Frißt uns die Landwirtschaft? Die Grenzen der europäischen Agrarpolitik
Jutta Kneißel
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Zusammenfassung
Die Finanzierung der Agrarüberschüsse der Europäischen Gemeinschaft entwickelt sich zu einem Faß ohne Boden. Spätestens ab 1981 sind sie aus den normalen Haushaltsmitteln der EG nicht mehr finanzierbar. Ursache hierfür ist ein historisch gewachsenes Subventionssystem, das den Bauern durch ein System von Preis-und Absatzgarantien jegliches Produktions- und Vermarktungsrisiko nimmt. Durch garantierte Mindestpreise werden zudem Großbetriebe, die mit den niedrigsten Kosten produzieren, am meisten begünstigt. Mit Hilfe eines enormen und ständig steigenden Mitteleinsatzes gelang es zwar, in der Landwirtschaft deutlich höhere Produktivitätssteigerungsraten zu erzielen als in der gewerblichen Wirtschaft. Es gelang aber weder, das Einkommensgefälle zwischen landwirtschaftlichen Betrieben eines Landes noch zwischen einzelnen Regionen innerhalb der EG abzubauen. Das Einkommensgefälle hat sich im Gegenteil eher vergrößert. Der gemeinsame Agrarmarkt, der seit seiner Einführung auf ständige Kritik bei den Verbraucherverbänden stieß, gerät jetzt an deutlich erkennbare Grenzen. Anzeichen hierfür sind zum einen die Ablehnung des Haushalts der EG für 1980 durch das Europäische Parlament im November 1979, zum anderen die Weigerung Großbritanniens, seinen Beitrag zum EG-Haushalt weiterhin zu zahlen, zum dritten die Weigerung der Staats-und Regierungschefs der EG, den ordentlichen Haushalt der EG zur Finanzierung der Agrarüberschüsse weiter aufzustocken. Zu einer Überwindung der Krise genügt es nicht, allein an Symptomen zu kurieren, wie es z. B. die EG-Kommission mit Sparvorschlägen versucht. Es ist statt dessen erforderlich, das Subventionssystem grundlegend zu ändern, in dem man allmählich von einer Preis-zu einer direkten Einkommenssubvention übergeht. Zur Überwindung der größer werdenden strukturellen Schwierigkeiten ist darüber hinaus eine Verbesserung der Agrarstrukturen nötig. Das Problem der regionalen Unterentwicklung läßt sich durch Maßnahmen der Agrarstrukturpolitik jedoch allein nicht lösen. Dauerhaften Erfolg verspricht hier nur eine langfristige globale Entwicklungspolitik. Eine umfassende Konzeption ist um so erforderlicher, als der Beitritt Griechenlands und der beabsichtigte Beitritt von Spanien und Portugal die bestehenden Ungleichgewichte noch vergrößern wird.
Zweimal sorgten Entwicklungen in der Europäischen Gemeinschaft für Schlagzeilen in der letzten Zeit: das erste Mal, als das Europäische Parlament den Haushaltsentwurf für 1980 in entscheidenden Punkten ablehnte zum anderen, als die englische Premierministerin Thatcher sich weigerte, den britischen Beitrag zum Haushalt voll zu zahlen Sie machte geltend, daß England, drittärmstes Land in der Europäischen Gemeinschaft (nach Italien und Irland) dann zum größten Nettozahler der Gemeinschaft aufrücken würde. Anlaß für beide Konflikte war im wesentlichen die gemeinsame Agrarpolitik der Gemeinschaft. Die Ausgaben hierfür erweisen sich zunehmend als ein Faß ohne Boden. Sie stiegen von bescheidenen 103 Mio. Rechnungseinheiten (RE) 1965 (440, 8 Mio. DM) auf 3 Mrd. RE 1975 (13, 3 Mrd. DM) 4). Der Haushaltsansatz für 1980 liegt bei 11, 2 Mrd. ERE (28, 3 Mrd. DM) Allein der europäische Milchmarkt — der teuerste Einzelmarkt der Gemeinschaft — kostet die europäischen Steuerzahler zur Zeit mehr als 1 Mio. DM pro Stunde
Die hohen Kosten der Agrarpolitik werden in erster Linie verursacht durch Agrarprodukte, die von den Erzeugern am Markt nicht abgesetzt werden können. Sie werden aufgrund von vertraglichen Vereinbarungen von der EG-Kommission „aus dem Markt genommen".
