Die Stellung der katholischen Kirche in der Grundwertediskussion
Dietrich Bäuerle
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Zusammenfassung
Die Grundwertediskussion mit ihrem Höhepunkt im Bundestagswahljahr 1976 unterliegt in starkem Maße subjektiv wertendem Interessendenken und vielfältigen Interpretationen, zumal das Grundgesetz keine eindeutige Definition vorgibt. In der Diskussion beziehen sich Politiker wie Kirchenvertreter zum einen auf Grundwerte als abstrakte, vorstaatliche oder mit Grund-und Menschenrechten identische Metaphysika, zum anderen auf deren Konkretionen in politischer und gesellschaftlicher Praxis. Kernproblem ist dabei die Sicherung eines Minimalkonsenses, der zwar formelhaft in der allgemein bejahten „Würde der menschlichen Person" gefunden ist, aber in den Entwürfen zur gesellschaftlichen Praxis zeigen sich gravierende Differenzen vor allem zwischen katholischen Bischöfen und der SPD-Spitze. Die Grundwertediskussion reicht mit Stellungnahmen der katholischen Kirche zu Fragen von Ehe, Jugend und Familie, in besonderem Maße des Schwangerschaftsabbruchs, bis in das Jahr 1970 zurück. Doch erst das Wahljahr 1976 verlieh den Auseinandersetzungen tagespolitische Aktualität und parteipolitische Hektik in besonderem Maße: Reden, Stellungnahmen und Interviews in kurzer Folge von Kirchenvertretern und Spitzen-politikern aller im Bundestag vertretenen Parteien kennzeichnen die öffentliche, freilich nie im direkten Dialog geführte Debatte. Stellungnahmen der katholischen Kirche erfolgten zum einen durch die deutsche Bischofskonferenz und beinhalteten Einzelfragen wie Ehescheidung und Schwangerschaftsabbruch wie auch in der „Grundwerte-Erklärung" die Grundsatzproblematik; zum anderen war das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) engagiert, das eine zusätzliche Wahlkampferklärung veröffentlichte. Diese wie die bischöflichen Stellungnahmen unterstützten die Politik der christlichen Parteien und wandten sich in teilweise heftiger Kritik gegen die Gesellschaftspolitik der sozialliberalen Koalition in Bonn. Davon abgesetzt, weil wissenschaftlich reflektierend und die Diskussion des Wahljahres kommentierend, sind die Äußerungen kirchlicher Theologen zu sehen, die sich mehr mit philosophischen, theologischen, insbesondere sozialethischen Grundsatzfragen der Diskussion befassen und beispielsweise um die Zuordnung der verschiedenen Äußerungen zur katholischen Soziallehre bemüht sind. Problematisch bleibt die Beteiligung des Staats-wie des Kirchenvolkes: Die Stellungnahmen zu Grundsatzfragen der Gesellschaft seitens parteipolitischer wie kirchlicher Elite sind über die Betroffenen hinweg gemacht worden. Zumindest für die Kirche erhebt sich dabei die Frage, inwieweit die von den Kirchenoberen propagierten Wertvorstellungen überhaupt noch von der Basis gehört, verstanden und getragen werden.
I. Zum Begriff der Grundwerte
Die Beiträge zur Grundwertediskussion setzen fast ausnahmslos den Begriff „Grundwert" als bekannt und unumstritten voraus, erklären ihn jedoch nicht eindeutig. Das gilt vor allem für die offiziellen Dokumente der katholischen Amtskirche, d. i.der Bischöfe, und der Politiker. In den Diskussionsbeiträgen, Grundsatzerklärungen und Stellungnahmen ist „Wert" zwar zu unterscheiden einmal als er-strebenswertes Gut (Zielwert), zum anderen als Mittel zur Erreichung eines bestimmten Zieles (instrumenteller Wert); darüber hinaus finden sich Anhäufungen von Wertbegriffen, Synonymisierungen und Werte-Kataloge: Als Grundwerte erscheinen „Freiheit“, „Gleichheit", „Brüderlichkeit" neben „Demokratie“, „Würde der Person" bis hin zu „Staat" oder auch situative Vorstellungen wie „Lebenschancen für die Heranwachsenden" oder „Geborgenheit der Kinder" — d. h. all jene Dinge, die den jeweiligen Autoren wichtig, eben „wertvoll" erscheinen. Eine klare Wertskala existiert nicht, doch besteht ein Konsens sowohl bei Kirchenvertretern wie bei Politikern, die „Würde des Menschen /der Person" als obersten Grundwert zu plazieren.
Als expliziter politisch-programmatischer Begriff erscheint „Grundwerte" bereits im Godesberger Programm der SPD von 1959: zum einen als „Grundwerte sozialistischen Wollens“, zum anderen als die „gemeinsamen sittlichen Grundwerte" Im sog. „Ökonomisch-politischen Orientierungsrahmen der SPD für die Jahre 1975— 1985“ sind diese Grundwerte als „Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität" fortgeschrieben, die auch in bischöflichen Verlautbarungen wie in der theologischen Diskussion genannt werden (vgl. unter Kap. III. 2. b. und III. 4. c.).
Im Grundgesetz ist der Begriff „Grundwerte" nicht explizit aufgeführt, was freilich nicht gegen deren Bedeutsamkeit im Verfassungsrecht spricht, da „auch andere grundlegende Begriffe wie Neutralität, Pluralismus, Toleranz nicht in der derzeit geltenden Verfassung" zu finden sind. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jedoch ist der Grundwerte-Begriff durchaus üblich wie er auch in fachwissenschaftlichen Beiträgen Gegenstand von Erörterungen ist
Eine zentrale Frage der Grundwertediskussion ist der Minimal-oder Grundkonsens bzw., anders formuliert, das „ethische Minimum", auf das sich alle in der pluralen Demokratie vorhandenen weltanschaulichen, religiösen und politischen Gruppen einigen können, resp. „die ethischen Grundlagen von Gesellschaft, Staat und Gesetzgebung"
II. Gesellschaftspolitischer Rahmen der Grundwertediskussion
Die Vorgeschichte der gegenwärtigen Grundwertediskussion reicht bis in das Jahr 1970 zurück, sieht man einmal davon ab, daß der Komplex „Grundwerte — Grundrechte — Menschenrechte" zum Standardthema der Staatsphilosophie, Rechts-, Religionswissenschaft und Theologie gehört Am 10. Dezember 1970 äußerten sich Landesbischof Dietzfelbinger als Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland und Kardinal Döpfner als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz in einer gemeinsamen Stellungnahme zu Reformen des Ehe-und Strafrechts über „Das Gesetz des Staates und die sittliche Ordnung", deren Zielsetzung zwar nicht darin bestand, „in der staatlichen Gesetzgebung spezifische Moralvorstellungen von Religionen oder Weltanschauungen rechtlich zu fixieren", aber doch „sittliche Wertvorstellungen von allgemeiner Gültigkeit" ins Bewußtsein zu rufen. Beide Kirchenvertreter verweisen darauf, daß ein Verzicht auf den Grundbestand sittlicher Normen zerstörerische Auswirkungen für Staat und Gesellschaft haben werde
Bis 1975 äußerten sich katholische Bischöfe vor allem zu Rechtsfragen von Pornographie, Jugendschutz, Ehe und Familie, in besonderem Maße des Schwangerschaftsabbruchs. Erst das Bundestagswahljahr 1976 sowie die forcierten Debatten und Gesetzesnovellen gegen Ende der Legislaturperiode entfachten die Grundwertediskussion. Sie verlief in folgenden Phasen, wobei ein gewisser Einschnitt mit dem Wahldatum des 3. Oktober zu erkennen ist, nach welchem die tagespolitische Aktualität und parteipolitische Hektik merklich abnahm:
7. Mai 1976: sog. „Grundwerte-Erklärung" sowie weitere Verlautbarungen zu gesellschaftspolitischen Einzelthemen durch die deutschen Bischöfe (III. 2. a„ bes. III. 2. b.);
22. Mai 1976: Stellungnahmen des Zentral-komitees der deutschen Katholiken, darunter eine politische Erklärung zur Bundestagswahl (III. 3., III. 3. b.);
Mai und Juni 1976: Grundsatzvorträge von Helmut Schmidt (SPD), Helmut Kohl (CDU), Werner Maihofer (FDP) (III. 2. c.);
3. September 1976: „Zwischenbilanz" durch Kard. Höffner, den kommissarischen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz;
Sept, und Okt. 1976 (unmittelbar vor der Wahl): Presse-Interviews mit Hans-Dietrich Genscher (FDP), Franz Josef Strauß (CSU), Helmut Kohl (CDU), dazu mit Helmut Schmidt (SPD) in Erwiderung auf die Zwischenbilanz Kard. Höffners;
31. Januar 1977: Stellungnahme des Präsidenten des Zentralkomitees Hans Maier (CSU)
(III. 3. c.);
22. September 1977: weitere Grundsatzerklärung der Deutschen Bischofskonferenz, die im Fastenhirtenbrief von 1978 des Limburger Bischofs Kempf aufgegriffen wird (III. 2. c);
nach der Bundestagswahl erfolgt über die offiziellen Äußerungen hinaus eine theologische Reflexion (III. 4.).
