Die sozialdemokratischen Parteien der EG vor den Direktwahlen
Guntram von Schenck
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Zusammenfassung
Die sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien in der Europäischen Gemeinschaft (EG), die bereits seit 1957 ein Verbindungsbüro unterhalten, haben sich 1974 im „Bund der sozialdemokratischen Parteien in der EG“ zusammengeschlossen. Heute gehören dem Bund elf Parteien an, die in ihrer Bedeutung, Struktur und Programmatik Unterschiede aufweisen, die auf die spezifische Geschichte der einzelnen Mitgliedstaaten zurückzuführen sind. Deshalb werden die Parteien kurz dargestellt. Die Unterschiede betreffen u. a. das Verhältnis zu den kommunistischen Parteien. SPD und britische Labour Party lehnen jede Zusammenarbeit ab, während die anderen Parteien in Abstufungen eine Zusammenarbeit nicht ausschließen. Umstritten ist auch die Frage, ob die EG in Konfrontation zu den USA oder in enger Zusammenarbeit mit den USA aufgebaut werden soll. Schließlich steht zur Debatte, ob künftig ein „sozialer Ausbau" oder eine „sozialistische Transformation" Europas angestrebt werden soll. Die unterschiedlichen Auffassungen werden in den Begriffen „mediterraner" oder „nordischer" Sozialismus zusammengefaßt. Die Unterschiede dürfen freilich nicht überbewertet werden. Die gemeinsamen, in der europäischen Arbeiterbewegung wurzelnden Grundüberzeugungen machen aus dem „Bund der sozialdemokratischen Parteien der EG" eine geschlossene politische Kraft, die für den Einigungsprozeß Europas unentbehrlich ist. Der „Entwurf einer Wahlplattform", die gewissermaßen den Minimalkonsens der europäischen Sozialdemokraten darstellt, die „Politische Erklärung" vom 23. Z 24. Juni 1978 und der „Wahlaufruf“ vom 12. Januar 1979 dokumentieren die Einigkeit der europäischen Sozialdemokraten in den grundlegenden Fragen der europäischen Politik.
I. Einführung
In den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft (EG) werden sich an den Direkt-wahlen zum Europäischen Parlament rund 60 bis 70 nationale Parteien beteiligen. Einige größere Parteien, aber auch einige kleinere werden versuchen, sich allein durchzusetzen; die meisten der größeren, aber auch einige der kleineren Parteien werden allerdings in grenzüberschreitenden Bündnissen und mit übernationalen Wahlplattformen in den Wahlkampf eintreten. Drei Parteigruppierungen haben sich jetzt herausgebildet: eine sozialistische oder sozialdemokratische eine christ-demokratische und eine liberale.
Die sozialdemokratischen Parteien waren die ersten, die zusammenarbeiteten; sie hatten auch die geringsten Identitätsprobleme. Die Sozialistische Internationale gründete schon im Jahre 1957 ein Verbindungsbüro für ihre Mitgliedsparteien in der EG, das 1974 in den Bund der sozialdemokratischen Parteien umgewandelt wurde, um den neuen Aufgaben gerecht werden zu können. Der erste Vorsitzende des Bundes wurde Wilhelm Dröscher, Präsidiumsmitglied der SPD. Das Prinzip der Internationale war immer gewesen, daß es nur eine Mitgliedspartei je Land geben sollte. Außerhalb der Diskussion stand deshalb die Aufnahme einiger der kleinen Parteien links von der Mitte, die mit der sozialistischen Fraktion im Europäischen Parlament zusammenarbeiteten; das gleiche galt für einige kleine linkssozialistische oder sozialdemokratische Splitterparteien.
Mitgliedsparteien im Bund der sozialdemokratischen Parteien sind:
Belgien Parti Socialiste Beige (wallonisch) Belgische Socialistische Partij (flämisch) Dänemark Sozialdemokratiet Bundesrepublik Deutschland Sozialdemokratische Partei Deutschlands Frankreich Parti Socialiste Irland Irish Labour Party-Luxemburg Parti Ouvrier Socialiste Luxembourgeois Niederlande Partij van de Arbeid In Großbritannien gibt es aufgrund besonderer nationaler Gegebenheiten zwei Mitglieds-parteien: Labour Party (England, Schottland, Wales) Socialdemocratic and Labour Party (Nordirland In Italien sind zwei Parteien Mitglied, da sich die Sozialisten 1969 erneut gespalten haben:
Partido Socialista Italiano Partido Socialista Democratico Italiano Die sozialdemokratischen Parteien, die dem Verbindungsbüro angeschlossen waren, haben seit 1957 nicht weniger als neun Kongresse veranstaltet. Der letzte geht allerdings schon auf das Jahr 1973 zurück. Notwendigerweise ließ die engere Kooperation auch die unterschiedlichen Auffassungen stärker hervortreten, die das Bemühen um eine Einigung über die künftige politische Entwicklung der Gemeinschaft erschwerten. Im folgenden sollen die Parteien des Bundes der sozialdemokratischen Parteien kurz charakterisiert werden Dabei wird mehr Gewicht auf die Parteien gelegt, die gemeinhin weniger bekannt sind; der den einzelnen Parteien gewidmete Raum ist demnach kein Indiz für die jeweilige politische Bedeutung.
II. Die sozialdemokratischen Parteien in der EG
1. Belgien Die heutige Belgische Sozialistische Partei geht durch Umbenennung aus dem 1885 gegründeten Parti Ouvrier Beige hervor. Ursprünglich sehr radikal (Abschaffung des Kapitalismus, Vergesellschaftung der Produktionsmittel etc.), haben sich die belgischen Sozialisten nach dem Zweiten Weltkrieg einem „Harmoniemodell" genähert, das mittels einer „sozialen Programmierung" soziale Konflikte abbauen helfen sollte. Die Partnerschaft zwischen Unternehmern und Arbeiterschaft war Grundlage dieses Modells. In jüngster Zeit ist allerdings eine erneute Radikalisierung festzustellen, die von der den Sozialisten nahe-stehenden Gewerkschaft, dem Allgemeinen Belgischen Arbeiterbund (ABVV — FGTB), ausgeht. Die mehrfache Ablehnung der Mitbestimmung nach deutschem Muster durch die belgischen Sozialisten unterstreicht diese Tendenz. Trotz des belgischen Sprachenstreits zwischen Flamen und Wallonen, der bei den anderen Parteien sehr schnell auch zu erheblichen ideologischen Differenzen geführt hat, konnten die belgischen Sozialisten die Einheitsstruktur ihrer Partei bis November 1978 erhalten; seitdem sind der Parti Socialiste Beige (wallonisch) und die Belgische Socialistische Partij (flämisch) voneinander unabhängige Parteien. Ihre Bemühungen, bei der Föderalisierung Belgiens als treibende Kraft hervorzutreten, haben sich nicht ausgezahlt.
Bei den vorgezogenen Neuwahlen vom 17. Dezember 1978 verloren die Sozialisten vier Mandate und haben jetzt 58 Parlamentssitze. Nach der christlichen Volkspartei mit 82 Sit-. zen und vor der Liberalen Partei mit 36 Mandaten sind die belgischen Sozialisten nach wie vor die zweitstärkste Fraktion im belgischen Parlament. Insgesamt waren die Sozialisten seit 1944 neunmal an der Regierung beteiligt. 2. Dänemark Die Sozialdemokratische Partei Dänemarks, gegründet 1871, ist seit 1884 im dänischen Parlament vertreten. Seit 1924 ist sie zudem stärkste Partei im Land. Bei den letzten Wahlen im Februar 1977 konnte sie 37, 1 °/o der Stimmen erringen und bildet damit einen starken Block in der sehr zersplitterten dänischen Parteienlandschaft, dem oft die Regierungsmacht (auch als Minderheitsregierung) zufällt. Links von den Sozialdemokraten gibt es allein drei Parteien: die orthodox-kommunistische Partei, die schon 1930 einmal im Parlament vertreten war, aber 1960 alle Mandate wohl infolge der Ungarnkrise und der unbewältigten Probleme des Stalinismus wieder verlor; die Linkssozialisten, die sich von der Sozialistischen Volkspartei abspalteten, und die Sozialistische Volkspartei. Zusammen erreichten die sozialistischen Parteien in Dänemark 1977 47, 5 °/o der Stimmen. Gegenwärtig regiert die Sozialdemokratische Partei mit den bürgerlichen Parteien in einer inoffiziellen Mehrheitskoalition.
