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Landreform in der Dritten Welt — am Ende doch noch? | APuZ 5/1980 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 5/1980 Frißt uns die Landwirtschaft? Die Grenzen der europäischen Agrarpolitik Die gemeinsame Agrarpolitik — Belastung für das Nord-Süd-Verhältnis? Landreform in der Dritten Welt — am Ende doch noch?

Landreform in der Dritten Welt — am Ende doch noch?

Johannes von Dohnanyi

/ 33 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die „Weltkonferenz über Agrarreform und ländliche Entwicklung“, die im Juli 1979 am Sitz der Ernährungs-und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) in Rom stattfand, gibt Anlaß, darüber nachzudenken, was auf diesem Gebiet während der letzten dreißig Jahre eigentlich geschah. Die einseitige Verlagerung des entwicklungspolitischen Schwerpunktes auf eine verstärkte Industrialisierung der Dritten Welt hat lange Zeitvergessen lassen, daß die erste internationale Konferenz über die Situation der Landwirtschaft in den unterentwickelten Ländern bereits Anfang der fünfziger Jahre in den Vereinigten Staaten stattfand. Geblendet von dem unaufhaltsam scheinenden Aufschwung der industrialisierten Länder nach dem Zweiten Weltkrieg, versprach sich die Welt die Lösung aller Probleme der Entwicklungsländer binnen kurzer Zeit durch die Übernahme eben jenes Modells der reichen Länder. Erst die drohende Überbevölkerung der Erde und das sich daraus ergebende Gefahrenpotential verheerender Hungerkatastrophen ließen die Verantwortlichen Mitte der sechziger Jahre sich wieder auf die Landwirtschaft als zentralen wirtschaftlichen Faktor der Dritten Welt zurückbesinnen. Auf einer zweiten Weltkonferenz über Agrarreform im Jahre 1966 in Rom wurden unter dem Gesichtspunkt notwendiger Nahrungsmittelproduktionssteigerungen Empfehlungen zu Landreformen an die einzelnen Regierungen erarbeitet, die unter Umständen wenigstens teilweise zu Erfolgen hätten führen können, hätte nicht die „Grüne Revolution" die Politiker aus dem Dilemma des Handlungszwanges befreit. Die Züchtung neuer ertragreicher Getreidearten versprach in kurzer Zeit die Lösung der anstehenden Probleme, ohne daß auf politisch komplizierte und schwer durchsetzbare Maßnahmen von Landreformen hätte zurückgegriffen werden müssen. So darf es nicht verwundern, daß auch die Konferenz von 1966 ausging wie das Hornberger Schießen. Die siebziger Jahre brachten insofern entscheidende Veränderungen, als die betroffenen Bevölkerungen sich mehr und mehr gegen das ihnen von einer kleinen mächtigen Oberschicht oktroyierte Los zu wehren begannen. Die dritte „Weltkonferenz über Agrarreform und ländliche Entwicklung" wurde von den meisten Regierungen nicht mehr als agrartechnische, sondern als hochpolitische Konferenz verstanden, auf der verfahrenstechnische Probleme nur-mehr von sekundärer Bedeutung waren. Die detaillierten Empfehlungen der Weltkonferenz an alle beteiligten Parteien des Entwicklungsprozesses und die wachsende politische Kraft der Dritten Welt als ganzer wie auch der betroffenen Bevölkerungen lassen einen ersten Lichtstreif nach dreißigjähriger Landreformwirrnis erkennen.

Ein Witz unter Entwicklungshilfeexperten lautet: Wenn Du wirklich wissen willst, welche Maßnahmen für eine erfolgreiche Landreform und für ländliche Entwicklung erforderlich sind, dann verlass'Dich nicht auf die offiziellen Verlautbarungen der Regierungen in der Dritten Welt, sondern wecke mitten in der Nacht den Agrarminister auf und frage ihn, solange er noch schlaftrunken ist. Nur dann wirst Du das Wichtigste ohne Beschönigung erfahren.

Das Thema Agrarreform ist genauso alt wie das Institut des privaten Eigentums am Acker. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Menschheit von dem Gedanken beseelt schien, das Unrecht auf der Welt ein für alle mal zu beseitigen, erkannte man, daß eines der Grundübel vergangener Zeiten in den extremen Besitz-und Machtunterschieden lag, bedingt durch die ungerechte Verteilung des Produktionsfaktors Boden.

Als die „Weltkonferenz über Agrarreform und ländliche Entwicklung“ (WCARRD) im Juli 1979 am Sitz der Ernährungs-und Landwirt-Schaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) in Rom stattfand, stellte man sich die Frage, was die Staaten der Welt, was die UN-Familie während der letzten dreißig Jahre in Richtung auf bessere ländliche Besitzstrukturen eigentlich unternommen haben. Deutet die Tatsache, daß es sich bereits um die dritte internationale Konferenz zu diesem Thema seit Bestehen der Organisation handelt, auf die nunmehr erwiesene Unmöglichkeit hin, Strukturpröbleme zu lösen, oder haben die Vereinten Nationen und die Staatengemeinschaft schlicht versagt, vielleicht sogar versagen wollen?

Nach dem Zweiten Weltkrieg zeigte sich schnell, daß Idealismus die exakte Analyse der Situation in den Entwicklungsländern nicht ersetzen konnte. Was fehlte, waren neue Konzepte, die sich nicht mehr an die Prinzipien der Kolonialzeit anlehnten, sondern das neue Selbstbewußtsein derjungen unabhängigen Staaten berücksichtigten und stärkten.

In einer Entschließung vom 20. November 1950 (Resolution 401 [V]) beauftragte die Vollversammlung der Vereinten Nationen den Generalsekretär, gemeinsam mit der FAO einen Situationsbericht über die Lage der Agrarwirtschaft in den unterentwickelten Ländern zu erarbeiten. Diese Analyse — „Defects in Agrarian Structure as Obstacles to Economic Development“ — versuchte auf einer relativ breit angelegten Basis nicht nur die Situation zu beschreiben, sondern auch anhand erfolgreich durchgeführter Bodenreformen neue Möglichkeiten aufzuzeigen. Besondere Berücksichtigung fanden in diesem Report die Größe und Ausstattung der landwirtschaftlichen Betriebe, verschiedene Pachtformen, landwirtschaftliches Kreditwesen, die Vergabe von Besitztiteln über Land und Wasser, die Situation der Allmende (Communal tenure) und die besonderen Probleme, die durch Großgrundbesitz und Plantagenwirtschaft entstehen.

Wichtigste Erkenntnis dieser Untersuchung war, daß sich die Probleme der ländlichen Regionen in Entwicklungsländern nicht durch eine simple Neuverteilung von Land lösen ließen. So schwer es heute vielleicht fallen mag, dies als große Leistung anzuerkennen — es war das erste Mal, daß solche Überlegungen als Dokument einer Staatengemeinschaft gleichsam zum Prinzip erhoben wurden. Ausdrücklich erklärten die Mitgliedsländer der FAO, daß es nicht genügt, „den Boden abwesender Großgrundbesitzer denjenigen zu übereignen, die ihn bearbeiten; es muß ebenso dem Kleinbauern geholfen werden, der zwar Boden besitzt, sich aber nicht aus eigener Kraft von permanenter Verschuldung befreien kann. Es müssen Kreditmöglichkeiten für jene Bauern geschaffen werden, die unter dem bestehenden System von der Kreditnahme ausgeschlossen sind. Ebenso sind solche Steuersysteme zu ändern, die vom Kleinbauern oftmals Abgaben verlangen, die in keinem Verhältnis zu seinen Zahlungsmöglichkeiten stehen. Es muß ausdrücklich betont werden, daß Bodenreformen Verbesserungen der sozialen und wirtschaftlichen Institutionen, die Teil des Agrarsystems sind, erfordern, übermäßige Pachtabgaben sind abzuschaffen, genauso wie der Pächter mehr Sicherheit bezüglich des Landes, das er bearbeitet, haben soll. Die Arbeitsbedingungen für Landarbeiter müssen verbessert und die Beschäftigung muß stärker rationalisiertwerden. Das Recht auf Besitz von Boden und Wasser muß für alle gelten. Agrarindustrien sind zu errichten und die Entstehung von freiwilligen Genossenschaften für gemeinsame Einkäufe, Produktvermarktung und Kreditwesen muß gefördert werden."

