen zählen, die nichts gemerkt und gewußt haben.
Diesem — zugegeben etwas . naiven'— aufklärerischen Erkenntnisinteresse entspricht auch unser methodisches Vorgehen. Wir können keine eigenen Forschungsergebnisse anbieten, greifen vielmehr auf Erfahrungen im Schulbereich, auf bereits geleistete Faschismus-Analysen oder Materialzusammenstellungen zurück und Versuchen, Fakten unter dem Aspekt zu kombinieren, warum ein Teil der Jugend von neofaschistischen Umtrieben in seiner demokratischen Substanz gefährdet ist und welche Gegenmaßnahmen aus pädagogischer Sicht ergriffen werden könnten.
Da wir an dieser Stelle keine theoretische Analyse der verschiedenen Faschismus-Theorien vornehmen können, um uns dann für einen bestimmten Faschismus-Begriff zu entscheiden, verweisen wir lediglich auf die einzelnen Elemente, die der Verfassungsschutz-Bericht 1977 zur Kennzeichnung der gegenwärtigen neonazistischen und rechtsextremen Mentalität zusammenträgt
— Ablehnung der demokratischen Rechtsordnung bei gleichzeitigem Eintreten für eine to-talitäre Regierungsform unter Einschluß des Führerprinzips;
— Mißachtung der Menschenrechte und unverhohlener Antisemitismus;
— nationalistische Appelle an die „Volksgemeinschaft" und das „Volksganze" sowie Aushöhlung der individuellen Grundrechte; — Verharmlosung des NS-Regimes, Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen , und Verherrlichung des „Dritten Reichs".
Wenn wir also im folgenden von Neo-Faschismus oder Neo-Nazismus sprechen, meinen wir eine Anschauung, die Teile dieser Kategorien enthält.
I. Phänomene des neofaschistischen Umfeldes
Begünstigt durch eine Vielzahl obskurer Veröffentlichungen über Adolf Hitler und das Dritte Reich, ermutigt durch neuaufgelegte Schallplatten mit Reden führender Nazis und nachgedruckte Ausgaben der NS-Publizistik, begleitet ferner durch einen sprunghaft angestiegenen Handel mit nationalsozialistischen Emblemen und Uniformen ist ein bis dahin für unvorstellbar gehaltenes Anwachsen neonazistischer Aktionen und Veranstaltungen in der Bundesrepublik zu verzeichnen gewesen. 1. Persönliche Erfahrungen aus dem Schulbereich Atmosphärisch hat sich die veränderte politische Situation längst auch auf die Schulen niedergeschlagen. Zur Veranschaulichung einige persönlich erlebte Fälle an Nürnberger Schulen aus dem Schuljahr 1977/78:
Fall 1: Mehrere Lehrer besuchen mit etwa hundert Schülern außerhalb des Unterrichts den Film „Aus einem deutschen Leben" von Theodor Kotulla. Der Film schildert den Werdegang von Rudolf Höss, dem langjährigen Lagerkommandanten von Auschwitz, der als . Verwalter'und überwacher der dortigen Massenvernichtungen an der „Endlösung der Judenfrage" maßgeblich beteiligt war. Etwa acht Schüler stören während der Filmvorführung wiederholt, gröhlen und applaudieren bei Gewaltszenen und nazistischen Kernsprüchen. Diese Schüler, die alle aus einer Klasse kommen, haben ihre Mitschüler in den vergangenen Jahren in zum Teil brutaler Weise unterdrückt und bewirkt, daß sich die ganze Klasse in einem permanent aggressiven und zerstrittenen Zustand befindet. Einer der „Anführer" der Gruppe ist nach eigenen Aussagen schon mit einem SS-Mantel in die Schule gekommen.
Fall 2: Die „Nürnberger Nachrichten" bringen Ende April 1978 eine Fortsetzungsserie über rechtsradikale und neofaschistische Tendenzen in der Bundesrepublik. Ein Kollege veröffentlicht daraufhin einen Leserbrief, in dem er seine Zustimmung zu der Zeitungsserie äußert und die unlängst vor seiner Schule vorgenommene Verteilung neonazistischer Flugblätter erwähnt. Er wird an dem Tag, an dem der Leserbrief erscheint, von einem anonymen Anrufer mehrfach als „dreckige Kommunistensau" beschimpft und mit Morddrohungen überhäuft. Außerdem erhält der Kollege vier Wochen lang die rechtsradikale „Deutsche Wochenzeitung" zugeschickt. Später erfährt er, daß ihn 1 etliche seiner Kollegen an der Schule auf Grund des Leserbriefs als „Nestheschmutzer" bezeichnen.
F a 11 3: Ein Lehrer zeigt in seiner Klasse den Film „Der Schuttberg" aus dem Jahr 1960, in dem der Wiederaufbau nach 1945 gezeigt und mit den politischen Zielen des Nationalsozialismus konfrontiert wird. Der Film . schließt mit Schlagzeilen über neonazistische Umtriebe (Hakenkreuzschmierereien, Synagogen-schändung) und warnt davor, neonazistische Hetzparolen auf die leichte Schulter zu nehmen; vielmehr müßten die sozialen und wirtschaftlichen Errungenschaften unserer noch jungen Demokratie gegen ihre ideologischen Feinde verteidigt werden. Kaum ist der Film zu Ende, schreit einer der Schüler empört; er verbiete sich derartige Lügenmärchen, der Streifen sei total einseitig, Hitler habe auch viel Gutes für Deutschland getan, z. B. die Arbeitslosigkeit beseitigt, und rennt aus dem Klassenzimmer. Ein großer Teil der Schüler zeigt Verständnis für das Verhalten ihres Klassenkameraden. Anschließend stellt sich heraus, daß der in der Klasse unterrichtende Geschichtslehrer das Dritte Reich überwiegend positiv darstellt. Einige Schüler bekennen, daß sie nun gar nicht mehr wissen, was eigentlich stimmt.
Fall 4: Ein Schüler der 11. Gymnasialklasse und Teilnehmer des verbotenen „AuschB witz-Kongresses" bezeichnet seinen Deutsch-lehrer als „fanatischen Kommunisten", fragt andere Schüler, die den Leistungskurs Gemeinschaftskunde besuchen, warum sie zu diesem „Kommunisten-Kabuff" gehen, nennt in einer Diskussion Hitler ein „verkanntes Genie", dessen Leistungen eines Tages noch gewürdigt würden, und verkündet lauthals, verschiedene Lehrer an der Schule seien nicht „staatstreu". Als sich in einer 10. Klasse die Deutschlehrerin zum Nationalsozialismus äußern möchte, unterbrechen sie die Schüler mit dem Hinweis, da frage sie doch lieber den „Hitler-Experten" aus der anderen Klasse. Die betroffenen Lehrer hören von den Äußerungen des Schülers, der außerdem monatelang rechtsradikales Schriftmaterial verteilt hat, und werden beim Direktor vorstellig, um sich gegen die Verleumdungen zur Wehr zu setzen. Es kommt zu einer Aussprache mit dem Schüler, der seine Aussagen nicht in Abrede stellt und sich mit dem Hinweis entschuldigt, er sei erst durch die „Linken" dazu provoziert worden, eine Beleidigung der Lehrer habe er nicht gewollt. Der Schulleitung erscheint die Einlassung des Schülers ausreichend, von einer Disziplinarstrafe wird abgesehen. Später erfahren die angeschwärzten Lehrer, daß der Schüler Klassenkameraden anvertraut hat, sobald er das Abitur habe, werde er gegen die Lehrer „auspacken“.