Früher eine marxistische Partei, ist die dänische Sozialdemokratie heute eine linke Reformpartei, die sich zu den Grundwerten Freiheit, Gleichheit und Solidarität bekennt. Die Demokratie ist aus ihrer Sicht nur gewährleistet, wenn wirtschaftliche Macht demokratisch kontrolliert wird. In der Europafrage ist die Mehrheit zwar prinzipiell für eine Mitgliedschaft in der EG, aber nur mit der Perspektive, daß die EG im Sinne des demokratischen Sozialismus ausgebaut wird. Eine nicht unerhebliche Minderheit spricht sich allerdings gegen die Mitgliedschaft Dänemarks in der EG aus. Traditionell wird die Sozialdemokratie von den Gewerkschaften unterstützt. Seit Anfang der siebziger Jahre muß sie diese Unterstützung allerdings mit den links von ihr stehenden sozialistischen Parteien teilen Im übrigen gibt es nur wenige Doppelmitgliedschaften in Partei und Gewerkschaften. 3. Bundesrepublik Deutschland Als Gründungsdatum der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands wird allgemein 1863 angenommen (Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein). Die SPD war bis zum Ersten Weltkrieg die größte und am besten organisierte Partei der 2. Internationale. Die großen theoretischen Auseinandersetzungen, die auch heute noch den ideologischen Kampf in den Arbeiterparteien bestimmen, sind in der SPD bis in den Ersten Weltkrieg exemplarisch ausgetragen worden. Das weiterhin große internationale Ansehen der SPD kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, daß der Vorsitzende der deutschen Sozialdemokratie, Willy Brandt, auch Vorsitzender der Sozialistischen Internationalen ist. Bei den Wahlen im Oktober 1976 konnte die SPD 42, 6 0/0 der Stimmen und 214 Mandate erringen (1972: 45, 8 °/o und 230 Mandate). Sie stellt zusammen mit der FDP seit 1969 die Bundesregierung.
Nach dem Zweiten Weltkrieg stagnierte die SPD lange Zeit; erst mit Verabschiedung des Godesberger Programms 1959 begann der Durchbruch. Die SPD tritt für einen demokratischen, freiheitlichen Sozialismus ein. Aus diesem Grunde grenzt sie sich scharf vom Kommunismus ab und lehnt jede Zusammenarbeit ab. Zusammenballungen wirtschaftlicher Macht, die zur politischen Macht zu werden drohen, sollen über die Mitbestimmung kontrolliert werden; die Mitbestimmung ist darüber hinaus ein Gestaltungsprinzip der Demokratie, dem ein Eigenwert zukommt. In Fort-entwicklung des Godesberger Programms hat die SPD ihre politischen Zielvorstellungen im „Orientierungsrahmen '85" festgelegt. Die deutsche Sozialdemokratie ist dezidiert pro-europäisch; es gibt in ihr keine Kräfte, die den europäischen Zusammenschluß ablehnen. Frankreich Die Sozialistische Partei Frankreichs 4) ist eine Neugründung, die 1971 in Epinay zustande kam. In der neuen Sozialistischen Partei aufgegangen war die SFIO (Section Franaise de l’Internationale Ouvriere), die seit ihrer Gründung 1905 den französischen Sozialismus im wesentlichen repräsentiert hatte. Die SFIO, die schon in der 4. Republik (1946 bis 1958) deutliche Zeichen des Niedergangs erkennen ließ, die sich in Mitglieder-und Wählerschwund ausdrückten, verlor nach der Machtergreifung de Gaulles 1958 immer mehr an Boden. Unfähig, die neuen, vom Gaullismus geschaffenen Tatsachen zu verarbeiten, erstarrte die SFIO zu einer toten Parteimaschinerie, die in die Geschicke Frankreichs nur noch am Rande eingreifen konnte. Den absoluten Tiefpunkt erreichte der französische Sozialismus 1969, als die beiden sozialistischen Präsidentschaftskandidaten Gaston Defferre (SFIO) und Michel Rocard (PSU) gemeinsam nur 9 Prozent der Stimmen erhielten.
Der Parteitag 1971 in Epinay, auf dem sich einige Clubs und Diskussionszirkel, die dem Sozialismus nahestanden — u. a. auch die Convention des Institutions Republicaines von Francois Mitterrand —, zur neuen Parti Socialiste (PS) zusammenschlossen (der Namenswechsel in Parti Socialiste statt SFIO war schon 1969 vorgenommen worden), führte zu einer grundlegenden Erneuerung und Neuorientierung des französischen Sozialismus. Entscheidend für das Gelingen der Neugründung war der Grundkonsens, mit den französischen Kommunisten (KPF) ein Bündnis einzugehen, sowie ein Höchstmaß an innerparteilicher Demokratie, das alle Strömungen zur Geltung kommen ließ. Die Wahl Francois Mitterrands zum Vorsitzenden der neuen Partei sollte sich als besonderer Glücksfall erweisen.
Bereits 1972 hat die PS ein Bündnis mit der KPF und den Linksliberalen abgeschlossen (Linksunion), das ein „Gemeinsames Regierungsprogramm" und eine Wahlabsprache vorsah, die angesichts des französischen Wahlrechts notwendig war. Die Zukunft der Sozialisten in diesem Bündnis blieb zunächst ungewiß, konnte doch niemand vorhersehen, ob der Wähler jetzt nicht auch die PS mit der gleichen Ablehnung strafen würde wie die KPF. Die Hoffnungen der Sozialisten wurden jedoch über ihre eigenen Erwartungen hinaus erfüllt: die PS mauserte sich bis 1977 vom Juniorpartner der KPF zur selbstbewußten stärksten Partei Frankreichs, indem sie bei den Gemeinderatswahlen im Frühjahr 1977 ca. 30 Prozent der Stimmen erhielt (KPF: 21 Prozentt). Der Präsidentschaftskandidat der PS, Francois Mitterrand, verfehlte 1975 nur um ein halbes Prozent die absolute Mehrheit. Bei den Parlamentswahlen vom März 1978 erfüllten sich die hochgeschraubten Erwartungen für die PS jedoch nicht; gleichwohl blieb sie mit 22, 78 Prozent stärkste Partei der Linken (KPF: 21, 25 Prozent).
Die Ideologie der PS ist gekennzeichnet durch die Abgrenzung gegenüber dem Kommunismus einerseits und der Sozialdemokratie mitteleuropäischer oder skandinavischer Prägung andererseits. Den Kommunisten wirft die PS bürokratisches Denken und Handeln, einen völligen Mangel an innerparteilicher Demokratie und ein unzureichendes Eintreten für die bürgerlichen Freiheiten vor. Die mitteleuropäische und skandinavische Sozialdemokratie wird von der PS kritisiert, weil sie es aufgegeben habe, den Kapitalismus zu überwinden; die PS versteht sich hingegen — zumindest in der Theorie — als konsequent antikapitalistische Partei. Es genügt ihr nicht, konkrete Verbesserungen für die Arbeiterschaft zu erreichen, solange das kapitalistische System weiterexistiert.
Ideologisch macht sich die PS zum Sprecher einer Art „mediterranem Sozialismus", der die Gegebenheiten in diesen Ländern, wo die kommunistischen Parteien ein politischer Faktor sind, berücksichtigt. Als eigener Beitrag der PS zur sozialistischen Theorie ist die Idee der Selbstverwaltung zu nennen, die die PS zu einem wesentlichen Bestandteil ihres Programms gemacht hat. übernommen hat die PS diese Vorstellungen weitgehend von der CFDT (Confederation Francaise du Travail), der zweitgrößten Gewerkschaft Frankreichs (ca. 800 000 — 900 000 Mitglieder), die den Sozialisten nahesteht. Die größte Gewerkschaft, CGT (Confederation Generale du Travail: ca. 2, 5 Millionen Mitglieder), hingegen ist prokommunistisch. Die Mitbestimmung nach deutschem Vorbild wird von der PS und der CFDT strikt abgelehnt.
Die PS tritt für die Einigung Europas ein. Die Europafrage war in der Linksunion stets ein latenter Streitpunkt mit der KPF gewesen, da diese der EG — im Gegensatz zur KP Italiens und Spaniens — mit größter Reserve gegenübersteht. Der nicht unerhebliche linke Flügel der PS, der sich im CERES zusammengeschlossen hat und immerhin rund 25 Prozent der Delegierten auf den Parteitagen hinter sich bringen kann, nimmt ebenfalls eine äußerst kritische Haltung gegenüber der EG ein: Er sieht in der EG nur wenig Chancen für eine Veränderung im Sinne des demokratischen Sozialismus und erblickt darin eher einen Hemmschuh für die autonome Entwicklung Frankreichs zum Sozialismus. Die kritische Einstellung des CERES gegenüber Europa ändert an der proeuropäischen Grundorientierung der PS freilich nichts; Mitterrand sieht in der europäischen Einigung die große Chance unseres zu Ende gehenden Jahrhunderts.
Die Linksunion, die die PS 1972 eingegangen war, hatte immer schon Risse gezeigt: Im Herbst 1977, als sich die PS mit der KPF und den Linksliberalen um eine Aktualisierung des „Gemeinsamen Regierungsprogramms" zur Vorbereitung der Parlamentswahlen bemühte, erweiterten sich die Risse zum Bruch. Obwohl alle Meinungsumfragen der Linksunion einen Wahlsieg prognostizierten, konnten sich die Linksparteien nicht rechtzeitig auf ein Programm einigen und trafen jede für sich allein die Wahlvorbereitungen. In der Konsequenz hat die französische Linke im März 1978 eine Niederlage erlitten. Die Sitzverteilung von 200 Abgeordneten (PS: 104, KPF: 86, Linksradikale: 10) gegenüber 290 für die Rechte spiegelt den Stimmenanteil freilich nicht adäquat wider, da auf die Linke im zweiten Wahlgang immerhin 49, 3 Prozent der Stimmen entfielen. Welche Auswirkungen die Niederlage für das Verhältnis zwischen französischen Sozialisten und Kommunisten auf längere Sicht haben wird, ist derzeit noch offen. 5. Irland Die irische Labour Party ist — wie in England — als politische Organisation der Gewerkschaften entstanden. Sie konstituierte sich 1911 als „Trade Union Congress and Labour Party". Nur nach und nach gelang es der irischen Labour Party, sich organisatorisch von den Gewerkschaften zu lösen und eine gewisse Eigenständgikeit zu erreichen. Sinnfällig kam dieser Abnabelungsprozeß 1930 in der Umbenennung in „Irish Labour Party" zum Ausdruck. Die irische Labour Party versteht sich ideologisch als Klassenkampfpartei und ist damit im irischen Parteienspektrum die einzige Partei mit einer ideologischen Fundierung ihres Programms.