I. Die erste internationale Konferenz über Agrarreform — 1951

Dieser Forderungskatalog war auch die Diskussionsgrundlage der ersten internationalen Konferenz über Agrarreform, die gemeinsam von den Vereinten Nationen, dem Internatio-N nalen Arbeitsamt (ILO) und der FAO im Jahr 1951 in den USA abgehalten wurde. Beeindruckt von dem niederschmetternden Ergebnis der UN-Analyse hatte die FAO im gleichen Jahr das Thema Bodenreform auf die Tagesordnung ihrer ordentlichen Mitglieder-konferenz gesetzt, die wiederum beschlossen hatte, daß „Agrarreform ein wichtiges Aufgabengebiet der FAO in den nächsten Jahren werden sollte"

Ähnliche Leitlinien für die künftige Arbeit setzten sich freilich auch der „Wirtschafts-und Sozialrat" (ECOSOC) der Vereinten Nationen und die ILO in Genf. In dem sofort einsetzenden Kompetenzgerangel und dem Streit um die Federführung bei den künftig durchzuführenden Arbeiten zog die FAO zunächst den kürzeren. Als rein technische Organisation abqualifiziert, durfte sie lediglich mit Datensammlungen und praktischen Vorschlägen für die Ausführung der von anderen Institutionen abgefaßten Richtlinien dienen. Der Kompetenzwirrwarr zeigte sich auch bei der oben erwähnten ersten Agrarreformkonferenz. Zwar spricht das Schlußdokument alle im ersten UN-Report zur Lage der Landwirtschaft in unterentwickelten Ländern erwähnten Probleme an. Es wird auch anerkannt, daß es kein welt-einheitliches Lösungsmodell für die in verschiedenen Ländern bestehenden Schwierigkeiten geben kann, sondern daß Lösungen gemäß den regionalen Bedingungen gesucht werden müssen. Diesen ersten und noch theoretischen Schritt nachzuvollziehen, gelang aber nicht einmal den veranstaltenden Organisationen selbst. Die ILO beharrte darauf, zuvorderst müsse die Arbeitssituation der auf dem Lande lebenden Menschen verbessert werden. Der ECOSOC wollte gemäß seiner Aufgabenstellung die wirtschaftliche und soziale Lage geändert sehen. Und die FAO endlich operierte mit Unterlagen, die sie von den beiden anderen Organisationen zur Verfügung gestellt bekam, mixte sie mit ihren eigenen Daten und erstellte so eine dritte Variante des Agrarreformprogramms.

Rückblickend wird allerdings deutlich, daß es letztlich keiner der Organisationen und ebenso keiner der Regierungen wirklich um Agrarreform und ländliche Entwicklung ging. Das unaufhaltsam scheinende Wirtschaftswachstum in den westlichen Ländern und die sich ständig verbessernden Lebensbedingungen der Menschen in diesem Teil der Welt hatten die meisten Politiker zu der Annahme verführt, auch die Probleme der unterentwikkelten Länder seien mit eben diesem Rezept verhältnismäßig schnell zu lösen. Die ökonomische Beweisführung erschien angesichts der weltweiten Erfolge der Industrialisierung einfach: Mit Hilfe der modernen Technik würden sich die Agrarerträge um ein Vielfaches steigern lassen, wobei der bewußt schwammig formulierte Faktor „Vielfaches" ausreichen sollte, -Hunger und Unterernährung zu beseitigen. Eine solche Ertragssteigerung würde freilich das sich allmählich manifestierende Sozialproblem nicht lösen, sondern es eher verschärfen, da der vermehrte Einsatz moderner Technologien und der Wandel von einer arbeits-zu einer kapitalintensiven Produktionsform Arbeitskräfte freisetzen würde. Um sowohl die landwirtschaftlichen Arbeitskräfte wie die freigesetzen oder überhaupt nicht in den Produktionsprozeß eingegliederten Menschen mittels eines angemessenen Einkommens an der wirtschaftlichen Entwicklung nicht nur zu beteiligen, sondern diese durch gesteigerte Nachfrage noch zu beschleunigen, müßten vor allem in ländlichen Ballungsräumen Industrien angesiedelt und damit Arbeitsplätze geschaffen werden. Die Zukunft der Landwirtschaft wurde in den Analysen und Empfehlungen der frühen fünfziger Jahre nicht so sehr durch Agrarstruktur-reformen bestimmt, sondern vor allem durch schnelle Industrialisierung. Theoretische Ideale der Entwicklungspolitik dieser Periode, die aus den unterentwickelten Ländern ohne Rücksicht auf kulturelle, soziale und politische Besonderheiten „Abziehbilder“ der sogenannten entwickelten und industrialisierten Ländern machen wollten, wurden durch Träger und Planer der Entwicklungspolitik dieser Zeit noch gefördert. Die Dritte Welt, Jahrzehnte-und jahrhundertelang durch Kolonialsysteme an der eigenen Entfaltung und Selbstverwirklichung gehindert, sah sich in dieser Anfangsphase der „Entwicklungshilfebewegung" außerstande, dem technischen und wissenschaftlichen Monopol der industrialisierten Welt alternative Wertvorstellungen und Konzepte entgegenzusetzen. Der Ausbildungsstand der herabblickend als „Eingeborene" bezeichneten Völker war durch die Kolonialherren vorsätzlich niedrig gehalten worden. Als Beispiel mag Sambia dienen.

Als das Land 1963 die Unabhängigkeit erlangte, produzierten rund 1200 weiße Farmer über 80 Prozent der für den Binnenmarkt bestimmten Agrarprodukte. Unter der schwarzen Bevölkerung von mehr als zwei Millionen gab es 104 Schulabgänger, die bis zum Abitur gekommen waren; bis zum Jahr 1963 hatten nur drei farbige Studenten die Hochschule als Agronomen bzw. Landwirte absolviert.

Das Kolonialsystem hatte den Ländern zwar Uniformen, Waffen und Verwaltungsstrukturen hinterlassen, doch keine Fachleute zur Füllung der durch den Abzug der alten Herren entstandenen Lücken. Kein Wunder also, daß dieselben weißen Experten, die bis dahin dem Kolonialsystem gedient hatten, nun in den Verwaltungen nicht nur bilateraler Einrichtungen, sondern auch internationaler Organisationen wieder auftauchten und unter dem neuen Etikett „Entwicklungshilfe" ihre Kolonialpolitik fortsetzen: Sie formulierten Entwicklungsziele und Strategien, erarbeiteten Projekte, schickten ihre alten Kollegen als Entwicklungshilfepersonal in jene Regionen, in denen sie nach ihren Maßstäben Mangelerscheinungen festgestellt hatten — und ließen die eigentlich Betroffenen, die Entwicklungsländer, an diesem ganzen Prozeß allenfalls passiv teilnehmen. Dieser Ausschluß der Betroffenen von der Neuorientierung ihres Lebens warf damals allerdings kaum Probleme auf. Die Entwicklungsländer waren den Kolonialsystemen und ihren Ideen noch so verhaftet, daß sie kaum begriffen, wie ihnen geschah. Wurde einzelnen dennoch unangenehm bewußt, welchem Geschehen sie ausgesetzt waren, so sorgten die Industriemächte mit wirtschaftlichem Druck und notfalls mit Waffengewalt schnell für Ruhe und Ordnung. Die südamerikanische Geschichte in unserem Jahrhundert ist kaum mehr als eine Aneinanderreihung gewaltsamer Durchsetzungsversuche ausländischer Wirtschaftsinteressen. Daran hatte auch die idealschwangere Gründung der Vereinten Nationen wenig geändert.

Begünstigt wurde die Politik der Vereinten Nationen in deren Anfangsphase auch durch fehlendes Unrechtsbewußtsein der ehemaligen Kolonialmächte. Die Vorstellung, der desolate Zustand der Volkswirtschaften in den unterentwickelten Ländern könnte von ihnen zumindest mitverursacht worden sein, kam ihnen kaum. Historische Zusammenhänge völlig außer acht lassend, konnte die erste Agrarreformkonferenz 1951, deren Ablauf im wesentlichen durch die Industrieländer bestimmt wurde, ein erschreckendes Bild des Zustands der Landwirtschaften in unterentwickelten Ländern zeichnen, ohne die Verantwortung der Industrieländer ansprechen zu müssen.