Es sei betont: Bei diesen Fällen handelt es sich nicht um krasse Ausnahmen. Viele unserer Kollegen haben über ähnliche Erfahrungen berichtet; da bekennen sich Schüler offen als Nazis, treten mit Totenkopfabzeichen auf, grüßen sich mit „Heil Hitler" und schüchtern Lehrer ein, die zu widersprechen wagen. 2. Zum Umfang neonazistischer Aktivitäten Nach den Mitteilungen der „Aktion Sühnezeichen" kam es von August bis Oktober 1977, also innerhalb von nur drei Monaten, zu 56 Zwischenfällen mit neonazistischen oder rechtsradikalen Gruppen. Der Pressedienst Demokratischer Initiative (PDI) stellte in einer Dokumentation über neonazistische Akti-
vitäten für das vergangene Jahr etwa 300 Fälle zusammen, wobei berücksichtigt werden muß, daß längst nicht alle Aktionen bekannt werden und die gemeldeten Vorfälle nur die Spitze des Eisbergs darstellen Nach den Feststellungen des Bundesverfassungsschutzes existierten 1976 bereits 85 rechtsextremistische bzw. neofaschistische Gruppen. Neonazistische Umtriebe wie Hakenkreuz-schmierereien oder Schändung jüdischer Friedhöfe sind nicht neu; bereits Anfang der sechziger Jahre erlebte die Bundesrepublik eine erste Welle antisemitischer, pronazistischer Aktionen. Beunruhigend für die Gegenwart ist, daß die Übergriffe und Ausschreitungen von Jahr zu Jahr anwachsen. So wurden von den Behörden 1974 20 Hakenkreuz-schmierereien registriert, 1975 83 und 1976 bereits 200. Im August 1977 schändeten Nazis in Düsseldorf 300 Grabsteine, in Hamburg innerhalb von 14 Tagen auf 6 verschiedenen Friedhöfen 268 Gräber. Der Jahresbericht des Bundesamtes für Verfassung verschiedenen Friedhöfen 268 Gräber. Der Jahresbericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz 1977 nennt 317 Ermittlungsverfahren wegen krimineller Umtriebe Rechtsradikaler (im Vorjahr 80); die Zahl der unter Strafe gestellten Ausschreitungen stieg innerhalb eines Jahres von 319 auf 616. Dem Bericht ist auch zu entnehmen, daß sich Neonazis und Rechtsextremisten seit 1978 auch terroristischer Mittel bedienen: Banküberfälle, Munitions-und Waffendiebstähle, Einbrüche in Paßämter. Der . harte Kern'dieser militanten Gruppen wird auf 100 Personen geschätzt, darunter 20 Terroristen 5).
Erstmals sieht das Bundesamt für Verfassungsschutz angesichts der bewaffneten Gewaltanwendung von Rechtsextremen „Anlaß zur Besorgnis": „Aus diesem Grunde sowie wegen der zunehmenden Bereitschaft zu eskalierender — auch gewaltsamer — Auseinandersetzung mit politischen Gegnern muß der Rechtsextremismus als Gefahrenherd für die öffentliche Sicherheit weiterhin in Rechnung gestellt und mit aller Sorgfalt durch die zuständigen Sicherheitsbehörden beobachtet werden." 6) * Besonders nachdenklich in diesem Zusam-
menhang stimmt, daß vielen unserer Mitbürger die Greueltaten der Nazidiktatur nicht mehr „als so schlimm" erscheinen; die Tendenz zeichnet sich ab, mit der Ächtung der alten Nazis solle „endlich Schluß sein", es gehe nicht an, „immer nur Deutsche" schlecht zu machen, während die Verbrechen der Alliierten ungesühnt blieben. Der Ruf nach einer „Generalamnestie" für alle Naziverbrechen ist laut geworden, ebenso wird die Forderung vertreten, das Geschichtsbild der jüngsten deutschen Vergangenheit zu revidieren. Die gegenwärtige politische Situation in unserem Land ist gekennzeichnet durch ein Klima wachsender Verharmlosung und Beschönigung; dies gestattet es den alten und neuen Nazis, immer dreister und unverfrorener in der Öffentlichkeit zu agieren und Stimmung für die braune Vergangenheit und eine ähnliche Zukunft zu machen. Die folgende Analyse eines der diversen Nazi-Flugblätter wird zeigen, wie die momentane Agitation aussieht und worauf sie abzielt. 3. Ein Exempel neonazistischer Agitation (Flugblatt)
Zu den Aktivitäten der bundesdeutschen Rechtsextremisten, die den Schülern am häufigsten begegnen, zählen zweifellos Flugblatt-aktionen. Vor den meisten Schulen in Nürnberg, Fürth und Erlangen fanden solche Flugblattverteilungen, oft über Wochen hin, statt, wobei die Polizei, wenn sie von aufgebrachten Pädagogen alarmiert wurde, zumeist keinen Anlaß zum Einschreiten sah.
Wir wollen eines dieser Flugblätter vorstellen und verdeutlichen, welche propagandistischen Ziele die Autoren damit verfolgen.
Das Flugblatt, auf das wir uns beziehen, hat keine Angabe eines Herausgebers und wirbt für das Buch „Der makaberste Betrug“ von Heinz Roth. Im Text heißt es u. a.: „Der durch seine aufsehenerregenden Veröffentlichungen in den letzten Jahren weithin bekannt gewordene Verfasser dieses neuesten . Bestsellers', Heinz Roth, erbringt mit dieser Arbeit den Indizienbeweis dafür, daß
Auschwitz niemals ein Massen-ver^ichtungslager war, daß d o r t , niemals Millionen von Menschen vergast worden sein können. Die Erfinder und Verbreiter dieser perfiden Lüge geraten nun in eine ausweglose Lage, denn der Autor zitiert hier aus Büchern des Franzosen Prof. Rassinier und des Österreichers Prof. Kogon, die beide im gleichen Konzentrationslager, nämlich in Buchenwald, inhaftier 1 waren.
Sozusagen aus ihrem Munde erfährt der Leser, daß z. B. die SS-Lagerführungen nicht imstande waren, ihre Kontrollfunktionen anders als rein äußerlich und im Wege plötzlicher Eingriffe wahrzunehmen. Was hinter dem Stacheldraht wirklich geschah, blieb ihnen verborgen.
Zusammenfassend kann gesagt werden, daß die deutschen Konzentrationslager ARBEITSLAGER waren, in denen zum größten Teil Kriminelle, Asoziale und andere Häftlinge untergebracht waren, während der Anteil an jüdischen Häftlingen verhältnismäßig gering war. Die Lebensbedingungen waren zwar hart, aber — nach Angaben ehemaliger Insassen — im Verhältnis zur Front und zu den durch Luftfangriffe bedrohten Städten durchaus erträglich.
In keinem einzigen der unzähligen Bücher über KZ-Erlebnisse, die unmittelbar nach Befreiung der KZler 1945 erschienen, findet sich auch nur ein einziges Wort über Vergasungsanstalten und Vergasungen.
Nach allen bis heute vorliegenden Unterlagen steht einwandfrei fest, daß die jüdischen Verluste während des 2. W e 11 k r i e -g e s^ mit absoluter Sicherheit weit unter 500 000 liegen.
Bevor das eintritt, was man den CIRCULUS VITIOSUS nennt, sollten alle Anstrengungen unternommen werden, die Heizer zum Schweigen zu bringen. Keine Institution, keine Gruppe und kein Volk kann sich auf die Dauer durch unbewiesene und unbeweisbare Verbrechensvorwürfe erpressen lassen.
Wir sollten es auch den .deutschen'Erfüllungsgehilfen in Presse, Funk und Fernsehen nicht länger erlauben, ungestört die alten Hetzparolen zu verbreiten.
Ab sofort gilt: Wo immer es jemand unternimmt, mit den Verleumdern unseres Volkes gemeinsame Sache zu machen, sollte Anzeige wegen VOLKSVERHETZUNG gemäß § 130 StGB erstattet werden. -
Das Flugblatt schließt mit dem Hinweis, wo und zu welchen Preisen die Schriften des H. Roth erhältlich sind, und bietet „Textblätter" an, die die „Wahrheit" über die „Nürnberger Gangster-Justiz", die „Kriegsschuld-Lüge", die „Gaskammern in Auschwitz", den „Tagebuchschwindel Anne Frank" und die „Schwindelfirma Institut für Zeitgeschichte" enthalten. Aufbau und Zielsetzung dieses Flugblattes sind offensichtlich:
— Thesen werden aufgestellt, ohne Argumente, geschweige denn Beweise beizubringen;
— raffiniert werden Aussagen über Buchenwald, das kein Vernichtungslager war, hergenommen, um gegen Auschwitz zu polemisieren;
— Menschen, die die Wahrheit über die Greueltaten der Nazis nicht totschweigen, erfahren Diffamierung als „Hetzer"; — eine pseudo-juristische Drohgebärde mit dem § 130 StGB soll den Anschein von Seriosität erwecken; — die Ermordung von sechs Millionen Juden in Gaskammern und Konzentrationslagern wird als historische Lüge der Alliierten hingestellt; — wenn Juden umkamen, dann vor allem durch eigenes Versagen; — der Leser wird aufgefordert, sich von der offiziellen Darstellung, wie sie in Schulbüchern oder ernst zu nehmenden Presseorganen zu finden sind, zu distanzieren und das als Wahrheit zu akzeptieren, was Leute vom Schlage Roths auftischen.