III. Die Stellung der katholischen Kirche
1. Zum Orientierungsrahmen der kirchlichen Institutionen und Gremien Allgemeine Maßgaben zu Glaubens-und Sittenfrageh hinsichtlich der Grundwertediskussion liegen von Seiten des Heiligen Stuhls nicht vor; sie können nur indirekt, weil seinerzeit in dieser Form nicht akut, im allgemeinen Orientierungsrahmen, den vor allem das Zweite Vatikanische Konzil von 1962 bis 1965 für die Kirche der Gegenwart gibt, der auf der Grundlage der Bibel wie den Erkenntnissen der theologischen Tradition aufbaut und in den kirchlichen Verlautbarungen beinhaltet ist, mitgesehen werden.
Allgemeine Leitlinien bietet u. a. die „Erklärung" des Konzils „über die christliche Erziehung , Gravissimum educationis'”, in der beispielsweise den Eltern das Grundrecht der Erziehung ihrer Kinder zugesichert wird; in der „Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen , Nostra aetate'" wird die Achtung vor der religiösen Überzeugung des anderen propagiert; die „Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute . Gaudium et spes'” enthält 'gesonderte Kapitel über die Würde der menschlichen Person und die menschliche Gemeinschaft; und die „Erklärung über die Religionsfreiheit , Dignitatis humanae'" expliziert den kirchlichen Standpunkt zu einem speziellen Grundrecht 2. Bischöfliche Verlautbarungen In der Grundwertediskussion nehmen die deutschen Bischöfe zu Einzelthemen und Grundsatzfragen Stellung. „Besonders im Zuge der rechtspolitischen Reformen der sozialliberalen Koalition ist der Eindruck entstanden, als schrumpfe der Minimalkonsens sowohl hinsichtlich des Verständnisses von Grundwerten und Grundrechten wie hinsichtlich des ethischen Gehalts des Rechts mehr und mehr zusammen. Die Bischöfe erhoben darob mehrfach den Vorwurf, der Gesetzgeber oder die für'die Gesetzgebung verantwortlichen politischen Kräfte erschütterten das Fundament des Rechtsstaats, zerstörten das sittliche Bewußtsein vieler Bürger und machten die Gesellschaft unmenschlicher." a) Erklärungen zu Einzelthemen: Ehescheidung, Schwangerschaftsabbruch Die „Erklärung des Kommissariats der deutschen Bischöfe in Bonn zur Verabschiedung des Ersten Ehe-und Familienrechtsänderungsgesetzes" vom 9. April 1976 enthält zwei für die Diskussion wesentliche, weil durchgängige Aspekte: Zum einen wird wie auch in anderen kirchlichen Dokumenten (vgl. III. 3. a. und III. 4.) betont, daß die Ehe auf Lebenszeit geschlossen sei und ihre Wertigkeit durch ein Gesetz nicht aufgehoben werden dürfe, zum anderen, daß ein Abrücken von diesem Grundsatz eine tiefgreifende Verunsicherung in unserer Gesellschaft zur Folge haben werde
In der Auseinandersetzung um die Reform des § 218 StGB beharrt die Deutsche Bischofskonferenz in der „Verlautbarung zur Verantwortung für das ungeborene Leben" vom 24. Februar 1972 auf dem sittlichen Prinzip des uneingeschränkten Schutzes des menschlichen Lebens, auch des ungeborenen. Jedem, auch der werdenden Mutter, wird jegliches Verfügungsrecht über das Leben des ungeborenen Kindes abgesprochen und dem Staat das Recht verweigert, einen Eingriff durch das Strafrecht zu schützen bzw. zu legalisieren. Im Gegenteil obliege, so die katholischen Bischöfe, dem Staat die unbedingte Schutzverpflichtung für das ungeborene Leben. Andererseits sehen die Bischöfe ein Recht der betroffenen Frauen, die durch eine ungewollte Schwangerschaft in eine Notlage geraten können, auf Hilfe und Beistand des Staates, der Gesellschaft und der Kirche. Die Verlautbarung endet mit einem Appell an alle Bundestagsabgeordneten, dem Gesetz die Zustimmung zu versagen
Die „Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz zum Schutz des ungeborenen Lebens" vom 26. Januar 1976 unterscheidet sich von der Verlautbarung von 1972 durch die Vielzahl ihrer Grundsatzthesen und weist somit auf die veränderte allgemeine gesellschaftspolitische wie tages-und parteipolitische Situation im Bundestagswahljahr 1976 hin: Sie leitet eine Reihe von Grundsatzerklärungen im politischen und kirchlichen Raum ein. Die Bischöfe betonen unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Verbindlichkeit des (ungeschriebenen) Sittengesetzes, welches die „emeinschaft für die sittliche Wertordnung mitverantwortlich" mache, daß auch der Staat sittliche Grundwerte anzuerkennen habe und sich nicht „auf wertfreie äußere Ordnungsfunktionen beschränken" dürfe. Aus dem Gebot „Du sollst nicht töten!" leiten sie die These vom menschlichen Leben als „Höchstwert" ab und folgern, daß „Recht und Sittengesetz übereinstimmen", wenn es um den Schutz menschlichen Lebens gehe. Die Wertung der „Abtreibung (als) ein verabscheuungswürdiges Verbrechen" ergibt sich aus diesen Überlegungen als sachlogische Konsequenz
Während die gesellschaftspolitischen Zielsetzungen der katholischen Amtskirche in diesem Dokument noch recht allgemein formuliert werden — Widerstand gegen den Angriff auf ungeborenes Leben; Angebot der Zusammenarbeit mit dem Staat in Beratung und Hilfe für in Not geratene (zukünftige) Mütter; gewisse Zugeständnisse bei der medizinischen Indikation des Schwangerschaftsabbruchs —, sehen zwei weitere Dokumente konkrete Verhaltensregelungen in Grundwertfragen für katholische Christen vor.