Nach den Erkenntnissen der ersten Agrarreformkonferenz gehörten die landwirtschaftlichen Betriebe in der Dritten Welt im wesentlichen polar entgegengesetzten Formen an. Die überwiegende Mehrheit waren Klein-und Kleinstbetriebe, die allenfalls hinreichten, ihre Bewirtschafter zu ernähren, doch unfähig waren, vermarktungsfähige Überschüsse zu produzieren. Auf der anderen Seite gab es Großgrundbetriebe, die von ihren Eigentümern entweder als Statussymbole oder als Vermögens-objekte betrachtet wurden oder die auf großflächigen Plantagenanlagen Exportprodukte herstellten. Wie extrem die Besitzstandsunterschiede waren, wird an zwei Beispielen deutlich: Im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh waren Ende der vierziger Jahre 81 % aller landwirtschaftlichen Betriebe kleiner als 2 Hektar, während 6 % der Anwesen mehr als 10 Hektar besaßen. Zur gleichen Zeit errechneten UN-Experten, die absolute Untergrenze für die Lebensfähigkeit eines landwirtschaftlichen Betriebs seien 2 Hektar, von denen jedoch die Hälfte ständig bewässert sein müsse. Mit anderen Worten: In einem großen und typischen Teilstaat Indiens bewegten sich während der späten vierziger Jahre etwa 80 % der landwirtschaftlichen Produktionseinheiten ständig am Rande des Untergangs. In Argentinien besaßen zu gleichen Zeit Großgrundbesitzer, deren Betriebsfläche oft größer als 500 Hektar war, mehr als 85 % der gesamten Anbaufläche; 80 % der Landbevölkerung dieses lateinamerikanischen Staates besaßen überhaupt kein Land

Wenn auch in der Retrospektive deutlich wird, wie eng die Anfänge der „Familie der Vereinten Nationen" dem alten Kolonialsystem noch verbunden waren, so sollten die daraus resultierenden Fehler dennoch nicht über den tiefen Wunsch der Mitgliedsländer hinwegtäuschen, Änderungen herbeizuführen. Das Ausmaß des Elends und der Ungerechtigkeiten, über das rechtzeitig vor der ersten Agrarreformkonferenz durch amtliche Statistiken, Datensammlungen und Schaubilder die Weltöffentlichkeit informiert worden war, verfehlte seine Wirkung nicht. Charles Brannan, Agrarminister der USA, sagte auf der 6. FAO-Konferenz 1951, was seither hunderte Male wiederholt worden ist: „Wir dürfen keine anhaltende Verbesserung der Nahrungsmittelproduktion und des ländlichen Lebensstandards, kein Ende sozialer Unruhen und politischer Spannungen erwarten, solange die Menschen, die das Land bebauen, nicht unter sicheren und gerechten Bedingungen leben können."

Auf derselben Konferenz erklärte der brasilianische Delegierte Joso Goncalves de Sousa, in dessen Land die Eigentumsverhältnisse und die sozialen Strukturen denen in Argentinien durchaus ähnelten: w .. es gibt keinen Zweifel, daß es ohne Änderungen der Agrarstruktur in einigen Gegenden der Welt unmöglich sein wird, die Produktion zu erhöhen und der Land-bevölkerungeinen besseren Lebensstandard zu ermöglichen."

Genauso klangen die Erklärungen, die von den beteiligten Staaten auf der ersten Agrarreformkonferenz abgegeben und — nach der Rückkehr nach Hause — schnell vergessen wurden. Zwar waren alle Konferenzteilnehmer aufgefordert worden, die von der Völker-familie festgestellten Mängel in ihren nationalen Agrarwirtschaften und die Benachteiligung der ländlichen Bevölkerung innerhalb der allgemeinen Entwicklung zu beseitigen, doch versank das Reizthema „Agrarreform" schon bald nach der Konferenz wieder im Dornröschenschlaf, aus dem es erst 14 Jahre später für kurze Zeit erweckt werden sollte. Die Agrarreformkonferenz hatte sich letztlich des Themas nur auf theoretisch-wissenschaftlicher Ebene angenommen, die zwar lautes Denken erlaubte, Aktionen aber nicht zwangsläufig nach sich zog. Die Erkenntnis, es könne keine allgemeingültige Lösung der landwirtschaftlichen Probleme geben, enthob die einzelnen Staaten der Verpflichtung, eigene Modelle zu entwickeln. Und da die Umsetzung der — theoretisch durchaus begriffenen — Problemlösungen tiefgreifende politische und soziale Umwälzungen in den meisten unterentwickelten Ländern erfordert hätte, war die Welt — entwickelte Länder genauso wie unterentwickelte — letztlich froh, die Aufmerksamkeit wieder auf andere Bereiche lenken zu können. Je schneller und deutlicher sich in den entwickelten Ländern das „Wunder" des Wirtschaftswachstums vollzog, desto stiller wurde es um die Agrarreform und desto einseitiger wurde Entwicklungspolitik als Industrialisierungspflicht interpretiert.

II. Die zweite internationale Konferenz über Agrarreform — 1966

Mitten in diese unbekümmerte Idylle des Industrialisierungswahns der unterentwickelten Länder platzte um die Mitte der sechziger Jahre die Bombe der Erkenntnis: Das Bevölkerungswachstum macht alle Entwicklungshilfe, alle Aufbauarbeit zunichte. Trotz der einsetzenden weltweiten Panik wurde die Lösung der drohenden Katastrophe rasch erkannt: Mehr Nahrungsmittel mußten produziert werden, um die verhältnismäßig lange Zeit, die ein Anhalten des unkontrollierten Bevölkerungs

Wachstums brauchen würde, einigermaßen unbeschadet zu überstehen.

Erst jetzt erinnerte man sich wieder an die guten Vorsätze der ersten Agrarreformkonferenz — und berief eilig für 1966 eine zweite internationale Konferenz zu diesem Thema ein. Und erfinderisch, wie der Mensch nun einmal ist, wurde eine rettende Idee für die Menschheit formuliert und — um das unvorhersehbare Ergebnis der Weltkonferenz vorwegzunehmen — dabei das eigentliche Problem der Agrarreform, nämlich die ungleichen Macht-und Besitzverhältnisse, elegant umgangen. Denn die Antwort der „World Land Reform Conference", die in Rom am Sitz der FAO abgehalten wurde, war nicht Agrarreform, sondern die sogenannte Grüne Revolution.

In seiner Eröffnungsrede rechnete der Generaldirektor der FAO B. R. Sen den 225 Delegierten aus 76 Ländern das ganze Ausmaß der drohenden Katastrophe mit Zahlen vor, von denen seine Organisation später nichts mehr wissen wollte: „Zwischen 1000 und 1500 Millionen Menschen auf der Welt leiden entweder Hunger oder sind unterernährt, und das Gleichgewicht zwischen Hunger und Nahrungsmittelangebot ist so prekär, daß eine schlechte Ernte oder Naturkatastrophe solche Hungersnöte hervorruft, wie sie erst jetzt in Indien erlebt wurden. Entwicklung in unterentwickelten Ländern muß daher bei der Landwirtschaft beginnen. Dies um so mehr, als ungefähr 70 % der Bevölkerung dieser Regionen von ihr vollständig abhängig sind, was Ernährung und andere Lebensnotwendigkeiten betrifft. Die Minimalforderungen sind ziemlich einfach zu nennen: Um auch nur knapp den durch das Bevölkerungswachstum entstehenden Bedarf abdecken zu können, brauchen wir eine durchschnittliche Wachstumsrate der landwirtschaftlichen Produktion von 3 %. Zwischen 1958 und 1965 lag dieser Durchschnitt bei 2 % und in den letzten vier Jahren (also zwischen 1962 und 1966) sank er auf etwa 1 %, während die Weltbevölkerung jährlich um 2 % wuchs. Eine Wachstumsrate von durchschnittlich 3 % zwischen 1966 und 1975 erfordert erhebliche neue Anstrengungen, ist aber das äußerste zu vertretende Minimum."

Mit diesen Ausführungen waren die Aufgaben der Konferenz von vornherein festgelegt. Es galt, Wachstumsraten zu produzieren, die weit über den bisherigen Durchschnitten lagen und die bemerkenswerterweise später auch fast erreicht wurden.

Die Delegierten brachten das diplomatische Meisterstück fertig, einerseits rasche und umfassende Bodenreformen zu fordern, da sie Vorbedingung der erforderlichen Produktionssteigerung seien, und andererseits die eigene mangelhafte Reformbereitschaft während der vorhergegangenen 14 Jahre geschickt zu kaschieren. Dennoch läßt der Report trotzt aller Schminke bezüglich des Erfolgs versuchter Bodenreformen nichts zu wünschen übrig. „In den meisten Fällen versagten Bodenreformen, weil sie entweder nicht durchgeführt wurden oder aufgrund mangelnder Struktur, Organisation oder Verfahren undurchführbar waren."