Es ist im Rahmen dieses Beitrages nicht notwendig, sich mit den Aussagen des Flugblattes inhaltlich auseinanderzusetzen, denn es handelt sich nur um Lügen, Fälschungen oder geschickt montierte Halbwahrheiten. Was es mit den geistigen Vätern der Flugblattverfasser, heißen sie nun Rassinier, Hoggan oder Harwood, auf sich hat und wie es mit der historischen Wahrheit der Judenvernichtung steht, ist u. a. erst kürzlich wieder in Heft B 30/78 dieser Zeitschrift ausführlich dargelegt worden Wichtig ist dennoch festzustellen: die Unwissenheit vieler Jugendlicher über die Ereignisse während der Nazi-Diktatur läßt offenbar zu, daß derartigen hanebüchenen Behauptungen Glauben geschenkt wird. Für etliche auf Kritiklosigkeit und Anpassung gedrillte Schüler kann schon deswegen etwas Wahres dran sein, weil es Schwarz auf Weiß dasteht — schließlich sind sie darauf konditioniert worden, die unwahrscheinlichsten Dinge etwa in der BILD-Zeitung oder der täglichen Werbung hinzunehmen. Weiter zeigt sich, daß eine gefühlsmäßige Gleichgültigkeit gegenüber den Greueltaten und Unmenschlichkeiten während der nationalsozialistischen Herrschaft zu wirken beginnt.
Neben Flugblättern wird der Jugendliche mit einer sich ständig ausbreitenden Publikation rechtsextremer Zeitungen und Pamphlete konfrontiert. Die wöchentliche Auflage der zwei führenden Zeitungen („Deutsche Wochenzeitung“ und „Deutsche Nationalzeitung") liegt bei rund 100 000 Exemplaren — Zeitungen, die an fast jedem Kiosk erhältlich sind und auch gekauft werden Hinzu kommt eine Fülle von Büchern, in denen der Versuch gemacht wird, die Vergangenheit .deutsch-national" aufzuarbeiten, indem die deutsche Wehrmacht idealisiert, Russen und Amerikaner verteufelt und der Krieg Hitlers als gerechte Sache dargestellt werden, nämlich als verzweifelter Kampf des deutschen Volkes gegen kommunistischen Terror und eine alliierte Übermacht Nimmt man die Landser-Hefte, die von einer ähnlichen Tendenz der Mystifizierung des Krieges und der Verharmlosung des Dritten Reichs geprägt sind, mit hinzu, so muß die jährliche Auflage der antidemokratischen, agitatorisch-faschistischen Veröffentlichungen auf mehrere Millionen angesetzt werden. 4. Die Unwissenheit der Schüler über den Faschismus Die zunehmenden Nazi-Aktivitäten in Form von Geschichtsfälschungen und -lügen sind vor allem deshalb nicht mehr zu bagatellisieren, weil sie auf eine Schuljugend stoßen, die ohne wirkliche Kenntnisse darüber ist, was zwischen 1933 und 1945 in Deutschland geschah. Untersuchungen vor zehn und zwanzig Jahren haben dies zwar immer wieder zutage-gebracht, aber es gilt ganz besonders für die Jugendlichen der Gegenwart, wie Dieter Bossmann anhand von über 3 000 Aufsätzen, die zwischen Oktober 1976 und April 1977 geschrieben wurden, belegen konnte Die von ihm zusammengestellten Schüleräußerungen zu der Frage, was sie über Adolf Hitler gehört haben, belegen nachdrücklich: Die Mehrheit der befragten Schüler weiß über die Zeit des Nationalsozialismus so gut wie nichts oder nur Halbwahrheiten und haarsträubende Verdrehungen. „Hitler", heißt es da beispielsweise, „starb um 1600 rum". Oder: „Er soll ein Professor gewesen sein." „Sein Stellvertreter Bismarck, der in der DDR in Haft sitzt seit bald 20 Jahren, hat in diesem Jahr einen Selbstmordversuch gemacht." „Hitler war ein großer Fanatiker des Kommunismus." „Hitler war selbst auch ein Jude und wurde von allen Menschen verspottet.“ „Er steckte die Nazis in die Gaskammern." „Und die, die sich gegen ihn stellten, nannte er Nazis." „Sein Nachfolger war Konrad Adenauer." „Heute vertritt ihn Helmut Schmidt." „Hitler war ein sehr geistreicher Mann. Meine Mutter sagt immer: . Wenn Adolf Hitler noch regieren würde, wir hätten nicht so viele Entführte, Ermordete'."
Bossmann selbst kommentiert dazu: „Daß es einen Hitler gegeben hat, gehört zum festen Wissensbestand fast aller Schüler. Doch wann es ihn gab, schon weniger, und die wenigsten wissen, wie er war, doch dafür viele, wie er nicht war. Allenthalben Nichtwissen, schlimmer: Nichtwissenwollen . . . Wohl gibt es ein , Was-war-Interesse', zu selten dagegen aber , Was-war-warum-Fragen', von entsprechenden Antworten ganz zu schweigen . . . Uber den . Politiker'Hitler wird allgemein gewußt, daß er ... die herrlichen Autobahnen erfand .. . Daß er die Juden umbrachte — meist mit oberflächlich angelerntem Abscheu bedacht —, wissen die Schüler zwar, aber in welcher Dimension dieses grauenvolle Geschehen sich vollzog, bleibt im dunklen: , so einige tausend'wird oft geschätzt. Daß man jeden Tag . Heil Hitler'hat sagen müssen, erfüllt die Schüler dagegen heute noch mit Schrecken, das eigentlich Schreckliche dagegen weniger. Dafür aber . weiß'man, die Schwärmerei der Älteren durchhörend, daß es in seiner Zeit keine Arbeitslosen, keine Terroristen und keine Verbrecher gab .. . Das Inferno des 2. Weltkrieges . .. gewinnt vielen Schülern nur noch ein müdes Interesse ab, es sei denn, es geht darum, sich in nachträglicher militärisch-strategischer Fehlersuche zu üben ... oder kurz wie falsch zu resümieren: ... , die anderen waren auch nicht besser'." Bossmanns Untersuchungen beweisen: Die mögliche Anfälligkeit der Schüler für faschistische Parolen beruht wahrscheinlich nicht nur auf einer entsprechenden Mentalität, sondern vielfach schlicht auf reiner Dummheit und Ignoranz. Und diese klaffende Lücke im Geschichtswissen der Schüler nutzen die Neo-Nazis nachhaltig und radikal aus.