INHALT I. Die Zielsetzung der gemeinsamen Agrarpolitik in der Bundesrepublik II. Hundert Jahre Agrarprotektionismus III. Anfangsschwierigkeiten der Preis-findung
IV. Grundzüge des Agrarpreissystems V. Der Währungsausgleich VI. Einige Folgen der gemeinsamen Agrarpolitik
1. Unterschätzung der Produktivitätssteigerung
2. Verbesserung der Agrarstruktur VII. Was ist zu tun?
1. Allmähliche Ablösung der Preisstützung durch eine Einkommenssubvention
2. Stärkere Betonung der Strukturpolitik Derartige Überschüsse fallen u. a. an, wenn es aufgrund klimatischer Bedingungen eine besonders gute Ernte gibt. 1978 wurden z. B. in der EG 201000 Tonnen Obst und Gemüse vernichtet, für das sich — da es leicht verderblich und schlecht lagerbar ist — keine anderen Verwendungsmöglichkeiten finden ließen. Darunter waren 30000 Tonnen Blumenkohl, 23000 Tonnen Tomaten, 60000 Tonnen Pfirsiche, 41000 Tonnen Birnen, 60000 Tonnen Orangen, 28000 Tonnen Mandarinen und 2600 Tonnen Äpfel Allerdings war dies weniger als die Hälfte der 533000 Tonnen Obst und Gemüse, die 1970 bei der bisher größten dieser Aktionen vernichtet wurden
Als Folge der Rekordernte mußten die Verbraucher in der Europäischen Gemeinschaft im Frühjahr 1979 darüber hinaus auf die Ein-fuhr von 10000 Tonnen frischer Äpfel aus Übersee verzichten. Hierdurch sollte der Absatz heimischer Ware, die in Kühlhäusern eingelagert worden war, gesichert werden. Die Europäische Gemeinschaft brach bereits abgeschlossene Lieferverträge mit Argentinien, Australien, Neuseeland, Südafrika und Chile, ein Verhalten, was — wie die „Welt" in einem Kommentar meinte — normalerweise nur in „Bananenrepubliken" vorkommt Die vier erstgenannten Länder verzichteten „freiwillig” auf die Lieferung. Chile wollte sich der freiwilligen Selbstbeschränkung nicht unterwerfen. Die Europäische Gemeinschaft verbot daraufhin den Import von Äpfeln aus diesem Land
Bedenklicher und viel kostenaufwendiger sind die strukturellen Überschüsse der Gemeinschaft. Sie fallen regelmäßig und in stän-dig steigendem Umfang an, z. B. auf dem Milchmarkt. Dort steigt das Angebot im langfristigen Durchschnitt um 1, 7 % im Jahr; der Verbrauch ist nahezu gleichbleibend Diese Überschußsituation besteht seit der Einführung der gemeinsamen Marktregelung für Milch und Milcherzeugnisse am 29. Juli 1968 Die Folge waren regelmäßige mehr oder minder schwere Krisen der Europäischen Gemeinschaft. Die Kommission schlug deswegen ebenso regelmäßig Maßnahmen zur Drosselung des Angebots und zur Steigerung des Absatzes vor, die vom Rat jedoch häufig nur teilweise verwirklicht wurden. Jüngste Beispiele hierfür: Um den Bestand an Milchkühen zu verringern, gewährte die Kommission der Europäischen Gemeinschaft vom 1. Juli 1977 bis Ende 1978 Prämien für das Abschlachten von Kühen. Während dieser zeitlich begrenzten Aktion wurden in der Bundesrepublik 313317 Kühe abgeschlachtet. Für jede Kuh erhielt der Bauer zwischen 2000 DM und 2500 DM. Die Kommission betrachtete es dabei als Erfolg, daß die Zahl der Kühe während dieser Aktion nicht zunahm
1978 wurden außerdem 1, 2 Mio. Tonnen Milchpulver für die Kälberfütterung zur Verfügung gestellt. Zu diesem Zweck wurde der Preis von 3, 25 DM je Kilo auf 1, 80 DM heruntersubventioniert. 700000 Tonnen Milchpulver wurden für die Schweinefütterung bereitgestellt. Hier wurde der Preis auf 0, 50 DM herabgedrückt. Diese 0, 50 DM decken nicht einmal die Trocknungskosten des Milchpulvers
Außerdem wurde Butter exportiert. Die Sowjetunion und Polen erhielten im Januar und Februar 1979 35000 Tonnen zum Weltmarkt-preis Dieser lag rd. 70 % unter dem Preis, zu dem die Butter in den EG-Ländern aus dem Markt genommen wurde Die Differenz zahlt der Steuerzahler.