Die irische Labour Party ist die kleinste Partei im irischen Parteiensystem, das einen hohen Grad von Stabilität aufweist. Gegenwärtig koaliert sie mit der Fine Gael (gälischer Stamm), die aus der irischen Befreiungsbewegung hervorgegangen ist. In der Opposition befindet sich die radikale Fianna Fail (Soldaten des Schicksals), die ebenfalls in der irischen Befreiungsbewegung wurzelt. Die Labour Party bildet im irischen Parlament — ähnlich wie in Deutschland die FDP — das Zünglein an der Waage. Die Fianna Fail ist deshalb bestrebt, das Wahlrecht zu ändern und statt des Verhältniswahlrechts das Mehrheitswahlrecht einzuführen, das ihr mittels einer weitgehenden Ausschaltung der Labour Party die absolute Mehrheit der Parlamentssitze bringen würde. 6. Luxemburg Die Sozialistische Partei Luxemburgs ist im Jahre 1901 gegründet worden. Die größte Krise ihrer Geschichte machte die Partei unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg durch, als sich die Führung nicht entschließen konnte, ob sie für die Annexion des Landes durch Frankreich stimmen sollte. Außerdem hatte sich die Partei für die Umwandlung des Großherzogtums in eine Republik ausgesprochen; in einer Volksabstimmung wurde dies jedoch abgelehnt. Nur geringen Schaden hat der Partei bisher der Ausschluß rechtsstehender Mitglieder im Jahre 1970 zugefügt, die eine Sozialdemokratische Partei gründeten. Die neue Sozialdemokratische Partei konnte 1974 auf Anhieb fünf Mandate erringen; die Sozialistische Partei verlor allerdings nur einen Sitz. Die Sozialdemokraten machen einen Links-ruck der Sozialistischen Partei in den sechziger Jahren für die Auseinandersetzungen verantwortlich, die zu ihrem Ausschluß geführt hätten.
Seit den Kammerwahlen von 1974 befinden sich die Sozialisten in einer Koalitionsregierung mit den Liberalen. Damit ist die Christlich-Soziale Partei Luxemburgs seit fast 50 Jahren zum ersten Mal nicht mehr an der Regierung beteiligt. Seit dem Zweiten Weltkrieg hatten sich die von der Christlich-Sozialen Partei gehaltenen Kammersitze allmählich verringert, während die Sozialisten langfristig ihren Einfluß vergrößern und ausbauen konnten. Den entscheidenden Sprung machten sie Anfang der fünfziger Jahre, als sie ihre Parlamentssitze von elf auf 19 erhöhen konnten. Die Sozialistische Partei Luxemburgs ist entschieden proeuropäisch und nimmt im politischen Spektrum des Bundes sozialdemokratischer Parteien eine vermittelnde Haltung ein. 7. Niederlande Im Jahre 1894 wurde in den Niederlanden die Sozialdemokratische Arbeiterpartei gegründet. Ihre Entwicklung verlief parallel zu den anderen Parteien der 2. Internationalen: aus der ursprünglich revolutionär-antikapitalistischen Partei wurde eine reformerische Volkspartei. Den entscheidenden Durchbruch auf diesem Wege erzielte die sozialistische Partei nach dem Zweiten Weltkrieg, als sie mit linksliberalen, linkskatholischen und linksprotestantischen Bewegungen zur Partij van de Arbeid (PvdA) fusionierte. 1970 spalteten sich konservative Mitglieder von der PvdA ab und gründeten eine neue Partei: Demokratische Sozialisten '70. Der Grund für diese Spaltung lag in dem von den konservativen Sozialisten gesehenen Linkstrend in der PvdA, in der 1970 die „Neuen Linken" die Hälfte der Parteiführung stellten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg trugen die Sozialisten gemeinsam mit der Katholischen Volkspartei die Regierung und waren dann bis 1972 in der Opposition. Nach 1972 wurde das konfessionell-sozialistische Regierungsbündnis erneuert; nach den Wahlen vom 25. Mai 1977 scheiterte die PvdA allerdings dabei, eine neue Regierung zu bilden. Sie ist gegenwärtig wieder in der Opposition, obwohl sie die stärkste Fraktion im niederländischen Parlament stellt (seit 1971); 1967 erhielt sie 23, 5 Prozent der Stimmen, 1971: 24, 7 Prozent, 1972: 27, 3 Prozent und 1977: 33, 8 Prozent. Das niederländische Parteiensystem ist seit etwa einem Jahrzehnt in Bewegung geraten, nachdem die sogenannte „Versäulung" des politischen Lebens (konfessionelle, liberale und sozialistische Säule) aufgebrochen war. Auch die PvdA ist natürlich von der Veränderung ihres politischen Umfeldes nicht ganz unberührt geblieben. 8. Großbritannien Die Labour Party ist aus dem Zusammenschluß der Gewerkschaften, einiger sozialistischer Verbände, insbesondere der „Fabier", und einer Arbeiterpartei hervorgegangen. Als Gründungsdatum gilt gemeinhin das Jahr 1900, als das „Labour Representation Committee" geschaffen wurde. Die Labour Party kann auch heute ihre Ursprünge noch nicht verleugnen: nach wie vor sind die Gewerkschaften in der Partei das bestimmende Element, obwohl sich die Partei gründlich gewandelt hat und heute rund 800 000 direkte Mitglieder hat (indirekte Mitglieder über die Gewerkschaften: rund 6 Millionen). Die Labour Party ist Partei und Interessenverband zugleich, was unmittelbar in der Tatsache zum Ausdruck kommt, daß die Gewerkschaften Labour-Kandidaten für das Unterhaus aufstellen. Einerseits gewinnt die Labour Party dadurch eine breite Basis, andererseits erweist sich diese enge Verbindung mit der Gewerkschaftsbewegung nicht selten als Hemmschuh für die Labour Party.
Von 1906 bis 1935 hat die Labour Party die Liberale Partei, aus der sie sich zu Beginn des Jahrhunderts herausgelöst hatte, im Parlament allmählich verdrängt. Das Mehrheitswahlrecht bewirkt in Großbritannien, daß die Liberale Partei trotz eines schwankenden Stimmanteils von zuletzt 10 bis 20 Prozent nur über eine kleine Anzahl von Abgeordneten im Parlament verfügt (derzeit 13 Abgeordnete bei einem Stimmanteil von ca. 20%). Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte die Labour Party die Regierung bis 1951, wurde dann bis 1964 von der Macht verdrängt, die sie, abgesehen von der Unterbrechung 1970 bis 1974, bis heute ausübt. Bei den letzten Wahlen zum Unterhaus erhielt die Labour Party 39, 3 Prozent der Stimmen und 319 von 655 Mandaten. Sie regiert als Minderheitsregierung mit stillschweigender Tolerierung und Unterstützung durch die Liberalen. Die nächsten Wahlen finden in diesem Jahr statt.
Heftige innerparteiliche Auseinandersetzungen charakterisieren das Bild der Labour Party in der Öffentlichkeit. Die Mehrheit tritt für eine gemäßigte Reformpolitik ein, wogegen die linke Minderheit an die anfänglichen radikalen Forderungen der Labour Party anknüpft. Kernpunkte der Auseinandersetzungen sind das Ausmaß der Verstaatlichungen bzw. die Ausdehnung der „mixed economy". Die kommunistische Partei Großbritanniens spielt dabei nur eine marginale Rolle, so daß es keine nennenswerten Probleme gibt. Anders jedoch ist das Aufkommen nationalistischer Parteien in Schottland und Wales zu bewerten: sie gefährden traditionelle Hochburgen der Labour Party und könnten auch das traditionelle Parteiensystem Großbritanniens verändern. Bislang hat die Labour Party noch keine Antwort auf die Herausforderung durch diese regionalistischen Strömungen gefunden.
