Italien 1979. Das Ende der Notstandskoalition und die Krise des „historischen Kompromisses"
Michael Kreile
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Zusammenfassung
Die italienischen Wahlen vom 3. Juni 1979 haben eine Phase der Zusammenarbeit zwischen den Parteien des „Verfassungsbogens" unter Einschluß der Kommunistischen Partei Italiens beendet. Wahlen waren nötig geworden, weil die Notstandskoalition, welche die parlamentarische Basis des Minderheitskabinetts Andreotti bildete, an der Unvereinbarkeit der von ihren Protagonisten verfolgten politischen Strategien zerbrochen war. Das Wahlergebnis stellt einen Rückschlag für die Strategie des „historischen Kompromisses" dar, wie sie die kommunistische Partei unter Führung Berlinguers vertritt. Der Beitrag umreißt zunächst die Ausgangsbedingungen für die Notstandskoalition — Bedingungen, die der Ausgang der Wahlen des Jahres 1976 geschaffen hatte — und skizziert in groben Zügen die Strategien der drei großen Parteien. Dabei werden die Gründe beleuchtet, welche die PCI veranlaßten, ihre Beteiligung an der Koalition aufzukündigen und vorzeitige Neuwahlen herbeizuführen. Nach einer Analyse des Wahlergebnisses werden einige der zentralen wirtschaftlichen Probleme dargestellt, mit denen sich eine neue Regierung in Rom konfrontiert sieht.
I. Einleitung
„Die Macht nutzt den ab, der sie nicht hat." Dieses Wort des amtierenden italienischen Ministerpräsidenten Andreotti bietet eine mögliche Erklärung für das hervorstechende Ergebnis der Parlamentswahlen vom 3. Juni 1979: Zum ersten Mal in der italienischen Nachkriegsgeschichte hat die Kommunistische Partei Italiens (PCI) einen bedeutenden Stimmenverlust hinnehmen müssen. Ihr Stimmenanteil bei den Wahlen zur Abgeordneten-kammer sank von 34, 4 Prozent im Jahr 1976 auf 30, 4 Prozent. Die Democrazia Cristiana (DC), die das Land seit mehr als dreißig Jahren regiert, Juni 1979: Zum ersten Mal in der italienischen Nachkriegsgeschichte hat die Kommunistische Partei Italiens (PCI) einen bedeutenden Stimmenverlust hinnehmen müssen. Ihr Stimmenanteil bei den Wahlen zur Abgeordneten-kammer sank von 34, 4 Prozent im Jahr 1976 auf 30, 4 Prozent. Die Democrazia Cristiana (DC), die das Land seit mehr als dreißig Jahren regiert, konnte sich mit 38, 4 Prozent (gegenüber 38, 8 Prozent 1976) weitgehend behaupten. Berlinguers Strategie des „historischen Kompromisses" 1), die auf ein breites Bündnis der Parteien der Arbeiterbewegung mit den katholischen Kräften Italiens zielt, hat — wenn sie schon nicht gescheitert ist — einen ernsten Rückschlag erlitten. Angetreten mit dem Anspruch, „Partei des Kampfes" und Regierungspartei in einem zu sein (partito di lotta e di governo), hat die PCI die Spannung zwischen diesen beiden Rollen mit einer Krise ihres Selbstverständnisses und der Abwanderung enttäuschter Wähler bezahlt. Die Notstandskoalition der sechs Parteien des „Verfassungsbogens" 2), die parlamentarische Basis des Minderheitskabinetts Andreotti, ist an der Unvereinbarkeit der von ihren Protagonisten verfolgten politischen Strategien zerbrochen.
Als Gewinnerin der „Politik der nationalen Einheit" erscheint die Democrazia Cristiana, der viele Beobachter nach den Wahlen der Jahre 1975 und 1976 vorschnell den unaufhaltsamen Niedergang prophezeit hatten. Ihre Zentralität im politischen System bleibt erhalten. Wenn sich auch das Schreckgespenst einiger westlicher Regierungen, der Einzug der Kommunisten in die römische Regierung, einstweilen verflüchtigt hat, so hat der Wahl-ausgang das Problem der Regierbarkeit Italiens keineswegs gelöst. Die Stimmengewinne der kleinen laizistischen Parteien und der 0, 2 Prozent-Zuwachs bei den Sozialisten haben die politische Kräftekonstellation nicht nennenswert verändert. Die spektakulären Stimmengewinne der Radikalen Partei, die viele jugendliche Protestwähler angezogen hat, der Rückgang der Wahlbeteiligung und die hohe Zahl weißer oder ungültiger Stimmzettel sind eher als neue Krisensymptome zu werten. Der Erfindungsreichtum römischer Regierungstechnik bei der Schöpfung von Koalitionsformeln dürfte kaum ausreichen, um der ungelösten wirtschaftlichen und sozialen Strukturprobleme Herr zu werden, deren Erscheinungsformen — Streiks, Terroranschläge, Korruptionsskandale — dem deutschen Zeitungsleser nicht selten das Bild eines Landes am Rande des Abgrunds vermitteln. An Analysen zur italienischen Krise herrscht kein Mangel — kaum ein italienischer Sozialwissenschaftler von Rang, der nicht einen Beitrag zu ihrer Entschlüsselung vorgelegt hätte 3). Für den in den USA lehrenden Poli-tikwissenschaftler Giuseppe di Palma liegt die eigentliche Ursache der Wirtschaftskrise und der sozialen Konflikte nicht in objektiv unlösbaren Problemen, sondern in der mangelnden Effektivität der Regierungen. Diese sei wiederum in der Struktur des italienischen Parteiensystems begründet, das sich durch einen hohen Grad der ideologischen Polarisierung zwischen den maßgebenden politischen Kräften auszeichne und deshalb zum Immobilismus tendiere
Der Präsident des italienischen Unternehmer-verbandes Confindustria hat folgende Diagnose gestellt: Bis Anfang der sechziger Jahre habe das Wirtschaftssystem nicht zuletzt aufgrund der Schwäche der Gewerkschaften einen kapitalistischen Überschuß hervorgebracht, der nach dem Kriterium unternehmerischer Entscheidungen verwendet worden sei. Soziale Investitionen seien vernachlässigt worden mit der Folge, daß sich unerfüllte Erwartungen im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung akkumulierten. Diese seien dann stufenweise explodiert, zuletzt in der Phase der Arbeitskämpfe zwischen dem Herbst 1969 und 1971, in denen die Masse der Industriearbeiter einen Lohn auf europäischem Niveau erstritten habe bei einem Steigerungsrhythmus der Arbeitskosten, der weit über dem europäischen Durchschnitt liege, bei stagnierender oder sinkender Produktivität. In diesem Prozeß sei der kapitalistische Überschuß völlig zerstört worden, und die politischen Machteliten hätten dabei auch einen erheblichen Beitrag geleistet. Italien, so Carli, befinde sich in einer schizophrenen Lage. Es habe die fortgeschrittenste Frauenbewegung, die stärkste kommunistische Partei, eine der kämpferischsten Gewerkschaftsbewegungen, die revolutionärsten Studenten und die höchste Zahl von Hochschulabsolventen in Europa. Andererseits sei es ein Industrieland, in dem noch große ländliche Inseln existierten, mit einer Verwaltung und politischen Institutionen, die zu einem guten Teil im Jahr 1865 stehengeblieben seien
Sidney Tarrow, einer der besten Italien-Kenner in den USA, analysiert die wirtschaftliche Krise, die sich in hohen Inflationsraten, Investitions-und Wachstumsschwächen, Zahlungsbilanzproblemen und galoppierenden Defiziten der öffentlichen Hand manifestiert, als Produkt der strukturellen Schwächen der wirtschaftlichen Nachkriegsentwicklung: ex-4 portgestütztes Wachstum auf der Basis reichlich verfügbarer Arbeitskräfte und niedriger Löhne, wirtschaftlicher Dualismus (Entwicklungsgefälle zwischen Nord und Süd) und Vernachlässigung der sozialen Infrastruktur. Den Immobilismus der Regierungspolitik schreibt er dem Umstand zu, daß der von der DC organisierte Herrschaftsblock durch interne Interessengegensätze gelähmt wurde. Nach Tarrow hat sich die Krise nach den Wahlen vom Juni 1976 aus dem Bereich der Massenmobilisierung und der wirtschaftlichen Marktmechanismen in den politischen Bereich verlagert in dem Sinn, daß ein Primat der Politik begründet wurde. Nunmehr setzte jeder umfassende Eingriff zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise eine Übereinkunft zwischen den beiden stärksten politischen Kräften voraus
In der Tat hat inzwischen die wirtschaftliche Krise einige ihrer dramatischen Merkmale verloren. Unter der Regierung Andreotti wurde die Inflationsrate fast halbiert, das Zahlungsbilanzdefizit von 3 Mrd. Dollar (1976) in einen Überschuß von 8 Mrd. Dollar (1978) verwandelt, die Auslandsverschuldung abgebaut und die Kapitalflucht gestoppt Der Aufschwung der Jahre 1977/78 stand im Zeichen einer bemerkenswerten Mäßigung der Gewerkschaften. Zweifellos hat auch die Tatsache, daß die Regierung sich bei ihrer Wirtschaftspolitik auf eine breite Parlamentsmehrheit stützen konnte, zur wirtschaftlichen Stabilisierung beigetragen. Diese Feststellung bedeutet nicht, daß es eine mechanische Beziehung zwischen kommunistischer Regierungsunterstützung, gewerkschaftlicher Zurückhaltung und Konjunkturbelebung gegeben hätte.