Jetzt allerdings, angesichts der ungeheuren Menschenlawine, die man auf sich zurollen sah, erschienen Bodenreformen in weiten Teilen der Dritten Welt unvermeidbar. Und das neue Zauberwort hieß „integrierte Bodenreform". Zwar hatte man bis dato auch schon gewußt, daß eine Umverteilung von Boden-und Wasserbesitz allein nicht hinreicht. Flankierende Maßnahmen wie die Bereitstellung erschwinglicher Kredite für Kleinbauern oder der Ausbau der ländlichen Infrastruktur waren sektoriell abgesondert betrachtet worden. Der Dialog zwischen den verschiedenen Sektoren war entweder unterblieben oder nur äußerst spärlich gewesen. Die FAO beispielsweise besaß lange Zeit keine Soziologen unter ihren Mitarbeitern. Und auch noch relativ lange Zeit nach Einführung der „Integrierten Planung" wurden die Fachleute benachbarter Disziplinen von den Agronomen und Ökonomen, die die Entwicklung bis dahin weitgehend gesteuert hatten, nur als lästiges Anhängsel betrachtet. Von dem Konzept der integrierten Planung versprach man sich verschiedene Vorteile. Intensivere Kenntnis über die Auswirkungen einzelner Maßnahmen sollten Fehlentwicklungen der Vergangenheit verhindern oder doch zumindest abschwächen. Und es sollte möglich werden, durch die Koordination der einzelnen Disziplinen zuerst umfassende Kenntnisse zu gewinnen und diese danach in schlüssige Konzepte und Pläne umzusetzen. In der schon zitierten Eröffnungsrede zur zweiten Agrarreformkonferenz gab FAO-Generaldirektor B. R. Sen folgende Definition der integrierten Planung: „Es ist meine Überzeugung, daß Institutionen mit all ihren technischen und menschlichen Möglichkeiten für Ausbildung und Forschung, für Vermarktung, Transportwesen und Kommunikation, für den Erhalt der Preisstabilität und der Erzielung der erforderlichen Agrarproduktion diese Punkte bei jeder Diskussion über Agrarpolitik, die auf Wachstum ausgerichtet ist, gleichermaßen im Blick haben sollten. Das ist es, was wir unter integrierter Agrarreform verstehen." Die drohende weltweite Hungersnot, derentwegen diese Konferenz ja überhaupt erst zustande kam, forderte von den Politikern Maßnahmen. Denn im Gegensatz zur ersten Konferenz, die ja im wesentlichen nicht über eine Bestandsaufnahme der Agrarsituation der Entwicklungsländer hinaus gekommen war und deren Empfehlungen noch wachsweich und verschwommen waren, war nun dieser Konferenz die Möglichkeit zu umfassenden praktischen Maßnahmen gegeben — und die Welt spürte dies auch. Es mehrten sich die Anzeichen in der Dritten Welt, daß die Völker nicht mehr geduldig ihre Situation hinnehmen wollten, sondern durchaus Veränderungen, notfalls mit Gewalt, anstrebten. Der kubanische Diktator Batista war durch die Guerrillas Fidel Castros aus dem Land gejagt worden. Trotz völliger Blockade durch die westlichen Industrieländer erzählte man sich im lateinamerikanischen Raum geradezu Wunderdinge, die der „Lider Maximo" in kurzer Zeit für die Bevölkerung getan haben sollte. Und auch auf dem afrikanischen Kontinent und in Asien regten sich Befreiungsbewegungen, die sich, da der Westen meistens Verständnis und Hilfe verweigerte, gewöhnlich an östliche Staaten anlehnten und sich deren politische Ideen ausborgten. Der noch gezügelte, aber sich bedrohlich regende Volkszorn mußte also im Ansatz erstickt werden.

„Das Land dem Pflüger" hieß die Parole, die die Konferenz ausgab, und es wurde ausdrücklich, wenn auch umständlich formuliert, daß in „Ländern, in denen extreme Ungleichheiten der ökonomischen Möglichkeiten bestehen, die allgemeine Entwicklungspolitik sich auf die zumindest allmähliche Behebung dieses Zustandes richten sollte, auch wenn sich solche Bestrebungen als schmerzhaft für die Interessen einiger Weniger erweisen sollten“. Zwischen den beiden ersten Agrarreformkonferenzen hatte es unbestritten in vielen Ländern Reformansätze gegeben, die allerdings in keinem Fall die Erwartungen erfüllt hatten. Dennoch scheuten die Politiker auf offener Weltbühne nicht davor zurück, die „großen" und oft als „revolutionär" apostrophierten Veränderungen in ihren Ländern zu preisen und anderen Staaten zur Nachahmung zu empfehlen. Angesichts der Tatsache, daß sich die Lebensbedingungen der meisten Bewohner der ländlichen Regionen in den unterentwickelten Ländern seit der ersten Konferenz eher verschlechtert als gebessert hatten, lösten die Erklärungen vieler Konferenzteilnehmer Verwunderung aus. Dennoch liest sich der Schlußbericht der Konferenz nicht nur wie stolzes Selbstlob auf bereits Erreichtes, die Delegierten verabschiedeten auch eine gemeinsame Resolution, die einen ganzen Katalog von Empfehlungen an die Regierungen enthält — Empfehlungen, die man schon auf der ersten Agrarreformkonferenz gehört hatte. Allerdings hatte das Ganze einen kleinen Haken. Versteckt findet sich im Schlußbericht folgender Satz: „Zum Glück für diese Konferenz und auf die Bitten der Versammelten hin haben die Delegierten die rein politischen Aspekte aus ihren Diskussionen ausgeklammert und sich allein auf die mehr technischen, wirtschaftlichen und sozialen Fragen der Agrarreform beschränkt." Wie es gelungen war, die sachtechnischen Probleme zwar zu erörtern, den realen politischen Zusammenhang mit bestehenden Situationen jedoch zu negieren, wird wohl für alle Zeit ein Geheimnis der hohen Diplomatie bleiben. Daß die Konferenz dennoch als grandioser Erfolg in die Annalen eingehen konnte, lag mit daran, daß der Schlußbericht gar nicht erst an die Öffentlichkeit gelangte. Vorgezeigt wurden nur die absolvierte Tagesordnung und das Schlußkommuniquö, nicht aber die kommentierenden Begleittexte. Die veröffentlichten Texte waren denn auch geeignet, das erwartungsvolle Publikum voll zu überzeugen. Die Konferenz hatte sich in drei Arbeitskommissionen gegliedert, von denen sich die erste mit Problemen der bestehenden Agrarstruktur und ihrer Reform, die zweite mit sozialen und wirtschaftlichen Aspekten der Bodenreform und die dritte mit verwaltungstechnischen, Finanzierungs-und Ausbildungsfragen beschäftigt hatten.

Zur Agrarstruktur und ihrer Reform wurde deutlich gemacht, daß es durchaus wünschenswert sein könne, verschiedene Systeme innerhalb eines Landes zu haben, von denen aber keines gegen die Würde des Menschen verstoßen dürfe: „Die Ziele einer wirklichen Bodenreform können nur erreicht werden, wenn alle Feudal-oder Semifeudalstrukturen beseitigt werden und wenn die neue Struktur ausreichende Anreize für die Bauern bereitstellt, was zum Beispiel in einem Erntepacht-System nicht gegeben ist... Eine erfolgreiche Bodenreform schafft bei der betroffenen Bevölkerung ein neues Bewußtsein und wird das Interesse an landwirtschaftlicher Entwicklung steigern. So wird der notwendige Hintergrund für Ausbildung geschaffen, da die intellektuellen Qualitäten, der gesunde Menschenverstand und die Bereitschaft zur Anstrengung ebenso weiterentwickelt werden wie der Stolz — alles notwendige Eigenschaften für die freiwillige Annahme technologischer Veränderungen." Im Zusammenhang mit diesen Zielen einer Bodenreform steht die Frage nach ihrer Finan-B zierbarkeit. Unter diesen Punkt fällt nicht nur die Frage nach Entschädigungen für enteignete Großgrundbesitzer, sondern auch die Frage, in welcher Form und in welcher Höhe die neuen Eigentümer des Bodens an den Kosten der Reform beteiligt werden sollen und können. Je niedriger das bestehende Steuersystem — so wurde von der zuständigen Kommission befunden — den Landbesitz bewertet, desto höher steigt sein Wert als Renditeobjekt. Damit steigen aber auch die Ablösesummen, die der Staat den ehemaligen Eigentümern ja in jedem Fall im voraus zu entrichten hat, und indirekt durch diese Ausgaben auch die Beteiligung der neuen Landbesitzer. Andererseits, „wenn man berücksichtigt, daß das erste soziale Ziel einer Bodenreform die Einkommensumverteilung ist, dann dürfen Kompensationszahlungen an ehemalige Großgrundbesitzer in keinem Fall auf dem Niveau der Marktpreise liegen. Die Existenz niedriger Steuerveranlagung und geringer Zahlungen in der Vergangenheit — ein gewöhnlicher Zustand in unterentwickelten Ländern — hat in erster Linie die Großgrundbesitzer begünstigt und dies sollte bei der Diskussion über mögliche Kompensationszahlungen mit berücksichtigt werden ... Man sollte sich aber bewußt sein, daß eine gerechtere Steuerpolitik nur eine ergänzende Maßnahme sein kann, die aber keinesfalls in der Lage ist, eine wirkliche Bodenreform zu ersetzen. Es wäre gegen die Ziele einer ernst gemeinten Bodenreform, sollten die gedachten Nutznießer einer solchen Reform die Kosten durch eine zu hohe Besteuerung tragen müssen."