Die weltweite Wirtschaftskrise nach dem Olembargo 1973 ist auch an der ohnehin krisengeschüttelten britischen Wirtschaft nicht spurlos vorübergegangen. Mit dem „sozialen Kontrakt" versucht deshalb die Labour-Regierung, die Gewerkschaften in eine Politik einzubinden, die sich eine evolutionäre Verlagerung der Einkommen zugunsten der Arbeitnehmer zum Ziel gesetzt hat. Die Struktur der britischen Gewerkschaftsbewegung macht die Durchsetzung einer solchen Politik, die die Gewerkschaften zu einer gewissen Mäßigung zwingt, jedoch äußerst schwierig. Noch ist nicht geklärt, ob es der Labour-Regierung gelingt, die Gewerkschaften — an denen die Konservativen 1970 bis 1974 gescheitert waren — in ihre Politik einzubinden. Mit dem Abklingen der akuten Wirtschaftskrise und den Möglichkeiten, die das Nordsee-Ol eröffnet, könnte die Versuchung für die Gewerkschaften, erneut kaum erfüllbare Forderungen zu stellen, übergroß werden.
Eine schwere Hypothek für die europäische Einigung ist die antieuropäische Grundhaltung der Mehrheit der Mitglieder der Labour Party. Auf Parteikongressen erhalten antieuropäische Resolutionen in der Regel Zweidrittelmehrheiten und mehr. Die Labour Party hat sich auch geweigert, an der Erstellung der Wahlplattform zu den Europawahlen des Bundes der sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien in der EG mitzuwirken. In seltener Einmütigkeit hat das britische Unterhaus überdies am 13. Dezember 1977 die Einführung eines Verhältniswahlrechts für die Direktwahlen zum Europäischen Parlament abgelehnt, mit der Folgewirkung, daß die Direktwahlen verschoben werden mußten. 9. Nordirland Die Socialdemocratic and Labour Party, gegründet 1970, repräsentiert in Nordirland die katholische Arbeiterschicht. Sie ist die größte Oppositionspartei und vertritt eine Politik des „power sharing", d. h. einer Regierungsbeteiligung der Katholiken in Nordirland, die von der protestantischen Mehrheit in der Verfassungsgebenden Versammlung Nordirlands’ abgelehnt wird. Dem Wahlmanifest zufolge soll die Wiedervereinigung Irlands langfristig mit friedlichen Mitteln herbeigeführt werden. Trotz Boykottdrohungen konnte sie sich in den Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung 1975 behaupten. Unbedeutend neben ihr ist die „Northern Ireland Labour Party", die der britischen Labour Party angeschlossen ist. Während diese 1975 nur ein Mandat erringen konnte, kam die Socialdemocratic and Labour Party auf 17 Sitze in der Verfassungsgebenden Versammlung. 10. Italien Zwei Parteien repräsentieren den Sozialismus in Italien: der Partito Socialista Italiano (PSI) und der Partito Socialista Democratico Italiano (PSDI). Der PSI spaltete sich 1947, als die Partei unter Führung von Nenni mit den Kommunisten ein Volksfrontbündnis einging, dem Saragat mit seinen Gefolgsleuten, die er in dem PSDI sammelte, nicht zustimmen wollte. 1966 unternahmen beide Parteien in der Konsequenz der Mitte-Links-Regierung, die sie beide mittrugen, den Versuch, die Spaltung in dem Partito Socialista Unitaria (PSU) zu überwinden, trennten sich aber bereits 1969 wieder, als sie bei den Wahlen 1968 feststellen mußten, daß die Wähler die Vereinigungspolitik nicht honorierten. Erwähnenswert ist eine weitere Abspaltung 1963 nach dem Eintritt des PSI in die erste Mitte-Links-Koalition: die Sozialproletarier (PSIUD), die jedoch keine nationale Bedeutung gewinnen konnten.
Der PSI ist 1882 gegründet worden. 1921 spalteten sich die Kommunisten (KPI) ab. und traten der 3. Internationalen bei. 1946 bildete der PSI mit den Kommunisten eine Volksfront, ging jedoch als Verlierer aus den Wahlen von 1948 hervor: während die KPI damals 131 Parlamentssitze erringen konnte, erreichte der PSI nur 52 Mandate. Bis zur „apertura a sinistra" (Öffnung nach links) Anfang der sechziger Jahre, die die Sozialisten in die Regierungskoalition von Democrazia Cristiana (DC) und PSDI einschloß, gelang es dem PSI nicht, sich an der Seite der ebenfalls oppositionellen KPI zu profilieren. In der Periode der Mitte-Links-Regierung bis 1975 war der PSI zu schwach, um seine Vorstellungen voll durchzusetzen; profitiert haben wiederum die Kommunisten, die als eigentliche Oppositionspartei erstmals die 30-Prozent-Hürde übersprangen.
Damit ist bereits das ganze Dilemma des PSI aufgezeigt: Weder in der Opposition noch in der Regierung vermag sich die Partei derzeit glaubwürdig gegen die Kommunisten durchzusetzen. Eine Alternative zum „historischen Kompromiß", den die Kommunisten den Christdemokraten anbieten, ist seit dem Scheitern der Mitte-Links-Koalition, das der PSI selbst verursacht hat, nicht in Sicht. Die große Frage der italienischen Politik, „historischer Kompromiß" oder nicht, geht an den Sozialisten vorbei; sie werden im Falle eines „historischen Kompromisses" weder benötigt noch gefragt. Mit 9, Prozent der Stimmen, die sie bei den Parlamentswahlen 1976 nur noch erreichten, wird es ihnen schwerfallen, ihr Gewicht in der italienischen Politik wieder zu vergrößern 6).
Dem PSI geht es deshalb vor allem darum, den „historischen Kompromiß" als nicht notwendig darzustellen, um sich selbst wieder ins Spiel zu bringen. Aus diesem Grunde hatte er auch die Mitte-Links-Koalition aufgekündigt, um nicht als bloßes Anhängsel der Democrazia Cristiana dazustehen. Der PSI fordert statt des „historischen Kompromisses" eine Notstandsregierung aller Parteien als Vorstufe für eine starke Linksregierung, in der sie dann unentbehrlich wäre. Dank der Aktivität ihres neuen Generalsekretärs, Bettino Craxi, ist seit zwei Jahren eine Aufwärtsentwicklung des PSI festzustellen, die sich in einer Steigerung ihres Stimmanteils bei den Kommunalwahlen von 9, 5 auf 13, 5 Prozent niederschlug. Die Zukunft wird zeigen, ob es dem PSI gelingt, seinen Platz zwischen KPI und DC auszubauen. b) Partito Socialista Democratico Italiano (PSDI)
Der PSDI, 1948 gegründet, hat schon an vielen Regierungen des Centrismo (1948 bis 1963) teilgenommen, der durch die faktische Alleinherrschaft der Democrazia Cristiana gekennzeichnet war. Nach deutschem Wahlrecht wäre er allerdings nur ein einziges Mal im Parlament vertreten gewesen, da er nur 1963 die Fünf-Prozent-Hürde nehmen konnte. Bei den Parlamentswahlen von 1976 erreichte er nur 3, 4 Prozent. Von dem PSI unterscheidet ihn weiterhin eine antikommunistische Grundhaltung, die aber mit der Tolerierung der allmählichen faktischen Installierung des „historischen Kompromisses" seitens der Christdemokraten nach und nach abbröckelt. Auch der PSDI konnte bisher von dem deutlichen Linkstrend in der italienischen Gesellschaft nicht profitieren.
III. Die Unterschiede zwischen den sozialdemokratischen Parteien in der EG
Die knappe Charakterisierung der einzelnen sozialdemokratischen Parteien in der EG hat schon einige unterschiedliche Auffassungen zwischen den Parteien hervortreten lassen. Die Geschichte der Staaten der heutigen EG ist nicht ohne Einfluß auf die bisher im nationalen Rahmen operierenden Parteien geblieben. Die Industrialisierung, die zur Entstehung der Arbeiterbewegung geführt hat, hat sich nicht überall zum gleichen Zeitpunkt und nicht im gleichen Ausmaß durchgesetzt. Auch hat jedes europäische Volk im Laufe seiner Geschichte eine gewisse geistig-politische Identität entwickelt, der sich die Arbeiterparteien nicht völlig entziehen konnten. Die Rezeption des Marxismus schließlich und sein Einfluß auf die Parteien differierte sowohl zeitlich als auch inhaltlich. 1. Zusammenarbeit mit den Kommunisten Die Zusammenarbeit mit Kommunisten ist ohne Zweifel einer der Hauptstreitpunkte unter den Parteien des Bundes der sozialdemokratischen Parteien in der EG. Während die SPD und die britische Labour Party jede Zusammenarbeit mit kommunistischen Parteien ablehnen, war die französische Sozialistische Partei 1972 mit der Kommunistischen Partei Frankreichs ein enges Bündnis eingegangen, das ein Wahlabkommen und ein gemeinsames Regierungsprogramm beinhaltete. Der italienische PSI tritt ebenfalls dezidiert für eine Zusammenarbeit von Kommunisten und Sozialisten ein und wird seit 1975 nicht müde, eine Regierungsbeteiligung der italienischen KP zu fordern. Die dänischen Sozialdemokraten und belgische Sozialisten sind in Abstufungen zwar nicht offen für eine Kooperation, praktizieren sie aber gelegentlich.