Dennoch lagern in Kühlhäusern der Europäischen Gemeinschaft zur Zeit ca. 450000 Tonnen Butter Das entspricht dem deutschen Verbrauch von mehr als einem Jahr. Außerdem sind 750000 Tonnen Magermilchpulver eingelagert Insgesamt repräsentieren die Interventionsbestände an Milchprodukten einen Wert von rund 6 Mrd. DM
Insgesamt hat die Gemeinschaft zwischen 1968 und 1975 10 % der Butterproduktion und 75 % der Magermilchproduktion in Pulver oder flüssiger Form zu ermäßigten Preisen absetzen müssen Die Ausgaben der EG für den Milchsektor haben sich von 600 Mio. RE (2, 5 Mrd. DM) im Jahr 1968/69 (damals noch Sechser-Gemeinschaft) auf 1521 Mio. RE (5, 0 Mrd. DM) im Jahr 1973 im Europa der Neun erhöht 1978 lagen die Ausgaben für den Milchmarkt bei 4 Mrd. ERE (11, 1 Mrd. DM)
Strukturelle Überschüsse bestehen außerdem bei Zucker und zunehmend bei Getreide und Eiern. Bei der Schweine-und Rinderproduktion ist die Lage eher undurchsichtig, Über-schüsse struktureller Art sind jedoch nicht auszuschließen’
Insgesamt kann man davon ausgehen, daß der Agrarmarkt in seiner bisherigen Form in absehbarer Zeit nicht mehr zu finanzieren sein wird
I. Die Zielsetzung der gemeinsamen Agrarpolitik
Überschußproduktion und ständige Ausgabensteigerung lassen manchen Bürger am Sinn eines gemeinsamen Agrarmarkts zweifeln. Dabei waren die ursprünglichen Überlegungen, die zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft geführt hatten, die ihrerseits den Beginn einer gemeinsamen Agrarpolitik innerhalb Europas darstellte, durchaus im Interesse der Verbraucher. Ausgangspunkt für den Zusammenschluß von zunächst sechs heute neun und ab 1981 zehn europäischen Ländern zu einer Gemeinschaft war der Gedanke, daß innerhalb ei-nes größeren, einheitlichen Wirtschaftsraums zu günstigeren Bedingungen produziert werden kann als innerhalb der engen national-staatlichen Grenzen und daß die Absatz-markte größer sind, was Erzeugern und Verbrauchern gleichermaßen zugute kommen kann.
Die im Vertrag von Rom festgelegte Zielsetzung der EWG besteht dementsprechend darin, „durch die Errichtung eines gemeinsamen Marktes und die schrittweise Annäherung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedsstaaten eine harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft, eine beständige und ausgewogene Wirtschaftsausweitung, eine größere Stabilität, eine beschleunigte Hebung der Lebenshaltung und engere Beziehungen zwischen den Staaten zu fördern, die in dieser Gemeinschaft zusammengeschlossen sind."
Der gemeinsame Markt sollte auch die Landwirtschaft und den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen umfassen Die Landwirtschaft galt als ein besonders problematischer Bereich, da in allen Mitgliedsländern der Europäischen Gemeinschaft ein deutlicher Abstand zwischen den Einkommen der Bauern und den Einkommen der Industriearbeiter bestand. Im Gegensatz zu anderen Bereichen wurde daher im Vertrag von Rom für den Agrarsektor eine spezielle Regelung getroffen -Auf dieser Grundlage wurde im Verlauf einer Übergangszeit eine gemeinsame Agrarpolitik entwickelt. Ihre Ziele sind im Vertrag festgehalten. Darin verpflichtet sich die Gemeinschaft, die unterdurchschnittliche Produktivität der Landwirtschaft durch Förderung des technischen Fortschritts, Rationalisierung der landwirtschaftlichen Erzeugung und den bestmöglichen Einsatz der Produktionsfaktoren, insbesondere der Arbeitskraft, zu steigern. Gleichzeitig soll der landwirtschaftlichen Bevölkerung eine angemessene Lebenshaltung gewährleistet werden, die Agrarmärkte sollen — vor allem durch den Ausgleich von Ernteschwankungen — stabilisiert und die Versorgung der Verbraucher bei angemessenen Preisen sichergestellt werden 1960 legte die Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft „Vorschläge zur Gestaltung und Durchführung der gemeinsamen Agrarpolitik ... vor Darin wurde die Lage der Landwirtschaft und die Agrarpolitik der Mitgliedsstaaten analysiert Die Kommission sah die wichtigste Ursache für die unterdurchschnittliche Entwicklung der landwirtschaftlichen Einkommen in einer beschränkten Mobilität der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte, in unzureichenden Betriebsgrößen und in der mangelnden Ausstattung vieler landwirtschaftlicher Betriebe mit Sachkapital. Die Kommission betonte, daß es nicht darum gehen könne, die niedrigen Agrareinkommen als Symptom zu bekämpfen, sondern man müsse die Ursachen der unbefriedigenden Lage beseitigen. Damit wurde der Strukturpolitik eine wesentliche Aufgabe im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik zugeschrieben.
In den Verhandlungen des beschlußfassenden Organs der EWG, dem Ministerrat gewannen jedoch Marktordnungs-und Preisstützungsfragen einseitig den Vorrang vor grundlegenden strukturpolitischen Erwägungen Resultat war eine Politik, die sich nahtlos in das Schema des hundert Jahre alten Agrarprotektionismus in Deutschland einpaßt.
