Zusammenfassung
Aus Politik und Zeitgeschichte, B 6/79, S. 26— 29
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Aus Politik und Zeitgeschichte, B 6/79, S. 26— 29
Nach dem Impressum sollen „die Veröffentlichungen in der Beilage , Aus Politik und Zeitgeschichte'" „lediglich der Unterrichtung und Urteilsbildung" dienen. Einseitige und falsche Unterrichtung muß zwangsläufig zu Fehlurteilen führen, und das trifft leider auf die Ausführungen von K. Filipp: „Politischer Geographieunterricht — Eine Traditionsauslegung als Beitrag zur Geographiedidaktik" zu. Dieser Sachverhalt ist deshalb besonders bedenklich, weil die Geographie im Rahmen der Beilage leider nur selten berücksichtigt wird. Der Beitrag Filipps fordert zur Stellungnahme heraus. Dabei soll hier nicht auf den Widerspruch eingegangen werden, der aus der Forderung nach Überwindung eines „emotionale(n) Schlagabtausch(s)" (S. 4) einerseits und andererseits aus der Verwendung von Formulierungen wie „hehre(r) Pädagogik" (S. 4), „Geographie der Etablierten" (S. 6f.), „Hinterzimmer ...der Geographischen Institute"
(S. 9) u. a. resultiert.
Die geistige und physische Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt und somit die Erfassung, Bewertung von Gegebenheiten und Problemen in ihren räumlichen Zusammenhängen und Bezügen, die Untersuchung von „Erscheinungen, die sich, in Ansehung des Raumes, zur gleichen Zeit ereignen" (Kant), sind zwar hinsichtlich ihrer Methoden und Zielsetzungen in verschiedenen Gesellschaftsformen und Epochen unterschiedlich, nicht jedoch grundsätzlich. Geographie ist somit keineswegs als Wissenschaft die „Abkunft aus dem Bürgertum" (Filipp, S. 3) — was auch immer darunter verstanden werden soll.
Auch geographischer Unterricht ist keineswegs so eindeutig terminiert, wie der Hinweis Filipps auf den Beschluß des Deutschen Geographentags 1881 (S. 5) vermuten läßt: In der neueren deutschen Bildungsgeschichte wird Geographie bereits im 17
Auch geographischer Unterricht ist keineswegs so eindeutig terminiert, wie der Hinweis Filipps auf den Beschluß des Deutschen Geographentags 1881 (S. 5) vermuten läßt: In der neueren deutschen Bildungsgeschichte wird Geographie bereits im 17. Jahrhundert als Unterrichtsfach an Gymnasien eingeführt. 1833 ist sie wie Geschichte obligatorisches Standardfach an den Höheren Schulen in Sachsen etc. Einführung und Intensivierung geographischen Unterrichts forderten etwa Melanchthon, Cochläus, Chr. Weise, Come-nius, Herder, Pestalozzi, Kant. Die „Tradition" der Geographie wird von Filipp sehr eng und einseitig ausgelegt. Er greift in seinen Ausführungen vorwiegend auf Ratzel zurück, und es ist zu fragen, warum Namen wie Alexander von Humboldt, Carl Ritter, Albrecht Penck, Ferdinand von Richthofen etc. nicht berücksichtigt werden, die doch die Geographie in Wissenschaft und Unterricht zum Teil nachhaltiger beeinflußt und repräsentiert haben als Ratzel. Zudem wird dieser falsch interpretiert, denn im Gegensatz zu vielen Geopolitikern hat er gerade die Unterschiede zwischen Staat und Organismus betont 1).
Trotz seiner bedeutenden, von Filipp nicht erwähnten „Anthropogeographie" kann Ratzel keineswegs als der „Altmeister der Geographie" bezeichnet werden. Auch Filipps Vorwurf, die deutsche Geogaphie habe die Wirtschaft nur unzureichend beachtet und bearbeitet, ist nicht haltbar. Einige Beispiele mögen genügen: 1929/30 erschien nach mehreren Vorarbeiten der Wirtschaftsatlas von E. Tiessen 2), in dem erstmalig und in geradezu modern anmuten-der Weise quantitative und quantifizierbare Elemente und Methoden in Wirtschaftskarten verwendet wurden. Etwa zu gleicher Zeit legte Alfred Rühl sorgfältige Studien über den Wirtschaftsgeist in verschiedenen Regionen vor. 1931 stellte E. Fels den „Einfluß der Wirtschaft auf Naturhaushalt und Lebewelt" fest und nahm damit wesentliche Ansätze der heutigen Umweltforschung vorweg 3). Schließlich seien die Forschungen Albrecht Pencks über die Tragfähigkeit der Erde erwähnt, die bereits 1925 noch heute relevante Probleme in den Griff nahmen.