Im „Pastoralen Wort der deutschen Bischöfe vom 7. Mai 1976 zur Novellierung des § 218 StGB" drohen jedem Katholiken, der eine Abtreibung vornimmt oder an ihr mitwirkt, infolge der Sündhaftigkeit eines solchen Eingriffs der Ausschluß aus der Sakramenten-gemeinschaft der Kirche (Exkommunikation). Des weiteren wenden sich die Bischöfe mahnend an die werdenden Mütter, an Väter und die Familien, verpflichten Ärzte und Krankenpflegepersonal in ihrem christlichen Gewissen und fordern von „allen Katholiken, sich dieser Verantwortung nicht zu entziehen, sondern daran mitzuwirken, daß eine Bewußtseinsänderung eintritt, daß die Liebe zum Kind in unserer Gesellschaft wieder selbstverständlich wird, und daß die Ehrfurcht vor dem ungeborenen Leben, seiner Würde und seinem Recht wieder in seiner grundlegenden Bedeutung für die menschliche Gemeinschaft erkannt und gefestigt wird." Diese letzte Passage wird zu einem Leitgedanken in der Grundwertediskussion: Nicht zufällig erscheint mit gleichem Datum die sog. „Grundwerte-Erklärung" der Bischöfe zu Grundsatzfragen der Auseinandersetzung (vgl. III. 2. b.). Das zweite verhaltensregelnde Dokument ist die „Empfehlung der deutschen Bischöfe vom 7. Mai 1976 für Ärzte und medizinische Fachkräfte in Krankenhäusern nach der Änderung des § 218 StGB", mit der Willenserklärung der Kirche zur Durchsetzung ihrer Inter15) essen in dem ihr möglichen Rahmen. Dabei ist bemerkenswert, daß die Amtskirche nicht nur auf katholische Ärzte im Sinne ihrer Grundsatzentscheidung einwirken will, sondern sich in den Punkten 1— 3 des Dokuments an Ärzte allgemein wendet und voraussetzt: „Der von seinem Gewissen und von seinem Berufsethos geleitete Arzt wird keinen Schwangerschaftsabbruch indizieren, vornehmen oder zulassen". Erst anschließend wird die Forderung auf katholische Ärzte, katholisches Pflegepersonal und katholische Krankenhäuser eingeschränkt, Schwangerschaftsabbrüche unter allen Umständen und unter Androhung der Exkommunikation zu unterlassen
Mit dieser Ausweitung des Geltungsbereichs katholischer Ansichten über die Qualität bestimmter Wertauffasungen leitet die Amts-kirche aus dem konkreten in die abstrakte Diskussion über Grundwerte über, in der sie ihre Auffassungen nicht nur Katholiken, sondern allen Bürgern verbindlich macht (s. u.). b) Die „Grundwerte-Erklärung“
„Ein Wort über . Gesellschaftliche Grundwerte und menschliches Glück'" richten die Bischöfe am 7. Mai 1976 an die Öffentlichkeit das als die sog. „Grundwerte-Erklärung" neben den gen. Erklärungen zur § 218-Novellierung der Bundespressekonferenz vorgestellt worden ist. Da im selben Monat des Wahljahres das Zentralkomitee der deutschen Katholiken mit eigenen Stellungnahmen zu Grundsatzfragen vor die Öffentlichkeit trat (vgl. III. 3. a. bis c.), bot sich dem Beobachter durch „die massive Stellungnahme katholischer Spitzengremien innerhalb von wenigen Tagen die relativ seltene Möglichkeit, die Positionen der offiziellen bundesdeutschen katholischen Gremien insbesondere zu Fragen von politischem Interesse insgesamt kennenzulernen"
Die bischöfliche Grundwerte-Erklärung ist sicherlich auch mit Blick auf die Wahlen abgegeben worden, kann aber nicht als konsequente Weiterentwicklung grundsätzlicher Gedanken zur Abtreibungsfrage geleugnet werden; „Adressat sind aber weniger der Gesetzgeber und die Parteien direkt, sondern Grundströmungen in der Bevölkerung, dieTrä-ger der Wert-und Bewußtseinsänderungen, und kritisiert werden in erster Linie die Defizite an Humanität und Sozialbewußtsein." Das Hauptmotiv der Bischöfe ist, „mit den Gliedern der Kirche zusammen in einer zunehmend nach Sinn und Zukunft fragenden Gesellschaft dem menschlichen Glück (zu) dienen" (vgl. IV.).
Nach Auffassung der Bischöfe ist das Grundgesetz Ausdruck klarer Wertvorstellungen, mithin keineswegs wertneutral; es beinhalte ein Grundwertgefüge, aus dem sich Gestaltungsprinzipien ableiteten, an die auch der Staat gebunden sei und die keinen Mehrheitsentscheidungen unterworfen werden könnten. „Die Ordnung der Bundesrepublik Deutschland wurde auf klaren Wertvorstellungen aufgebaut, die im Grundgesetz ihren Niederschlag fanden. Der Staat sollte sich an Werten orientieren, die für die Würde des Menschen als unverzichtbar erkannt wurden. Die Personenrechte des Menschen sollten unverletzlich, die Freiheit des einzelnen, die soziale und rechtsstaatliche Ordnung sollten gewährleistet und jeder Manipulation durch parlamentarische Mehrheiten entzogen sein." Mit dieser Aussage wird in Anlehnung an politisch-theoretische Erkenntnisse auf die Vor-staatlichkeit von Grund-und Menschenrechten verwiesen, an die der demokratische Staat auf jeden Fall gebunden sei
Die Bischöfe betonen, daß unabhängig von notwendigen Neuerungen, die auch die Kirche selbst vollziehen müsse — das Zweite Vatikanische Konzil beweist dies —, folgende „für die Entfaltung der menschlichen Person in der gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung unverzichtbare" Grundwerte existieren:
— „schlechthin grundlegend sind Würde und Freiheit der menschlichen Person" für deren „Entfaltung in der Gemeinschaft";
— das „Recht auf Freiheit (als) unaufgebbare Aufgabe der Gemeinschaft";
— das „Prinzip der Solidarität (in der) Verpflichtung des einzelnen zur Mitgestaltung und zum Mittragen der Gemeinschaft und korrespondierend die Verpflichtung der Gemeinschaft zur Hilfe und Ermöglichung der Freiheit des einzelnen";
— „das Prinzip des Gemeinwohls, das das Zusammenwirken von Einzelperson und Gesellschaft bestimmt"; — „das Prinzip der Subsidiarität", demzufolge gilt: „Was der einzelne aus eigener Initiative und mit eigener Kraft leisten kann, darf ihm nicht entzogen werden";
— das Prinzip der Toleranz und Religionsfreiheit in der Verpflichtung des Staates, „einen Pluralismus in den Wertbegründungen zu ermöglichen und die Neutralität gegenüber den verschiedenen wertbegründeten Institutionen und Gruppen zu wahren, soweit diese nicht die Personenrechte anderer oder das Gemeinwohl verletzen. ...