Die folgenden Ausführungen versuchen zunächst die Entstehungsbedingungen der Notstandskoalition, wie sie das Wahlergebnis vom Juni 1976 geschaffen hatte, darzustellen und die Strategien der drei großen Parteien zu skizzieren, die zu ihrem Zerfall und den vorgezogenen Neuwahlen vom 3. Juni 1979 führten. Nach einer knappen Analyse des Wahlergebnisses werden anhand einiger Daten die Licht-und die Schattenseiten der gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage Italiens illustriert und einige der Probleme erörtert, mit denen die neue italienische Regierung konfrontiert ist.
II. Die PCI im Vorhof der Macht — Die Wahlen von 1976 und ihre Folgen
Der Wahlkampf des Jahres 1976 fand vor dem Hintergrund eines wirtschaftlichen Desasters statt. 1975 war das Sozialprodukt um 3, 7 °/o, die Investitionen um 24 o/o gefallen. Die Preissteigerungen des Frühjahrs 1976 ließen, auf das Jahr umgerechnet, eine Inflationsrate von 30 % befürchten. Die Talfahrt der Lira schien kaum mehr zu bremsen, und die Zahlungsfähigkeit des Landes war nur durch ausländische Devisenkredite aufrechtzuerhalten. Die Verantwortung für diese Lage wurde in der Öffentlichkeit den regierenden Christdemokraten, allen voran dem Schatz-minister Colombo, angelastet. Außerdem wurden die Christdemokraten und ihre Koalitionspartner der Mitte-Links-Regierung durch die Enthüllung von Korruptionsskandalen diskreditiert (Lockheed-Affäre). Nachdem die Democrazia Cristiana beim Referendum über die Ehescheidung eine Niederlage erlitten hatte — die „Anti-Scheidungsfront" aus. DC und Neofaschisten (MSI) vereinigte auf sich 40, 7 ’/o der Stimmen, während nach dem Wahlergebnis von 1972 die DC über 38, 7 °/o und die MSI über 7 °/o der Stimmen verfügten — und sich bei den Regionalwahlen vom Juni 1975 der Abstand zwischen DC (35, 3 °/o) und PCI (33, 4%) auf eine Marge von 1, 9% verringerte, schien das Ende einer Ara christdemokratischer Hegemonie gekommen und ein Wahlsieg der Kommunisten in greifbare Nähe gerückt zu sein.
Die PCI führte den Wahlkampf mit dem Ziel der Regierungsbeteiligung in einer breiten Koalition, deren vorrangige Aufgabe die Überwindung des wirtschaftlichen Notstands zu sein hätte. Sie warb mit ihrem durch erfolgreiche Kommunalverwaltung errungenen Image der Effizienz und vermochte sich glaubwürdig als Partei „mit sauberen Händen" darzustellen*). Um ihren undogmatischen und pluralistischen Charakter zu unterstreichen, nahm die Partei unabhängige Kandidaten in ihre Listen auf, so z. B.den EG-Kommissar Altiero Spinelli, den Ex-General Nino Pasti und den linkskatholischen Publizisten Raniero La Valle.
Der Ausgang der Wahlen brachte eine Überraschung: Die Democrazia Cristiana erholte sich von ihren Verlusten des Vorjahres und konnte mit 38, 7 0/0 der Stimmen ihren Stand von 1972 halten. Die PCI erreichte mit 34, 4 % das beste Ergebnis ihrer Geschichte. Die Stabilisierung der DC erfolgte allerdings auf Kosten der kleinen Parteien des Zentrums und der Neofaschisten. Die Liberale Partei (PLI) verlor fast zwei Drittel ihrer Wähler; ihr Stimmenanteil sank von 3, % (1972) auf 1, 3%. Die Sozialdemokraten (PSDI) verzeichneten einen Rückgang von 5, 1% auf 3, 4%, die Neofaschisten von 8, 7 % auf 6, 1 %. Die Tendenzen zur Konzentration und zur Polarisierung innerhalb des Parteiensystems wurden dadurch verstärkt.
Gemessen am Ergebnis der Regionalwahlen des Vorjahres konzentrierten sich die Gewinne der PCI vor allem auf den Süden (+ 4, 8%; Norditalien: + l, l %; Mittelitalien: + 1, 8 %). In den Großstädten stieg der kommunistische Stimmenanteil gegenüber 1972 um . 9, 7 % in Turin, um 9 % in Rom und um 10, 7 % in Neapel.
Der Partei gelang es, die soziale Basis ihrer Wählerschaft auszudehnen, indem sie bei den Mittelschichten an Boden gewann, und gleichzeitig ihren Rückhalt in der Industrie-arbeiterschaft zu stärken. Handelte es sich bei dem „großen Sprung nach vorn" der PCI (+ 7, 2% gegenüber 1972) um einen politischen Erdrutsch, wie viele Beobachter meinten? Giacomo Sani kommt aufgrund seiner Untersuchungen zu dem Schluß, daß bei den Wahlergebnissen von 1975 und 1976 das Moment der Kontinuität überwiegt. Das Abschneiden der Kommunistischen Partei stellt sich danach als Kulminationspunkt einer graduellen Entwicklung dar, die zuletzt durch demographische Faktoren und durch Prozesse des sozialen Wandels beschleunigt wurde, die zu einer Erosion der Wählerbasis der Mitte-Rechts-Parteien geführt haben. Hierzu zählen der rückläufige Einfluß der katholischen Tradition sowie die Sozialisations-und Kommunikationsbedingungen der Jungwähler 9). Von den 1976 erstmals wahlberechtigten 5, 5 Mio. Jungwählern im Alter von 18-24 Jahren haben nach Schätzungen 55-60 % für die Parteien der Linken gestimmt. Zwischen 39 und 42 0/0 der Jungwählerstimmen entfielen auf die PCI
Für die drittgrößte Partei Italiens, die Sozialisten (PSI), brachten die Wahlen eine herbe Enttäuschung. Zwar konnte die Partei mit 9, 66 0/o ihr Ergebnis von 1972 (9, 62 °/o) halten, doch wurde ihr Abschneiden innerhalb wie außerhalb der Partei als schwere Niederlage interpretiert. 1972 hatte die Partei einen überraschenden Tiefstand erreicht; Meinungsumfragen vor der Wahl hatten ihr 12 bis 15 0/o der Stimmen vorausgesagt, und der Kontrast zum Erfolg der kommunistischen Rivalen war nur allzu augenfällig. Nach l bis 15 0/o der Stimmen vorausgesagt, und der Kontrast zum Erfolg der kommunistischen Rivalen war nur allzu augenfällig. Nach langen Jahren gemeinsamer Regierungsverantwortung mit der DC in den Mitte-Links-Kabinetten mangelte es dem Oppositionsprogramm, das mit dem Satz begann „Die PSI kämpft gegen die Hegemonie und das Machtsystem der Christdemokraten, welche die grundlegende Ursache für die schwere Krise des Landes bilden“, offenbar an Überzeugungskraft. Die bürokratische Degeneration des Parteiapparats, das Ausufern interner Flügelkämpfe und ein Defizit an effektiver Basispartizipation boten ebenfalls keine günstigen Voraussetzungen für die Mobilisierung von Wählern 11).
Die Bildung einer mehrheitsfähigen Regierungskoalition wurde durch das Wahlergebnis außerordentlich erschwert. Zentrums-oder Mitte-Rechts-Koalitionen schieden schon aus rein rechnerischen Gründen aus.