II. Historische und psycho-soziale Erklärungsversuche zur Faschismus-Anfälligkeit bei Jugendlichen
1. Die mißglückte „Entnazifizierung"
nach 1945 Wenn man heute die Frage stellt, wie es dazu kommen konnte, daß Exponenten der Nazi-Diktatur oder Ideologien der NS-Zeit wieder „hoffähig" geworden sind, kann man an der Art und Durchführung der von den Alliierten initiierten „Entnazifizierung" nicht vorübergehen. So begrüßenswert der ursprüngliche Versuch war, nach 1945 den Faschismus nicht zu verdrängen, sondern bewußt zu verarbeiten, so muß man doch konstatieren, daß im nachhinein die „Entnazifizierung" eher einem Fehlschlag gleichkommt und den selbst gesetzten Absichten zuwider-lief, weil durch die oft dilettantische Planung und Durchführung die Möglichkeit kollektiver Verdrängung statt individueller Verantwortlichkeit eröffnet wurde. Zu nennen wären hauptsächlich vier Kritikpunkte, die zu dem Fehlschlag führten:
— die mangelhafte wissenschaftliche Konzeption; — die vielfach nachgewiesene politisch-ideologische Übereinstimmung von Spruchkammer-Angehörigen und Beschuldigten;
— die Abkoppelung der . Entnazifizierung'von notwendigen sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen;
— die zu starke Beschränkung der „Entnazifizierung" auf die Gruppe der Beamten bei weitgehender Verschonung von Armee, Wirtschaft und Wissenschaft Wie problematisch selbst den Befürwortern einer „Entnazifizierung" schon bald dieser „Umerziehungsprozeß" des deutschen Volkes wurde, macht das folgende Zitat des bayerischen Entnazifizierungsministers Heinrich Schmitt (Mai 1945—Juni 1946) deutlich, der nach seiner Abberufung ein bitteres Resümee der geleisteten „Entnazifizierungs" -Arbeit zog: „Kein Stand ist nationalsozialistisch so verseucht gewesen wie der Stand der Richter und Staatsanwälte ... Ausgerechnet diese Kreise sollen mit der Durchführung der Reinigung betreut werden und über Nazis und Kriegsverbrecher zu Gericht sitzen ... Es ist nicht schwer, eine Prognose zu stellen: Die Absichten der Herrschaften gehen darauf hinaus, die Kleinen zu hängen und die Großen und Verantwortlichen ungeschoren zu lassen . . . Sie werden die Durchführung des Gesetzes volksfremd und volksfeindlich gestalten.“
In ihrer Untersuchung weisen Schmidt und Fichter anhand dokumentarischer Quellen nach, wie sehr der Beginn des Kalten Krieges und die Entscheidung für das Wirtschaftssystem der Marktwirtschaft dazu beitrugen, die Entnazifizierung letztlich nur formal und oberflächlich, fast im Sinne eines Alibis, durchzuführen Damit thematisieren sie ein Tabu, über das nach wie vor nicht — und schon gar nicht in der Schule — gesprochen und diskutiert wird. Die Schwierigkeit der nachfolgenden Generation, sich an demokratischen Vorbildern zu orientieren, die neu aufgebaute Gesellschaft als wenigstens teilweise identisch mit sich selbst zu begreifen, resultiert nicht zuletzt aus dem Versäumnis, nach 1945 in erster Linie den wirtschaftlichen Wiederaufbau geleistet zu haben, ohne der Frage nachzugehen, wie die nächste Generation über die formale zeitgeschichtliche Wissensvermittlung hinaus aktiv antifaschistisch erzogen wird. 2. Das Versagen der politischen Bildung und das Problem fehlender demokratischer Vorbilder Die Grundthese dieses Abschnitts vom Versagen der politischen Bildung, bezogen auf die demokratische Grundhaltung der Jugendlichen, wird zumindest jedem, der sich berufs-mäßig mit dem gesellschaftswissenschaftlichen Fachbereich auseinandersetzt, schrill in den Ohren klingen; doch die Betrachtung der Genese der politischen Bildung nach 1945 läßt kaum einen anderen Schluß zu, wobei in diesem Rahmen ihre verschiedenen Phasen — „Partnerschafts-und Gemeinschaftserziehung", „Staatsbürgerkunde", „Harmoniemodell" oder „Konflikterziehung" — nicht detailliert erörtert werden können
Durchblättert man die fachdidaktische Literatur, so finden sich zu Beginn der siebziger Jahre vielfach ähnliche Kritikpunkte, die das Unbehagen der Autoren an den Resultaten der politischen Bildung artikulieren:
— die unpolitische Anpassung der Jugend an bestehende Macht-und Herrschaftsstrukturen (Schmiederer); — die gesellschaftliche und politische Welt-flucht des Unterrichts sowie das „unverbindlich-allgemeine Bekenntnis zur Demokratie" (Berichte der Max-Traeger-Stiftung); — das didaktisch-methodische Unvermögen der Lehrer und Lehrerausbilder (Max-Traeger-Stiftung); — die unreflektierte Vermittlung von isolierten Einzelfakten und das Bestehen auf bloßem „Institutionenwissen" (Becker, Herkommer, Bergmann);
— die unwissenschaftlichen, ideologisch verzerrten Lehrpläne und Lehrbücher (Nitschke); — die fehlende Demokratisierung der Schulen und das Defizit an einer Gesamtkonzeption (Mickel);
— die mangelhafte Aktüalität und die nicht geleistete Aufklärung der Jugendlichen über die eigene Gesellschaft (Giesecke, Lingelbach); — der wiedererwachende Nationalismus in einigen Ansätzen (Schmiederer).
Darüber hinaus warnte bereits 1968 Walter Jaide vehement vor einer „Entfremdung nach rechts" und „faschistoiden Einstellungen" wie: „Der Nationalsozialismus hat auch seine guten Seiten gehabt"; „Kriegsverbrecherprozesse sollten aufhören"; „Die Erwachsenen sollten gegen Opposition und Rebellion der Jugend durch einen Arbeitsdienst bewahrt bleiben." Roloff und Bigott stellten gar „faschistoide Tendenzen in Lehrbüchern für Sozialkunde und politische Bildung“ fest
Offenbar hat aber diese radikale Kritik an der Wirksamkeit und Zielsetzung der politischen Bildung nicht die wünschenswerte Konsequenz gefunden. Die seit 1970 anhaltende Debatte um Curricula und deren Revision, die auf einen effizienten und kontrollierten Unterricht hinausläuft, hat bislang leider wenig Zeit gefunden, der beileibe nicht überholten Frage nachzuspüren, wie bei jungen Menschen demokratische Verhaltensweisen real zum Tragen kommen und was die Kenntnis des deutschen Faschismus als notwendig negativer Kontrapunkt dazu beitragen könnte. Die Auseinandersetzung mit den sozioökonomischen und psychologischen Ursachen des deutschen Faschismus im Sinne einer auch im Alltag wirksamen antifaschistischen Einstellung war bis dato kein Hauptthema der politischen Bildung, denn es wurde quasi unterstellt, es sei selbstverständlich, daß bei gutem Willen die Jugendlichen irgendwie zu Demokraten heranwüchsen, um so die „Ver-gangenheit zu überwinden". Die Aussage des ehemaligen Berliner Bildungssenators Carl-Heinz Evers spricht dem Hohn: „Oft ist es wichtiger, die Ströme der Völkerwanderung zu kennen als die Widersprüche im wirtschaftlichen Kreislauf. Und die Zahl der Mitglieder des Bundestages zu wissen, ist vielfach für die Zensur ausschlaggebender als demokratisches Verhalten erlernt zu haben. So kann es geschehen, daß ein Schüler, der sich im Alltag als kleiner Neofaschist gebärdet, ein , Sehr gut-in politischer Bildung erhält."
Das Fazit, das Richard Saage am Ende seiner Analyse über Faschismus-Theorien zieht, trifft genau die Perspektive, die der politischen Bildung nach 1945 angestanden hätte, die sie aber nur unvollkommen oder gar nicht wahrgenommen hat: „Genau wie damals (treten dem Bürger, d. Verf.) gesellschaftlich herrschende Interessen und ihre organisierte Umsetzung auf internationaler Ebene als unbegriffenes Schicksal, oder, um mit Brecht zu sprechen, als , dunkle Mächte'gegenüber. Sie transparenter zu machen und dadurch zugleich eine Betroffenheit auszulösen, die nicht zu einem populistisch-faschistoiden Protest verkommt, ist eine Aufgabe, die mehr als nur ein akademisches Interesse verdient.“
Neben dem Versäumnis einer offensiven antifaschistischen Erziehung stellt sich für die politische Bildung auch das Problem der Leitbilder, die durch die starke Personalisierung von Geschichtsund Gesellschaftsprozessen für Jugendliche noch immer eine große Rolle spielen. Wie zahlreiche Untersuchungen über jugendliche Vorbilder belegt haben, besteht bis zur Pubertät für die Mehrheit der Heranwachsenden eine starke Orientierung an dem elterlichen Vorbild. Danach setzt in aller Regel eine Ablösung ein: Die eigenen Eltern werden zunehmend kritisch ud distanziert, mit ihren Fehlern und Schwächen wahrgenommen; der Jugendliche entwickelt ein starkes Bedürfnis nach Vorbildern, die über den familiären Rahmen hinausreichen. Solche Personen waren in den 50er Jahren Albert Schweitzer, John F. Kennedy, später Che Guevara und teilweise Willy Brandt. Kennzeichnend für die Gegenwart scheint zu sein, daß Personen mit politischer Ausstrahlung auf junge Menschen, zumindest in der westlichen Welt, immer rarer werden. Die Distanz und Privatisierung, die Jaide schon 1968 feststellte, ist inzwischen noch größer geworden. Demokratie in der großen Politik wie in der mitmenschlichen Kommunikation hat anscheinend für manche Jugendlichen an Attraktion verloren. Da sie die totalitäre Staatsform des NS-Regimes aus eigener Erfahrung nicht kennt, sich in der Schule zu selten mit dem Faschismus auseinandersetzen muß und sie sich die Unmenschlichkeit einer Diktatur auch nicht vorstellen kann, erscheinen ihr die Unterdrückung von Minderheiten oder die Abschaffung aller bürgerlichen Grundrechte als nicht sonderlich gravierend, denn aus ihrer Sicht hat auch die demokratische Staatsform gleichfalls viel Negatives. Wenn EMN 1D jüngst meldete, 48 °/o der bayerischen Jugend hätten nichts einzuwenden gegen einen „Diktator", sofern er nur „fähig" und „Staatsmann" sei, so drückt diese Umfrage einen Trend aus, der im Wachsen begriffen ist.