Für die unterschiedliche Haltung gegenüber dem Kommunismus gibt es unter anderem auch praktische Gründe. In Großbritannien, Irland und der Bundesrepublik Deutschland sind die kommunistischen Parteien eine quantit negligeable, die im politischen Leben der Staaten keine Rolle spielen. In Frankreich hingegen hat die kommunistische Partei seit 40 Jahren ganz selten weniger als 20 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinigen können. Die Kommunistische Partei Italiens ist die größte im Westen und konnte bei den letzten Wahlen 1976 nahezu 35 Prozent der Wählerstimmen erringen. Schon dadurch werden Tatsachen geschaffen, die die politische Einstellung einer Partei beeinflussen.
Es gibt auch historische Gründe, die z. B. in Frankreich und Italien eine die Zusammenarbeit bejahende, zumindest nicht grundsätzlich ausschließende Haltung der Sozialisten erklären — historische Gründe, die ihrerseits mit-ursächlich sind für die relative Stärke der kommunistischen Parteien in diesen Ländern. In Italien spielt die enge Zusammenarbeit aller heutigen demokratischen Parteien im Widerstand gegen den Faschismus und die deutsche Besatzung gegen Kriegsende die entscheidende Rolle: seit dieser Zeit war die KPI selbst in den düstersten Zeiten des Kalten Krieges im Bewußtsein des italienischen Volkes immer als nationale Partei anerkannt, die die Interessen des italienischen Volkes vertrat und nicht nur Vollstreckerin von Weisungen der Kommunistischen Zentrale in Moskau war.
In Frankreich geht die Zusammenarbeit mit den Kommunisten auf die Volksfront von 1936 zurück, als es den vereinten Sozialisten, Kommunisten und Radikalen (Liberale in deutschem Sprachgebrauch) gelang, den Versuch zur Errichtung eines dem deutschen oder italienischen Faschismus ähnlichen Regimes zu unterbinden. Im französischen Geschichtsbewußtsein lebt die Volksfront seither als positiver Mythos fort. In der Widerstandsbewegung gegen die deutsche Okkupation im Zweiten Weltkrieg konnte die französische KP ihr nationales Image gewaltig aufwerten. Selbst de Gaulle, wahrhaftig kein Kommunisten-freund, hat nach dem Zweiten Weltkrieg Kommunisten in sein Kabinett aufgenommen (1944— 1947). Die KP Frankreichs war kurze Zeit nach dem Krieg die stärkste Partei Frankreichs und erreichte 1946 knapp 28 Prozent der Stimmen.
Ganz anders in Deutschland: Nicht zuletzt den hemmungslosen Angriffen der KPD gegen die SPD vor 1933 ist es anzulasten, daß der Faschismus in Deutschland siegen konnte. Unter Nichtachtung nationaler Interessen hatte die KPD in blindem Gehorsam gegenüber Moskau die Sozialdemokratie zum Hauptfeind erklärt und an der Zerstörung der Weimarer Republik mitgewirkt. Nach dem Zweiten Weltkrieg machte sich die KPD zum Erfüllungsgehilfen der sowjetischen Besatzungsmacht und schuf auf deutschem Boden, nachdem sie die Reste der SPD der SED zwangs-B weise einverleibt hatte, einen Staat, dem die Menschen zu Millionen davonliefen. Nur Negatives, nichts Positives haftet damit dem Kommunismus im öffentlichen Bewußtsein der Bundesrepublik an; die Beziehungen der deutschen Sozialdemokratie zum Kommunismus sind geradezu traumatisch gestört.
Das britische Mehrheitswahlsystem, der anfänglich sehr geringe Einfluß des Marxismus in der britischen Arbeiterbewegung und der späte Durchbruch der Labour Party zu Lasten der Liberalen in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts, also zu einem Zeitpunkt, als auf dem europäischen Kontinent die Spaltung der Arbeiterbewegung in Sozialisten und Kommunisten bereits vollzogen war, haben zusammen mit der mehr auf Ausgleich und Kompromiß ausgerichteten politischen Mentalität in Großbritannien das Entstehen einer gewichtigen kommunistischen Partei verhindert. Trotz der anhaltenden Wirtschaftskrise und den daraus resultierenden Erschütterungen des wirtschaftlichen und sozialen Gefüges wirken einige dieser Gründe weiter, so daß die britische Kommunistische Partei trotz ihres „eurokommunistischen" Kurses auch weiterhin von der Bevölkerung kaum beachtet wird.
Neuerdings wird von den die Zusammenarbeit mit den Kommunisten bejahenden sozialistischen Parteien zur Begründung ihrer Einstellung auf Entwicklungen in den Kommunistischen Parteien ihrer Länder hingewiesen, die mit dem Begriff „eurokommunistisch" umschrieben werden. In der Tat kann man in Italien, Spanien und — in sehr viel geringerem Grade — in Frankreich eine Entwicklung in den kommunistischen Parteien feststellen, die in Richtung einer demokratischen Offnungspolitik zu gehen scheint. Der hohe Stimmanteil der italienischen KP ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß sie schon in den fünfziger Jahren mit dieser Offnungspolitik begonnen hat, die heute ihre Früchte trägt.
Obwohl diese eurokommunistische Entwicklung zweifellos interessant ist und auch von Seiten der Sozialisten und Sozialdemokraten größte Aufmerksamkeit verdient, so sind doch in den Augen der deutschen Sozialdemokratie und der britischen Labour Party die Bedenken, die gegen eine Zusammenarbeit sprechen, nicht ausgeräumt. In der Bundesrepublik Deutschland entfällt zudem das Argument einer neuen Entwicklung des Kommunismus, ist doch die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) in ihrer moskautreuen Orthodoxie und Unbeweglichkeit als Partner außerhalb jeder Diskussion. Die SPD und die britische Labour Party bleiben bei ihrem Standpunkt, daß eine Zusammenarbeit mit Kommunisten nicht in Frage kommt und sich die Notwendigkeit zur Beantwortung dieser Frage auch im direkt gewählten Europäischen Parlament auf absehbare Zeit nicht stellt. 2. Das Verhältnis der EG zu den USA Dissens besteht im Bund sozialdemokratischer Parteien auch darüber, ob die Europäische Gemeinschaft in enger Kooperation mit den Vereinigten Staaten oder gewissermaßen gegen die USA auf-und ausgebaut werden soll. In Frankreich, Belgien und Italien wird letztere Ansicht verfochten, während in Deutschland und Großbritannien an der engen Zusammenarbeit mit Nordamerika festgehalten wird. Die sozialistischen Parteien in Frankreich und Italien machen geltend, daß sich eine europäische Identität nur im Kampf gegen eine andere Macht herstellen lasse; dafür spreche die historische Erfahrung und die eigene Vision des künftigen Europa, das nicht kapitalistisch wie die USA, sondern sozialistisch sein solle.
In diesem Sinne drängen die Sozialisten in Italien und Frankreich darauf — mehr oder weniger unterstützt von den kommunistischen Parteien, mit denen sie zusammenarbeiten —, einen Bruch mit den USA zu vollziehen. Sie versuchen den Konfliktstoff anzuhäufen, dank dessen sie die anderen Parteien auf einen antiamerikanischen Kurs herüberzuziehen hoffen. In der Vergangenheit hat Henry Kissinger ihnen so manchen Anlaß dafür gegeben, doch konnten sich die Argumente, die namentlich in Italien und Frankreich propagiert wurden, in Deutschland und Großbritannien nicht durchsetzen.
Die Bundesrepublik hält schon aus sicherheitspolitischen Erwägungen am engen Bündnis mit den USA fest, da nur durch die Präsenz der USA Berlin gehalten und die Bundesrepublik glaubhaft geschützt werden kann Für Großbritannien und die Labour Party spielen neben sicherheitspolitischen Erwägungen Gründe mit, die Winston Churchill einst zum Schreiben einer Geschichte der englisch sprechenden Völker veranlaßte In Deutschland und Großbritannien glaubt man zudem, daß die USA über genügend Machtmittel verfügen würden, den europäischen Integrationsprozeß zu stoppen und zurückzu-werfen, wenn die politische Führung in den Vereinigten Staaten den Eindruck haben sollte, daß in der EG eine den USA feindliche Macht im Entstehen sei. 3. Soziales oder sozialistisches Europa? Eng mit der Frage eines proatlantischen oder nach allen Seiten — vor allem gegenüber den USA — unabhängigen Europa verknüpft ist die nach der inneren Ordnung der Europäischen Gemeinschaft. Läßt man die Labour Party mit ihrer antieuropäischen Grundhaltung einmal beiseite, gibt es zwei differierende Ansichten innerhalb des sozialdemokratischen Lagers: Die Italiener und Franzosen wünschen ein antikapitalistisches, sozialistisches Europa/in dem die Macht der Konzerne gebrochen und den sogenannten Multis mit US-amerikanischer Dominanz die Existenz-möglichkeiten entzogen werden. Nur durch die Verstaatlichung ganzer Wirtschaftsbranchen glauben sie, die Interessen der Arbeitnehmer wirksam vertreten zu können.