Eine Neuauflage des Centro-Sinistra (DC, PSI, PSDI, PRI) oder eine DC-PSI-Koalition erschienen politisch nicht tragfähig. Eine große Allianz aller Links-Parteien hätte nur über eine knappe Mehrheit in der Kammer, nicht aber im Senat verfügt. Der Kommunistischen Partei war daran ohnehin nicht gelegen. Das von den Kommunisten angestrebte Regierungsbündnis der demokratischen Kräfte stieß auf das Veto der DC gegen eine Kabinetts-beteiligung der PCL Gegen die Kommunisten zu regieren war indessen angesichts des Wahlergebnisses und der wirtschaftlichen Krise des Landes kaum denkbar 12). Blieb nur, der PCI den Vorhof der Macht zu öffnen. Mit Pietro Ingrao stellte die Partei den Präsiden10) ten des Abgeordnetenhauses. Ferner übernahm sie den Vorsitz in acht von 26 Parlamentsausschüssen, denen im italienischen Gesetzgebungsverfahren eine Schlüsselstellung zukommt. Der Ausweg aus der Sackgasse parlamentarischer Arithmetik wurde schließlich mit der Formel des Nicht-Mißtrauens (non sfiducia) gefunden. Die ausschließlich aus Christdemokraten gebildete Minderheitsregierung Andreotti gewann die Vertrauensabstimmung im Parlament bei Stimmenthaltung der Kommunisten, der Sozialisten, der Liberalen, der Sozialdemokraten und Republikaner.
Nahezu anderthalb Jahre (vom August 1976 bis Sommer 1977) hielt diese Konstruktion, die eine Politik der wirtschaftlichen Stabilisierung und der sozialen Reformen ermöglichte. Im Oktober 1976 legte die Regierung Andreotti ein Austeritätsprogramm vor, das auf eine Verringerung der Inflationsrate und eine Senkung des staatlichen Haushaltsdefizits abzielte. Anfang 1977 wurde die Abtreibung liberalisiert und eine Reform des Gesundheitswesens eingeleitet, im Juli die Gleichstellung der Frau in der Arbeitswelt von der Abgeordnetenkammer beschlossen.
Das Parlament nahm die Reform des Mietrechts in Angriff und verabschiedete ein Dezentralisierungsgesetz, mit dem wichtige Kompetenzen auf die Regionen übertragen wurden. Im Juli 1977 einigten sich die Parteien der „non sfiducia“ auf ein umfangreiches wirtschaftspolitisches Programm, in dessen Mittelpunkt die Sanierung der Staatsfinanzen und die Politik der öffentlichen Investitionen standen Die Gewerkschaften reagierten auf die Austeritätsmaßnahmen der Regierung (Erhöhung der Mehrwertsteuer und der öffentlichen Tarife, Begrenzung der Lohnindexierung [scale mobile]) mit Streiks und Protestdemonstrationen. Angesichts steigender Arbeitslosenzahlen forderten sie von der Regierung durchgreifende Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und eine Steigerung der Investitionen im Mezzogiorno.
Die PCI geriet dadurch zusehends in das Dilemma, durch die Unterstützung unpopulärer Maßnahmen der Regierung ihren Rückhalt in der Arbeiterbewegung zu gefährden, ohne auf der anderen Seite die Handlungsmöglichkeiten und den Symbolwert nutzen zu können, die eine volle Beteiligung an der Regierungsverantwortung mit sich gebracht hätten. Als am 2. Dezember 1977 150 000 Metallarbeiter in Rom demonstrierten, begriff die Parteiführung dies als Alarmsignal und entzog dem Kabinett Andreotti ihre Unterstützung. Nunmehr verlangte sie die Bildung eines Notstandskabinetts unter Einschluß der Kommunisten. Die Zeit der Diskriminierung sei zu Ende
Die Democrazia Cristiana war nicht bereit, auf die Forderung der Kommunisten einzugehen; auch der Vatikan und das State Department sprachen sich dagegen aus. Berlinguer gab sich im Februar 1978 mit der formellen Einbeziehung der PCI in die Parlamentsmehrheit zufrieden, da die Partei nicht das Risiko vorgezogener Neuwahlen eingehen wollte. Selbst diese Lösung führte zu heftigen Auseinandersetzungen innerhalb der Christdemokratischen Partei. Die in der „Gruppe der Hundert“ zusammengeschlossenen Abgeordneten lehnten jede weitere Konzession an die PCI ab. Die Einheit der Partei wurde von ihrem Präsidenten Aldo Moro gewahrt, der auf das Risiko hinwies, daß die Kommunisten aus Neuwahlen noch gestärkt hervorgehen könnten. Er verbürgte sich dafür, daß Identität und Werte der Democrazia Cristiana durch das Arrangement mit den Kommunisten nicht angetastet würden. Die DC ließ sich ihr Nachgeben teuer bezahlen. Weder beim Programm noch bei der Zusammensetzung der neuen Regierung machte sie der PCI nennenswerte Konzessionen. Die ursprünglich in Aussicht gestellte Aufnahme unabhängiger Fachminister in das Kabinett, wie sie die PCI gewünscht hatte, fand nicht statt. Die neue Regierung unterschied sich kaum von der alten Andreotti hatte sich einmal mehr als überlegener Taktiker erwiesen.
Am Morgen des März — an dem Tag, an dem die Vertrauensdebatte über die neue Regierung in der Kammer eröffnet werden soll•te — wurde Aldo Moro, der Architekt der Koalition, von der Terrororganisation Brigate Rosse (Rote Brigaden) entführt. Die Vertrauensabstimmung wurde zu einer Demonstration der Einheit der Nation im Kampf gegen den Terrorismus. Bei der Abstimmung in der Kammer erhielt die Regierung Andreotti 555 von 630 Stimmen. Bei den Protestkundgebungen gegen den Terroranschlag wehten die weißen Fahnen der DC neben den roten Fahnen der Kommunisten. Fast zwei Monate lang wurde das Land durch Briefe des Entführten und Kommuniques der Roten Brigaden in Atem gehalten — bis zu dem Tag, an dem der Leichnam des ermordeten Politikers unweit der Hauptquartiere von DC und PCI entdeckt wurde. Weitere Attentate, denen Journalisten, Richter und Polizeibeamte zum Opfer fielen, machten das Jahr 1978 zu einem der schwersten der italienischen Republik.
Im Juni 1978 wurde die Offentlichkeit durch ein neues spektakuläres Ereignis überrascht. Die PCI erzwang den Rücktritt des Staatspräsidenten Leone, den seine Verbindungen zu Schlüsselfiguren der Lockheed-Affäre und die Extravaganzen seiner Familie ins Zwielicht gerückt hatten. Ins Quirinal zog als Nachfolger der 80jährige Sozialist Sandro Pertini ein, ein Mann von unbestrittener persönlicher Integrität, als Held des Widerstands gegen den Faschismus eine Symbolfigur des demokratischen und republikanischen Italien. Die Koalition der nationalen Einheit sollte sich schnell als Provisorium erweisen. Ihre Desintegration vollzog sich in dem Maße, wie die ungleiche Verteilung von Nutzen und Kosten des Experiments zutage trat und die Divergenzen zwischen den Strategien der drei großen Parteien den Spielraum für Kompromisse immer mehr einengten.
III. Die Strategien der drei großen Parteien 16)
1. Democrazia Cristiana
Der Historiker und Publizist Giuseppe Tamburrano hat das politische Kalkül Aldo Moros, das der Öffnung der DC gegenüber den Kommunisten zugrunde lag, folgendermaßen umschrieben: Die DC kann nicht auf die Macht verzichten. Gegen die PCI läßt sich nicht regieren. Folglich bedarf die DC der Zustimmung der Kommunisten, um an der Macht zu bleiben
In der Tat stand und steht die Strategie der Partei unter dem kategorischen Imperativ der Machterhaltung. Nach mehr als dreißig Jahren ununterbrochener Herrschaft hat die DC in vieler Hinsicht den Charakter einer Regime-Partei erworben, bei der die Grenzen zwischen Partei und Staat oft zerfließen Ihr „interclassismo", ihre außerordentliche Fähigkeit, zwischen den Interessen verschiedener Klassen und Schichten zu vermitteln, beruht in entscheidendem Maße auf ihrer Kontrolle des Staatsapparats, der Bürokratie, der Kreditwirtschaft, der Krankenkassen und der Staatsunternehmen. Ämterpatronage und Massenklientelismus, d. h. die Sicherung politischer Gefolgschaft durch die Vermittlung von Arbeitsplätzen, Renten, Subventionen und Aufträgen, sind für die DC wichtige, wenn auch nicht die einzigen Instrumente politischer Herrschaftssicherung
Die wirtschaftliche Krise mußte auch die Stabilität christdemokratischer Herrschaft untergraben, weil sie die Verteilungsmasse reduzierte, die in die Kanäle des Klientelismus fließen konnte. War schon die Annäherung an die PCI nicht zu vermeiden, so galt es wenigstens, den Preis niedrig zu halten, der dem neuen Koalitionspartner zu zahlen war. Deshalb ließ sich beispielsweise die DC die Besetzung von Schlüsselpositionen im öffentlichen Sektor der Wirtschaft nicht entreißen. Eine umfassende Reform und Rationalisierung des Staatsapparats und der öffentlichen Unternehmen lag nicht im Interesse der DC.