II. Hundert Jahre Agrarprotektionismus
Abbildung 2
Preissystem bei Weizen (Schematische Darstellung)
Preissystem bei Weizen (Schematische Darstellung)
Mitte des 19. Jahrhunderts waren in Deutschland entscheidende Veränderungen eingetreten In den Großgutsbetrieben Ostpreußens wurden zu der Zeit große Getreideüber-
Schüsse erzeugt und exportiert. Im Gegensatz zur aufstrebenden Industrie traten deswegen viele der Grundbesitzer bis Mitte der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts für Freihandel ein. Dann kam der Umschwung. Im Westen Deutschlands wuchs mit der Bevölkerungszunahme und den infolge der Industrialisierung steigenden Durchschnittseinkommen der Absatzmarkt. Deutschland wurde seit 1865 zu einem Nettoimporteur von Getreide. Inzwischen waren in Amerika neue Anbaugebiete entstanden. Ihre natürliche Fruchtbarkeit und die Verbilligung der Transportkosten durch Dampfschiff und Eisenbahn ließ die amerikanischen Anbieter zu überlegenen Konkurrenten der ostpreußischen Grundbesitzer werden. Diese forderten Schutzzölle. Sie wurden mit Argumenten begründet, die seitdem in der politischen Diskussion wie Beschwörungsformeln in steter Wiederholung auftauchen, — daß nämlich eine hohe Eigenversorgung mit Nahrungsmitteln aus sicherheitspolitischen Gründen unabdingbar sei, und — daß die niedrigen Einkommen in der Landwirtschaft nur bei einem sicheren Außen-schutz stabilisiert und unter Umständen angehoben werden können.
Bismarck unterstützte die Forderung. Getreidezölle bedeuteten nicht nur Einnahmen für das Reich, sondern hierdurch wurde auch eine Stärkung der konservativen Kräfte bewirkt. Aus den Schutzzöllen, die bereits in wenigen Jahren verfünffacht wurden entwickelten sich im Laufe der Zeit umfassende Protektionsmaßnahmen, die während des Dritten Reichs zu dirigistischen Marktordnungssystemen ausgeweitet wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg gelang es der agrarpolitischen Führung in der Bundesrepublik, voll an die „bewährten“ Instrumente anzuknüpfen und erneut für die Landwirtschaft einen Ausnahme-bereich innerhalb der marktwirtschaftlichen Ordnung durchzusetzen
Bemerkehswert hieran ist ein Phänomen, das in den hundert Jahren seit Einführung des Protektionismus trotz aller Veränderungen einzelner Maßnahmen gleichgeblieben ist, daß nämlich die Agrarpolitik von einer kleinen Gruppe größerer Landwirte beherrscht wird, der es „mit unnachahmlicher elitärer Arroganz gelang, die Verfolgung eigener Interessen als Einsatz für Volk und Vaterland hinzustellen" Hierbei wurden sie zudem von der großen Masse der Bauern gegen deren eigentliche wirtschaftliche Interessen unterstützt. Beispiel dafür ist u. a., daß die weitestgehenden und dirigistischsten Maßnahmen für Erzeugnisse geschaffen wurden, die typisch Produkte von Großbetrieben sind: Getreide, Zuckerrüben, Milch und Fleisch. Als die OECD nach dem Zweiten Weltkrieg eine Liberalisierung der Agrarpolitik forderte, wählte man in der Bundesrepublik hierfür Produkte wie Eier, Geflügel, Käse, Obst und Gemüse, das typische Produktionsprogramm der kleineren Bauern. Auch in den meisten anderen europäischen Ländern wurden spätestens seit Mitte der dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts in zunehmendem Umfang Schutzmaßnahmen zugunsten der Landwirtschaft ergriffen Sie erreichten jedoch nicht das Ausmaß des Protektionismus in Deutschland. Als Folge dieser Entwicklung wies die Bundesrepublik bei der Gründung der EWG das höchste Agrarpreisniveau in Europa auf
Eine Ausnahme bildete nur Großbritannien. Es ist das einzige Land in der EG, das in der Vergangenheit den Import von Nahrungsmitteln der Eigenproduktion vorgezogen hat. Begünstigt wurde dies zum einen durch den großen Besitz Englands an Kolonien und ihren Verbund zum Commonwealth, der auch nach dem Unabhängigwerden der Kolonien weiter besteht, zum anderen durch die Notwendigkeit, die aufgrund der Industrieexporte und einer großen Handelsflotte jahrzehntelang bestehenden Zahlungsbilanzüberschüsse ansatzweise auszugleichen
III. Anfangsschwierigkeiten der Preisfindung
Abbildung 3
Einkommensschwankungen u. Einkommensgefälle in der Landwirtschaft
Einkommensschwankungen u. Einkommensgefälle in der Landwirtschaft
Bei der Gründung der EWG existierten als Folge der historischen Entwicklung sechs voneinander isolierte Agrarwirtschaften, von denen jede ihr eigenes Preisniveau aufwies. Es regelte sich nach einem komplexen System historisch gewachsener Preisgarantien, Einfuhrbeschränkungen und -kontrollen, Ausfuhrzuschüssen, Schutzzöllen, Subventionen und anderen Vergünstigungen.