Die politische Bildung kann für diese Entwicklung sicher nicht als Alleinverursacher hingestellt werden, das hieße schon, die Möglichkeiten von Schule und Unterricht hoffnungslos zu überfordern und zu pervertieren, aber alle an der Konzeption der politischen Bildung Beteiligten müssen sich die Frage gefallen lassen, ob sie rechtzeitig und präzise begriffen haben, daß der Neo-Faschismus in der Bundesrepublik ein Zentralthema der Lernziele und der Lerninhalte darstellen muß. So wie Faschismus nicht über Nacht kommt, wird sich auch die politische Bildung darauf einzustellen haben, daß die Auseinandersetzung mit dem Rechtsradikalismus eine langfristige Konfrontation erfordert 3. Die Folgen von Verwöhnung Im .
Erziehungsprozeß: Ich-Schwäche Wenn auch die fehlgeschlagene „Entnazifizierung" und das partielle Versagen der politischen Bildung bestimmte historische Gründe offenlegen, warum der Faschismus in der Bundesrepublik bis heute nicht überwunden ist, so bleibt doch zu fragen, wieso nur ein Teil der Schuljugend spezifische Dispositionen zeigt, sich mit nazistischem Gedankengut vertraut zu machen. Offensichtlich spielen beim Zustandekommen der späteren faschistischen Erwachsenen-Mentalität besondere psychische Konstellationen im Elternhaus eine wichtige Rolle
Wenn wir im folgenden eine Analogie anbieten zwischen der Psyche des jungen Adolf Hitler und der psychischen Verfaßtheit mancher Jugendlicher, so formulieren wir keine feststehenden sozialwissenschaftlichen Ergebnisse, sondern weisen auf Hypothesen, auf mögliche Übereinstimmungen hin. Empirischen Studien in Zusammenarbeit von Psychoanalyse, Soziologie und Geschichtswissenschaft sollte es vorbehalten bleiben, die von uns referierten Vermutungen sorgfältig zu überprüfen.
In seiner Analyse über die Persönlichkeitsstruktur Adolf Hitlers kommt Erich Fromm zu dem Resultat, daß Hitlers Destruktivität, sein Zerstörungswahn bis hin zur totalen Vernichtung des deutschen Volkes, im wesentlichen in der Verwöhnung und Verweichlichung in seiner Kindheit begründet liegt. Er schreibt:
„Der kleine Junge (= A. H.) scheint der Augapfel seiner Mutter gewesen zu sein. Sie verhätschelte ihn, schalt ihn nie und bewunderte ihn. Er konnte einfach nichts falsch machen. Ihr ganzes Interesse und ihre ganze Liebe konzentrierten sich auf ihn. Ihre Haltung trug ...sehr wahrscheinlich zur Entwicklung seines Narzißmus und seiner Passivität bei. Er war . wunderbar', ohne daß er sich irgendwie anzustrengen brauchte, da seine Mutter ihn ohnehin bewunderte; er brauchte sich um nichts zu bemühen, da seine Mutter jeden Wunsch erfüllte. Er seinerseits beherrschte die Mutter und hatte Wutanfälle, wenn sie ihm etwas verweigerte."
Von Anfang an verwöhnt und von sich überzeugt, war der junge Hitler an Erfolge gewöhnt, ohne sich anstrengen zu müssen. Als die ersten Schwierigkeiten auftauchten, die nur durch Einsatz und Arbeit zu meistern gewesen wären, gab er schnell auf. Während er in der Volksschule aufgrund seiner sozial gehobenen Herkunft den meisten Kindern überle-22 gen war und sich kaum zu bemühen brauchte, um gute Noten zu erhalten, änderte sich dies auf der Realschule grundlegend. Fromm schildert diesen Abschnitt in Hitlers Leben sehr detailliert. Sein weiteres Leben war eine Kette von Fehlschlägen und Mißerfolgen. Er mußte die Schule verlassen, scheiterte als Maler, fand keine Aufnahme in der Kunstakademie, erlernte keinen Beruf, war arbeitslos, lebte als Asozialer. Entsprechend seinem ausgeprägten Narzißmus suchte er die Schuld bei anderen: bei seinem Vater, seinen Lehrern, Professoren, Freunden, später bei Juden, Intellektuellen, Linken, Kommunisten. Er flüchtete sich in eine Phantasiewelt, machte Pläne und Programme, um von der gescheiterten Wirklichkeit fortzukommen, und entwickelte gegenüber allem, was erfolgreich war, extreme Haßgefühle und Zerstörungswünsche. „Es hatte zunächst den Anschein, daß mit Ausbruch des Krieges sein Versagen ein Ende nehmen würde, aber das Ende war nur eine neue Demütigung: die Vernichtung der deutschen Armeen und der Sieg der Revolutionäre. Diesmal hatte Hitler die Möglichkeit, seine persönliche Niederlage una Demütigung zu verwandeln, was ihn in die Lage versetzte, darüber sein persönliches Scheitern zu vergessen. Diesmal war nicht er gescheitert und gedemütigt worden, sondern Deutschland. Wenn er nun Deutschland rächte und rettete, rächte er sich selbst, und wenn er Deutschlands Schande auslöschte, löschte er auch seine eigene Schande aus. Sein Ziel war jetzt nicht mehr, ein großer Künstler zu werden, sondern ein großer Demagoge. Er hatte das Gebiet entdeckt, auf dem er eine wirkliche Begabung und daher auch eine reale Erfolgschance besaß."
Warum dieser lange Exkurs über die Entwicklungsgeschichte Hitlers? Er verdeutlicht einmal, wie sich im politischen Handeln eines Menschen Motive finden, die individualpsychologischen Ursprungs sind. Primär persönliche Umstände ließen Hitler zum Politiker werden: die Hoffnung, auf der politischen Bühne etwas erreichen zu können, was ihm als Normalbürger nicht gelungen war. Zum anderen, und dies soll hier im Vordergrund stehen, weist Hitlers Kindheit auf Phänomene, wie wir sie tendenziell von der gegenwärtigen Jugend wohlhabender Industrienationen seit einiger Zeit kennen. Wachsender Wohlstand und unreflektierter Konsum ermögli-chen ein Leben in Bequemlichkeit, reduzieren Aktivität und Spontaneität, münden schließlich in der Ausprägung stark gehemmter und ich-schwacher Persönlichkeiten, die unter schwindender Initiative, geringer Widerstandskraft und mangelnder Willensstärke leiden Der nahezu uneingeschränkte Konsum bewirkt vor allem bei Kindern und Jugendlichen Verwöhnungsund Passivierungserscheinungen. Mit Nahrungsmitteln und Süßigkeiten vollgestopft zu werden, Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt zu bekommen, ständige Abwechslung am Fernseher zu finden, ist für viele Heranwachsende zu einem „Dauererlebnis" geworden
Es sei nun die Hypothese gewagt, daß viele dieser verwöhnten Wohlstandskinder in gewisser Weise dem jungen Hitler gleichen oder unter ähnlichen frühkindlichen Fehlentwicklungen leiden wie er: Sie kapitulieren allzu schnell vor größeren Schwierigkeiten, suchen die Schuld für eigenes Versagen bei anderen, nicht bei sich selbst, und erwarten von ihrer Umwelt fortgesetzt Beistand und Aufmerksamkeit. Horst Wetterling hat den gefährlichen Prozeß dieser Ich-Schwäche unter Kindern und Jugendlichen infolge uneingeschränkter Konsumhaltungen und pädagogish versagender Eltern schon vor mehr als zehn Jahren beschrieben: „Scheitern sie aber bei dem Beginnen, sich . oben'zu behaupten, weil ihr Können und ihr Verstand nicht ausreichen, um mit einer Aufgabe fertig zu werden, so resignieren sie schnell. Sie können weder geduldig warten noch Widerstände ausdauernd und mutig angehen. Auch ertragen sie es kaum, an die Grenzen zu geraten, die jedem Menschen gesetzt sind. Jäh schlägt sich Selbstbewußtsein um, wenn sie eine Nie-derlage’ hinnehmen müssen. Dann meinen sie, überhaupt nichts mehr zu taugen, und versuchen, durch Heulen und verzagtes Fragen wenigstens Mitleid, also wiederum Aufmerksamkeit zu erregen ... Oder sie werten den Lehrer als doof’ ab und suchen durch Mogeln ans Ziel zu kommen."