Vielmehr wären sie einem Versuch des politischen Selbstmords nahegekommen, weil dabei unzählige Klientelinteressen verletzt worden wären
Aus der Niederlage bei den Regionalwahlen von 1975, welche die Partei wie ein Schock traf, zogen einige Gruppierungen den Schluß, daß die Partei eines Erneuerungsprozesses bedürfe. Die Partei der großen und kleinen Privilegien, der Ämterpatronage und der Korruptionsskandale sollte sich auf ihre Verwurzelung in den Volksmassen besinnen und wieder an ihre traditionellen Werte anknüpfen. Eine Welle der Selbstkritik erfaßte die Partei. Die Wahl Benigno Zaccagninis zum neuen Generalsektretär auf dem Parteikongreß des Jahres 1976 setzte ein Signal der Erneuerung, wenn er auch nur 51, 6% der Delegierten-Stimmen auf sich vereinigen konnte. Die Gruppe „Comunione e Liberazione" (Gemeinschaft und Befreiung) engagierte sich für eine Rechristianisierung der DC. Umberto Agnelli, ein Mitglied der FIAT-Dynastie, ließ sich 1976 auf den Listen der DC in den Senat wählen und suchte in der Partei die Komponente des produktiven Unternehmertums zu stärken. Unter den 1976 gewählten Abgeordneten und Senatoren waren viele neue Gesichter. Die christdemokratische Fraktion in der Kammer bestand zu mehr als einem Drittel, diejenige im Senat zu mehr als der Hälfte aus Parlamentsneulingen In den Führungsgremien der Partei konnte sich die Linie des Wandels und der Erneuerung nicht wirklich durchsetzen. Gegen die sich um Zaccagnini sammelnden Kräfte, die zu einer begrenzten Zusammenarbeit mit der PCI bereit waren, formierten sich die meist konservativeren Strömungen, die auf einen Konfrontationskurs gegenüber den Kommunisten steuerten und zunehmend in der Partei an Boden gewannen Die Besetzung von Minister-und Staatssekretärsposten orientierte sich weiterhin überwiegend am innerparteilichen Proporz der „correnti" (Fraktionen).
Ein verläßliches Urteil darüber, wieweit sich die DC gewandelt hat und ob sie im Begriff ist, eine moderne, für neue Wählergenerationen attraktive Massenpartei zu werden, setzt zweifellos eingehendere Untersuchungen voraus. Als Zwischenbilanz sei eine Stimme aus der katholischen Hierarchie zitiert: „Es ist zu beklagen, daß die in den vergangenen Jahren versprochene . Erneuerung', sei es, was die Führungsmethoden in der Partei, die Vermehrung der .correnti'und die Mitgliederwerbung ... betrifft, sei es insbesondere, was den personellen Wechsel in den Führungs-und Regierungspositionen, den Ausschluß kompromittierter und/oder zu sehr ins Gerede gekommener Personen und die Öffnung der Partei für Vertreter des kulturellen Lebens (uomini di cultura) angeht, zu schüchtern und unsicher gewesen ist und hinsichtlich einiger keineswegs sekundärer Aspekte überhaupt nicht stattgefunden hat."
2. Kommunistische Partei
Wenn die Meisterleistung Moros darin bestand, daß es ihm gelang, die Politik der PCI für die Aufrechterhaltung des Machtmonopols der DC einzusetzen so erfüllte der Einzug der PCI in die Notstandskoalition vor allem eine Legitimierungsfunktion für die Kommunisten. Aus der Sicht der Partei war damit eine 30jährige Diskriminierung beendet, ihre Regierungsfähigkeit prinzipiell anerkannt. Auf der anderen Seite stürzte die unbequeme Position zwischen Ministersesseln und Oppositionsbänken die Partei zusehends in Rollenkonflikte. Die Diskrepanz zwischen den Erwartungen, die viele Mitglieder und Wähler mit dem Wahlsieg von 1976 verbunden hatten, und dem begrenzten Handlungsspielraum, über den die Parteiführung verfügte, wurde immer offenkundiger.
Bei den Kommunalwahlen vom Mai 1978, bei denen ein Zehntel der italienischen Wähler zu den Urnen gerufen wurde, registrierte die PCI einen Stimmenverlust von 9 °/o gegenüber dem Ergebnis von 1976, während die Christdemokraten und die Sozialisten erhebliche Gewinne verbuchen konnten. Besonders hoch fielen die Verluste im Süden aus. Auch die Ergebnisse der von der Radikalen Partei initiierten Volksabstimmungen über die Abschaffung der staatlichen Parteienfinanzierung und des Reale-Gesetzes zur Wahrung der öffentlichen Ordnung im Juni 1978 waren für die Partei desillusionierend. Für die Beibehaltung der staatlichen Parteienfinanzierung stimmten nur 56, 3 °/o der Wähler; in Süditalien und auf den Inseln sowie in den vier größten Städten des Landes, von denen drei kommunistische Bürgermeister hatten, befürwortete sogar die Mehrheit die Abschaffung. Obwohl die staatliche Parteienfinanzierung auch unter vielen Kommunisten unpopulär war, hatte sich die Partei in vorderster Front für die Ablehnung der Referendums-Vorschläge engagiert Der Parteiführung mußte ferner zu denken geben, daß die Mitgliederzahl 1977 stagnierte und 1978 leicht zurückging.
Während an der Basis das Unbehagen über die Zusammenarbeit mit den Christdemokraten wuchs, schienen in der DC diejenigen Kräfte an Stärke zu gewinnen, die eine Politik der Strukturreformen zu sabotieren suchten und zu einer Linie des traditionellen Antikommunismus zurückzukehren wünschten. Seit Ende 1977 häuften sich auch die Angriffe der Sozialisten auf die PCI. Angesichts dieser Entwicklungen, die über kurz oder lang die politische Glaubwürdigkeit und innere Geschlossenheit der Partei untergraben mußten, entschloß sich die Parteiführung, eine Klärung der Verhältnisse herbeizuführen. Jetzt stellte sie die Democrazia Cristiana vor die Alternative: Aufnahme der PCI in die Regierung unter voller Gleichberechtigung oder Auflösung der Koalition der nationalen Einheit mit der wahrscheinlichen Konsequenz vorgezogener Neuwahlen. In einer Rede in Cagliari am 4. Februar 1979 begründete Parteichef Berlinguer die Eröffnung der Regierungskrise durch die Kommunisten folgendermaßen: „Die Wahrheit ist, daß die Solidarität zwischen den Parteien der Mehrheit im Begriff war, zur äußerlichen Form zu werden, während es in der Substanz dahin kam, daß die DC ... sie vor allem seit dem Herbst als neues Instrument benutzte, um ihr eigenes Monopol der politischen Macht zu perpetuieren und zu konsolidieren. Unsere Entscheidung hat diesem Aushöhlungsprozeß Einhalt geboten."
Die von Andreotti gebildete Ubergangsregierung aus Christdemokraten, Sozialdemokraten und Republikanern verlor — wie von Andreotti beabsichtigt — Ende März die Vertrauensabstimmung im Senat. Der 15. Kongreß der PCI, der vom 30. März bis 3. April in Rom stattfand, stand folglich unter dem Zeichen der herannahenden Wahlen. Ihm war eine lebhafte Diskussion der 91 Programmthesen in den Spalten der Parteizeitungen „Unitä’ und „Rinascita" vorausgegangen, in denen die Partei eine Ortsbestimmung hinsichtlich zentraler Fragen der internationalen Politik, der italienischen Gesellschaft, ihrer Bündnispolitik und der innerparteilichen Willensbildung vornahm. In ihren Debattenbeiträgen bemühten sich zahlreiche Redner um eine mit selbstkritischen Akzenten versehene Bilanz der Politik der nationalen Einheit. Applaus brauste auf, wenn die revolutionären Traditionen der Partei beschworen, Identifikationsthemen angesprochen und die Democrazia Cristiana attackiert wurden. Bemerkenswert am Verlauf des Kongresses war die Offenheit der Debatten, das Bemühen, die „Laizität“ der Partei unter Beweis zu stellen oder auch die Tatsache, daß eine als Grußadresse vorgetragene Rede des Sekretärs der Partei der Proletarischen Einheit (PdUP), Lucio Magri — 1969 mit der Manifesto-Gruppe aus der Partei ausgeschlossen —, die sich kritisch mit der Strategie der PCI auseinandersetzte, von den Delegierten mit anhaltendem Beifall bedacht wurde. Diesem Stil entspricht die Streichung des Passus im Parteistatut, der die Mitglieder auf den Marxismus-Leninismus verpflichtet, und die Betonung des undogmatischen Marxismus-Verständnisses Nachdem Staats-präsident Pertini am 2. April das Parlament aufgelöst hatte, wurde Berlinguers Abschlußrede am Tag darauf zum Auftakt des Wahlkampfes, den die Partei mit dem Zwischenlösungen ausschließenden Slogan „Entweder in die Regierung oder in die Opposition“ führte.