Stärker noch als Ratzel wird von Filipp W. H. Riehl überbewertet, und sehr überspitzt stellt er die Siedlungsgeographie heraus. Die For-mel, daß eine (sehr einseitig und eklektisch dargestellte) Siedlungsgeographie Teil der Anthropogeographie sei und diese somit sozioökonomische Aspekte vernachlässige, ist verkürzt. Weder repräsentieren Ratzel und Riehl die Geographie schlechthin, noch definieren unzusammenhängende und willkürlich zitierte Auffassungen über Siedlungsgeographie die Anthropogeographie.
Filipp reduziert die Tradition der deutschen Geographie auf wenige Autoren, deren Veröffentlichungen er zudem einseitig auswählt und interpretiert. Daraus schließt er auf die „Anthropound Landschaftsgeographie", diese wiederum wird „sehr eng mit den geisteswissenschaftlichen Grundströmungen in Deutschland verbunden" (S. 15), die „in die Sphäre der vermeintlich geschützten und deshalb emotionsgeladenen Innerlichkeit" flieht und „die Angst des mittelständischen Bildungsbürgertums vor gesellschaftlichen Konflikten und Krisen des Kapitalismus" (erinnert das nicht fatal an das „Zittern der morschen Knochen"?) „reproduziert". Eine derartige Kette unbewiesener und unvollständiger Reduktionen und Deduktionen kann auch mit dem offensichtlichen parteiischen Engagement Filipps nicht mehr entschuldigt werden.
Die Entwicklung der geographischen Fachdidaktik während der letzten zehn Jahre nimmt Filipp kaum zur Kenntnis. So erklärt er, das 1972 aufgelegte Lehrbuch „Länder und Völker" gehöre zu den Büchern, „wie sie vor allem in der Schule benutzt werden“ (Hervorheb. vom Verf.), obgleich seither zahlreiche neuentwickelte Lehrbuchwerke
Sie beruhen, wie auch die Curricula fast aller Bundesländer, auf Grundsätzen und Empfehlungen zu Richtlinien und Lehrplänen, die der Verband Deutscher Schulgeographen im Zusammenwirken zahlreicher Fachkollegen aus allen Schularten entwickelt hat
Das Ziel geographischen Unterrichts liegt nach den Empfehlungen von 1975 „vornehmlich in der Vermittlung von Fähigkeiten und Fertigkeiten zu selbständiger Verarbeitung, Ordnung und Beurteilung" von „Informationen und zur Einsicht in die Probleme räumlicher Ordnungen". Weiter heißt es: „Die Fähigkeit zum verantwortungsbewußten Handeln, zu Selbstbestimmung und Mitgestaltung wird dadurch entscheidend gefördert."
In diesem Zusammenhang ergeben sich Forderungen an das Schulfach in Form von kognitiven und instrumentalen Lernzielen, die sich gegenseitig bedingen.
Gerade in dieser wechselseitigen Verflechtung liegt eine besondere pädagogische Bedeutung. Allgemeine kognitive Lernziele geographischen Unterrichts sind:
1. Erkennen von verschiedenen Lebensformen (zum Beispiel unterschiedliche Nutzung gleichartiger naturräumlicher Potentiale durch verschiedene Gruppen).
2. Das Beziehungsgefüge zwischen Gesellschaft und Raum unter besonderer Berücksichtigung differenzierter und sich wandelnder Zielvorstellungen der Gesellschaft begreifbar zu machen (zum Beispiel Wertwandel von Räumen durch gesellschaftliche und technische Entwicklungsprozesse).
3. Grundeinsichten in die Phänomene und Probleme naturwissenschaftlicher Gesetzmäßigkeit, biotischer Regelhaftigkeit und menschlicher Entscheidungsfreiheit (zum Beispiel stabile und labile Regelkreise und ihre Störungen).
Allgemeine instrumentale Lernziele des geographischen Unterrichts sind:
1. Räumliche Orientierungshilfen und entsprechende Ordnungssysteme, die für eine selbständige Gewinnung, Einordnung und Bewertung einschlägiger Informationen erforderlich sind .. .
2. Einführung in fachspezifische Arbeitsweisen und durch Übung den selbständigen, sachgemäßen und kritischen Umgang mit Arbeitsmitteln ermöglichen . ..