Sowohl Steuersysteme als auch Abwicklung von Entschädigungszahlungen setzen, ebenso wie die Betreuung der Kleinbauern und Pächter, eine funktionierende Verwaltung voraus. Die zuständige Kommission der Agrarreform-konferenz erkannte deutlich, daß es bei Veränderungen der Verwaltungsstrukturen in erster Linie darauf ankommen müsse, sich an den Bedürfnissen der Zielgruppen dieser Reform zu orientieren. Verwaltung sollte aber darüber hinaus nicht allein ein passives Verhalten dieser Gruppen anstreben, sondern alle Betroffenen sollten zur Verbesserung der Administration an Problemdefinition und -lösung partizipieren können. Beteiligung schließt nach Meinung der Delegierten der Konferenz auch die Bildung unabhängiger Organisationen der Betroffenen mit ein.

Bodenreform, so stellte die Konferenz fest, beinhaltet aber nicht nur Besitzumverteilung, sondern auch die Erschließung bislang ungenutzter Agrarflächen. Siedlungsprojekte in Verbindung mit den schon genannten Aufgaben ließen die Zukunft der Landwirtschaft in unterentwickelten Ländern in den Augen der in Rom versammelten Agrartechniker eher rosig erscheinen: „Wenn die Umverteilung des Bodens, eine Verbesserung der Agrarstruktur, Flurbereinigung und Siedlungsprojekte sorgfältig durchgeführt werden, so könnten sie zu besseren Formen der Bodennutzung und -konservierung ebenso führen wie zur Schaffung neuer Anreize, die wiederum eine verbesserte Beschäftigungssituation, höhere Produktivität und erhöhten Lebensstandard zur Folge haben. Tritt dies ein, so könnte es einen wesentlichen Teil dazu beitragen, den Exodus vom Land in die Städte zu stoppen."

Allerdings erfuhr diese positive Prognose gleich einen Dämpfer. Eindringlich weist der Bericht auf den Umstand hin, daß durch Agrarreform allein nicht das Problem der Überbevölkerung auf dem Lande oder der mangelhaften Produktion bzw.des ungenügenden Angebots von landwirtschaftlichen Arbeitsgeräten gelöst werden könne: „Diese Hemmnisse können allein durch Diversifikation der Wirtschaft in Hinblick auf die allgemeine Entwicklung überwunden werden. Dennoch: Bodenreform ist die Vorbedingung, damit ein Wandel zum Besseren und ein Fortschritt erreicht werden können."

In den Bereich einer Landreform und der nötigen Diversifikation fiel auch das Problem der Plantagenwirtschaft, die in einigen Entwicklungsländern, wie auf der Konferenz nachgewiesen wurde, die Entwicklung behindert, wenn nicht sogar unmöglich gemacht hatte. Solche Großbetriebe, die in erster Linie nicht auf die Produktion von Nahrungsmitteln für den einheimischen Markt, sondern auf export-fähige Produkte ausgerichtet waren (und sind), wurden (und werden) häufig von ausländischen Investoren betrieben, die sich weniger für die Situation des Gastlandes als vielmehr für die eigene Rendite interessieren. Plantagen waren Überbleibsel der Kolonialzeit, doch waren sie auch nach der Erlangung der Unabhängigkeit in vielen Fällen in den Händen der ursprünglichen Besitzer geblieben, deren Unternehmenspolitik sich trotz der veränderten politischen Umstände nicht gewandelt hatte. Die benötigten Fachkräfte wurden nicht aus der einheimischen Bevölkerung, sondern aus dem Ausland rekrutiert. Je stärker in den unterentwickelten Ländern wirtschaftlicher Auf-bau und soziale Wohlfahrt — zumindest in der Theorie — zum Mittelpunkt staatlicher Aktivitäten wurden, desto mehr wurden diese Plantagenbetriebe zu einem Dorn in den Augen der auf Unabhängigkeit und eigenständige Entwicklung bedachten Länder der Dritten Welt.

Schon bei der ersten Agrarreformkonferenz war auf die problematische Stellung der Plantagenbetriebe hingewiesen worden. In den vierzehn Jahren zwischen den beiden Konferenzen hatten sich die Schwierigkeiten aber eher noch vergrößert. Verschiedene Delegationen, vor allem aus Lateinamerika und Westafrika, wiesen darauf hin, daß Plantagen in ausländischem Besitz sich zu „Inseln moderner Landwirtschaft inmitten einer tief verarmten Bevölkerung" entwickelt hätten. Die Konferenz erinnerte daran, daß sich die modernen Großbetriebe nicht abschotten dürften, sondern sich ihrer Verantwortung für ihre Umgebung bewußt werden sollten, um so von einer Ausbeutung ihrer nächsten Nachbarschaft zu einer für die allgemeine Entwicklung fruchtbaren Einstellung zu gelangen.

Dieser Hinweis war der einzige kleine Seitenhieb auf die Verhaltensweisen der entwickelten Länder während der ganzen Konferenz. Der Zusammenhang zwischen den Problemen der eigenen Entwicklung und den auf den Weltmärkten herrschenden Bedingungen war der Dritten Welt im Jahre 1966 offentlichtlich noch nicht bewußt. Auch von ihnen wurde zu diesem Zeitpunkt Entwicklungshilfe noch als zwar notwendige, aber letztendlich doch freiwillige Almosengabe durch die Überreichen gesehen. Nur ansatzweise wurde die Frage diskutiert, ob die eigene Armut dem Reichtum der anderen vielleicht dienlich sei. Und die Industrieländer, trotz aller gegenteiligen Behauptungen noch tief im Denken des Kolonialismus verwurzelt, wiesen naturgemäß die unterentwickelten Länder nicht auf die bestehenden Ungerechtigkeiten hin, von denen sie selber so prächtig profitierten. Weltweit war man zudem der Auffassung, Entwicklung — gleich welcher Sektor von ihr betroffen sein sollte — sei mehr ein technisches als ein politisches Problem. Und technische Probleme schienen in jedermanns Vorstellung lösbar.

Auch die FAO betrachtete sich in dieser Zeit als eine rein technische Entwicklungsorganisation, die, losgelöst vom politischen Geschehen, die in den Köpfen der Forscher und Denker aus der entwickelten Welt entstandenen neuen Gedanken und Programme verwaltete und bestenfalls in die Praxis umsetzte. Als solche war die FAO vor allem den industrialisierten Ländern lieb und teuer. Noch im Juli 1979 wähnte die deutsche Delegation anläßlich der 3. Weltkonferenz „Über Agrarreform und ländliche Entwicklung", die Aufgaben der FAO als „Sonderorganisation" seien rein technischer, nicht aber politischer Natur.

Zurück zur 2. Konferenz von 1966: Obwohl die Delegierten die politischen Probleme der Agrarreform ausdrücklich ausgeklammert hatten, ging von der verabschiedeten Resolution ein gewisser Druck auf die teilnehmenden Länder aus, die Beschlüsse von Rom in irgendeiner Form umzusetzen. Vielleicht wäre der Druck angesichts der wachsenden Probleme sogar stark genug geworden, einschneidende Veränderungen herbeizuführen, hätte nicht die moderne Technik die Regierungen aus dem Dilemma befreit und hätte nicht auch die FAO unfreiwillig mitgeholfen, ihnen den Kopf wieder aus der Schlinge zu ziehen. Herbeigesehnt zwar, doch von kaum jemandem erwartet, brach die sogenannte Grüne Revolution aus.

Agrarforschungsinstitute in Mexiko und den Philippinen hatten in jahrelanger Arbeit hoch-ertragreiche Getreidearten entwickelt, die das Hungerproblem auf einmal als kurzfristig — und ohne Zwang zu tiefgreifenden Agrarstrukturreformen — lösbar erscheinen ließen. Die neuen Weizen-und Reisarten hatten unter den optimalen Bedingungen der Laborversuche bis zu zehnfache Ertragssteigerungen gegenüber herkömmlichen Arten erbracht. Fixe Rechner bei den unter öffentlichem Meinungsdruck stehenden Regierungen und bei der FAO, die nicht hintan stehen wollte, waren von der theoretischen Möglichkeit, binnen kürzester Frist die Weizen-und Reisproduktion zu vervielfachen, geblendet. Die Versprechen der Forscher bewirkten jedenfalls, daß Beschlüsse der zweiten Agrarreformkonferenz schnell in den Schubladen — wo ja schon die Unterlagen der ersten Konferenz lagen — verschwanden. Die neue Technologie hatte so — doch das weiß man erst seit kürzester Zeit — dem gerade neuerstarkten Bodenreformimpuls für die nächsten zwölf Jahre ihre Überzeugungskraft genommen. Schlimmer noch, nach der „Grünen Revolution" ging es vielerorten den Kleinbauern und Pächtern noch schlechter als vorher.