3. Sozialistische Partei
Aus der Wahlniederlage von 1976 zog die Sozialistische Partei zunächst personelle Konsequenzen. Das Zentralkomitee wählte ein neues Sekretariat'unter Leitung des bisherigen Vizesekretärs Bettino Craxi, der seine politische Karriere im sozialistischen Studentenverband und in der Mailänder Kommunalpolitik begonnen hatte. Nachdem die Partei sich aus der Unterordnung unter die DC im Centro-Sinistra befreit hatte, galt es nun, für sie eine neue Rolle zu finden. Das Projekt des historischen Kompromisses barg für die Sozialisten die Gefahr, unter einer Großen Koalition zwischen PCI und DC zur Bedeutungslosigkeit herabzusinken, in einem Regime der Konkordanzdemokratie als relevante politische Kraft ausgeschaltet zu werden. Ziel der sozialistischen Strategie mußte es deshalb sein, einen politischen Raum zu erobern, Handlungschancen und vor allem Wähler zu gewinnen. Die Stoßrichtung des neuen Kurses wurde schon im Publikationstitel des Craxi-Berichts vor dem Zentralkomitee im November 1976 deutlich: „Die Zukunft bauen. Die sozialistische Alternative zum parasitären Kapitalismus und zum bürokratischen Kommunismus"
Strategisches Fernziel der Sozialisten ist eine linke Alternative zur Democrazia Cristiana. Diese setzt jedoch nach Ansicht Craxis eine Neuverteilung der Kräfte innerhalb der Linken voraus. In einem Interview führte er aus: „Während es klar ist, daß die PCI — eine vom sowjetischen Block unabhängige PCI versteht sich — für die sozialistische Strategie der Alternative unentbehrlich ist, ist es keinesfalls klar, zumindest von den Zahlenverhältnissen her gesehen, daß eine PSI mit 10 % für eine christdemokratisch-kommunistische Koalition notwendig ist, die schon für sich allein 72 °/o der italienischen Wählerschaft repräsentieren würde. Letztlich kann eine von der PCI dominierte Linke im Verhältnis zur DC ... nur zwischen dem Vorschlag des historischen Kompromisses und einer gleichfalls historischen Opposition oszillieren. Die Erfolgschancen der italienischen Linken hängen deshalb von der Stärkung und Erneuerung des sozialistischen Pols ab."
Mit dieser Konzeption orientiert sich Craxi am Vorbild des französischen Sozialistenführers Mitterrand, und manche italienische Sozialisten betrachten die Stärke der PCI als ein archaisches Relikt in einem modernen Italien. So wenig freilich Berlinguer ein italienischer Marchais ist, so unwahrscheinlich ist auch auf absehbare Zeit eine Umkehr der Kräfteverhältnisse in der italienischen Linken. Nach der Ausarbeitung eines neuen Parteiprogramms profilierte sich das Sekretariat Craxi mit einer Reihe öffentlichkeitswirksamer Initiativen. Als einzige Partei des „Verfassungsbogens“ plädierten die Sozialisten im Fall Moro für Verhandlungen mit den Roten Brigaden, um das Leben des Entführten zu retten. Bei der Neuwahl des Staatspräsidenten taktierte Craxi mit harten Bandagen. Im August 1978 ging er an der ideologischen Front in die Offensive mit einem Aufsatz unter dem Titel „Leninismus und Sozialismus". Darin verband er die Abrechnung mit dem Leninismus mit einem Bekenntnis zu den pluralistischen und libertären Traditionen des Sozialismus unter Berufung auf eine bunte Reihe von Kronzeugen wie Proudhon, Rosa Luxemburg und Russell. In der Öffentlichkeit als Polemik gegen die PCI gewertet, von Berlinguer als „ideologisches Ultimatum" zurückgewiesen, fachte der Aufsatz ein Strohfeuer der Ideologie-Diskussion an
Dem von der Parteiführung artikulierten Willen zur Expansion entsprach insgesamt kein kohärentes, Überzeugungskraft entfaltendes politisches Konzept. Den gegen die PCI gerichteten Initiativen Craxis spendeten zwar sowohl die konservative „Giornale Nuovo" als auch die außerparlamentarische Linke Beifall, doch haftete eben deshalb der taktischen Dynamik ein Hauch von Opportunismus an. Besondere Hoffnungen setzte die Sozialistische Partei auf die Direktwahl zum Europäischen Parlament, da sie sich von ihren europäischen Verbindungen und dem Prestige der Führungspersönlichkeiten der Sozialistischen Internationale — Brandt, Mitterrand und Palme — eine Verbesserung ihrer Wahlchancen versprach. Nach der vorzeitigen Auflösung des Parlaments betrieb die PSI die Koppelung der nationalen mit den europäischen Wahlen. Dies wurde jedoch von der Regierung Andreotti mit einer juristischen Begründung vereitelt.
IV. Die Wahlen vom 3. /4. Juni 1979
Der Wahlkampf entbehrte diesmal jeder Dramatik. Die Democrazia Cristiana und mit ihr die Sozialdemokraten und Republikaner sprachen sich entschieden gegen eine Regierungsbeteiligung der Kommunisten aus. Im übrigen bot die DC ein Konzert mit mehreren Stimmen, in dem die Dissonanzen nicht zu überhören waren. Während die linke Mitte um Zaccagnini ebenso wie Ministerpräsident Andreotti die Türe für eine Fortsetzung der Politik der nationalen Solidarität offenhalten wollten, strebte der rechte Flügel (Fanfani, Piccoli, Bisaglia) eine Neuauflage der Mitte-Links-Regierung an und schien auch bereit, dafür der PSI eine größere Zahl von Ministerposten zuzugestehen. Die PCI kündigte den Rückzug in eine „konstruktive Opposition" an für den Fall, daß ihr die Aufnahme in die Regierung verwehrt würde. Die PSI gab ihre Bereitschaft zu erkennen, in eine Regierung mit der DC unter paritätischen Bedingungen einzutreten, sollte die Formel der nationalen Einheit nicht zum Zuge kommen.
In einer Situation, in der kaum jemand eine radikale Veränderung der Kräfteverhältnisse zwischen den Parteien erwartete, stellte die Radikale Partei Marco Pannellas das einzige belebende Element dar. Die Radikale Partei (PR) ist ein Verbund von Bürgerrechtsbewegungen, welche die Sache der Frauenemanzipation, der Kriegsdienstverweigerer, der Homosexuellen und der Kernkraftwerksgegner vertreten. In ihrer Selbstdarstellung bietet sie ein schillerndes Bild, da sie sich mal als Anti-System-Partei par excellence, mal als Katalysator einer linken Alternative präsentiert und gelegentlich auch als Garant einer effektiven Kontrollfunktion des Parlaments auftritt. Ihr Führer Pannella, der mit Hilfe spektakulärer Aktionen virtuos auf dem Klavier der Medien spielt, gilt den einen als charismatische Figur, den anderen als politischer Scharlatan. Eine bevorzugte Zielscheibe der PR-Kampagne bildete die PCI als Partei des „historischen Kompromisses".
Das Ergebnis der Wahlen vom 3. Juni (vgl. Tabelle) brachte keine Lösung des gordischen Knotens, den die Parteien geknüpft hatten. „Regieren immer schwieriger" lautete die Titelzeile des „Corriere della Sera", von „Wahlen ohne Sieger" sprach der Leitartikler der „Stampa", „Ein Pyrrhus-Sieg über die italienischen Kommunisten“ titelte die „Financial Times" Ein Stimmenrückgang der PCI war weithin erwartet worden, wenn auch nicht unbedingt in dieser Höhe, überraschender waren die (wenn auch nur geringfügigen) Stimmenverluste der DC, nachdem ihr in Meinungsumfragen, die allerdings in Italien notorisch unsicher sind, Stimmengewinne bis zur Marke von 43, 5 °/o (Doxa) prognostiziert worden waren. Die Sozialisten sahen ihre Hoffnungen enttäuscht, da sie bei einer Zunahme von 0, 2 °/o noch unterhalb der als Minimalziel anvisierten lO°/o blieben. Während die Republikanische Partei (PRI) und die Neofaschisten (MSI und Democrazia Nazionale im wesentliehen stagnierten, feierten die Sozialdemokraten (PSDI) und Liberalen (PLI) ihre Erholung von dem Einbruch des Jahres 1976 als Renaissance der kleinen Zentrumsparteien. Die Südtiroler Volkspartei (SVP) gewann in beiden Häusern des Parlaments einen Sitz hinzu. Die Partei der proletarischen Einheit (PDUP) konnte ihre sechs Sitze in der Abgeordneten-kammer behaupten. Die Neue Vereinigte Linke (NSU), ein Wahlbündnis der linksextremen Organisationen Lotta Continua und Democrazia Proletaria, schaffte nicht den Sprung ins Parlament. Das Prädikat des Wahlsiegers gebührt am ehesten der Radikalen Partei (PR) Pannellas, die mit 18 Abgeordneten (vorher 4) in das Palazzo Montecitorio einzog. Ist schon der Stimmenzuwachs der Radikalen Partei, der sich vor allem auf die Jungwähler konzentriert, in gewissem Um-fang als Protestvotum zu werten, so ist der Protestcharakter bei der für italienische Verhältnisse hohen Zahl von Nichtwählern (in Italien besteht Wahlpflicht) und der weißen oder ungültigen Stimmzettel noch eindeutiger. über 4 Mio. Wähler sind nicht zu den Urnen gegangen; die Wahlbeteiligung ist von 93, 49/0 (1976) auf 89, 9 °/o gesunken. 840 000 Stimmzettel wurden weiß abgegeben, 600 000 waren (vermutlich nur zum Teil irrtümlich) ungültig. Hierin äußert sich möglicherweise eine Parteien-und Politikverdrossenheit, für die schon die Volksabstimmung vom Juni 1978 Anhaltspunkte lieferte.