Religionsfreiheit verpflichtet vielmehr den Staat zur Förderung der Wertbegründung und des Wertkonsenses im Rahmen seiner Gemeinwohlverpflichtung"
Die Gefährdung dieser Grundwerte sehen die Bischöfe in der gegenwärtigen „Verschiebung im Wert-und Normbewußtsein unserer Gesellschaft" — und zwar — in der Vertauschung personaler Verantwortung durch subjektive Beliebigkeit, — in der geringen Wertschätzung der Familie, — im Nachlassen sozialer Hilfsbereitschaft, — in der Unverbindlichkeit der Grundwerte für Bildungsziele und -inhalte, — in der Infragestellung des Demokratieverständnisses infolge Überbetonung von Mehrheitsentscheidungen in Grundrechts-fragen, — in der Propagierung einer neuen Ordnung durch Klassenkampf, — in der Diskussion und Verfügbarkeit des Rechts auf Leben, — vor allem aber in der Begriffsverwirrung und Infragestellung der Grundwerte selbst
In der Zukunft liege die Hauptaufgabe grundsätzlich in der „Verwirklichung des Guten". Die Bischöfe „fordern die Verantwortlichen in Staat und Gesellschaft, in Wirtschaft und in den Medien auf, die hoffnungsvollen Entwicklungen ins allgemeine Bewußtsein zu bringen und sie nach Kräften zu stärken". Damit meinen die Bischöfe trotz aller Bedrohungen der Grundwerte jene Entwicklung, die man mit dem im Wahlkampf von 1976 vielzitierten Wort von der „Tendenzwende“ umschreiben könnte: „Immer mehr Menschen zweifeln daran, daß Glück und Zufriedenheit durch umfassende Vergesellschaftung menschlicher Bedürfnisse und perfektionistisch konzipierte gesellschaftliche und politische Strukturen erreichbar sind. Das Verlangen nach mehr per- sönlicher Bewegungs-und Handlungsfreiheit nimmt zu. Der personale Lebensraum und die Privatsphäre werden von vielen geradezu als . heilig'erfahren."
Die Bischöfe schließen mit einer Universal-formel, die ihre Ausführungen nicht nur auf Christen, resp. Katholiken einschränkt: „Wir sind der Überzeugung, daß der Not der Menschen niemals dadurch geholfen wird, daß Gottes Gebote übergangen werden. Diese Gebote sind zum Heil der Menschheit aufgerichtet. Wer sie auflöst, schafft Unheil." c) Die Diskussion zur „Grundwerte-Erklä-
rung"
Sieht man an dieser Stelle von den gesonderten Stellungnahmen des Zentralkomitees der deutschen Katholiken sowie den fachtheologischen Ausführungen ab, löste die Grundwerte-Erklärung der Bischöfe in der Öffentlichkeit eine Diskussion aus, die manche Kommentare von einer „Krise der Grundwerte" sprechen ließ Die Kontroverse spielte sich ab zwischen den Bischöfen einerseits, denen von den Unionsparteien in wesentlichen Grundsätzen beigepflichtet wurde und den Politikern der sozialliberalen Koalition andererseits. Von besonderer Bedeutung ist der Vortrag von Bundeskanzler Schmidt vor der Katholischen Akademie in Hamburg vom 23. Mai 1976 mit anschließender Diskussion auf den der kommissarische Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz Kard. Höffner am 7. September 1976 erwiderte, dem wiederum Schmidt in einem KNA-Interview vom 21. September antwortete Im Schatten dieser in den Medien, aber niemals direkt geführten Kontroverse stehen die Vorträge und Diskussionen des Oppositionsführers im Deutschen Bundestag, Helmut Kohl (CDU) und des früheren Bundesinnenministers Werner Maihofer (FDP) vor derselben Akademie am 13. und 20. Juni 1976, ferner die weiteren Politiker-Interviews vor der Bundestagswahl vom 3. Oktober (vgl. II.)
Der Vortrag des Bundeskanzlers über „Ethos und Recht in Staat und Gesellschaft" vom 23. Mai 1976 geht direkt auf die bischöfliche Grundwerte-Erklärung ein. Schmidt betont das uneingeschränkte Recht der Kirche zur Beteiligung an der öffentlichen Diskussion gesellschaftsrelevanter Fragen, meint jedoch, der Staat sei nicht der Adressat kirchlicher Handlungsaufforderungen: dies träfe nur zu, wenn der Staat einen Grundwertekonsens herstellen könnte und wollte: das erlaube freilich das Prinzip von Demokratie und Pluralismus nicht. Der Staat habe die Grundwerte zu schützen; wertsetzende und -begründende Kräfte zu fördern, sei aber nicht Ersatz für eine nicht vorhandene Werthaltung. Sittliche Grundhaltungen der Gesellschaft würden durch Mehrheitsentscheidungen in politische Entscheidungen der staatlichen Organe einbezogen. Der Staat des Grundgesetzes orientiere sich am Ethos der vorhandenen Menschen, er sei auf den Wertkonsens der Gesellschaft angewiesen, könne aber keine Grundüberzeugungen und kein bestimmtes Ethos erzwingen. Schmidt stimmt den Bischöfen zu, daß die Menschenwürde kein Gegenstand von Mehrheitsbeschlüssen sein könne, aber die detaillierten Verfahrensweisen, wie die Menschenwürde zu schützen und zu wahren sei, sei nur demokratisch, und das mithin auch in Mehrheitsbeschlüssen, lösbar. Die Stimme der Kirche sei nur eine, wenn auch eine besonders bedeutsame Stimme im pluralistischen Meinungskonzert; ihr stehe die Funktion der Vermittlung von Wertvorstellungen zu. In diesem Zusammenhang unterscheidet Schmidt zwischen Grundrechten, die „Abwehrrechte" zum Schutz des Freiheitsraumes des Bürgers seien, und „transzendent orientierten, religiösen oder sittlichen Grundwerten"
In seiner Zwischenbilanz „Gesellschaftliche Grundwerte und menschliches Glück" vom 7. September 1976 erwidert Kard. Höffner: Unter „Wertpluralismus" dürfe man nicht den „totalen Pluralismus" verstehen, denn die „letzten sittlichen Grundwerte" hätten als „absolut verbindlich" zu gelten. Höffner folgert aus Art. 1 GG und im Rückgriff auf die Grundwerte-Erklärung sowie die bischöflichen Verlautbarungen zur Reform des § 218 StGB, daß mit der „Personwürde (das) Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie die Freiheit des Menschen gegeben" seien, zugleich auch „Eigenverantwortung, Entfaltungsund Gestaltungsfreiheit, Subsidiarität, Gemeinwohl"; der Staat sei zwar „weltanschauungsneutral, aber grundwertegebunden".