3. Anwendung geographischer Arbeitsund Untersuchungsmethoden in der unmittelbaren Begegnung mit der Umwelt zur Förderung und Anwendung gezielter Wahrnehmung .. . Die Betrachtungsweise -des geographi schen Unterrichts ist vorwiegend räumlich funktional. Seine Gegenstände sind Wirkungsgefüge in regionalen Einheiten, geographische Modelle und räumliche Ordnungssysteme. Die Erde wird zugleich als Verfügungsraum des planenden und wirtschaftenden betrachtet und unter Einschluß der Folgewirkungen menschlicher Eingriffe auf das ökologische Gleichgewicht untersucht. Raumwirksamkeit und Raumgebundenheit politischer Aktivitäten und Prozesse sind Schwerpunkte geographischen Unterrichts. Einem so konzipierten Unterricht entsprechen in besonderem Maße Problemkreise wie Bevölkerungswachstum und Tragfähigkeit des Raumes, regionale Mobilität, Verstädterung, Agglomeration, räumliche Disparitäten, Stadtplanung, Raumordnung, Regionalpolitik, Probleme der Entwicklungsländer und Entwicklungspolitik, Geo-Okologie und Umweltschutz, allgemeine und regionale Wirtschaftsgeographie, Welthandel und Weltwirtschaft, Politische Geographie der Staaten.
Der geographische Unterricht vermittelt fachliche Kenntnisse und Fertigkeiten, die als Grundlage der Erfassung komplexer Zusammenhänge dienen können und die durch fachspezifische Methoden zu erarbeiten sind. Aus alledem ergibt sich die Forderung nach einem eigenständigen Fachunterricht sowohl in der Sekundarstufe I als auch in der Sekundarstufe II.
Daneben behandelt der geographische Unterricht fächerübergreifende Probleme, die von verschiedenen Fachaspekten aus — auch in Kooperation — anzugehen sind. Solche Probleme überwiegen in den Abschlußklassen der Haupt-und Realschule und im Grundbereich der Sekundarstufe II. Die Geographie kann hier mit anderen Schulfächern zusammenarbeiten. Aber nur unter Anwendung fachspezifischer Methoden wird eine fachwissenschaftlich abgesicherte Behandlung fächerübergreifender Themen erfolgen können und kann die Gefahr des Dilettantismus vermieden werden. Eine Integration der Geographie in ein neues Einheitsfach Gesellschaftslehre ist daher auf allen Stufen abzulehnen." (Empfehlungen, ebenda.)
Die letzten Bemerkungen zielen auf die Hessischen Rahmenrichtlinien und sind wohl mehr als ein „Raunen und Fragen durch die Geographen-und Schulgeographentage", wie Filipp (S. 15) registriert haben will. (Vgl. auch K. E. Fick, Erdkunde mangelhaft, FAZ vom 4. 10. 1978.)
Die sozialgeographische Komponente, die Behandlung der Daseinsgrundfunktionen, fehlt heute in keinem Curriculum. Auch insofern ist die Behauptung Filipps falsch: „Der sozial-geographische Ansatz ist in einer Geographie verebbt, die ängstlich auf Anpassung bedacht ist" (S. 16). Allerdings kann die sozialgeographische Betrachtungsweise nicht so weit gehen, daß „das Weltverständnis . . . mit der Veränderung der Länderkunde zugunsten von Umwelt zurücktreten müßte" (S. 12). Gerade ein der politischen Bildung verpflichteter Geographieunterricht kann auf länderkundliche Verfahren nicht verzichten, deren Ziel freilich nicht auf ganzheitliche Erfassung, sondern auf komplexe Behandlung raumrelevanter Sachverhalte und Probleme und ihre regionale Zusammenhänge gerichtet ist. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, daß die Vorenthaltung länderkundlicher Informationen und die Einschränkung entsprechender Kenntnisse als politisches Herrschaftsinstrument anzusehen ist. So wurde von der deutschen Protektoratsverwaltung in Prag 1939 jede länderkundliche Unterweisung über die Slowakei im Unterricht untersagt, um damit das tchechoslowakische Staats-Bewußtsein abzubauen (mündliche Mitteilung von Prof. Janka, Prag). Hitler erklärte, daß in den besetzten Ostgebieten die nicht-deutschen Kinder nur etwas Deutsch lesen und schreiben lernen sollten, um die sprachlichen Voraussetzungen für die deutsche Führung zu schaffen. „Unterricht im Rechnen ist überflüssig, für den Geographieunterricht genügt das Wissen, daß die Hauptstadt des Reiches Berlin heiße und jeder einmal in seinem Leben in Berlin gewesen sein müsse" (Tischgespräche, zitiert bei Thilenius, 1957, S. 45. Vgl. auch die Denkschrift Reichsführer SS Himmler vom Mai 1940
Die starke Vernachlässigung länderkundlicher Themen, wie sie Filipp an mehreren Stellen seiner Veröffentlichung fordert, geht an den Bedürfnissen der Gesellschaft vorbei, wie nicht zuletzt die Zunahme von Publikationen beweist, die im weitesten Sinne und auf unterschiedlichem Niveau entsprechende Themen behandeln. Die oft geforderte Gesellschaftsrelevanz des Unterrichts sollte derartige Bedürfnisse berücksichtigen und sich weniger darauf beziehen, was einige Präzeptoren als für die Gesellschaft dienlich bezeichnen.