Betrachtet man die Regionalstruktur der Ergebnisse näher, so stellt man fest, daß die Verluste der Kommunistischen Partei besonders hoch ausfielen im Süden der Halbinsel und auf Sizilien sowie in einigen Großstädten des Nordens, dort vor allem in den Arbeiter-bezirken und den Wohnvierteln des Subproletariats. Am besten gehalten hat sich die Partei in ihren traditionellen Hochburgen Emilia Romagna, Toskana und Umbrien, wo sie auch 1979 über 45 °/o der Stimmen erhielt. Den Verlustrekord weist die Region Kampanien auf (7, 42 %) In Neapel selbst fiel die PCI von 40, 8 auf 30, 6 °/o, blieb aber dennoch stärkste Partei. In einer ähnlichen Größenordnung bewegen sich die Verluste in Palermo (von 24, 4 auf 16, 8%) und Catania (von 28 auf 18, 3%). In Rom verlor die PCI 6 Punkte. Die DC registrierte Stimmenverluste in Nord-und Mittelitalien (in Friaul-Julisch Venetien in Höhe von 5, 4 %, in Ligurien von 2, 56 %), die durch Gewinne im Süden weitgehend kompensiert wurden (z. B. Kalabrien: + 3, 45%, Molise: + 4 %, Kampanien: + 2, 7%). In den großbürgerlichen Wohnvierteln der Großstädte des Nordens hat die DC vor allem an die PLI Stimmen abgegeben Die signifikantesten Veränderungen bei der PSI sind im Süden eingetreten, wo die Partei einen Stimmenzuwachs von 1, 65% in Kampanien, von 1, 31 % in Kalabrien und von 1 °/o in Apulien, Sizilien und Latium verbuchen kann.
Ein Vergleich der Ergebnisse von Abgeordnetenkammer und Senat erlaubt trotz einiger methodischer Probleme (unterschiedliche Listen, eine die Persönlichkeitswahl begünstigende Wahlkreiseinteilung beim Senat u. dgl.) Rückschlüsse auf das Wahlverhalten der Jugendlichen im Alter von 18 bis 24 Jahren, da das aktive Wahlrecht für den Senat mit 25 Jahren beginnt. Von der „Unitä" wurde der Stimmenverlust der PCI bei den Jugendlichen auf 10 % geschätzt (von 40 % [1976] auf 30%). Auf die DC sei ein Anteil von 38 % wie 1976 entfallen, auf die Radikale Partei 10% gegenüber 3% (1976) Der Leiter des Meinungsforschungsinstituts Demoskopea schätzt die Parteienanteile bei den Wählern in der Altersklasse zwischen 18 und 25 Jahren folgendermaßen (in %): DC : 30, 3; PCI: 32; PSI: 9, 1; PSDI: 1, 9; PRI: 2; PLI : 1; MSI: 7, 2; PR : 9, 9; PDUP-NSU : 5, 9. Von den 1, 259 Mio. Stimmen der Radikalen Partei stammten über 500 000 von Jugendlichen Wenngleich die Schätzungen differieren, so besteht kein Zweifel daran, daß viele Jungwähler von der PCI zur Radikalen Partei abgewandert sind und daß die PR einen beträchtlichen Teil von Protestwählern repräsentiert. Die höchsten Stimmengewinne erzielten die Radikalen in den Großstädten (in %): Turin (+ 4, 3), Mailand (+ 4, 5), Rom (+ 4, 56) und Neapel (+ 4, 74%), wo sie mit 5, 99% sogar die Sozialisten (5, 93 %) überflügelten. Die Europawahlen vom 10. Juni, die aufgrund der ungünstigen Terminierung trotz einer Wahlbeteiligung in Rekordhöhe (85, 9 %) in ihrer politischen Bedeutung stark relativiert wurden, brachten keine größeren Verschiebungen. Die beiden großen Parteien fielen gegenüber der Woche zuvor etwas ab (DC : — 1, 8, PCI: — 0, 8), während Parteien mit sichtbaren europäischen Partnerbeziehungen eine Prämie empfingen (PSI: + 1, 2; PLI: + 1, 7).
Der Wahlausgang war kaum geeignet, der Forderung der Kommunisten nach einer direkten Regierungsbeteiligung Nachdruck zu verleihen. Nach dem Scheitern des Experiments der Zusammenarbeit mit den Christdemokraten ist die Partei in ein bündnispolitisches Dilemma geraten, da die Sozialisten als Vorbedingung einer Allianz einen Bruch der PCI mit der Sowjetunion verlangen, d. h. in der Praxis ihren Autonomiekurs fortzusetzen wünschen, um eine Kräfteverschiebung innerhalb der Linken zu ihren Gunsten zu erreichen. Gegenwärtig fehlt der PCI sowohl für den „historischen Kompromiß" in seiner koalitionspolitischen Fassung wie für die „linke Alternative", mit der ein Teil der Partei sympathisiert, der Partner. In dieser Situation bietet der Rückzug in die Opposition die Chance, einen innerparteilichen Diskussionsund Klärungsprozeß voranzutreiben.
Wie die Sitzung des Zentralkomitees Anfang Juli gezeigt hat, hält die PCI zwar prinzipiell an der strategischen Perspektive des „historischen Kompromisses" fest, doch muß sie sich die Frage stellen, in welchem Zeitraum und mit welchen Erfolgsaussichten ihre in den 91 Thesen formulierte und von Berlinguer bekräftigte Zielsetzung zu verwirklichen ist, „in der DC eine Richtungsänderung und eine politische Vorwärtsentwicklung in Richtung auf eine progressive Volkspartei auszulösen" (These 68). Wenn es auch verfrüht scheint, von einem Scheitern des „historischen Kompromisses" zu sprechen — eine Wahlniederlage zwingt nicht dazu, eine langfristig angelegte Strategie zu begraben —, so dokumentiert doch die von Zweifeln und Ambivalenzen geprägte innerparteiliche Diskussion, daß aufgrund der Erfahrungen der Kommunisten mit der Notstandskoalition diese Strategie in eine Krise geraten ist.
Da zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Beitrags die Bemühungen um eine Regierungsneubildung eben erst begonnen hatten, wird an dieser Stelle darauf verzichtet, diverse Koalitionsformeln auszuloten oder die taktischen Byzantinismen zu erörtern, die allemal zur Dramaturgie einer römischen Kabinetts-bildung gehören. Klarheit über den künftigen Kurs der Democrazia Cristiana wird wahrscheinlich erst deren Parteikongreß im Herbst bringen. Lohnender erscheint es uns, einige der ökonomischen Probleme zu umreißen, an deren Lösung sich jede neue Regierung bewähren muß.
V. Zur Lage der italienischen Wirtschaft
Vor der Generalversammlung der Banca d'Italia am 31. Mai 1979 konnte Notenbank-gouverneur Baffi mit einer außenwirtschaftlichen Erfolgsbilanz aufwarten. Für das Jahr 1978 wies die Zahlungsbilanz einen Überschuß von 7 000 Mrd. Lire (ca. 16 Mrd. DM) auf, davon 5 400 Mrd. in der Bilanz der laufenden Posten. Ende April 1979 beliefen sich die italienischen Währungsreserven auf 27 400 Mrd. Lire (ca. 63 Mrd. DM) und übertrafen damit um 14 000 Mrd. Lire die offizielle Auslandsverschuldung und die Auslandsverbindlichkeiten der italienischen Banken. Sie reichten aus, um die Wareneinfuhren eines halben Jahres zu decken Auf den Devisenmärkten tendierte der Kurs der Lira nach oben. In Rom war sogar eine Aufwertung der Lira im Gespräch, um die inflatorischen Auswirkungen der Olpreiserhöhungen zumindest teilweise aufzufangen. Ein größerer Gegensatz zum Jahr 1976 war eigentlich kaum denkbar. Damals hatte das Leistungsbilanzdefizit bei 2, 8 Mrd. Dollar gelegen, die Auslands-verschuldung belief sich auf 17 Mrd. Dollar (Ende November 1976) und die Lira hatte zwischen Januar 1976 und Januar 1977 einen Kursverlust von 23 °/o erfahren
Wodurch wurde diese außenwirtschaftliche Tendenzwende verursacht? Neben den Stabilisierungsmaßnahmen, welche die Regierung Andreotti im Frühjahr 1977 mit dem Internationalen Währungsfonds vereinbarte (die von Italien übernommenen Verpflichtungen wurden nur partiell erfüllt), waren dafür vor allem eine geschickte Wechselkurspolitik und die Dynamik der italienischen Exporte verantwortlich. Indem die Banca d'Italia die Kursbewegung der Lira derjenigen des Dollars mit einer leichten Aufwertung folgen ließ, verbilligte sie die in Dollar fakturierten Rohstoffimporte. Mit Hilfe einer leichten Abwertung gegenüber der D-Mark und den übrigen EG-Währungen ermöglichte sie gleichzeitig eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der italienischen Exporte.