Zur gesellschaftspolitischen Praxis der Grundwerte stellt Höffner richtig: „Man hat in den Diskussionen der letzten Monate eingewandt, die Kirche wolle durch ihr Eintreten für die Grundwerte ihre besonderen sittlichen Anschauungen mit Hilfe der staatlichen Gewalt durchsetzen. Diese Unterstellung weisen wir entschieden zurück." In der Betonung der besonderen Bedeutung der Grundwertediskussion und des Einsatzes der Amtskirche für alle Menschen heißt es dann in Wiederholung der Universalformel der Grundwerte-Erklärung: „In der Diskussion um die Grundrechte geht es nicht um spezifische Wertvorstellungen der Kirche, sondern um die Fundamental-rechte des Menschen und damit um die Grundlagen unserer Gesellschaft und unseres Staates, um Grundwerte, die sich aus der Natur des Menschen ergeben." Wichtig an dieser Formulierung ist einmal die Gleichsetzung von Grundrechten und Grundwerten, 35 zum anderen die Bezugnahme auf das Naturrechtsdenken der katholischen Kirche, auf das sich die theologische Reflexion der Grundwertediskussion beziehen wird (vgl. III. 4. e.). Einen gewissen Abschluß amtskirchlicher Aussagen bildet das Dokument „Grundwerte verlangen Grundhaltungen. Ein Hirtenwort der deutschen Bischöfe vom 22. September 1977", das'an vorausgegangene Äußerungen anschließt und unter neu formulierten Leitlinien nach der Umsetzung von Grundwerten in die Praxs fragt.
Auffallend ist die stärkere Betonung theologischer Aspekte — gesellschaftspolitische Fragestellungen werden aus der christlichen Tradition gestützt und weniger aus dem tagespolitischen Geschehen diskutiert. Diktion und Terminologie sind wieder mehr der theologischen Sprache entnommen. Zugleich wird das Naturrecht in seiner grundlegenden Bedeutung herausgestellt. Als Leitlinien richtigen Verhaltens gelten den Bischöfen die Tugenden, die „sich in der Geschichte der Menschheit als Voraussetzungen menschenwürdigen Lebens und menschlicher Lebens-erfüllung bewährt (haben) und mehr als nur etwa Stichworte in einem Verhaltenskatalog für den fairen, edlen oder humanen Bürger (sind). Sie sind tiefer begründet als die Prinzipien eines bürgerlichen Wohlverhaltens, das allein besorgt ist, die Spielregeln des gesellschaftlichen Lebens zu beachten. Sie sind verankert in der menschlichen Natur. Wir finden diese Tugenden nicht selten auch bei Menschen, die Jesus Christus nicht kennen oder erkennen. Doch Glaube, Hoffnung und Liebe, diese drei von Gott den Menschen geschenkten Fähigkeiten ... sind ihre eigentliche Quelle der Kraft." Daraus leiten die Bischöfe die Tugenden ab: „Klugheit: Mut zur Wahrheit", „Gerechtigkeit: dem Nächsten gerecht zu werden", „Tapferkeit: das Wagnis, Nachteile auf sich zu nehmen“, „Zucht und Maß: die Kunst des Verzichts“
Die vorläufig letzte Äußerung bischöflicherseits ist der Fastenhirtenbrief von 1978 des Bischofs von Limburg, Kempf, der mit der thematischen Verquickung gegenwärtiger politischer Probleme — Terrorismus, Grundwerte, Situation der Jugend, politische Parteien — mit Fragen kirchlicher Gemeindepraxis die weitere Aktualität der Grundwerte-diskussion im kirchlichen Raum dokumentiert. Der Fastenhirtenbrief bestätigt die bereits dargestellten Positionen der deutschen Bischofskonferenz, hebt aber ausführlich auf die Toleranz des Christen in der politischen Auseinandersetzung ab (vgl. IV.) 3. Stellungnahme des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK)
a) Erklärungen zu Einzelthemen: Ehescheidung, Schule und Familie Im Unterschied zu den bischöflichen Verlautbarungen sind sämtliche Aussagen des ZdK zu Einzelthemen wie auch Grundsatzfragen der Gesellschaft enger auf tagespolitische Ereignisse bezogen. Dies gilt auch für die „Stellungnahme der Vollversammlung des ZdK zur Änderung des Ehe-und Ehescheidungsrechts" vom 7. März 1975, die eingangs die politische Position festlegt, nämlich „daß die von der sozialliberalen Koalition im Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages durchgesetzte Form des Zerrüttungsprinzips bei der Änderung des staatlichen Ehescheidungsrechts ungerecht, unsozial und unliberal ist". Ethische Prinzipien treten in der Formulierung hinter die Auseinandersetzung um Sachdetails zurück und werden erst in den abschließenden Forderungen des ZdK deutlicher erkennbar:
„. . . ein Eherecht, das von dem Grundsatz der Ehe auf Lebenszeit ausgeht; ein Eherecht, das die Gestaltung der Ehe als Rechtsinstitut nicht der subjektiven Beliebigkeit des einzelnen aussetzt; ein Scheidungsrecht, das nicht die Behauptung eines Ehegatten, die Ehe sei gescheitert, sondern ausschließlich die objektiv unheilbare Zerrüttung der Ehe als Scheidungsgrund anerkennt"
Am 22. Mai 1976, zwei Wochen nach der Grundwerte-Erklärung der Bischöfe, gibt das ZdK zwei Stellungnahmen zu Schule und Familie ab. In den Äußerungen zur „Erzieheri-sehen Aufgabe der Schule" beziehen sich die Autoren auf die „Erklärung über die christliche Erziehung" des Konzils, in der es heißt, daß allen Menschen „kraft ihrer Personwürde das unveräußerliche Recht auf Erziehung" zusteht. Um diesem Recht entsprechen zu können, muß die Schule „ein Mindestmaß an Übereinkunft über die Ziele und Werte, über die Maßstäbe der Auswahl" voraussetzen. Doch: „Zu den Schwächen in unserer Gesellschaft, die sich in der Schule widerspiegeln, gehört das Defizit an gemeinsamen Grundwerten", deren Verbindlichkeit jedoch unumgänglich sei und nicht einem „Pluralismus der Beliebigkeit“ weichen dürfe. „Soll die Schule zu ihrem erzieherischen Auftrag zurückfinden, junge Menschen zu verantworteter Freiheit führen zu können, Schüler zur Unterscheidung, nicht zum Verurteilen oder zur Beliebigkeit erziehen zu können, so müssen bestimmte Grundwerte in unserer Gesellschaft anerkannt werden, muß wertorientierter Pluralismus das Erziehungskonzept bestimmen."
Dies wird in den Thesen ausgeführt:
— „Schule darf nicht zum Glauben verpflichten, aber sie muß die Sinnfrage als unaufgebbar zum Menschen gehörend erfahren lassen."
— „Freiheit kann nur als Mitverantwortung menschenwürdig gelebt werden."
— „Geschichtliches Bewußtsein sichert die Solidarität zwischen den Generationen."
— „(Das) Leben (des Menschen) erfüllt sich in seinem Verhältnis zum Nächsten und in seiner Verantwortung in der Gemeinschaft.“ — „Die Erziehung zum Verständnis wirtschaftlicher, politischer und sozialer Zusammenhänge schützt vor monokausalen Erklärungen und damit vor ungerechten Urteilen."