Was war geschehen?

Natürlich hatten die Forscher bis zu zehnfache Steigerungsraten mit ihren neuen Weizen-und Reisarten erzielt — aber ihre VerB suchsfelder waren bewässert gewesen. Weltweit sind jedoch heute — 13 Jahre nach „Revolutionsausbruch" — erst etwa 14 % der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche bewässert. Und daß der größere Teil dieser Flächen Eigentum großer Agrarbetriebe ist, versteht sich fast von selbst. Neben Wasser benötigten die neuen Getreidearten aber auch hohe Gaben bestimmter Düngersorten, die in genau vorbestimmten Mengen zu bestimmten Zeiten eingesetzt werden müssen. Schutz gegen Schädlingsbefall und Krankheit ist in höherem Maß erforderlich als bei den herkömmlichen Getreidearten, da viele der ertragreicheren Sorten ungleich geringere natürliche Abwehrkräfte gegen die regional unterschiedlichen Pflanzenseuchen und Schädlinge besitzen.

Hat denn die „Grüne Revolution" in keinem Fall ihre Versprechen einlösen können?

Es hat zweifellos erhebliche Produktionssteigerungen gegeben, vor allem in Asien und Fernost. Diese wurden aber hauptsächlich auf den Feldern der Großbetriebe erzielt, da es in der Regel nur ihnen möglich war, das erforderliche Kapital für die Einführung der neuen Getreidearten und die notwendigen chemischen Produkte aufzubringen.

Statt die segensreichen Möglichkeiten der „Grünen Revolution“ zu nutzen, um die schwierigen Übergangsjahre einer tiefgreifenden Bodenreform einigermaßen unbeschadet zu überstehen, sahen die meisten Länder die Einführung der neuen Getreidearten lediglich als Alternative zu politischen Veränderungen an. „Es wird angenommen, es habe einen großen Durchbruch in der landwirtschaftlichen Produktion gegeben und daß dies in friedlicher Zusammenarbeit ohne den Zwang zu institutionellen Reformen geschehen sei. Der technische Wandel wird als Alternative zum politischen Wandel gesehen. Alle diese Vermutungen sind aber irreführend."

Trotz allem gab es Länder, die sich die Empfehlungen vor allem der zweiten Agrarreform-konferenz von 1966 zu Herzen nahmen. Einige lateinamerikanische Länder haben hoffnungsvolle Ansätze gemacht, die aber im Verlauf politischer Veränderungen mehr oder weniger auf der Strecke blieben. Mexiko führte eine erste Bodenreform bereits 1910 durch, hat aber heute immer noch etwa 2 Millionen Landlose. Bolivien begann nach 1952 mit einem Boden-reformprogramm, das erfolgreich anhob, schnell aber durch die. Großgrundbesitzer hintertrieben wurde und parallel zur „Verbürgerlichung“ der Volksbewegung versandete.

Kuba setzte sein Bodenreformgesetz 1959 in Kraft, und Chile trieb seine Agrarreformvorstellungen zwischen 1964 und 1973 kräftig voran. Danach ging unter der Militärjunta das meiste Land, das von den Reformen der Christdemokraten bzw.der Allende-Regierung umverteilt worden war, wieder zurück an die ehemaligen Besitzer. Auch Peru begann 1968 unter einer verhältnismäßig progressiven Militärregierung mit einer Agrarreform. An diesem Land lassen sich die Schicksale wohl aller übrigen Reformprogramme im lateinamerikanischen Raum am besten aufzeigen. Obwohl das Militär die Anstöße zu tiefgreifenden Veränderungen auf dem Land gab, zögerte es doch aus politischen Gründen, den — legalen — Organisationen der Kleinbauern, Pächter und Landarbeiter politische Macht zuzugestehen. So waren diese Vereinigungen unfähig, zu reagieren, als durch den Militärputsch von 1975 General Velasco abgesetzt wurde und die neuen Führer systematisch begannen, die durch die Agrarreform geschaffenen Institutionen entweder kaltzustellen oder aufzulösen. Der Putsch war im „wirtschaftlichen Interesse" des Landes erfolgt, nachdem im Gefolge der Bodenumverteilung und Neuorganisation die Agrarproduktion zurückgegangen war und Anfang der siebziger Jahre auch noch die für die peruanische Wirtschaft lebenswichtigen Anchovisschwärme vor der Küste ausblieben. Durch die Reorientierung der Landwirtschaft auf exportfähige Agrarprodukte allein sei es möglich, so erklärten die Putschisten und ihre Verbündeten, dem Land die staatserhaltenden Devisen zu beschaffen. Wer die Leidtragenden dieser Maßnahmen waren, kann man sich unschwer vorstellen.

Auch die asiatischen Länder, die am stärksten unter dem Bevölkerungsdruck zu leiden haben, verkündeten Bodenreformprogramme. Eine Studie von Nitish De vom Nationalen Arbeitsinstitut in Neu Delhi aus dem Jahr 1977 kann wohl durchaus als repräsentatives Negativbeispiel für die Behandlung von Reformprogrammen in großen Teilen des asiatischen Raums angesehen werden. Anhand des Distrikts Rajasthan vollzieht dieser Report ‘die Landreform Indiens nach: „Im November 1953 wurde ein Komitee gebildet, das die Obergrenzen für Landbesitz festlegen sollte. Diesen Bericht zu erstellen dauerte vier Jahre. Nochmals zwei Jahre dauerte es, ihn durch alle Instanzen der Legislative zu bringen. Im März 1960 verweigerte der Präsident seine Zustimmung. Während der nächsten dreieinhalb Jahre wurden die Regeln der Vorlage wieder geändert Am Abend bevor sie dann endgültig in Kraft gesetzt werden sollten, erhoben die Großgrundbesitzer Klage vor dem obersten Gerichtshof. Sie verloren den Fall, und der 1. April 1965 wurde als Datum für das Inkrafttreten des Gesetzes festgelegt. Dieser Termin wurde bis Oktober 1965 verlängert. Die Durchführung wurde durch operationale Probleme von den Großgrundbesitzern verhindert; dann kamen die allgemeinen Wahlen des Jahres 1967, und deshalb mußten die Bodenreformen warten. Die Landveräußerungen, die trotz Kenntnis der gesetzlichen Situation getätigt worden waren, wurden von der Regierung bis zum Dezember 1969 nachträglich legalisiert. So erlebt die Saga, die 1953 ihren Anfang genommen hatte, 1970 ihren Höhepunkt — zu einem Zeitpunkt, an dem der größte Teil des ehemals zu verteilenden Landes wie durch Geisterhand verschwunden war. Und das ist durchaus kein außergewöhnlicher Fall."

Inzwischen schreibt man das Jahr 1979 — und noch immer hat sich nichts oder nur wenig geändert. Oder doch?

III. Die dritte internationale Konferenz über Agrarreform — 1979

Wenn man den Politikern der industrialisierten Länder zuhört, dann ist die ehemals so ordentliche und ruhige Welt völlig aus den Fugen geraten. Die erdölexportierenden Staaten haben 1973 erstmals die Ölwaffe eingesetzt und sich damit internationales Gehör verschafft. Die Entwicklungsländer, mittlerweile im „Entwicklungsjargon" in Schwellenländer, „seriously affected countries" und „meistbetroffene Länder" (MSAs) aufgeteilt, haben sich zur „Gruppe der 77" zusammengeschlossen und wollen dem völlig unvorbereiteten reichen Teil der Welt vor allem eine neue Weltwirtschaftsordnung abtrotzen, in der sie als gleichberechtigte Partner behandelt werden und die ihnen ungehinderten Zugang zu den Weltmärkten garantiert. Trotz dieser von den entwickelten Ländern als „impertinente Erpressung" empfundenen Verhaltensweisen der Dritten Welt rüsteten sich über 1000 Delegierte aus 146 Ländern im Juli 1979 zur Dritten Weltkonferenz, diesmal aber „Agrarreform und ländliche Entwicklung" (WCARRD) genannt. Aufgabe dieser Konferenz sollte es sein, ein Aktionsprogramm zu verabschieden, in dem die Regierungen der FAO-Mitgliedsländer Maßnahmen zu Veränderungen der nationalen und internationalen Agrarstrukturen, der Gesetzgebung sowie der nationalen Und internationalen Verwaltungen empfohlen werden, mit denen die immer gravierender werdenden Probleme der Armut und der Unterentwicklung der ländlichen Bevölkerung in den Entwicklungsländern dauerhaft gelöst werden könnten.