Damit war insgesamt eine relativ günstige Ausgangslage für den Beitritt Italiens zum Europäischen Währungssystem gegeben. Allerdings befürchtete man gerade auch bei der Banca d’Italia zu Beginn der Verhandlungen über das EWS eine Einschränkung des wechselkurspolitischen Manövrierspielraums. Die italienischen Exporte nahmen 1978 dem Volumen nach um 10, 8 0/0 zu. Ihnen kam zugute, daß in den Partnerländern Italiens die Konjunktur kräftig anzog. Die Binnen-Nachfrage in den sechs anderen großen OECD-Staaten wuchs im Durchschnitt um 4, 3 %, während sie in Italien bescheidene 1, 70/0 erreichte. Uber niedrige Importe wirkte sich dies freilich positiv auf die italienische Leistungsbilanz aus. Von der Exportexpansion profitierten vor allem die Hersteller traditioneller Konsumgüter. Die Exporterfolge in diesem Bereich (Schuhe, Bekleidung, Möbel usw.) wurden als Zeichen der Vitalität und der unternehmerischen Energien der Klein-und Mittelbetriebe gewertet. Der Investitionsgüter-Export wurde durch den Ausbau des Instrumentariums der Exportkreditgarantien unter dem Außenhandelsminister Ossola gefördert. Außerdem erlebte Italien 1978 einen Tourismus-Boom, der dem Land Deviseneinnahmen in Höhe von 5 000 Mrd. Lire (ca. 11, 6 Mrd. DM) bescherte. Neueste Entwicklungen geben indessen dem Verdacht Nahrung, daß die Phase außenwirtschaftlicher Erfolge sich schon ihrem Ende zuneigt. Die OPEC-Beschlüsse von Ende Juni in Genf werden Italien nach Schätzungen allein 1979 zusätzliche 3 000 Mrd. Lire (ca. 7 Mrd. DM) kosten und einen neuen Inflationsschub verursachen. Nachdem die Lebenshaltungskosten sich 1978 um „nur“ 12, 5% erhöht hatten (gegenüber 18, 1 % 1977) und nach den Vorstellungen der Regierung um nicht mehr als 12 % steigen sollten, ist gegenwärtig damit zu rechnen, daß die Preissteigerungsrate 1979 über 14 % hinausgehen wird. Das Wirtschaftswachstum hat sich zwar 1978 gegenüber dem Vorjahr beschleunigt, ist abernoch unbefriedigend. Das reale Bruttoinlandsprodukt nahm um 2, 6 0/0 zu (gegenüber 1, 7 °/o 1977). Während der private Konsum um 2, 9 0/o gestiegen ist, sind die Ausrüstungsinvestitionen (Maschinen und Transportmittel) um 1, 9 °/o gefallen. An der Investitionsschwäche der italienischen Wirtschaft hat sich also wenig geändert. Die Investitionsquote ist, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, auf 16, 6 °/o gefallen. 1974 hatte sie noch bei 2O°/o gelegen. Italien liegt damit innerhalb der Europäischen Gemeinschaft an letzter Stelle (1977 betrug der Anteil der Bruttoanlageinvestitionen am Bruttosozialprodukt in der Bundesrepublik Deutschland 22, 2, in Frankreich 22, 1, in Großbritannien 18, 2, in Italien 17, 0, in den Niederlanden 21, 2, in Belgien 20, 1, m Dänemark 21, 4 und in Irland 21, 5 °/o) Italien hält hingegen den Rekord bei der Steigerung der Arbeitskosten pro Produkteinheit; Im europäischen Vergleich nahm diese Größe von 1970 bis 1977 um folgende Steigerungsraten zu (in Prozent)
Italien 181 Großbritannien 167 Irland 146 Frankreich 99 Dänemark 87 Belgien 68 Niederlande 64 Bundesrepublik Deutschland 44 Hierbei ist freilich zu berücksichtigen, daß in Italien der direkte Lohnanteil an den Arbeitskosten niedriger liegt als in anderen europäischen Ländern, da die Sozialleistungsbeiträge wesentlich höher sind Parallel zum Rückgang der gewerkschaftlichen Militanz haben sich 1978 die Lohnerhöhungen verringert. Hatten sie 1977 in der Industrie noch 27, 4 0/o betragen, lagen sie 1978 bei 16, 4 °/o. Die Arbeitskosten pro Produkteinheit stiegen um 12, 8% (Vorjahr: 18, 6%) Die Finanzlage vieler Unternehmen hat sich 1978 verbessert. Bei 217 in einer Untersuchung der Banca d’Italia berücksichtigten großen Unternehmen der verarbeitenden Industrie stieg die Selbstfinanzierungsquote bei den Investitionen von 36 % (1977) auf 49 % (1978)
Neben den hohen Lohnkostensteigerungen und dem Indexierungsmechanismus (scala mobile), der eine 100%ige Kaufkraftsicherung für Arbeitnehmereinkommen bis ca, 400 000 Lire im Monat (bei höheren Löhnen sinkt der Anteil) gewährleistet, stellt das Defizit der öffentlichen Hand seit Jahren ein Inflationspotential erster Ordnung dar. Die Auflagen, die der IWF 1977 hinsichtlich der Begrenzung der öffentlichen Defizite gemacht hatte, sind längst vergessen bzw. durch die Ausgabenentwicklung überholt worden. Nach Auffassung des CEEP, einer Gruppe von Wirtschaftswissenschaftlern, kann die Dynamik der öffentlichen Ausgaben als gänzlich außer Kontrolle gelten Im Bericht des Gouverneurs Baffi wird das Haushaltsdefizit für 1978 auf 34 000 Mrd. Lire (ca. 78 Mrd. DM) beziffert; mit dem IWF war ein öffentliches Defizit von 14 450 Mrd. Lire vereinbart worden. Gegenüber 1977 stiegen 1978 die Staatsausgaben um 46 °/o. Nach einer Studie des Finanzwissenschaftlers Reviglio erklärt sich die Explosion des staatlichen Defizits aus einer enormen Erhöhung der Transferzahlungen und des öffentlichen Konsums. Zwischen 1970 und 1975 seien zwei Drittel der Steigerung der öffentlichen Ausgaben auf die Sozialversicherungseinrichtungen entfallen. Bemerkenswert ist, daß 1975 54, 4 % der Ausgaben für Renten auf Alters-und Hinterbliebenen-Renten, 40, 9 % auf die ca. 5 Mio. (!) Invalidenrenten entfielen Die hohe Zahl von Invalidenrenten im Mezzogiorno ist Ausdruck des ökonomischen Dualismus und erfüllt sowohl Arbeitsmarktbedürfnisse als auch die Funktion politischer Loyalitätssicherung Weitere Defizitquellen sind die hohen Subventionen für öffentliche Verkehrsbetriebe, die teilweise horrenden Verluste staatlicher Unternehmen, die oft zum Auffangbecken für bankrotte Privatfirmen geworden sind, und — von der Einnahmenseite her gesehen — ein durch weitverbreitete Steuerhinterziehung bedingtes niedriges Steueraufkommen. Außerordentlich kritisch ist die Lage am Arbeitsmarkt. Weder der bescheidene Konjunkturaufschwung noch die Notstandskoalition haben verhindern können, daß die Arbeitslosenquote von 6, 4% (1977) auf 7% (1978) anstieg. Besonders die Jugendarbeitslosigkeit nimmt in Italien dramatische Züge an. Schon 1976 betrug der Anteil der Arbeitslosen unter 25 Jahren 36, 8 %. Anders als etwa in der Bundesrepublik ist die Arbeitslosenquote unter Jugendlichen mit höheren formalen Ausbildungsqualifikationen sehr hoch. Mehr als 37, 5% der Beschäftigung suchenden Arbeitskräfte waren 1977 Inhaber eines Diploms (Abschluß der sog. „höheren Mittelschule") oder Hochschulabsolventen. Die Schere zwischen den Arbeitsplatzerwartungen der Absolventen des Bildungssystems und dem Angebot auf dem Arbeitsmarkt öffnet sich immer weiter. Die schon zitierte CEEP-Studie kommt zu dem Schluß: „In Italien wird der Arbeitsmarkt immer mehr durch eine faktische Vollbeschäftigung der männlichen Arbeitskräfte in den mittleren Altersklassen, vor allem im Norden, charakterisiert, während bei den Frauen, den Jugendlichen und den Älteren die Erwerbstätigenquote relativ niedrig ist." Auf diese Weise entsteht eine Kluft zwischen den „Garantierten" und den „Marginalisierten", d. h.denjenigen, die über sichere Arbeitsplätze mit Realeinkommensgarantie verfügen, und denjenigen, die von Gelegenheitsjobs leben oder in den Hochschulen als „sozialem Parkplatz" bleiben. Die Ideologen des bewaffneten Aufstands sehen in den Marginalisierten die soziale Basis für die Verwirklichung ihres Revolutionsentwurfs. Die Herausbildung eines dualen Arbeitsmarkts ist nicht zuletzt eine Konsequenz der Gewerkschaftsstrategie seit Ende der sechziger Jahre, die den Arbeitern der großen Industriebetriebe, den Zentren gewerkschaftlicher Kampfstärke, den Anschluß an das europäische Lohnniveau und einen hohen Grad an Arbeitsplatzsicherheit verschaffte. Die Unternehmer reagierten darauf häufig mit einer Strategie der Auslagerung von Produktionstätigkeiten in Klein-und Mittelbetriebe, die oft als Familienbetriebe geführt wurden und in denen der gewerkschaftliche Organisationsgrad minimal war. Wo es möglich war, wurde auch auf die Heimarbeit zurückgegriffen. Mit der Ausweitung der Produktion in Kleinst-und Kleinbetrieben ging eine enorme Zunahme der Schwarzarbeit einher. Als „eco-nomia sommersa" (untergetauchte Wirtschaft, Untergrundwirtschaft) macht dieses Phänomen seit einiger Zeit Schlagzeilen. Dadurch werden eine ganze Reihe von offiziellen Daten der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung relativiert.