Von der Unterzeichnung des Vertrags von Rom 1957 bis zur Einführung eines gemeinsamen Preissystems für landwirtschaftliche Erzeugnisse vergingen zehn Jahre. Die Ablösung einzelstaatlicher Subventionssysteme durch ein gemeinschaftliches Subventionssystem und die Angleichung der unterschiedlichen nationalen Preisniveaus wurden nur unter großen Schwierigkeiten und in langen Marathonsitzungen erreicht
Im Dezember 1961 einigte sich der Rat auf eine gemeinsame Politik bei Getreide, Schweinefleisch, Eiern, Rindfleisch, Obst, Gemüse und Wein und über die Grundlagen der Finanzierung dieser Politik Im Dezember 1963 wurden auf einer weiteren Marathonsitzung Richtlinien für Milch und Milchprodukte, Rindfleisch, Kalbfleisch und Reis und im Jahr 1966 für Fette festgelegt Im Dezember 1964 wurde mit Verhandlungen über die gemeinsame Preispolitik begonnen. Als erstes wurde versucht, das sehr schwierige Problem eines gemeinsamen Getreidepreises anzugehen. Dies war einer der Punkte, an dem das gesamte System zu scheitern drohte.
Der Getreidepreis ist ein Angelpunkt des gesamten Systems. Eine Einigung über diesen zentralen Preis bedeutet indirekt auch eine Einigung über alle anderen Preise, da sie eng miteinander verbunden sind. Getreide ist ein wesentlicher Kostenfaktor für die Produktion von Geflügel, Eiern und Schweinefleisch. Die Preise für Schweinefleisch und Rindfleisch sind eng miteinander verbunden, da die Verbraucher auf das Fleisch mit dem günstigeren Preis ausweichen werden. Rindfleischpreise ihrerseits stehen in einer gewissen Beziehung zu Milchpreisen, weil die Aufzucht von Rindern und Milchkühen in ein ausgewogenes Verhältnis zu der Nachfrage nach diesen zwei Produkten gebracht werden muß
Die Festlegung des gemeinsamen Getreide-preises entwickelte sich vor allem zu einem politischen Konfliktpunkt zwischen Frankreich und der Bundesrepublik Die Bundesrepublik wollte mit Rücksicht auf ihre Bauern keinen Preis akzeptieren, der wesentlich unter ihrem nationalen Preis von 475, — DM pro Tonne Weizen lag.
Frankreich wies die niedrigsten Getreide-preise in der Gemeinschaft auf. Sie waren rd. 26 % niedriger als die deutschen Preise. Die Franzosen waren an der Beibehaltung eines niedrigen Getreidepreises interessiert. Dadurch konnten sie ein Ansteigen der Verbraucherpreise im Inland verhindern. Zugleich bestand die Chance der Exportsteigerung, da Weizen in der Bundesrepublik bei niedrigeren Preisen nicht mehr in vollem Umfang rentabel erzeugt werden konnte, die Produktion also eingeschränkt werden mußte, während Frankreich über große, leicht mobilisierbare Produktionsreserven verfügte.