Demgegenüber nehmen sich die Ziele der SPD wesentlich bescheidener aus. Auf eine verkürzte Formel gebracht, geht es den deutschen Sozialdemokraten im europäischen Rahmen nicht um eine Überwindung des Kapitalismus, sondern um den Ausbau der sozialen Demokratie in Europa. Im einzelnen: eine bessere Durchschaubarkeit der gesamtgesellschaftlichen Vorgänge, verbesserte Möglichkeiten demokratischer Mitwirkung und Kontrolle, den ständigen weiteren Ausbau sozialer und rechtsstaatlicher Grundsätze und eine verstärkte Ausrichtung der Tätigkeit der EG an den unmittelbaren Interessen der Bürger
Beispielhaft für die unterschiedliche Konzeption sei hier nur die Mitbestimmung genannt. Während die Mitbestimmung von der deutschen Sozialdemokratie zu einem ihrer wichtigsten Ziele erhoben wurde, wird sie von den meisten der anderen sozialistischen Parteien der EG abgelehnt. Der PSI, die französische PS, die Labour Party und die belgischen Sozialisten lehnen das deutsche Modell dezidiert ab, da es ihnen auf dem Wege der Sozialpartnerschaft zu weit geht oder nach ihren Vorstellungen die Arbeitnehmer nicht „nur" mitbestimmen, sondern „selbst" -bestimmen (autogestion) sollen. Insbesondere für die französischen und italienischen Sozialisten steht die Mitbestimmung symbolhaft für das, was sie die Kompromißbereitschaft der deutschen Sozialdemokratie nennen, die sie, zumindest verbal, leidenschaftlich bekämpfen. 4. Mediterraner oder nordischer Sozialismus? Von den sozialdemokratischen Parteien in der EG sind die unterschiedlichen Auffassungen selbst begrifflich als „mediterraner" Sozialismus und „nordischer" oder „germanischer" Sozialismus gefaßt worden. Spätestens seit Mai 1975, als der französische Sozialistenchef Francois Mitterrand die Führer der sozialistischen Parteien Südeuropas in Latche (Südfrankreich) zusammenrief, gibt es innerhalb des europäischen Sozialismus ein klares Bewußtsein für die bestehenden Differenzen. In den Worten Mitterrands: „Es geht darum, wie in unseren Ländern (Südeuropa, d. Verf.) der Zusammenschluß der Massen um die Parteien entwickelt werden kann, die das Volk repräsentieren. Das stellt die Frage nach der Allianz, der Union und dem Zusammenhalt von Sozialisten und Kommunisten. Es handelt sich für uns alle um eine sozialistische Option. Das ist der neue, besondere und moderne Aspekt unserer Bemühungen."
Es liegt auf der Hand, daß ein Beitritt Griechenlands, Spaniens und Portugals innerhalb des europäischen Sozialismus jene Kräfte verstärken würde, die eher den Vorstellungen eines „mediterranen" Sozialismus anhängen, waren doch Mario Soares (Portugal), Felipe Gonzales (Spanien) und Andreas Papandreou (Griechenland) neben den Vertretern der belgischen und italienischen Sozialisten dem Ruf Mitterrands zu dem Treffen in Latche gefolgt. Eine gewisse Parallelität der wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen sowie die Präsenz einer relativ starken kommunistischen Partei haben unter den Sozialisten Südeuropas zu Auffassungen geführt, die in einem gewissen Widerspruch zu den Vorstellungen stehen, die unter Sozialisten in Mittel-und Nordeuropa vorherrschen: hier die entschlossen sozialistischen Parteien im „armen" Süden, dort die kompromißbereiten Sozialdemokraten im „reichen", industrialisierten Norden
IV. Die Gemeinsamkeiten der sozialdemokratischen Parteien in der EG
Die Aufzählung der unterschiedlichen Zielvorstellungen und Politiken der sozialdemokratischen Parteien in der EG könnte den Eindruck entstehen lassen, als gäbe es überhaupt keine gemeinsame Basis, als sei die Union der sozialdemokratischen Parteien in der EG ein Bündnis disparater und divergierender Parteiinteressen, dem es an der notwendigen Einheitlichkeit fehlt. Dem ist aber nicht so: Die gemeinsame Tradition der demokratischen Arbeiterbewegung ist trotz der Einbettung der Parteien in die jeweilige nationale Geschichte so stark, einige Grundüberzeugungen so mächtig, daß gerade im Meinungsstreit auch der Konsens unter den Parteien deutlich wird. Wenn viele es nicht verstehen und manche darüber spotten mögen: das Band der Solidarität zwischen den sozialdemokratischen Parteien der EG hält stärksten Belastungen stand; das Einigungswerk Europas wäre ohne diese Solidarität wohl von vornherein aussichtslos. 1. Verhältnis zum Kommunismus Die Übereinstimmung zwischen den sozialdemokratischen Parteien der EG erweist sich nicht nur in der Abgrenzung zu anderen politischen Kräften, sondern positiv in der Vorstellung einer künftigen Gesellschaft. Gleichwohl spielt die Abgrenzung im politischen Geschäft auch auf europäischer Ebene eine selbstverständliche Rolle. Gegenüber den konservativen Kräften betonen die sozialdemokratischen Parteien in der EG, daß es notwendig sei, über das Erreichte hinauszugehen: Ein bloßes Bewahren der vorhandenen gesellschaftlichen Strukturen und Verhältnisse sei nicht geeignet, um ein größtmögliches Maß an sozialer Gerechtigkeit und konkreter Freiheit in einer Gesellschaft zu erreichen, die einem ständigen Wandel ihrer ökonomischen Grundlagen unterliegt. Insbesondere die Wirtschaftskrise nach dem Olembargo 1973 mache eine konsequente Neuorientierung notwendig, der sich jedoch die Konservativen verschließen würden
Die von einigen Parteien des Bundes sozialdemokratischer Parteien in der EG praktizierte Zusammenarbeit mit kommunistischen Parteien bedeutet nicht, daß diese Parteien der Politik der Kommunisten in ihrem Lande rückhaltlos zustimmen würden. Wie die sozialdemokratischen Parteien, die gleich der SPD jede Zusammenarbeit mit Kommunisten strikt ablehnen, werden sie nicht müde, die ideologischen und programmatischen Linien, die sie von den Kommunisten trennen, zu markieren. Ihr Eintreten für den demokratischen Sozialismus ist unter anderem eine Absage an die kommunistische Ideologie, die zu einem menschenverachtenden dogmatischen Lehrgebäude erstarrt ist; es ist eine scharfe Verurteilung des „demokratischen Zentralismus", der keine innerparteiliche Demokratie zuläßt, und eine kategorische Ablehnung des Einflusses, den die Moskauer Zentrale auf die kommunistischen Parteien in den einzelnen Ländern noch immer ausübt. Jüngste Entwicklungen in Richtung „Eurokommunismus" haben die prinzipiellen Meinungsverschiedenheiten zwischen demokratischen Sozialisten und Kommunisten keineswegs beseitigt
Im übrigen stellt sich auf europäischer Ebene das Problem der Zusammenarbeit mit Kommunisten gar nicht. Die im Bund sozialdemokratischer Parteien in der EG zusammengeschlossenen Parteien werden alles daransetzen, aus den Direktwahlen als stärkste Fraktion hervorzugehen (was sie im jetzigen Europäischen Parlament auch schon sind). Das bedeutet auch auf europäischer Ebene, den kommunistischen Einfluß zurückzudrängen. Ist das Europäische Parlament direkt gewählt, stellt sich auf absehbare Zeit die Frage einer Zusammenarbeit nicht, da keine europäische Regierung zu bilden ist, die Bündnisse erforderlich machen würde. Im Europäischen Parlament wird es deshalb innerhalb der sozialdemokratischen Fraktion in der Frage einer Zusammenarbeit mit Kommunisten keine Kontroverse geben. Auf der anderen Seite besteht im Bund sozialdemokratischer Parteien in der EG Einigkeit darüber, daß nicht von vornherein bestimmte politische Gruppen im direkt gewählten Europaparlament isoliert und vom Aufbau eines demokratischen und sozialen Europas ausgeschlossen werden dürfen 2. Verhältnis der EG zu den USA In der Frage des Verhältnisses der EG zu den USA haben sich die sozialdemokratischen Parteien in der EG am 6. Juni 1977 im Entwurf einer Wahlplattform zu den Direktwahlen auf einen Kompromiß geeinigt. Einerseits wird im Entwurf der Wahlplattform an dem „essential" der SPD festgehalten, daß sich „Europas Identitätsfindung nicht über eine Konfrontation mit den USA vollzieht" Andererseits wird betont, daß die EG sich als eigene souveräne politische Kraft behaupten muß. Festgestellt wird auch, daß „die Beziehungen zwischen Europa und den USA ambivalent sind, weil Europa vor allem durch den demokratischen Sozialismus und die Arbeiterbewegung eine eigene Vorstellung der sozialen Demokratie und des Prinzips der sozialen Gerechtigkeit entwickelt hat. Es wäre falsch zu verschweigen", so heißt es in dem Entwurf weiter, „daß es auch Gegensätze in den Wirtschaftsinteressen gibt" Was erstrebt wird, ist die Zusammenarbeit auf gleichberechtigter Basis. 3. Entwurf einer Wahlplattform Der Entwurf der Wahlplattform zu den Europawahlen, der am 6. Januar 1977 von den Parteichefs des Bundes sozialdemokratischer Parteien gebilligt worden war, dokumentiert ein hohes Maß an Übereinstimmung zwischen den sozialdemokratischen Parteien der EG. In dem Entwurf wird aufgezeigt, welche inhaltlichen Ziele angestrebt werden sollen. Er ist von dem Bewußtsein getragen, daß die einzelnen europäischen Staaten ihre Probleme nicht mehr allein, sondern nur noch im europäischen Rahmen lösen können. Realistisch wird allerdings darauf hingewiesen, daß die politische Autorität in Europa ihre Legitimität noch lange Zeit im nationalen Rahmen wird finden müssen. Das schrittweise Zusammenwachsen der Staaten kann — so die Überzeugung der Sozialdemokraten — nicht allein durch die Entwicklung eines einheitlichen Wirtschaftsraumes gewährleistet werden. Soll Europa eine wirkliche Gemeinschaft werden, so muß das „Europa der Arbeitnehmer, der politischen Richtungen, der Staatsbürgerrechte, der Wirtschafts-und Sozialrechte und der demokratischen Rechte" stärker in den Vordergrund treten.