•— „Soll der Mensch nicht bloß funktionieren, so müssen seine schöpferischen Kräfte gestärkt werden."
In diesen Sätzen lassen sich unschwer die Werterklärungen aus dem bischöflichen Grundsatzpapier vom 7. Mai 1976 wiedererkennen: Freiheit, Solidarität, Gemeinwohl, Subsidiarität, Eigengestaltung, Toleranz Wenn auch die Aussagen des ZdK zur „gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Situation der Familie" vom 22. Mai 1976 nicht direkt die Grundwerteproblematik ansprechen, so lassen sich doch in Beziehung zum Kontext der bischöflichen Erklärungen sowie der oben genannten Stellungnahmen des ZdK zum Ehescheidungsrecht drei grundlegende Feststellungen für die Grundwertediskussion erarbeiten:
— Die Familie ist mit ihren Erziehungs-und Sozialisationsleistungen eine wertevermittelnde Institution ersten Ranges.
— Damit ist der „Eigenwert der Familie“ betont.
— Aus diesen Gründen ist die Familie unbedingt zu schützen und zu fördern, und zwar im Interesse der Gesamtgesellschaft b) Die Erklärung zur Bundestagswahl Das Wahlpapier des ZdK vom 22. Mai 1976 ist unmittelbar auf die Parteipolitik bezogen, ohne daß jedoch die Parteien beim Namen genannt werden Die häufige Erwähnung und Forderung nach Freiheit lassen die politische Nähe zum Wahlprogramm der CDU und CSU erkennen; die Anspielung auf Parteitagsbeschlüsse gegen Religion und Kirche sowie „das inzwischen schon fast vergessene Kirchenpapier der F. D. P." vom 1. Oktober 1974 stellen einen Angriff auf die Liberalen sowie mit der Beschwörung der Gefahren des Sozialismus auf die SPD dar. Auch werden die bis dato gelaufenen Debatten um die Novellierung des § 218 StGB sowie des Ehescheidungsrechts in die Erklärung miteinbezogen, die sich dahingehend resümieren läßt, daß politische Freiheit nur dann von Dauer ist, wenn Grundwerte und Menschenrechte im Innern wie in der internationalen Politik gewahrt bleiben, ohne die die Würde des Menschen und die Unantastbarkeit des Lebens gefährdet seien. c) Grundsatzerklärungen zu Grundwerten und Menschenrechten Nach den Mai-Erklärungen erfolgte einen Monat vor der Bundestagswahl ein „Diskussionsbeitrag der Kommission I Politik/Verfassung/Recht" des ZdK am 3. September 1976 zum Thema „Der Staat und die Grundwerte" In der Ausgangsthese wird gesagt: „Die Grundwerte bestimmen sich nicht nach der Einschätzung des einzelnen, sondern im Wesen des Menschen. Deshalb gelten sie für jedermann, weil er Mensch ist." Mit dieser Formulierung werden vom ZdK — wie bereits in der Grundwerte-Erklärung der Bischöfe — zwei wesentliche, auch für die theologische Reflexion bedeutsame Aspekte wiederholt: a) der Bezug auf das Naturrecht, b) die Allgemeingültigkeit derartiger Aussagen über Grundwerte, zu denen „insbesondere Liebe, Wahrheit, Schönheit, Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit (gehören) ... Sie stehen nicht unverbunden nebeneinander, sondern alle Grundwerte sind Erscheinungsweisen der Humanität, durch die wir uns von allen anderen Lebewesen unterscheiden. So bilden sie einen Gesamtzusammenhang, eine Grundwerteordnung, in der jeder einzelne Wert von anderen mitbestimmt ist."
Aus der These, daß im Personsein des Menschen alle Grundwerte ihre Einheit haben, wird vom ZdK die Forderung an den Staat gestellt, alle politischen Maßnahmen auf die Wahrung der Grundwerte auszurichten, und zwar sowohl im Sinne der allgemeinen Daseinsfürsorge wie auch in der Wahrung der für das Zusammenleben in der Gesellschaft notwendigen Werte.
Ferner unterscheidet das ZdK zwischen Grundwerten und Grundrechten und geht damit indirekt auf die diesbezüglichen Thesen von Helmut Schmidt (SPD) ein: „Die verfassungsmäßige Ordnung ist nichts anderes als die institutionelle und normative Konkretion des Person-Seins und der sich daraus herleitenden Grundwerteordnung. Nicht nur die in der Verfassung verbürgten Grundrechte, sondern auch die parlamentarische Staatsform, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und viele andere Institutionen und Grundsätze der staatlichen Ordnung dienen der Verwirklichung der personalen Natur und der Würde des Menschen im Bereich des öffentlichen Lebens. Speziell die Grundrechte haben den Zweck, das Verhältnis zwischen Staat und dem einzelnen Bürger bzw.seinen Gruppen im Sinne der Grundwerte zu gestalten."
Eine weitere Grundlegung erhalten die Grundwerte in „demjenigen Menschenbild, das auf die originäre Freiheit des einzelnen als Person abhebt, die für uns ihre letzte Begründung in der Gottgeschaffenheit hat." An dieser Stelle bezieht sich das ZdK auf einen Grundkonsens, der nicht in der bloß formalen Übereinstimmung propagierter Werte mit dem GG, sondern „im sozialen Lebensduktus und in der geistig-seelischen Disposition der Bevölkerung“ zu finden ist.
In seinem Vortrag vom 31. Januar 1977 nimmt der Präsident des ZdK und bayerische Kultusminister Hans Maier (CSU) vor der Katholischen Akademie in Hamburg zur bisherigen Grundwertediskussion Stellung. Im Fazit umreißt er Rolle und Funktion der Kirche in den Auseinandersetzungen wie folgt:
— „Zu Werten, Grundwerten können die konkreten Freiheiten des Bürgers nur dann werden, wenn sie sich an den Regeln des Zusammenlebens orientieren, wie sie in Verfassung und Rechtsordnung niedergelegt sind.“
— Christen sind in Fragen der Wertordnung nicht klüger als Nichtchristen, „denn es geht hier um säkulare Werte, die sich zwar auf einem christlichen Hintergrund entwikkelt haben, die aber prinzipiell für alle gültig sind".
— „Die Kirche kann Werte und Wertbegründungen im heutigen Zustand der Gesellschaft nicht in einer Form gesellschaftspraktisch durchsetzen, wie sie dies durch Jahrhunderte getan hat: nämlich in Gestalt eigener, mit Autonomie und Rechts-macht ausgestatteter gesellschaftlicher Modelle.“ — „Die Kirche und die Christen können der nach Orientierung, Werten, Lebenssinn tastenden Gesellschaft am besten dadurch ein Beispiel geben, daß sie selbst sich den Aufgaben der Zeit stellen."