Weil die Bundesrepublik befürchtete, daß Frankreich den Zollabbau für Industrieerzeugnisse behindern könnte, stimmte sie schließlich einem Richtpreis von 425, — DM pro Tonne Weizen zum 1. Juli 1967 zu. Er lag erheblich unter den deutschen Wünschen. Die deutschen Bauern hatten bis zuletzt auf einem Weizenpreis von mindestens 450, —•DM pro Tonne bestanden. Der Weizenpreis lag deutlich über dem Preis, der von Frankreich als wünschenswert bzw. von der Kommission als vertretbar angesehen wurde. Insgesamt wurde er im Agrargefüge von Anfang an zu hoch festgesetzt Eine weitere Fehlentscheidung erfolgte bei der Festsetzung von gemeinsamen Preisen für Milch und Milchprodukte auf einer abermaligen Marathonsitzung im Juli 1966. Auch der Milchpreis wurde im Agrarpreisgefüge zu hoch angesetzt, was zu einer Ausweitung der Milcherzeugung zu Lasten der Rinderproduktion führte
IV. Grundzüge des Agrarpreissystems
Der Richtpreis ist gemeinsam mit dem Interventionspreis wichtigstes Konstruktionselement des gemeinsamen Agrarmarkts Die Preisbildung für die Mehrzahl der in der EG gehandelten Agrarerzeugnisse erfolgt nicht — wie in unserer Wirtschaftsordnung sonst üblich — am Markt, die Preise werden vielmehr in zähen politischen Verhandlungen zwischen den einzelnen Mitgliedsländern jedes Jahr neu festgesetzt Den Preisen wurde eine doppelte Aufgabe zugewiesen: Sie sollen nicht nur einen Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage schaffen, sondern gleichzeitig den Produzenten ein „angemessenes" Einkommen sichern
Der Richtpreis ist der Preis, den ein Großhändler in der Zone mit dem größten Zuschußbedarf in den einzelnen Ländern erhalten soll. In der Bundesrepublik Deutschland gilt Duisburg als der Ort, an dem für Getreide der größte Zuschußbedarf besteht. Je weiter ein Erzeugungsort von Duisburg entfernt ist, um so niedriger sind dort die vom Richtpreis abgeleiteten Großhandelspreise für Getreide, da Transport und sonstige Nebenkosten entfallen. Für Erzeugnisse, bei denen ein zusätzlicher Bedarf aus Drittländern gedeckt werden muß, gelten die Richtpreise als Mindestpreise. Um sich vor der Konkurrenz aus Drittländern zu schützen, werden an der Grenze teils Zölle (für Obst und Gemüse), teils Abschöpfungen (für alle übrigen Agrarerzeugnisse) erhoben. Abschöpfungen sind Abgaben, die im Gegensatz zum Zoll laufend den Marktverhältnissen angepaßt werden. Sie heben den jeweiligen Weltmarktpreis auf einen sogenannten Schwellenpreis an. Der Schwellenpreis wiederum ist so berechnet, daß er zusammen mit den Vermarktungskosten, die innerhalb der EG anfallen, den Richtpreis ergibt. Sobald das Angebot der Landwirtschaft innerhalb der Europäischen Gemeinschaft die Nachfrage zum Richtpreis übersteigt, ist ein Angebot aus Drittländern nicht mehr konkurrenzfähig. Das bedeutet, daß sich der Agrarmarkt dann gegenüber dem Ausland vollkommen abschottet.
Bei einem ausreichenden Angebot kann der Marktpreis durchaus unter den Richtpreis fallen, allerdings nur soweit, bis ein sogenannter Interventionspreis erreicht wird. Spätestens bei Erreichung des Interventionspreises sind die staatlichen Einfuhr-und Vorratsstellen zum Eingreifen verpflichtet. Sie nehmen die Mengen aus dem Markt, die zu diesem Preis keinen anderen Käufer finden. Deswegen hat der Interventionspreis auch die Funktion eines Mindestpreises. Das bedeutet für die Landwirte eine unbegrenzte Absatzgarantie. Sie produzieren ohne jegliches Risiko, weil sichergestellt ist, daß am Markt nichtverkäufliche Überschüsse auf Kosten des Steuerzahlers beseitigt werden. Sie werden — wie oben angedeutet — eingelagert, denaturiert, vernichtet oder aber zu Dumping-Preisen auf dem Weltmarkt verkauft.
V. Der Währungsausgleich
Zur Zeit gehören gemeinsame Agrarpreise allerdings der Vergangenheit an. Sie wurden in Europäischen Rechnungseinheiten (RE) ausgedrückt, einer künstlichen Währungseinheit, deren Goldgehalt dem des US-Dollars entspricht. Hieraus ergibt sich automatisch, daß die Landwirtschaftspreise, ausgedrückt in nationaler Währung, steigen müssen, wenn ein Mitgliedsland abwertet, bzw. daß sie sinken müssen, wenn ein Land aufwertet
Zwar war es auch ein Hauptprinzip der gemeinsamen Politik, daß die Wechselkurse innerhalb der Europäischen Gemeinschaft unverändert bleiben sollten. Da aber die gemeinsame Agrarpolitik bis heute nicht durch gemeinsame Konjunktur-, Wirtschafts-und Währungspolitiken ergänzt wurde, war eine Auseinanderentwicklung der einzelnen nationalen Wirtschaften unvermeidlich. Kennzeichnend für diese Auseinanderentwicklung waren z. B. relativ hohe Inflationsraten in Frankreich bei einer relativen Preisstabilität in der Bundesrepublik. Hierdurch verschlechterten sich die Wettbewerbschancen Frankreichs ebenso sehr wie sich die der Bundesrepublik verbesserten. Frankreich entschied sich daher im August 1969, den Franc um 11, 11 % abzuwerten.