Wir halten es zwar für notwendig, die von Fromm und Wetterling vorgelegten Thesen zu verbinden und weiter zu erforschen, betonen jedoch, daß wir mit dieser Parallele lediglich eine Tendenz in der Mentalität mancher Jugendlicher charakterisieren wollten, um neofaschistisches Agieren von der psychologischen Seite her zu erklären. Wenn eine derartige Analogie überstrapaziert wird, entsteht die Gefahr psychologistischer Personalisierung, die ablenkt von anderen gesellschaftlichen Ursachen, die Faschismus als Mentalität erst zulassen und begünstigen. 4. Gesellschaftliche Gewalt und Destruktivität
Psychische Dispositionen, die im Elternhaus vorbereitet werden, benötigen ein bestimmtes soziales Umfeld, innerhalb dessen sie sich entfalten können. So bildet das große Potential an Aggressivität in unserer Gesellschaft zweifellos eine mentale Verstärkung für das Anwachsen rechtsradikaler bzw. faschistischer Gesinnung unter der jungen Generation. Tagtäglich wird Gewalt in Filmen und Fernsehsendungen dargestellt und damit verherrlicht. Ellbogeneinsatz und Rücksichtslosigkeit gelten als legitime Mittel der Konfliktlösung, des Sich-Durchsetzens und Erfolg-Habens. Offiziell wird Gewalt zwar als minderwertig abqualifiziert, tatsächlich aber wird sie überall praktiziert — im Beruf, im Sport, in der Familie, in der Politik, in der Schule. Kinder sind Gewaltanwendung gegenüber besonders hilflos und, wie wir wissen, gerade in der Bundesrepublik in hohem Maße durch das kinderfeindliche Verhalten der Erwachsenen bedroht
In den bundesdeutschen Schulen läßt sich seit geraumer Zeit ein beträchtliches Anwachsen von aggressivem Verhalten registrieren. Schüler erleben ihre Schule als Kampfarena, auf der sie Niederlagen einstecken, von bestimmten Lehrern gedemütigt und unterdrückt, von stärkeren Mitschülern geschlagen, drangsaliert und gepeinigt werden. Was vielen dann nur noch hilft, ist Gegengewalt — entweder als Zerstörung von Sachen (Schulmöbel, Gegenstände von Klassenkameraden) oder als Rache an schwächeren Schülern. Berichte, vor allem aus Großstädten, sprechen für sich:
Gesamtschullehrer: „Die Aggressionen untereinander, die waren sehr stark, als ich in die Klasse kam. Die hatten so quasi Schlägereien, Kung-Fu-Tritte in den Rücken, Kung-Fu-Tritte in den Magen ... Zum Beispiel sind alle Lehrer verpflichtet, am Anfang der Pausen die Toiletten aufzuschließen. In der Anfangsphase, als sie ganz geöffnet waren, waren die Toiletten total zerstört worden, d. h. die Porzellanbecken sind zertrümmert worden, die Trennwände rausgebrochen worden, man hat die Zwischenstücke von den Pinkelbecken rausgeschraubt und dann den Abdrücker runtergedrückt und festgebunden, so daß die Toil•ette danach ganz unter Wasser stand ..." Hauptschullehrer: „Wir kommen gegen 10 Uhr an der Felsengruppe an. Hier setzen sich sofort einige Schüler ab, klettern auf die Felsen und machen oben ein separates Lager auf. Zu ihnen stößt nach einiger Zeit B ... er trägt eine ca. 50 cm lange Machete bei sich. Offensichtlich sind derartige Macheten (ich sehe später noch drei) derzeit ein beliebtes Statussymbol... Einige Zeit später gibt es einen ohrenbetäubenden Knall. B. hat eine Leuchtrakete abgeschossen. Er zeigt mir auch relativ stolz seinen . Ballermann'... Im Laufe des Vormittags gesellen sich mehrere — ich glaube ehemalige — Schüler zu unserer Gruppe. Jeder dieser Ehemaligen hat eine Machete bzw. Pistole ... Es kommt zu einer heftigen Keilerei... H. wird mit dem Kopf mehrfach gegen den harten Felsboden geschlagen. Es ist mir später nicht möglich, irgendeine Rekonstruktion des Geschehens von H. zu erhalten. Er hat wohl Angst, einen Mitschüler zu verpfeifen."
Derart krasse Dinge ereignen sich zwar nicht an jeder Schule, jedoch an mehr Schulen, als eine uninformierte Öffentlichkeit weiß, und es existiert mit Sicherheit keine Schule mehr, an der nicht regelmäßig leichtere Formen der Sachbeschädigung und Körperverletzung stattfinden Kinder und Jugend-* • liehe, die Brutalität und Destruktivität erleben, nachahmen und letztlich als Verhaltensweise verinnerlichen, werden so durch eine gewalttätige Gesellschaft darin bestätigt, ihre eigentliche Ich-Schwäche zu kompensieren Plötzlich zum Vorschein kommende Destruktivität ist jedoch nicht „menschliche Natur", sagt Fromm, sondern „das destruktive Potential, das durch gewisse permanente Bedingungen genährt und durch plötzliche traumatische Ereignisse mobilisiert wird"
Die Anwendung terroristischer Mittel, von Gewalt und Zerstörung, gehört zu den Wesensmerkmalen jedes Faschismus Auch die deutschen Neonazis bekennen sich wieder offen dazu. Ihnen erscheint die Beachtung der bestehenden Grundrechte als „idiotischer Humanismus", als „Feigheit" und „Schwäche" Was ihrer Meinung nach gegenwärtig nottut, sind diktatorische Maßnahmen: „Durchgreifen", ein unerbittlich harter Kurs. Wilfried Krauß, Chef der „Jungen National-demokraten", bekundete auf einem „Kongreß" seines Verbandes 1977 seine Freude darüber, „daß hier bei uns in dieser jungen NPD die Kraft heranwächst, die eines Tages aufräumen wird mit dem kommunistischen Spektakel", wobei die Neofaschisten unter „kommunistischem Spektakel" die Gewerkschaften, alle demokratischen Parteien und die bestehende Grundordnung verstehen. Und Krauß erläuterte auch, was danach kommen sollte: „ein neuer Arbeitsdienst“, „Beseitigung der Tarifautonomie", „Bewaffnung der Bundeswehr mit Atomwaffen"
Jungen Menschen, die an sich Gewalt erlebt haben, die sich psychisch schwach fühlen, erscheint das freimütige Bekenntnis neonazistischer Sprecher zu Härte und Unversöhnlichkeit als etwas Imponierendes und Faszinierendes, möglicherweise auch als angemessene Reaktion auf Jugendarbeitslosigkeit, Schulversagen, berufliches Scheitern oder persönliche Schwierigkeiten. Dies bestätigen Erfahrungen aus den Münchner Freizeitheimen.
Wie Heidrun Graupner in der „Süddeutschen Zeitung" Anfang dieses Jahres berichtete, erleben diese Freizeitheime seit Monaten eine regelrechte „Hitler-Welle". Zahlreiche Heim-besucher identifizieren sich mit Adolf Hitler als Führerfigur, nicht weil sie sich für die nationalsozialistische Ideologie, für Rassismus oder ein Großdeutsches Reich interessieren, sondern weil sie von den von Hitler und der SS angewandten Methoden des Terrors fasziniert sind und sie sich damit die Lösung ihrer Probleme, Asozialität und Berufslosigkeit, erhoffen. 5. Arbeitslosigkeit und ökonomische Krise a^ neofaschistisches Reizklima Wir wissen heute, daß der Aufstieg der NSDAP bis zur Machtübernahme 1933 maßgeblich begünstigt wurde durch Massenarbeitslosigkeit, Verängstigung und Verelendung breiter Bevölkerungsschichten. 1932 war das Jahr mit den meisten Arbeitslosen, gleichzeitig aber auch der Höhepunkt der faschistischen Wahlerfolge Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit trieben den Mittelstand und Teile der Arbeiter-und Angestelltenschaft den Faschisten zu, denn radikale Lösungen, Härte und Unnachgiebigkeit erscheinen in Augenblicken schwerer Wirtschaftskrisen vielen Menschen als adäquate Mittel der Politik, weil sie offensichtlich die eigenen psychischen Ängste beschwichtigen.