Im Dreijahresprogramm der Regierung Andreotti vom Januar 1979 heißt es dazu: „In den letzten Jahren ist der Eindruck einer wachsenden Diskrepanz zwischen der offiziell registrierten und der zugrunde liegenden realen Wirtschaft entstanden... Um Flexibilität zu gewinnen und die Profitabilität wiederherzustellen, hat sich ein wachsender Teil der Produktionsaktivität vor den Statistiken versteckt, um sich vor den Gesetzen zu verstekken. . Schwarze'und . graue'Märkte sind überall im tertiären Bereich aufgeblüht, haben sich aber auch im industriellen Sektor ausgebreitet in dem Maße, wie relevante Teile der Produktion von den großen Unternehmen zu den mittleren und von den mittleren zu den kleinen und kleinsten dezentralisiert wurden. In dieser Fähigkeit, sich nicht nur den statistischen Regeln, sondern auch den fiskalischen Normen, den Sozialbeitrags-und Arbeitsschutzbestimmungen zu entziehen, liegt sicher eine der wichtigsten Erklärungen für die unvermuteten Margen der Vitalität der italienischen Wirtschaft in diesen KrisenJahren"
Das staatliche Statistikamt ISTAT hat vor kurzem seine Angabe des Bruttosozialprodukts um 10 % nach oben korrigiert, und andere Schätzungen beziffern die Leistungen der Untergrundwirtschaft auf über 20 0/0 des offiziellen Sozialprodukts
Einige der bisher aufgeführten Krisenelemente sind Symptome des ökonomischen Nord-Süd-Gefälles Italiens oder sind im Mezzogiorno besonders ausgeprägt. Trotz umfangreicher staatlicher Interventionsprogramme, die zweifellos einen Modernisierungsprozeß im Süden gefördert haben, ist der Abstand im Entwicklungsniveau zwischen Nord und Süd gemessen am Pro-Kopf-Einkommen nahezu gleichgeblieben. Zwar hat sich das Pro-Kopf-Einkommen im Mezzogiorno zwischen 1951 und 1977 fast verdreifacht, doch betrug es Ende 1977 immer noch erst 60% des Pro-Kopf-Einkommens in Nord-und Mittelitalien gegenüber 57 % im Jahre 1951 Die wach-sende Verstädterung des Südens hat Problemen wie Arbeitslosigkeit, Wohnungsbau und sanitäre Versorgung eine Brisanz verliehen, die der Fall Neapel eindringlich vor Augen führt.
Die Schaffung neuer Arbeitsplätze im Süden steht zu Recht ganz oben auf der Prioritäten-liste der Gewerkschaften. Gegenwärtig stellt sich im Zusammenhang mit den Tarifverhandlungen mehrerer Branchen für den Zeitraum 1979-1981 erneut die Frage, welche Folgerungen sich daraus für die gewerkschaftliche Politik ergeben. Nach einer Periode intensiver Konflikte in den Arbeitsbeziehungen, in denen die Gewerkschaften einen tiefgreifenden Wandel in den Machtrelationen innerhalb der italienischen Gesellschaft zugunsten der Arbeitnehmer herbeiführen und eine faktische Veto-Position in der Wirtschaft erringen konnten, setzte sich bei einem Teil der Gewerkschaftsbewegung die Einsicht durch, daß ihre eigene Strategie mit zu den Ursachen der italienischen Krise zählte. Angesichts der steigenden Arbeitslosigkeit vollzogen die Gewerkschaften Anfang 1978 auf ihrem gemeinsamen Kongreß in Rom einen Kurswechsel, indem sie eine gemäßigte Lohn-politik als Gegenleistung für eine vorrangig beschäftigungsorientierte Wirtschaftspolitik anboten („svolta del " 78") CGIL-General-Sekretär Luciano Lama sagte in einem Zeitungsinterview, es sei eine Dummheit gewesen, die Löhne als unabhängige Variable zu behandeln
Angeführt von der CGIL schlossen sich die Gewerkschaften de facto der von Berlinguer proklamierten Linie der Austerität an. Diese Neuorientierung war indessen innerhalb der Gewerkschaftsbewegung keineswegs unumstritten. Widerstand regte sich in der Metall-gewerkschaft FLM, und in der christdemokratischen CISL wurden Vorwürfe laut, die CGIL ordne die gewerkschaftliche Autonomie der PCI-Strategie unter. Im Laufe des Jahres 1978 organisierten „autonome" — d. h. von den drei großen Gewerkschaftsorganisationen unabhängige — Gewerkschaften immer häufiger Arbeitsniederlegungen im Verkehrssektor und bei öffentlichen Dienstleistungseinrichtungen. Es hätte unter diesen Bedingungen, welche den Gewerkschaftsführungen die Gefahr signalisierten, die Kontrolle über ihre eigene Basis zu verlieren, wohl kaum des Auseinanderbrechens der Notstandskoalition bedurft, um die großen Gewerkschaften wieder zu einer militanteren Haltung zu veranlassen Mit dem Rückzug der PCI in die Opposition entfielen allerdings auch die letzten vielleicht noch vorhandenen Gründe für taktische Rücksichtnahme. Die Lohnforderungen in den noch laufenden Tarifverhandlungen sind gemäßigt; der Konflikt betrifft in erster Linie die von der Metallgewerkschaft geforderte Arbeitszeitverkürzung auf 36-38 Stunden und erweiterte Informationsrechte im Unternehmen, eine Forderung, in der die Unternehmer den Vorboten permanenter innerbetrieblicher Konflikte sehen. Das Problem, daß eine gemäßigte Lohnpolitik notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für höhere Investitionen und die Schaffung neuer Arbeitsplätze im Mezzogiorno ist, besteht fort. Angesichts eines Privilegien-Dschungels im öffentlichen Dienst und im tertiären Sektor (z. B. Banken) und krasser Verzerrungen in der Einkommens-und Vermögensverteilung fehlt dem Ruf nach Austerität und Mäßigung die Legitimation, wenn sich damit nicht die Bereitschaft zu einer entschlossenen Reformpolitik verbindet.
Jürgen Hartmann, Dr. phil., Dipl. Pol., geb. 1946; Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Hamburg. Veröffentlichungen: Der amerikanische Präsident im Bezugsfeld der Kongreßfraktionen. Strukturen, Strategien und Führungsprobleme in den Beziehungen der Präsidenten Kennedy, Johnson und Nixon zu den Mehrheitsfraktionen im Kongreß (1961— 1973), Darmstadt 1979 (erscheint in Kürze); Sammelbandbeiträge und Aufsätze über Aspekte der politischen Systeme Westeuropas und der USA.
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