Der Entwurf der Wahlplattform ist in vier Teile untergliedert: Präambel, Abschnitte über „Demokratie und Institutionen", „ Wirtschaftsund Sozialpolitik" (auf dem das Schwergewicht liegt) und „Außenpolitik". Im institutioneilen Bereich wird gefordert, daß das direkt gewählte Europaparlament mit seinen Kontrollbefugnissen an die Stelle der nationalen Parlamente treten soll, wo nationale Kompetenzen an europäische Institutionen abgegeben worden sind oder abgegeben werden. Die Übertragung neuer Befugnisse auf europäische Organe darf aber die Verwirklichung eines sozialistischen Programms auf nationaler Ebene nicht behindern. Der Kommission sollen vom Rat häufiger Exekutivbefugnisse delegiert werden; die Kommission soll im Einvernehmen mit dem Parlament . vom Rat ernannt werden. Der Rat soll verpflichtet werden, über Initiativen und Stellungnahmen des Europäischen Parlaments zu beraten und ihm innerhalb einer bestimmten Frist Bericht zu erstatten. Schließlich soll die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs erweitert und der Wirtschafts-und Sozialausschuß durch eine gerechtere Verteilung der Sitze demokratisiert werden.
Es ist für Sozialdemokraten natürlich, daß gesellschaftspolitische Forderungen und Zielvorstellungen in einer Wahlplattform im Vordergrund stehen. So gibt der Entwurf der Wahlplattform der Wiederherstellung der Vollbeschäftigung folgerichtig Priorität; denn das Recht auf Arbeit ist nach sozialdemokratischer Auffassung ein Grundrecht des Menschen. Humanes Wirtschaftswachstum, wirtschaftspolitische Strukturreformen, die eine flexible Einstellung auf technische und ökonomische Veränderungen ermöglichen, beschäftigungspolitische Maßnahmen, eine aktive Arbeitsmarktpolitik durch Hilfestellung für Arbeitnehmer, die ihre Arbeitsplätze aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung wechseln müssen, und eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen sollen im Zusammenwirken dazu beitragen, die Arbeitslosigkeit in Europa zu überwinden. Ein gewichtiges Ziel sozialdemokratischer Politik in der EG wird es auch sein, die Inflation einzudämmen, um ihre negativen Folgen — Funktionsstörungen in Wirtschaft und Gesellschaft — abzuwenden. Dem Entwurf der Plattform zufolge wollen die Sozialdemokraten dafür sorgen, daß künftig die Einkommen und Vermögen in Europa gerechter verteilt werden. Instrumente dieser Politik sind die Steuerpolitik, Tarifverträge, die Sparförderung und die Gewinnbeteiligung an Unternehmen. Die Wirtschaftsstruktur der Gemeinschaft soll durch eine vorausschauende Strukturpolitik für die verschiedenen Wirtschaftszweige, durch Planungssysteme, durch die Kontrolle von marktbeherrschenden Unternehmen, durch eine wirksame und umfassende Regionalpolitik und durch die Sicherung der Energie-und Rohstoffversorgung leistungsfähiger gemacht werden. Die europäische Agrarpolitik muß in den Zusammenhang der Probleme der Welternährung gestellt werden. Sowohl im Interesse der Dritten Welt als auch im eigenen europäischen Interesse bleibt eine leistungsfähige Landwirtschaft, die einen großen Teil des gemeinschaftlichen Nahrungsmittelbedarfs deckt, ein unverzichtbarer Bestandteil der europäischen Wirtschaft.
Die Forderung nach Wirtschaftsdemokratie, die der Entwurf aufstellt, bezieht ihre Rechtfertigung aus der Tatsache, daß die Marktwirtschaft nicht von sich aus zur sozialen Gerechtigkeit führt. Menschliche Arbeits-und Lebensbedingungen können solange nicht verwirklicht werden, als die Arbeitnehmer nicht an der wirtschaftlichen und sozialen Planung beteiligt werden und noch keine echte Wirtschaftsdemokratie verwirklicht ist.
Den unterschiedlichen Vorstellungen der einzelnen Parteien hinsichtlich der Wirtschaftsdemokratie trägt der Entwurf dadurch Rechnung, daß er die Mitbestimmung nach deutschem Muster, die Ausdehnung der Verhandlungsbefugnis der Gewerkschaften auf alle Betriebsbereiche und die Selbstbestimmung entsprechend französischen Vorstellungen gleichberechtigt nebeneinander stellt. Mit besonderem Nachdruck tritt der Entwurf für eine Kontrolle der multinationalen Konzerne ein, die sich nicht länger der demokratischen Kontrolle der EG und den Notwendigkeiten der Wirtschaftspolitiken der einzelnen Länder sollen entziehen dürfen.
Es können nicht alle Punkte, die der Entwurf anspricht, gestreift werden, da er nahezu alle Politikbereiche umfaßt. Hervorzuheben ist allerdings die Bereitschaft der sozialdemokratischen Parteien, den beitrittswilligen Ländern Griechenland, Spanien und Portugal die bestmöglichen Bedingungen zu schaffen. Es muß ein Verfahren gefunden werden, das es diesen jungen Demokratien in Südeuropa gestattet, etappenweise über eine immer engere Assoziierung schließlich die Vollmitgliedschaft zu erwerben. Aus sozialdemokratischer Sicht stellen auch die Beziehungen zwischen Europa und den Entwicklungsländern eine wichtige, wenn nicht sogar die wichtigste Herausforderung der nächsten Jahre dar. Eine gemeinsame fortschrittliche Position der EG-Staatenim Dialog zwischen armen und reichen Ländern, eine Strukturplanung in der EG, die die Bedürfnisse der Entwicklungsländer berücksichtigt, und die Erhöhung der Mittel für die Entwicklungshilfe sollen dazu beitragen, die Kluft zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern zu verringern.
Der Entwurf der Wahlplattform war im wesentlichen eine Synthese der Vorstellungen der SPD und der französischen Sozialisten; die britische Labour Party hatte nicht daran mitgearbeitet. Nach den verlorenen Parlamentswahlen vom März 1978 distanzierten sich jedoch die Führungsgremien des Parti Socialiste (PS) von dem deutsch-französischen Kompromiß, weil sie der Agitation der KPF, die einen Rechtsruck der PS behauptete, keine Ansatzpunkte geben wollte Damit war einer Einigung des Bundes der sozialdemokratischen Parteien in der EG auf der Basis dieses Entwurfs der Boden entzogen. Gleichwohl bleibt der Entwurf einer Wahlplattform im Prozeß der Einigung Europas ein wichtiges historisches Dokument, da es gewissermaßen den Minimalkonsens der westeuropäischen sozialdemokratischen Parteien zum Ausdruck bringt. 4. Die Politische Erklärung vom 23. 724. Juni 1978 Gegenüber dem Entwurf einer Wahlplattform nimmt sich die „Politische Erklärung", die die Vorsitzenden der sozialdemokratischen Parteien in der EG am 23. /24. Juni 1978 zu den europäischen Direktwahlen abgaben, sehr viel bescheidener aus. Sie hat allerdings den Vorteil, daß sie die Zustimmung aller Parteien des Bundes — auch der britischen Labour Party — gefunden hat. Auf ihrer Grundlage haben die einzelnen sozialdemokratischen Parteien eigene Programme für die Direktwahlen ausgearbeitet, die auf die spezifischen Probleme der einzelnen Staaten eingehen Die Politische Erklärung stellt auch gleich zu Beginn fest, daß die weitere Zusammenarbeit in Europa nur unter Achtung der eigenständigen Entwicklung der Länder und Parteien möglich ist. Eine Beschleunigung des Integrationsprozesses fordert die Politische Erklärung nicht. Im Hinblick auf die Befugnisse des direkt zu wählenden Europäischen Parlaments wird anerkannt, „daß jede weitere übertra-gung von Befugnissen von nationalen Regierungen auf Gemeinschaftsinstitutionen oder von nationalen Parlamenten auf das Europäische Parlament nur aufgrund eindeutiger Zustimmung der nationalen Regierungen und Parlamente stattfinden kann"
Die Politische Erklärung tritt für das Recht auf Arbeit aller ein und fordert die Wiederherstellung der Vollbeschäftigung. Nach zwanzigjähriger Verfolgung rein wirtschaftlicher Interessen soll die EG jetzt in eine Phase eintreten, in der menschliche Ziele im Vordergrund stehen. Aus diesem Grunde muß die wirtschaftliche und soziale Entwicklung beeinflußt werden, damit vor allem jene Gruppen, die auf dem Arbeitsmarkt mit den größten Problemen zu kämpfen haben, nämlich Jugendliche, Frauen und ausländische Arbeitnehmer, Nutzen davon haben.