Die vorläufig letzte Äußerung des ZdK, wenn auch nicht direkt zur Grundwertediskussion, erfolgte in einem Arbeitspapier der besagten Kommission zu „Menschenrechten in der internationalen Politik" vom 21. November 1977. Es unterstreicht bereits bekannte Positionen und führt Gedanken des Diskussionsbeitrages vom 3. September 1976 fort. Bei der Situationsbeschreibung der Menschenrechtspraxis in den verschiedenen Ländern wird für die Bundesrepublik Deutschland festgestellt: Da das Grundgesetz „einen vorbildlichen Menschenrechtskatalog enthält" sowie „Garantien für die institutionelle Absicherung dieser Menschenrechte und Grundfreiheiten" bestehen, seien die Grundrechte in der Bundesrepublik Deutschland gewahrt, die zu achten christliche Aufgabe sei 4. Theologische Reflexion und Diskussion Am 24. Februar 1975 stellt der „Katholische Arbeitskreis für Eherecht" beim Kommissariat der deutschen Bischöfe in Bonn „Hauptforderungen zum Ersten Gesetz zur Reform des Ehe-und Familienrechts" die sich ebenso wie die „Stellungnahme des Katholischen Arbeitskreises für Strafrecht" vom 17. November 1975 zur Reform des § 218 StGB im grundsätzlichen an die bekannten Thesen der Bischöfe anschließen. Ihr Diskussionscharakter liegt zum einen in der Auseinandersetzung mit dem Indikationenproblem des Schwangerschaftsabbruchs, das in der Öffentlichkeit stark umstritten war (und heute noch ist), andererseits in den Alternativvorschlägen zur Reform des Ehe-und Familienrechts: damit beziehen sie sich zunächst auf Einzel-bzw. Spezialfragen der Gesamtdiskussion.
Die grundsätzlichen theologischen Überlegungen kreisen um die Beziehung zwischen Recht und Ethos, zwischen Staat, Recht und Moral, um naturrechtliche Grundlagen der Grundwerte und die Einordnung bzw.den Stellenwert der Grundwertediskussion in der katholischen Soziallehre. a) Vordringliche Autgaben der Kirche In einer Zwischenbilanz der Grundwertediskussion vom 5. /6. November 1976 formuliert der Dogmatiker Karl Lehmann diese Aufgaben der Kirche:
— Abrückend von einer Haltung der Abwehr, Selbstbehauptung und Anspruchshaltung muß die Kirche ihrem Auftrag gerecht werden, „die ethischen Grundüberzeugungen zu pflegen und wachzuhalten“.
— Die Verantwortung der Kirche der Gegenwart erlaubt keine „Wiedergeburt eines religiösen Integralismus".
— Die Kirche muß ideologiefrei den Grundwerte-Leerformeln „ein geistig-ethisches Potential (zurück) verleihen".
— Der Wertbegriff an sich muß diskutabel bleiben.
— Die Aussagen der Kirche können für die pluralistische Gesellschaft nur dann relevant werden, „wenn deutlich zwischen den universalisierbaren Grundsätzen der menschlichen Vernunft und dem Sinn-anspruch der im Glauben eröffneten Offenbarungswirklichkeit unterschieden wird". . — Grundsatzfragen der Kirche verlangen nach einer „gewissen Abstinenz im Tages-politischen". — Die Kirche sollte sich auf die „Prioritäten der Gewissensbildung und Glaubensverkündigung besinnen" b) Menschenwürde, Menschenbild, Gewissen Oswald von Nell-Breuning zielt auf die nähere Bestimmung des bereits genannten Minimalkonsenses in allen Wertfragen der Gesellschaft ab und klärt in drei Stufen:
— Art. 1 GG garantiert die Würde des Menschen, Art. 2 das Recht auf Entfaltung der Persönlichkeit, Art. 3 die Freiheit des Gewissens. — Der konkreten Ausgestaltung liegt ein spezifisches Menschenbild zugrunde. Die katholische Soziallehre lehnt ein einseitiges individualistisches wie kollektivistisches Menschenbild ab, sondern befürwortet die harmonische Synthese von Individualität und Sozialität der Gesellschaft. Dieses Menschenbild gründet im Bewußtsein der Verantwortlichkeit des Menschen vor Gott und seinem Nächsten.
— Dieser Verantwortung wird der Mensch aber nur im sittlichen Gewissen als personaler Existenzmitte gerecht. Daher ist die „Achtung vor der Würde des sittlichen Gewissens der absolut unerläßliche Minimal-konsens" c) Recht, Ethos und Moral Aus systematisch-theologischer Sicht setzt sich Ernst Feil mit dem Dualismus von Grundwerten und Grundrechten im besagten Vortrag von Helmut Schmidt auseinander. Er sieht dabei folgende Gefahren für eine weitere Wertedebatte sowie die Praxis der Grundwerte: — Bei einer Trennung von Grundwerten und Grundrechten könnte eine „Entwertung"
und bloß formale Absicherung der Grundrechte durch Verfassung und Staatsorgane eintreten.
— Die Folge wäre eine Polarisierung von Grundwerten einerseits, die in der Gesellschaft empfunden, und Grundrechten andererseits, die vom Staat formal garantiert würden, mithin eine Polarisierung von Staat und Gesellschaft.
— Diese Entwicklung würde den Staat aus seiner gesellschaftlichen Verantwortung entlassen und als bloß reagierende, nicht mehr agierende Institution inferiorisieren; das Ethos würde in den Bereich der Gesellschaft abgedrängt
Diese Ansätze entwickelt Waldemar Molinski aus der Sicht der Moraltheologie weiter: „Trotz aller notwendigen Unterscheidungen von Recht und Moral (besteht) ein innerer Zusammenhang zwischen beiden, demzufolge sie wechselseitig voneinander abhängig sind und sich stützen". Das heißt:
— „Bindung des Rechts an Freiheit und Verantwortung der Menschen", grundsätzlich an die Würde der Person; diesen Wert habe der Staat zu garantieren;
— „der Umfang der Bindung des Rechts an die Moral" bemißt sich am „Zentralwert der Personwürde, insbesondere der Gewissensfreiheit, sowie der sozialen Angemessenheit"; „zur Bewältigung der dem Staat eigenen Aufgaben ist nicht bloß ein . ethisches Minimum'nötig, sondern der Staat soll soviel an Sittlichkeit durchsetzen, wie das im Interesse des konkreten Gemeinwohls angemessen ist";
— „der Schutz der dem Recht zugrunde liegenden Grundwerte" ist demzufolge die Aufgabe des Staates, der sich in seiner Bindung an die Sittlichkeit nicht nur damit begnügen darf, die Grundwerte „nur soweit zu verwirklichen, wie sie in der Gesellschaft lebendig sind"; denn — die „Umsetzung der Grundwerte in Recht"
ist eine Aufgabe des Sozialstaats, damit „das Recht, das immer nur in begrenztem Maß den sittlichen Erfordernissen entspricht, die an das Recht im Interesse des Gemeinwohls zu stellen sind, immer gerechter wird". Denn „nur eine in einer Rechtsgemeinschaft zusammengefaßte moralische Gesellschaft und nicht eine bloße Rechtsgemeinschaft hat somit die Chance, eine gerechtere und humanere Gesellschaft zu werden" d) Grundwerte in der katholischen Sozial-lehre Die katholische Soziallehre sieht den Ursprung ihres Auftrags im Willen Gottes, „von dem der Mensch in seinem Gewissen sich angesprochen weiß“. Vor der eigentlichen Benennung der Grundwerte aus dem Wissen um diesen Ursprung steht nach von Nell-Breuning die Erfahrung, daß in einem demokratischen Staat ein totaler Konsens nicht möglich, aber ein Minimalkonsens erforderlich sei, der unter dem Vorzeichen der Toleranz erstrebt werden müsse. Als „ersten Grundwert" erachtet die katholische Soziallehre die Menschenwürde, deklariert das Solidaritäts-und das Subsidiaritätsprinzip als die zwei wesentlichen Sozialprinzipien der Selbsthilfe und wechselseitigen Verantwortung. Mittelpunkt der Soziallehre ist das Gemeinwohl „als einzige tragende Grundlage öffentlicher Gewalt", aus dem „die leitenden Normen demokratischer Staatsführung und demokratischen Parteiwesens zu entwickeln sind". Umstritten bleiben auch in der katholischen Soziallehre die grundsätzliche Wertung und politische Einschätzung der gesellschaftspolitischen Fragen der Staatsintervention, des Koalitionswesens und der Komplex Kapital und Arbeit. Hier bestehen auch innerhalb der Kirche Kontroversen — ein Hinweis auf die Schwierigkeit der Konkretisierung der Grundwerte in Staat, Gesellschaft und Kirche e) Grundwerte und Naturrecht Aus systematischer Sicht stellt sich die Frage, inwieweit sich die Qualifizierung von Grundwerten nach einem bestimmten Denk-und methodischen Prinzip legitimieren lasse. Feil bietet drei Verfahrensmodelle an:
— die Legitimation der Grundwerte von Gott her („theonomes Modell“), — von der Natur des Menschen her („naturrechtliches Modell“)
— oder durch positive Setzung des Menschen („positives Modell“).