Filipp bleibt den Beweis dafür schuldig, weshalb ein damit verbundenes wertfreies Erkennen und Beurteilen von räumlichen Sachzusammenhängen gegenwärtig nicht mehr möglich sein soll (S. 15) bzw. nicht mindestens angestrebt werden darf. Selbstverständlich hat die durch verschiedene Ursachen — vor allem den Einfluß der Massenkommunikationsmittel — bedingte Aufhebung der Kongruenz von realen und psychischen Distanzen zur Folge, daß im Unterricht nicht mehr ein von der Nähe zur Ferne abgestuftes Weltbild ausgebreitet werden kann, wie das noch um die Jahrhundertwende vor allem von Elementarschuldidaktikern gefordert wurde. Aber die Informationen der eben erwähnten Massen-kommunikationsmittel sind qualitativ sehr unterschiedlich, teils zufällig, auch bewußt selektiert und gezielt, so daß die Vorstellungen von regionalgeographischen Gegebenheiten, und Problemen beim Schüler desolat vor-geprägt sind. Deshalb obliegt dem geographischen Unterricht die Funktion, ein wenigstens teilweise irreales Weltbild zu korrigieren, indem er sachkompetent Supplemente liefert und so qualitative und quantitative Informationsmängel kompensiert. Jedenfalls kann der Geographieunterricht zumal angesichts der Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft und Politik von internationalen Märkten und Interessen nicht nur vorrangig auf Umweltuntersuchungen beschränkt werden.
Schule ist auch nicht in dem Sinne Vorwegnahme der Berufsausbildung, daß es vertreten werden kann, „Schulgeographie" und „Berufsgeographie" gleichzusetzen. Schule ist außer-dem, was Filipp übersieht bzw. polemisch glossiert (S. 4), eine Institution des Staates. Schulpflicht bedingt staatliche Schulaufsicht, und das ist auch curriculare Kompetenz. „Schließlich setzt die Bejahung der staatlichen Schule als Regelschule übergreifende Regelungen voraus"
Im Zusammenhang mit der Orientierung des Schulwesens an Werten und Normen des Grundgesetzes bedürfen die Auffassungen Filipps über „bürgerliche" Normen, Emanzipationsdidaktik etc. einer besonderen Betrachtung, die den Rahmen dieser Stellungnahme allerdings sprengen würde. Hier sei noch die Frage aufgeworfen, ob es angebracht ist, eine Zeitschrift deswegen anzuprangern, weil sie „handfeste Hilfen für die unmittelbare Praxis des Geographieunterrichts der Sekundarstufe I bieten..." will (Filipp, S. 16 f.). Die Lehrer im Schulalltag, die nicht über Privilegien hinsichtlich Arbeitszeit und personeller wie apparativer Ausstattung verfügen, brauchen praktikable und nachvollziehbare Unterrichts-beispiele. Denn sie sollen eine in den letzten Jahren gründlich erneuerte fachdidaktische Konzeption realisieren, die sich den gegenwärtigen und künftigen Anforderungen von Individuum, Staat und Gesellschaft verpflichtet weiß, ohne in eine klassenkampforientierte Position zu verfallen. „Die Lehrer dieses Landes", so formuliert Walter Scheel, „haben sich an die Verfassung zu halten, und die Länderregierungen haben die Pflicht, die Voraussetzungen dafür zu schaffen ..
Heinz W. Friese, Dr. rer. nat., geb. 1930 in Dresden; Studium der Geo-graphie, Geschichte, Anthropologie und Philosophie an der TH Dresden und FU Berlin; Oberstudiendirektor; Vorsitzender des Beirates für politische Weltkunde, Sozial-und Wirtschaftswissenschaften beim Senator für Schulwesen Berlin; seit 1978 1. Vorsitzender des Verbandes Deutscher Schulgeographen e. V. Zahlreiche Veröffentlichungen, besonders zur Didaktik der Geographie, Wirtschaftsgeographie, USA. U. a.: Wirtschaftsgeographie im Unterricht, Stuttgart 1971®; (zus. mit B. Hofmeister) Die USA, Frankfurt 19774; Mitautor von List Großer Weltatlas, München 19783; Herausgeber von List Geographie Oberstufenthemen.