Eine solche Politik kann nur — so die Über-zeugung der Sozialdemokraten — in enger Zusammenarbeit mit allen Gewerkschaften verwirklicht werden. Die Demokratisierung der Unternehmen und der Wirtschaft soll in einer für jedes Land angemessenen Weise erfolgen; Wirtschaftskonzerne und multinationale Unternehmen sollen demokratisch kontrolliert werden. Eine Verstaatlichung bestimmter Industrien sieht die Politische Erklärung nicht vor; allein die Kernenergie-Unternehmen sollen einer öffentlichen Kontrolle unterworfen werden, um Sicherheits-und Umweltprobleme zufriedenstellend zu lösen.
Die Energiepolitik, die Politik gegenüber der Dritten Welt, die Entspannungspolitik und die Friedenssicherung bilden weitere Schwerpunkte der Politischen Erklärung. Hervorzuheben ist die nochmalige Zustimmung der sozialdemokratischen Parteien in der EG zur Erweiterung der Gemeinschaft um Griechenland, Portugal und Spanien. Hier sehen die Sozialdemokraten eine Mitverantwortung des demokratischen Europa für die Festigung der Demokratie in diesen Ländern. Die EG ist aufgerufen, den Beweis für die Solidarität mit den Arbeitnehmern in diesen Ländern zu erbringen. Die Erweiterung der Gemeinschaft soll nach der Vorstellung der Sozialdemokraten zu einer Quelle neuer Stärke und Dynamik für Europa werden. Regionale Ungleichgewichte, die durch die Erweiterung noch einmal besonders stark akzentuiert werden, sollen durch eine entsprechende Regionalpolitik ausgeglichen und der Zusammenhalt der Gemeinschaft dadurch gefördert werden. 5. Der Wahlaufruf vom 12. Januar 1979 Am 12. Januar 1979 hat der Bund der sozialdemokratischen Parteien in der EG auf seinem 10. Kongreß in Brüssel aus Anlaß der ersten Direktwahl zum Europäischen Parlament einstimmig einen „Aufruf an die Wähler Europas" verabschiedet, der in 35 Thesen untergliedert ist Der Wahlaufruf nimmt die meisten Punkte der Politischen Erklärung wieder auf, betont aber den wirtschafts-und sozialpolitischen Teil etwas stärker. Es wird mit Nachdruck festgestellt, daß die Marktwirtschaft von sich aus nicht zu sozialer Gerechtigkeit führt und Vollbeschäftigung gewährleistet. Wirtschaftsdemokratie, wirtschaftliche Rahmenplanung und langfristige Strukturreformen sind notwendig, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und das Recht auf Arbeit für alle zu sichern. Die Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit auf 35 Stunden spielt bei der gerechten Verteilung der verfügbaren Arbeit ebenfalls eine wichtige Rolle. Jedweder Diskriminierung, insbesondere der der Frauen, wird in dem Wahlaufruf der Kampf angesagt. Der lediglich mit politischen Überzeugungen begründete Ausschluß vom Staatsdienst wird abgelehnt.
Weitere Schwerpunkte des Wahlaufrufs bilden die Themen Frieden, Sicherheit und Zusammenarbeit sowie die Erweiterung und Verteidigung der Menschenrechte und bürgerlichen Freiheiten. Die Anregung der französischen Sozialisten, die den Kampf für die Verwirklichung der Menschenrechte besonders hervorheben wollten, ist bei den anderen Parteien des Bundes auf fruchtbaren Boden gefallen. Sie haben deshalb in dem Wahlaufruf erklärt, daß das Eintreten für die Menschenrechte nicht zu einem Instrument der politischen Opportunität werden darf und sie im Europäischen Parlament dafür sorgen wollen, daß die Europäische Gemeinschaft beim Kampf um die Verwirklichung der Menschenrechte überall in der Welt in vorderster Front steht. In diesem Sinne sollen unter anderem die wirtschaftlichen und sozialen Grundrechte, insbesondere das Recht auf Arbeit, im Gemeinschaftsrecht verankert werden.
Das Dokument lenkt den Blick auch auf die Staaten und Völker Europas, die außerhalb der Europäischen Gemeinschaft stehen. Die Verwendung des Begriffs „Europa" für die Europäische Gemeinschaft, so heißt es in dem Wahlaufruf, „verstellt den Blick für die Tat-sache, daß die Mehrheit der europäischen Völker und Staaten nicht Teil dieser Gemeinschaft ist. Der Kampf für die Stärkung der internationalen Sozialdemokratie geht über die Grenzen der Gemeinschaft hinaus" Damit wird darauf hingewiesen, daß die Festigung der EG durch die Direktwahlen und die Erweiterung der EG durch den Beitritt der Länder Portugal, Spanien und Griechenland für die sozialdemokratischen Parteien der neun Mitgliedstaaten nicht bedeutet, daß die EG sich insbesondere gegenüber Mittel-und Osteuropa abkapselt oder dazu beiträgt, daß sich der Graben zwischen West-und Osteuropa vertieft. Der Bund der sozialdemokratischen Parteien bekräftigt vielmehr die Mitverantwortung der EG auch für den Teil Europas, der nicht zur EG gehört.
V. Perspektiven
In dem Maße, in dem das Europäische Einigungswerk auf Parteiebene konkrete politische Aussagen erforderlich macht, die über allgemeine Absichtserklärungen hinausgehen, gibt es auch einen Zwang zur Annäherung und Vereinheitlichung divergierender Meinungen der Parteien. Die Direktwahlen zum Europäischen Parlament üben einen solchen heilsamen Druck auf die Parteien aus. Die notwendigen Vorbereitungen zu den Direkt-wahlen machen eine über das Unverbindliche hinausgehende gemeinsame Programmatik unabweisbar. Noch kann es sich bei allen Parteien auf europäischer Ebene — auch beim Bund sozialdemokratischer Parteien in der EG — nur um einen Minimalkonsens handeln, da sie zunächst einmal von den Vorstellungen ausgehen, die sie im nationalen Rahmen entwickelt haben. Es bleibt abzuwarten und zu hoffen, daß der europäische Gedanke eine Dynamik entfaltet, aus der heraus die Konzeptionen der Parteien ihrerseits Anregungen und Impulse erhalten. Erst dann wird man auch im parteipolitischen Sinne von einer Dynamik der Einheit sprechen können.
An die Direktwahlen werden große Hoffnungen für den europäischen Einigungsprozeß geknüpft. Diese Hoffnungen könnten dann realisiert werden, wenn die führenden Männer der Parteien dem Europäischen Parlament angehören würden und durch ihr persönliches Engagement aus dem Europäischen Parlament, das auf absehbare Zeit keine entscheidenden Kompetenzen haben wird, eine Institution machen, die auf die nationalen Parteien ausstrahlt. Nach den jetzt vorliegenden Informationen scheint dieser Erwartung weitgehend Rechnung getragen worden zu sein. Man darf freilich den Einfluß, der vom direkt gewählten Europaparlament auf die nationalen Parteien ausgehen kann, nicht überschätzen. Er kann vielleicht eine Zeitlang dazu beitragen, unterschiedliche wirtschaftliche und soziale Entwicklungen in den einzelnen Ländern zu überbrücken. Gegen derartige, heute schon erkennbare Fehlentwicklungen wären die Parteien aber auf Dauer machtlos. Hier vermag nur eine Politik der Solidarität — auch im Hinblick auf die neuen Beitrittskandidaten — Abhilfe zu schaffen
Guntram von Schenck, Dr. phil., geb. 1942; Studium der Geschichte, Rechtswissenschaft und Politik in Paris, Bonn und Tübingen; seit 1971 wissenschaftlicher Referent in der SPD-Bundestagsfraktion. Veröffentlichungen u. a.: Die Sozialistische Partei Frankreichs, in: Zeitschrift für Politik 4/1978; Terrorismus als deutsches Phänomen?, in: Neue Rundschau 1/1978; Akademiker — künftig arbeitslos oder sinnvoll beschäftigt?, in: Die Deutsche Universitäts-Zeitung 24/1977; Der griechisch-türkische Konflikt, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 10/1977; Das Hochschulrahmengesetz, Bonn 1976; Der Kampf um die Hochschulen oder Das Hochschulrahmengesetz, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 29/76; Westeuropa und das nördliche Mittelmeer, in: Außenpolitik, Zeitschrift für internationale Fragen, 2/75; Die peruanische „Revolution", in: Dokumente 2/1976; Wirtschaftsdemokratie, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 4/1975; Sozialdemokraten und Liberale, in: Die Neue Gesellschaft 5/1973.
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