Problematisch für Denk-und Verstehensweisen der Gegenwart ist das neuscholastische Naturrechtsprinzip, andererseits erscheint eine reine Legitimation von Gott her aus religiösen und weltanschaulichen Gründen im demokratischen Staat ebensowenig angebracht wie die reine Legitimation vom Menschen her wegen der drohenden Gefahr totalitärer Willkür. Bleibt also nach Feil für die Legitimation der Grundwerte ein abgewandeltes Naturrechtsmodell, das aber nicht rigoros deduziert, „sondern in sich noch einmal entgegengesetzte Einstellungen umfaßt, je nach dem, ob der Glaube an Gott ein-oder ausgeschlossen ist“. Damit beinhaltet dieses Naturrechtsmodell Paradoxien und Antinomien und weicht wesentlich vom neuscholastischen Modell ab
IV. Schweigendes Kirchenvolk — Anlaß zu kritischen Weiterungen
Kirche sind nicht nur Bischöfe, ZdK, Theologen, kirchliche Vereine und Organisationen, sondern vor allem „das Kirchenvolk". Dieser Begriff ist vieldeutig und besagt u. a. die Gemeinschaft aller Mitglieder der Kirche ohne Unterschied von Stellung und Funktion, meint aber gerade jene Mehrheit in der Kirche, die ohne Funktion im Gegensatz zur Elite, zur Obrigkeit, zu organisierten Gruppierungen steht und deren Einstellung zur aktuellen Grundwertediskussion unbekannt ist: Dieses Kirchenvolk schweigt, weil es nicht gefragt, nicht engagiert, nicht interessiert ist — aus welchen Gründen auch immer. Man mag einwenden, daß mit der Einschleusung der Grundwertediskussion in den Wahlkampf nicht nur das Kirchenvolk, sondern das mit diesem teilweise identische Staatsvolk zumindest indirekt Anteil genommen hat, doch bleiben die eindeutigen Positionen, wie sie von der Amts-kirche, dem ZdK und den Theologen bezogen sind, von der Mehrheit der Katholiken her unbekannt. Daran ändern auch Diskussionen zum Thema in vereinzelten Veranstaltungen auf Gemeindeebene nichts.
Letztmalig liegen aus dem Jahre 1971 aus einer Fragebogenaktion bei 4, 4 Millionen Katholiken und einer Repräsentativumfrage bei 4 000 Katholiken anläßlich der Gemeinsamen Synode der bundesdeutschen Bistümer Ergebnisse über die Stellung der Kirche zum heutigen Wertsystem aus der Sicht der Befragten, über deren Verhältnis zur Kirche generell und die Kongruenz der Wertsysteme Kirche und Gesellschaft unter dem Aspekt der Glaubensfestigkeit vor Sie ergeben, daß „die Gläubigen die Kirche und ihr Wertsystem als ein Hindernis zur Verwirklichung ihrer eigenen Wertvorstellungen und Bedürfnisse ansehen" und daß sich „de facto eine solche Disfunktionalität deutlich abzeichnet"
Aus dem Umfrageergebnis von 1971, von dem in der Kirche zur Zeit offiziell nicht mehr gesprochen wird, erhebt sich die Frage, ob nicht im System Kirche, das seine Wertvorstellungen von transzendenten Prinzipien herleitet und auf Grund des eigenen derzeitigen Selbstverständnisses Wertentscheidungen keinen Mehrheitsentscheidungen überlassen kann, in dem „das Volk“ keine Wahlmöglichkeit seiner Obrigkeit besitzt, doch ein intensiver Austausch zwischen dieser und der Mehrheit hinsichtlich der Wertnahme, Wertbildung und -Weitergabe stattfinden sollte Das heißt, daß aus einem schweigenden Kirchenvolk ein kommunizierendes werden müßte, so daß die Bischöfe eine wertbewußte Basis für ihre Wertvorstellungen, -Behauptungen und -forderungen erhielten wie auch die Basis das Bewußtsein erhielte, in die Grundwertediskussion einbezogen zu sein. Hier setzt erneut die Frage nach der politischen Partizipation und der Demokratisierung der Kirche an
Der Dialog zwischen Regierenden und Regierten hat freilich nicht stattgefunden: Kirchen-führer, aber aüch Politiker haben die Grundwertediskussion über diejenigen hinweggeführt, um deren Wohl, Freiheit, Menschenwürde es geht. Auch der Dialog der Kontrahenten funktionierte nicht: Die Diskussion wurde über die Kanäle der Medien oft mehr deklamatorisch, aber nicht am selben Tisch geführt.
Neben dem Mangel an Demokratie liegt ein Mangel an Dialogbereitschaft im kirchlichen wie im politischen Raum vor: Weniger der politische Gegner und seine Meinung werden ernst genommen und erfahren die notwendige Achtung, sondern im Vordergrund steht die eigene Position und die Sorge, sie aufgeben zu müssen
Eine kritische Reflexion der Grundwertediskussion unter den Aspekten von Demokratieverständnis und Dialogbereitschaft steht noch aus.
Dietrich Bäuerle, Dr. phil., geb. 1939; Studium der katholischen Theologie, Politikwissenschaft, Philosophie, Pädagogik und klassischen Philologie; Oberstudienrat am Oberstufengymnasium Herderschule in Kassel; langjähriger freier Mitarbeiter am Pädagogisch-Theologischen Institut Kassel; 1968— 1970 Mitglied des Diözesanausschusses für Schule und Erziehung in Fulda; Kontakt-lehrer im Studiengang Religionswissenschaften der Gesamthochschule Kassel. Veröffentlichungen: Zeitschriften-und Lexikonartikel zur politischen Bildung und Religionspädagogik; Mitherausgeber der Biologisch-sozialkundlichen Arbeitshefte, Leverkusen-Opladen 1972— 78.