Den Delegierten dieser Konferenz lagen Schätzungen der FAO vor, nach denen etwa die Hälfte der vier Milliarden Menschen auf der Welt in den ländlichen Regionen der Entwicklungsländer leben. Eine Untersuchung der ILO aus dem Jahr 1972 belegt, daß zu diesem Zeitpunkt in den unterentwickelten Ländern etwa 1, 25 Milliarden Menschen — das sind 62, 5 % der ländlichen Bevölkerung dieser Regionen — als sehr arm und weitere 700 Millionen (35 %) als völlig mittellos anzusehen waren. Gegenüber einer entsprechenden Untersuchung des Jahres 1963 bedeutet dies eine globale Vergrößerung der Zahl der Armen und Mittellosen um 10, 5 bzw. 6, 5 %. Seit Anfang der siebziger Jahre stieg die Zahl der Unterernährten weltweit um 15 %, so daß in einer Zeit, die internationale Menschenrechtsjahre, Bevölkerungs-, Frauen-und Kinderjahre beging, immer noch mehr als 450 Millionen Menschen — das sind mehr als 10 % der Weltbevölkerung — hungern. Die Landbevölkerung in der Dritten Welt wuchs trotz starker Landflucht in die urbanen Ballungszentren zwischen 1965 und 1975 um 320 Millionen Menschen, während in der gleichen Zeit die gesamte landwirtschaftliche Nutzfläche nur um 61 Millionen Hektar oder 8% auf 750 Millionen Hektar zunahm.

Nach den Erfahrungen der ersten beiden Agrarreformkonferenzen sollte man annehmen, daß solche Schreckensbilder das reiche Drittel der Welt nicht sonderlich bewegen können. Die Erwartungen bezüglich dieser Konferenz waren denn auch eher gedämpft.

Und doch war schon die Ausgangsposition dieser Konferenz anders als die aller vorange-gangenen. Wichtig ist, daß die Dritte Welt aus der Rolle des passiven „Sich-entwickeln-Lassens" in eine aktive, auf eigenen Konzeptionen basierende Rolle umgestiegen ist. Man hat erkannt, daß ohne eine gewisse Eigenverantwortung für die Entwicklung sich nichts wirklich bewegen kann. Der zweite Unterschied war, daß die politischen Aspekte — sehr zum Mißfallen der Industriestaaten — nicht mehr ausgeklammert, sondern ausdrücklich in die Verhandlungen einbezogen wurden. Damit wurde — auch von Seiten der FAO — anerkannt, daß es sich nicht um rein technische, sondern eben in erster Linie um politische Willensbildungsprobleme handelte, wenn Agrarreformen bisher nicht oder nur mangelhaft durchgeführt wurden. Drittens wurde der Gefahr des bloßen Austausches freundlicher Floskeln durch den Entwurf eines detaillierten Aktionsprogramms begegnet, das auf fünf vorangegangenen Regionalkonferenzen der FAO erarbeitet worden war. Dieses Programm wurde von der Konferenz verabschiedet und birgt in sich einigen Sprengstoff, auch wenn es durch zahlreiche Vorbehaltfe vor allem seitens der industrialisierten Länder etwas verwässert worden ist.

Als Grundvoraussetzung einer funktionsfähigen landwirtschaftlichen Entwicklungspolitik wurden tiefgreifende Agrarstrukturreformen angesehen. In der Hauptsache bedeutet dies zunächst einmal die Beendigung der oft extrem ungleichen Verteilung der Verfügungsgewalt über Boden und Wasser. Die Bedeutung dieser Forderung kann erst ermessen werden, wenn man bedenkt, daß 1973 in Lateinamerika die Großgrundbesitzer zwar nur 2% der Landbevölkerung ausmachten, doch 47 % des gesamten landwirtschaftlichen Kulturlandes besaßen und ein durchschnittliches Pro-Kopf-Einkommen von 2560 Dollar erzielten. Die Kleinbauern und Pächter machten dagegen 70 % der Landbevölkerung (85 Millionen Menschen) aus, verfügten jedoch nur über 2, 5 % des Bodens und erwirtschafteten ein durchschnittliches Einkommen von 115 Dollar.

Agrarreform bedeutet ebenso die Verhinderung weiterer Zersplitterung landwirtschaftlicher Betriebe in nicht mehr existenzfähige kleine Einheiten infolge von Erbgesetzen und nationalen Teilungsgewohnheiten. Neu geregelt werden muß auch der Zugang zu der zweiten Grundvoraussetzung für landwirtschaftliche Produktion, dem Wasser. Fast alle Entwicklungsländer leiden unter akutem Mangel an Bewässerungssystemen. Nach einer FAO-Schätzungwird mehr als die Hälfte der 92 Millionen Hektar bewässerten Bodens in diesen Regionen zu weniger als 50 % ihres Ertragspotentials genutzt.

Eine Agrarstrukturreform ohne Veränderung der sozialen Rahmenbedingungen — ein weiterer Schwerpunkt des Aktionsprogramms — wäre zum Scheitern verurteilt. Gefordert wird eine aktive Teilnahme der Betroffenen an der Formulierung der Entwicklungsprogramme und deren Durchführung. Wirksame Teilnahme ist aber nur durch ein umfassendes Bildungsprogramm zu erreichen. Nach vorliegenden Zahlen waren Anfang der siebziger Jahre in den 25 am wenigsten entwickelten Ländern 80 % der Menschen des Lesens und Schreibens unkundig. Prognosen lassen erwarten, daß 1980 immer noch rund 240 Millionen Kinder zwischen fünf und vierzehn Jahren nicht zur Schule gehen werden und weltweit die Zahl der Analphabeten etwa 820 Millionen erreichen wird. Das heißt nicht nur, daß diese Zahl in den vergangenen drei Jahren um 20 Millionen gestiegen ist, sondern auch, daß nur aufgrund mangelnder Bildung mehr als ein Fünftel der Weltbevölkerung behindert ist, am politischen Willensbildungsprozeß teilzunehmen. Diese Teilnahme erfordert nicht nur die Möglichkeit politischer und ökonomischer Zusammenschlüsse der Betroffenen ohne Eingriffe des Staates in ihre Grundrechte, sondern auch die Gleichberechtigung der Frauen in allen sozialen und wirtschaftlichen Bereichen. Ihnen muß nach den Empfehlungen der Konferenz berufliche Chancengleichheit und die Verfügungsmöglichkeit über Eigentum und Produktionsmittel verschafft werden. Das für die Sozialprogramme benötigte Personal ist von den Staaten auszubilden und den jeweiligen Organisationen zur Verfügung zu stellen.

Die bestehenden Pachtgesetze sind entweder völlig aufzuheben (in diesem Fall würden die Pächter zu Eigentümern) oder wären zumindest so zu verändern, daß eine weitere Ausbeutung durch den Verpächter ausgeschlossen wird.

In dieses Programm gehört als ein wesentlicher Bestandteil auch die Verbesserung der ländlichen Infrastruktur. Dazu zählen neben Schulen, Krankenhäusern und sozialen wie landwirtschaftlichen Beratungsstellen auch Straßen und Handelskanäle. Denn in Gegenden, die während eines Teils des Jahres durch klimatische Bedingungen von der Außenwelt abgeschnitten sind, ist für die kleinen Bauern und Pächter die Notwendigkeit einer höheren betrieblichen Produktivität nicht einsichtig, weil sie bei der Verteilung agro-ökonomischer Produktionsmittel wie Dünger und ertragreicherem Saatgut nur unzureichend berücksichtigt werden und in ihrer näheren Umgebung keinen Markt finden, auf dem sie ihre Produkte absetzen können. Finanzschwache Kleinbauern müssen durch ein Kreditsystem, das sich in die unterentwickelten ländlichen Gebiete erstreckt, in ihrer Finanzplanung beraten und mit Krediten zu vertretbaren Konditionen versorgt werden. Infrastrukturmaßnahmen helfen auch, in ländlichen Gebieten weiterverarbeitende Agro-Industrien mittlerer Größe aufzubauen, die nicht nur Arbeitsplätze schaffen, sondern neben traditionellen Vermarktungswegen den Kleinbauern zusätzliche Absatzchancen eröffnen.