Nach den Regeln der gemeinsamen Agrarpolitik hätte das bedeutet, daß die Agrarpreise um denselben Prozentsatz angehoben werden mußten. Das hätte innerhalb Frankreichs eine erhebliche Verteuerung der Lebenshaltung bedeutet und innenpolitische Konflikte mit Arbeitnehmern und Gewerkschaften zur Folge gehabt. Zugleich hätte der Einkommenszuwachs für die französischen Bauern einen Produktionsanreiz dargestellt, so daß befürchtet wurde, daß sich das bereits existierende Überschußproblem weiter verschärfen würde.
Angesichts dieser Probleme entschloß sich der Rat zu einer komplizierten Vereinbarung. Die Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse in nationaler Währung blieben unverändert Der Abwertungseffekt wurde statt dessen an den Grenzübergängen zu Frankreich ausgeglichen, und zwar wurden Importe aus Mitgliedsländern auf das französische Preisniveau herabsubventioniert, während Exporte aus Frankreich mit zusätzlichen Abschöpfungen belastet wurden. Dabei bestand die Absicht, die Subventionen bzw. Abschöpfungsbeträge 1970/71 auf die Hälfte zu verringern und sie in dem darauffolgenden Jahr völlig abzuschaffen
Die Aufwertung der Deutschen Mark im Herbst 1969 machte hier einen Strich durch die Rechnung. Um ein Absinken der deutschen Agrarpreise und damit vor allem auch der Einkommen der deutschen Bauern zu verhindern, wurde der sogenannte Währungsausgleich institutionalisiert Er funktioniert nach dem oben beschriebenen System und führte dazu, daß sich die Umrechnungskurse für Agrarprodukte mehr und mehr von den tatsächlichen Wechselkursen enfernten. Die sogenannte „grüne Parität" hat in der Gemeinschaft eine Reihe von Fehlentwicklungen verstärkt. Dies gilt zum einen für die hierfür aufzuwendenden Kosten. Es liegt in der Mechanik des Währungsausgleichs begründet, daß die erforderlichen Beträge um so höher sind, je weiter sich die grünen Währungen von den tatsächlichen Kursen entfernen. Weil sich das internationale Währungsgefüge im Laufe der siebziger Jahre durch Wechselkursänderungen immer mehr verschoben hat, sind die Kosten für den Währungsausgleich rasch angestiegen, und zwar von 140 Mio RE (460, 2 Mio DM) 1973 auf 993 Mio RE (2, 8 Mrd. DM) 1978
Hinzu kommen nachteilige Auswirkungen auf den Wettbewerb, insbesondere produktionsstimulierende bzw. produktionshemmende Langfristwirkungen, die aus der Begünstigung der Bauern in den Aufwertungs-bzw.den Belastungen der Landwirtschaft in den Abwer-tungsländern resultieren. Im Aufwertungsland werden änderungsbedürftige Strukturen aufgrund der grünen Währungen konserviert, während die Landwirtschaft in den Abwertungsländern einem künstlichen und struktur-verzerrenden Anpassungsdruck ausgesetzt ist, der um so stärker wird, je länger dieser Zustand anhält. Die Folge war, daß die Bundesrepublik ihre Exporte von Agrarerzeugnissen ständig ausweiten konnte, vor allem nach Italien, aber auch nach Frankreich und Großbritannien. Die Wettbewerbsposition Frankreichs verschlechterte sich demgegenüber laufend
Im Dezember 1978 weigerte sich Frankreich, dem geplanten Europäischen Währungssystem beizutreten, wenn nicht verbindliche Vereinbarungen über einen Abbau des Währungsausgleichs getroffen würden. Daraufhin einigten sich die Agrarminister auf einen Kompromiß. Er schließt zwar neue Währungsausgleichsbeträge nicht aus, sie müssen jedoch künftig innerhalb von zwei Jahren wieder abgebaut werden Allerdings erfolgt der Abbau nur im Rahmen der jährlichen Preiserhöhungen. Er darf nicht zu nominellen Einkommenseinbußen der Landwirte in den betreffenden Ländern führen.
VI. Einige Folgen der gemeinsamen Agrarpolitik
1. Unterschätzung der Produktivitätssteigerung
Garantierte Mindestpreise bedeuten für die Bauern einen risikolosen Produktionsanreiz, den sie voll genutzt haben. Dabei scheint es, als ob die Möglichkeiten zur Produktivitätssteigerung in der Landwirtschaft unterschätzt wurden.