Wenn sich die sozioökonomische Situation der Gegenwart auch nicht mit den Bedingungen der Weimarer Republik gleichsetzen läßt, so muß man doch im Auge behalten, daß die momentanen Krisenerscheinungen in unserem Wirtschaftssystem dazu führen, gerade junge Menschen zu desorientieren und zu verunsichern. Die Aussichten, gegenwärtig einen sicheren Arbeitsoder Studienplatz zu bekommen und somit nahtlos in die Wohlstandsgesellschaft eingepaßt zu werden, sind auf Jahre hinaus ungewiß. Kippes und Marino stellen fest: „Den Sekundarbereich I werden bundesweit zwischen 1977 und 1983 jährlich etwa 700 000 bis 750 000 Absolventen verlassen ... Nach neueren Berechnungen stehen ihnen jährlich nur etwa 400 000 Ausbildungsplätze zur Verfügung. Gleichzeitig ist zu befürchten, daß im selben Zeitraum jährlich etwa 40 000 bis 60 000 Abiturienten, denen der Weg nach oben durch Numerus clausus und mangelnde Aufnahmefähigkeit des Dienstleistungsbereichs versperrt ist, einen betrieblichen Ausbildungsplatz suchen ... (Im) Sekundarberei 000 bis 60 000 Abiturienten, denen der Weg nach oben durch Numerus clausus und mangelnde Aufnahmefähigkeit des Dienstleistungsbereichs versperrt ist, einen betrieblichen Ausbildungsplatz suchen ... (Im) Sekundarbereich II steigt die Zahl der Absolventen ... bis 1984/85 um weitere 60— 70 °/o. Das führt nach Modellrechnungen dazu, daß bis 1980 bundesweit etwa 50 000, bis 1985 rd. 260 000 studierwillige Abiturienten keinen Studien-platz bekommen können, also von oben in den Ausbildungsstellenmarkt drängen. Insgesamt verlassen von 1975 bis 1985 rd. 9, 7 Mill. Schüler das allgemeinbildende Schulsystem. Auch wenn wie bisher 10 °/o jedes Abgangs-jahres als ungelernte Arbeiter, Arbeitslose, nicht erwerbstätige Frauen freiwillig auf die Ausbildung verzichten, werden in diesen 10 Jahren noch mehr als 1, 4 Mio Personen gezwungenermaßen, wegen mangelnder Aufnahmefähigkeit des beruflichen Bildungssystems, auf die angestrebte berufliche Erstausbildung verzichten müssen. Das bedeutet, daß bis 1985 voraussichtlich rd. 1/4 des neuen Erwerbspersonenpotentials keine ausreichende Erstausbildung erhalten haben."
Die Auswirkungen anhaltender Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen sind bekannt: sie reichen von persönlichen Schuld-und Minderwertigkeitsgefühlen, von Apathie und Resignation, von Isolation und Aggressivität bis hin zu kriminellen Handlungen, Alkoholismus und Drogenmißbrauch 38).
Die zumeist sehr schwierige finanzielle Lage arbeitsloser Jugendlicher führt darüber hinaus zu einer schweren Belastung der familiären Beziehungen und zu scharfer sozialer Diskriminierung: „Der durch die Arbeitslosigkeit erzeugte psychische und soziale Druck muß vom Individuum in irgendeiner Weise verarbeitet werden, sei es in Form von Schuld-und Versagensgefühlen, also nach innen gerichteten Aggressionen, sei es in Form von Projektion auf andere soziale Gruppen, meist Minoritäten (sogenannte . Sündenbock-Strategie'), oder sei es in Form nach außen gerichteter, offener Aggressivität.“ 39)
Leider liegen bislang keine empirischen Ergebnisse vor, wie hoch die Korrelation zwischen arbeitslosen Jugendlichen und deren Faschismus-Potential ist; wir meinen aber, es gibt Indizien für folgende gravierende Hypothese: Junge Menschen, die sich abseits der Gesellschaft befinden und das Gefühl haben, von Politikern, Gewerkschaften und sonstigen Institutionen im Stich gelassen zu werden, erweisen sich als besonders gefährdetes Rekrutierungsfeld faschistischer Ideen. Für sie, die vermeintlich Vergessenen und Vertrösteten, stellen nazistische Kampfparolen und Drohungen gegen die demokratische Ordnung so etwas wie eine positive Perspektive dar. Ihre zerrüttete wirtschaftliche Basis, die fehlende existentielle Sicherheit gibt somit der ideologischen Anfälligkeit zahlreicher Jugendlicher erst die reale Motivation, den Nährboden zum rechtsextremistischen Handeln.
Wir halten es für unabdingbar, auf diesen Zusammenhang von Wirtschaftssystem und Faschismusanfälligkeit hinzuweisen, weil sonst alle Erklärungen zu kurz greifen, woher die neonazistische Einstellung von Jugendlichen stamme 40).
III. Die erforderliche Auseinandersetzung mit dem Neo-Faschismus
Wenn wir hier den Anspruch erhöben, griffige Rezepte gegen die Weiterverbreitung des Neo-Faschismus parat zu haben, träfe uns zu Recht der Vorwurf der Überheblichkeit und Unredlichkeit. Aus unseren Erfahrungen des Widerstands gegen neonazistische und rechtsextreme Propaganda und deren Vertreter möchten wir lediglich Impulse geben, um die Zahl derer zu vergrößern, die den Kampf gegen den Faschismus bewußt und aktiv führen wollen. 1. Lehrplanrevision im Bereich der politischen Bildung Bereits 1972 zeichnete eine Marburger Studiengruppe ein bedenkliches Bild bundesdeutscher Geschichtsbücher
Daß die Ergebnisse dieser Gruppe in keiner Weise veraltet oder überholt sind, hat Dieter Bossmann unlängst ins Gedächtnis gerufen:
„Vonnöten erscheint endlich auch einmal das gründliche Be-und Hinterfragen amtlicher Richtlinien, Lehrpläne und Stundentafeln — vor allem aber auch der Geschichtsbücher. Gerade sie sind wegen ihrer im Verhältnis zu anderen Lehrmitteln häufigeren Benutzung ein bedeutsamer Faktor bei der Vermittlung politischer und geschichtlicher Bildung: für die Schüler oft die einzige Informationsquelle, für die Lehrer oft das einzige Hilfsmittel ... Mit welcher Leichtigkeit in manchen von ihnen der Nationalsozialismus zum Hitlerismus’ verkürzt wird, läßt einen erschauern. Kam und ging der Faschismus mit Hitler etwa auf Nimmerwiedersehen? . . . Darf man politisch-moralisch verhunzt, und sprach-dumm obendrein, im Zusammenhang mit dem Krieg von . Erfolg, Gewinn, Gewinner, sinnvoller Verlängerung etc.'reden? Wann wird endlich eingesehen, daß nicht der 8. Mai 1945 der Tag des Zusammenbruchs Deutschlands'war, sondern der 30. 1. 1933?"
Und auch an einer anderen Aussage Bossmanns gibt es nichts zu deuteln: „Daß auch 32 Jahre danach der NS im Schulunterricht oft nur angetippt, manchmal gar nicht durch-genommen wird, ist und bleibt ein politisch-pädagogischer Skandal. Untersuchungen müßten einmal klipp und klar feststellen, wieviel Schüler auch heute noch immer die Schule verlassen, ohne jemals etwas vom NS gehört zu haben."
Unsere Forderungen zur Lehrplanrevision im Bereich der politischen Bildung und des Geschichtsunterrichts nehmen sich vielleicht recht bescheiden aus, deuten aber doch die Richtung an, die von den Schulbuchkommissionen und den Kultusministerien berücksichtigt werden sollte:
— der Faschismus muß als Schwerpunktthema im Geschichtsund Sozialkundeunterricht der Sekundarstufe I und II behandelt werden, besonders intensiv hinsichtlich der ökonomischen Hintergründe und Ursachen, die zum Nationalsozialismus führten;
— eine gezielte Aus-und Weiterbildung der Lehrer zu diesem Thema ist vonnöten, sowohl unter didaktischen als auch methodischen Aspekten; — Faschismus darf nicht länger nur als ein Wissens-Problem verstanden werden. Lehrer und Schüler müssen sich darüber im klaren sein, daß es hierbei um Einstellungen und Werthaltungen geht, die emotional . besetzt'sind: Faschismus und Nationalsozialismus müssen als negativ besetzte Begriffe vermittelt werden;
— kultusministeriell zu genehmigendes Material sollte durch anerkannte Wissenschaftler und Pädagogen sorgfältig überprüft werden, ob die Resultate kritischer Schulbuch-Analysen eine adäquate Berücksichtigung gefunden haben. 2. Möglichkeiten der Massenmedien Soll eine breite Öffentlichkeit gegen den aufkeimenden Neo-Faschismus mobilisiert werden, so fällt den Massenmedien eine überragende Rolle zu. Presse, Funk und Fernsehen bestimmen das Denken und Handeln der meisten Menschen in den Industrieländern in weit größerem Umfang als jede andere gesellschaftliche Institution. Wieviel Aufklärungsarbeit könnte beispielsweise das Fernsehen zum Thema „nationalsozialistische Vergangenheit" leisten?
Was auf dem Gebiet der Geschichtsdokumentation möglich ist, hat vor kurzem Jost von Morr in seiner Sendung über den Nürnberger Ärzteprozeß eindrucksvoll bewiesen über viele der NS-Verbrechen liegt eine Fülle von Material vor: über das Leben in KZs, Juden-vernichtung, Vorbereitung und Durchführung des Krieges, Unterdrückung von Minderheiten, Unterjochung anderer Völker, Widerstand gegen das Dritte Reich usw. Die Ausstrahlung von Dokumentarfilmen in regelmäßigen Abständen und zu günstigen Sendezeiten würde in kurzer Zeit der älteren Generation die teilweise in Vergessenheit geratenen Fakten in Erinnerung bringen und der jungen Generation die Augen darüber öffnen, was Faschismus gewesen ist.