In den Entwicklungsstrategien der einzelnen Länder sollte nach Vorstellung der Konferenz der Agrarsektor Vorrang haben und in diesem Sektor sollten die Bedürfnisse der Kleinbauern und Pächter besondere Berücksichtigung finden. Um den Landwirten — zumindest in der Aufbauphase — keine ökonomischen Knüppel zwischen die Beine zu werfen, sollte ihnen sowohl für Produktionsmittel als auch für ihre Erzeugnisse eine möglichst hohe Preisstabilität garantiert werden. Die Garantie „lohnender Verkaufspreise" gilt mit Recht als einer der stärksten Anreize zur Mehrproduktion, während die Forderung nach stabilen Produktionsmittelpreisen sich für die Dritte Welt als Bumerang erweisen könnte. Da diese Produkte auch weiterhin importiert werden müssen, bedeutet Stabilität nichts anderes als Subvention — und die Verschiebung des Defizits in den sowieso schon gespannten Handelsbilanzen dieser Länder in eine andere, nicht minder schmerzhafte Position.

Auf den Widerstand der Industrieländer stießen nicht nur die erneute Forderung nach Erfüllung der 0, 7 % Marge des Bruttosozialprodukts für Entwicklungshilfe, sondern auch die Vorstellungen der Dritten Welt, einen Passus in das Aktionsprogramm einzufügen, der es ihnen künftig erlauben soll, ausländische Wirtschaftsobjekte ebenso wie einheimischen Besitz notfalls im Sinne der Reformen zu verstaatlichen und dafür eine der „wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit entsprechende Entschädigung zu zahlen".

Vor allem in diesen Punkten des Aktionsprogramms, die auch die schon bekannte Forderung nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung enthalten, zeigte sich die künftige Haltung der Industrieländer in der Entwicklungshilfe. Während fast allen Punkten des Aktionsprogramms, die Aktivitäten von den Entwicklungsländern selbst fordern, zugestimmt wurde, gaben die reichen Länder zu vielen sie selbst betreffenden Absätzen des Programms ihre Zustimmung nur unter Vorbehalten, erkannten sie also den verabschiedeten Text in der vorliegenden Form nicht an.

Veschwindet auch dieses Programm wie seine Vorgänger in der berüchtigten Schublade? Hier scheint die Welt doch etwas hinzugelernt zu haben. Zumindest enthielt das verabschiedete Aktionsprogramm die Aufforderung an den Generalsekretär der FAO, Beobachtungsund Durchführungsprogramme zu erarbeiten. Ein solches Durchführungsprogramm nahm im November 1979 die 20. Vollkonferenz der FAO an. Es sieht nicht nur Maßnahmen seitens der Regierungen und Organisationen, sondern auch eine kontinuierliche Beobachtung und Auswertung der erzielten Fortschritte vor.

Die Hauptverantwortung für die Entwicklung von Indikatoren, die den Fortschritt zu messen in der Lage sind, liegt ebenso bei den einzelnen Ländern wie der Aufbau von Beobachtungs-und Evaluierungssystemen. Allerdings wird den mit Entwicklungshilfe befaßten UN-Organisationen und der FAO im besonderen die Aufgabe zugewiesen, die Länder nicht nur aktiv zu unterstützen, sondern durch bessere Koordination der Tätigkeiten der einzelnen Organisationen und durch die Bereitstellung von Finanzmitteln die Agrarreform und ländliche Entwicklung voranzutreiben. Ein erster freiwilliger Fonds, den die FAO eingerichtet hat, soll einen Umfang von 20 Millionen Dollar haben.

Also doch der lang erwartete Durchbruch? Sicherlich gibt es für diese Annahme einige Anzeichen, die einen gewissen Optimismus zulassen, auch wenn man sich davor hüten sollte, schnelle Veränderungen zu erwarten.

Interessant ist es, das WCARRD-Aktionsprogramm (Agrarreform und ländliche Entwicklung) vor dem historischen Hintergrund der Resolution 370 (VIII) des Wirtschafts-und Sozialrates der Vereinten Nationen vom 7. September 1951 zu lesen. Diese Resolution bezieht sich auf den ersten Bericht zur Situation der Landwirtschaft in unterentwickelten Ländern: „Mängel der Agrarstruktur als Hemmnisse der landwirtschaftlichen Entwicklung." Obwohl — oder gerade weil — von dieser Resolution seit langem niemand mehr spricht, sei es gestattet, einen Vergleich zwischen dem Text dieser Resolution und dem Aktionsprogramm der Dritten Weltkonferenz vorzunehmen.

Der ECOSOC schrieb vor nunmehr 28 Jahren im dritten Absatz unter Punkt a), er empfehle den Regierungen,.....den Besitzanspruch des Bauern auf das Land zu sichern, damit er einen Anreiz dazu hat, die Produktivität zu erhöhen und die Ressourcen des Landes bewahrend zu nutzen".

Unter Absatz II. B. iii empfiehlt das WCARRD-Aktionsprogramm, Maßnahmen einzuleiten, w.. die die Sicherheit des Besitzes für Pächter stärken ....

Absatz 3 e) der ECOSOC-Resolution legt den Regierungen nahe, „nationale und lokale Institutionen einzurichten oder auszudehnen, die landwirtschaftliche Kredite zu angemessenen Zinssätzen vergeben. Gesetzliche oder verwaltungstechnische Maßnahmen sollen ergriffen werden, die die ländliche Verschuldung abbauen helfen."

Das Aktionsprogramm wiederum legt unter V. B. iii den Regierungen Maßnahmen nahe, um „öffentliche oder private Kreditsysteme einzurichten, die den Umfang der zur Verfügung stehenden Kredite für ländliche Produzenten vergrößern und die ihre Geschäftspraktiken an den Bedürfnissen der Kleinbauern für Haushalts-, Konsum-und Produktionskrediten orientieren und die helfen, die Verschuldung von traditionellen Geldverleihern aufzuheben".

Artikel 3 m) und o) der ECOSOC-Resolution: „Programme gegen das Analphabetentum und allgemeine Ausbildungsprogramme in ländlichen Gegenden sollen geschaffen werden. Einrichtungen für die technologische und wirtschaftswissenschaftliche Ausbildung der Farmer in Hinblick auf Landwirtschaft und ländliches Leben sollen eingerichtet oder ausgebaut werden, z. B. durch Außendienststellen und Modellfarmen."

WCARRD-Aktionsprogramm VII. A. iii: „Programme für unformelle Ausbildung sollen verstärkt werden, wobei besondere Berücksichtigung finden sollen: Alphabetismus, Gesundheit, Hauswirtschaft, Ernährung, Familienplanung, Agrargesetzgebung, Rechtshilfedienste, Management von Farmen und Kooperativen. Diese Programme sollen darauf ausgerichtet sein, Wissensstand und Erfahrung der Bauern zu heben.“

Weitere Ähnlichkeiten ließen sich leicht finden. Die Empfehlungen der dritten Weltkonferenz sind zwar etwas detaillierter ausgefallen, weisen jedoch keine wesentlichen Unterschiede auf. Teilweise formulierten der ECO-SOC und die Weltkonferenz sogar im Wortlaut deckungsgleich.

Nach fast dreißigjähriger landwirtschaftlicher Entwicklungshilfe schließt sich der Kreis. Die Welt steht wieder da, wo sie nach dem Zweiten Weltkrieg schon einmal war — allerdings unter veränderten Voraussetzungen, was das Wissen um Zusammenhänge und das stille Drama der Fakten anlangt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Aus einem unveröffentlichten Berichtsentwurf der FAO: „The United Nations call for Agrarian Reform“, Rom 1951.

  2. Aus dem Schlußbericht der 6. FAO-Konferenz von 1951.

  3. Daten für Indien aus: Report for the (Indian) Congress Agrarian Reform Committee (Erscheinungsdatum unbekannt). Für Argentinien stammen die Daten aus UN-Statistiken von 1950.

  4. Report for the World Land Reform Conferenze, Rom 1966, S. 20.

  5. Ebenda.

  6. Ebenda, S. 26.

  7. Ebenda.

  8. K. Griffin, The political Economy of Agrarian Change, An Essav on the Green Revolution, London 1972, S. 2.

  9. Nitish De, Adaption of Traditional Systems of Ägriculture in a Developing Economy; National Labour Institute, Neu Delhi 1977, S. 3.

Weitere Inhalte

Johannes von Dohnanyi, Diplom-Kaufmann, geb. 1952 in New Haven/USA; Studium der Betriebs-und Volkswirtschaftslehre in Frankfurt/M., Schwerpunkte Entwicklungspolitik und Organisation; seit 1979 freier Rundfunk-und Zeitungskorrespondent für internationale Landwirtschaft, Entwicklungspolitik und Auslandswirtschaft in Rom.