Eine zweite Möglichkeit bieten Spielfilme, in denen Ereignisse zwischen 1933 und 1945 dargestellt werden. Tatsächlich existieren nur wenig deutsche Spielfilme über den Nationalsozialismus und seine Hintergründe Es wäre aber für die Fernsehanstalten ein leichtes, entsprechende Aufträge an engagierte Filmemacher zu vergeben oder ausländische Filme anzukaufen.
Die bloße Ausstrahlung von Sendungen, ohne Erarbeitung eines „antifaschistischen Medien-Konzeptes", wäre jedoch zweifellos mit erheblichen Risiken verbunden. Aus den Erfahrungen der Vergangenheit lernend, könnten folgende Überlegungen eine Rolle spielen:
— Die NS-Vergangenheit darf auf keinen Fall aus einer „Monsterperspektive" erfolgen, indem die Nazi-Größen wie Hitler, Himmler oder Heydrich als Bestien und Dämonen dargestellt werden. Solche Filme, von denen es — vor allem im Ausland — eine ganze Reihe gibt, personalisieren die Geschichte in einer gefährlichen Weise und befriedigen allenfalls Sensationslust. — Ebenfalls personalisierend wirken Filme wie „Hitler — eine Karriere" von J. C. Fest. Der Film suggeriert in wissenschaftlich unhaltbarer Weise, daß der Nationalsozialismus durch den „Führer" geschaffen wurde, ja ohne ihn undenkbar wäre. Zudem wirkt Hitler in vielen Phasen anziehend und überwältigend. Demgegenüber sind Filme notwendig, die die sozialen, wirtschaftlichen und psychologischen Ursachen für den Aufstieg des deutschen Faschismus aufzeigen, z. B. das Verhalten des Mittelstands und der Industrie, die soziale Herkunft der Nazis, „Vorläufer" in der Wilhelminischen Ära und der Weimarer Republik, Entwurzelung breiter Schichten durch den Ersten Weltkrieg, die Rolle der Erziehung etc. — Filme, die Erwachsene ansprechen, sprechen noch lange nicht Jugendliche an. Identifizierungen mit antifaschistischen Einstellungen könnten eventuell erzielt werden, wenn, Spielfilme aus der NS-Zeit, in denen blinder Gehorsam und heldenhafte Tapferkeit als unkritische Primärtugenden („Hitlerjunge Quex") mit Kommentaren und Einblendungen aus der Gegenwart versehen werden, die die mysthische Glorifizierung durchbrechen und Einsichten vermitteln. Einen derartigen Versuch hatte der Atlas-Verleih mit dem NS-Durchhalte-Film „Kolberg" bereits Anfang der sechziger Jahre unternommen.
Voraussetzung für alle Massenmedien, die zu einer antifaschistischen Aufklärungsarbeit bereit sind, wäre wohl, daß kommerzielle Überlegungen, hohe Umsätze oder positive Leserbriefe keine Rolle spielen. Wer den Nationalsozialismus „vermarkten" möchte, um daran zu verdienen, trägt dazu bei, daß die Verdrängung der Vergangenheit fortgesetzt wird und die Neo-Nazis ihre Chance der ideologischen Vergiftung behalten. 3. Auftrag an Parteien und Gewerkschaften Das Ringen um Regierungsmacht und Wählerstimmen hat zu Formen der Auseinandersetzung geführt, in der die persönliche Verunglimpfung des politischen Gegners vielfach das Hauptziel darstellt und nicht mehr gefragt wird, welche Auswirkungen Parla-mentstheatralik und Wahlkampfpölemik auf die Mentalität und Wertvorstellungen der Ju45 gend zeitigen. Damit soll keiner verwaschenen Harmonie das Wort geredet werden; aber es stände den Parteien besser an, sich auf die sachliche Konfrontation zu beschränken. Gleichfalls muß kritisch angemerkt werden, warum die Parteien allesamt seit ca. 20 Jahren keine offensive Auseinandersetzung mehr mit dem Faschismus führen. Den 30. Jahrestag von der Befreiung des Faschismus beispielsweise überging man weitgehend und überließ ihn der Interpretation durch die DKP. Jetzt jährt sich zum 40. Mal der Tag der „Reichskristallnacht"; das könnte Anlaß genug sein, für die Jugend Teile einer fast verschütteten Vergangenheit wieder ans Licht zu ziehen.
Als generelle Forderungen für die Zukunft stellt sich den Parteien zumindest eine dreifache Aufgabe: — Sie betrachten die bestehenden neofaschistischen Gruppen als ernst zu nehmende Gegner, deren Herausforderung nicht länger unbeachtet bleibt; — sie beschränken sich in der politischen Auseinandersetzung untereinander auf die Konkurrenz sachlicher Programmatik und meiden die Formen der persönlichen Diffamierung; — die Paragraphen 86 und 86 a (Verbreitung verbotener Propagandamittel; Tragen und Verbreiten von Abzeichen verbotener Parteien) sowie des § 130 StGB (Angriffe auf die Menschenwürde) werden konsequent angewendet. Es wird geprüft, inwieweit präzisere Gesetze notwendig sind, um den wachsenden Handel mit NS-Gegenständen sowie die Herstellung nazistisch indoktrinierter Schallplatten, Bücher und Zeitschriften einzudämmen.
Noch größere Bedeutung als den obigen Punkten kommt jedoch dem resoluten Kampf der Parteien, zusammen mit den Gewerkschaften, gegen die anhaltende Arbeitslosigkeit, insbesondere unter Jugendlichen, zu. Qualifizierte Ausbildungsmöglichkeiten für alle Jugendlichen sowie zusätzliche Lehr-und Arbeitsstellen müssen in unserer Gesellschaft absolute Priorität gewinnen. Nur so ist es möglich, Jugendliche vor politisch ungaren Ideen zu bewahren.
Junge Menschen werden in Zukunft zunehmend weniger Verständnis und Geduld aufbringen, wenn sie feststellen, daß es immer noch ein Defizit an Schulen, Lehrwerkstätten, und sonstigen. Bildungseinrichtungen gibt. Die Einführung eines 10. Pflichtbildungsjahres, die Schaffung von „Solidarisierungsfonds", wie von SPD-Politikern vorgeschlagen sowie Etatumschichtungen zugunsten der Ausbil-dungs-und Beschäftigungspolitik sind Maßnahmen, die zu einer erheblichen Reduzierung der augenblicklich über 200 000 Arbeitslosen unter 25 Jahren beitragen können.
Nur in dem Maße, in dem es Politikern und Gewerkschaftlern gelingt, der Jugend glaubhaft vor Augen zu führen, daß Perspektiven bestehen, die sie vor Beschäftigungslosigkeit und einer unsicheren Zukunft bewahren, wird dem Neo-Faschismus der sozio-ökonomische Nährboden für eine Ausbreitung seiner Propaganda und Umtriebe entzogen. Grundsätzlich gilt: der Kampf gegen den Faschismus steht solange auf verlorenem Posten, wie er nur auf eine'kleine Gruppte von engagierten Demokraten begrenzt bleibt und sich nicht als Notwendigkeit im Bewußtsein breiter Bevölkerungskreise verankert.
Hartmut Castner, geb. 1945 in Saaz; Studium der Germanistik, Geschichte, Soziologie und Pädagogik in Göttingen und Erlangen; Oberstudienrat am Melanchthon-Gymnasium Nürnberg; Fachbetreuer für Geschichte/Sozial-künde; Dozent an der Volkshochschule und am Jugendzentrum Nürnberg. Thilo Castner, Dr. rer. pol., geb. 1935 in Breslau; Studium der Wirtschafts-und Sozialwissenschaften in Nürnberg und Köln ['Studiendirektor der Städtischen Wirtschaftsschule Nürnberg und Mitarbeiter des Pädagogischen Instituts der Stadt Nürnberg; Dozent an der Volkshochschule Nürnberg. Gemeinsame Veröffentlichungen: Sexualrevolution und Schule, Neuwied 1970; Emanzipation im Unterricht, Bad Homburg 1972; Die Volksrepublik China — ein sozialistisches Modell, Düsseldorf 1975; Familie und Jugend in der Industriegesellschaft, Leverkusen 1976; Werbung in Wirtschaft und Politik, Leverkusen 1976.
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