Allein in der Bundesrepublik stieg die Produktivität je Vollarbeitskraft z. B. bei Getreide von 88 Doppelzentner Getreideeinheiten 1950 auf 450 Doppelzentner 1975 Das ist eine Steigerung um 400 %. Die Bruttowertschöpfung je Erwerbstätigen in der Landwirtschaft stieg von 5926, — DM im Jahr 1960 auf 16822, — DM im Jahr 1978 (in Preisen von 1970) Damit ist die Produktivität in der Landwirtschaft zwar immer noch erheblich niedriger als die Produktivität im warenproduzierenden Gewerbe (1960 17366, — DM pro Erwerbstätigen, 1978 37519, — DM) die Produktivitätssteigerung lag jedoch mit jahresdurchschnittlich 6 % deutlich über der der Gesamtwirtschaft (4, 5 %) Entsprechend verringerte sich die Zahl der in der Landwirtschaft Tätigen von 3, 6 auf 1, 6 Mio. d. h„ sie ist auf weniger als die Hälfte des Stands von 1960 zurückgegangen. Der Produktivitätsfortschritt wurde erreicht durch eine verbesserte Technik, den Einsatz von mehr Düngemitteln und die Züchtung verbesserten Tier-und Pflanzenmaterials. Sie wurde ermöglicht durch Preise, die den Einsatz eines vermehrten Kapitals auch in kleinen Betrieben rentabel werden ließen. Vor 50 Jahren z. B. konnte eine landwirtschaftliche Arbeitskraft im Ackerbau 5 ha bearbeiten. Heute bewirtschaftet sie ohne Schwierigkeiten 50 ha. Moderne Melkanlagen haben bewirkt, daß ein einziger Mann bis zu 100 Kühe auf einmal melken kann
Die Überschüsse in der Agrarwirtschaft der EG sind in erster Linie eine Folge der gestiegenen Produktivität, d. h. sie sind sowohl auf qualitative Verbesserungen als auch auf rein quantitative Produktionssteigerungen zurückzuführen Unter normalen Umständen wä-ren dadurch in einem marktwirtschaftlichen System die Preise gesunken, da ein steigendes Angebot auf eine relativ unelastische Nachfrage stößt. Das wurde durch die Mindest-und Interventionspreise in der EG verhindert. Allerdings muß man auch davon ausgehen, daß eine Produktivitätssteigerung in dem beobachteten Umfang bei niedrigeren Preisen kaum zu finanzieren gewesen wäre.
Hat sich somit der Einsatz der Steuermittel und die Vernachlässigung der Verbraucherinteressen, d. h. die ständige Inkaufnahme überhöhter Lebensmittelpreise, nicht doch gelohnt?
2. Keine Verbesserung der Agrarstruktur
„Tatsache ist" schreibt die Kommission in ihrer Bestandsaufnahme der gemeinsamen Agrarpolitik 1975 „daß sich die positiven Wirkungen der gemeinsamen Agrarpolitik ungleich auf die einzelnen Regionen verteilt haben, wobei die agrarstrukturell schwachen Regionen benachteiligt wurden. 11 Tatsache ist außerdem, daß die „Produktivitätsgewinne in erster Linie Großbetrieben zugute gekommen sind"
Dies ist kein Widerspruch zu der beabsichtigten Politik. Die EWG-Kommission ging — in bester Tradition liberaler Nationalökonomie — davon aus, daß die in der Landwirtschaft freigesetzten Arbeitskräfte von den wachsenden Bereichen Industrie und Dienstleistungssektor ohne Schwierigkeiten übernommen werden könnten Derartig günstige Bedingungen waren z. B. in der Bundesrepublik bis zur Krise 1973 gegeben, nicht jedoch in Süditalien, in Teilen von Frankreich oder in Irland, Diese Regionen haben gleichzeitig gesamtwirtschaftliche strukturelle Schwierigkeiten. Sie bieten wenig bis keine Erwerbsalternativen. Die „Förderung der Aufgabe landwirtschaftlicher Erwerbstätigkeit" vergrößert im Zweifel das Problem der Arbeitslosigkeit.
Einkommensschwankungen u. Einkommensgefälle in der Landwirtschaft Als Folge dieser Politik haben sich die Einkommensunterschiede innerhalb der europäischen Landwirtschaft seit Gründung der EWG vergrößert, und zwar auf allen Ebenen: „zwischen den Mitgliedsstaaten, zwischen den Regionen (der Unterschied beträgt das ein-bis fünffache zwischen den Regionen der Gemeinschaft), zwischen Betrieben gleicher Größe in ein und dem selben Staat (Differenz von 100% zwischen den Betrieben, die Gemischtkultur betreiben, und denen mit Rinderhaltung) sowie zwischen Betrieben unterschiedlicher Größe, aber gleicher Betriebsausrüstung (hier verdoppelt sich der Abstand zwischen der Größenklasse 10 bis 20 ha und der Größenklasse mit Betrieben über 50 ha)" Die europäische Agrarpolitik steckt in einer Sackgasse. Die Kostenbelastung steigt. Strukturprobleme bleiben ungelöst. Noch wird versucht, die Krise an ihren Symptomen zu kurieren. Die EG-Kommission bemüht sich, maßvollere Preissteigerungen für Agrarerzeugnisse durchzusetzen. Dies scheitert allerdings immer wieder an der starken Lobby der Bauern, die ihrer Meinung nach immer noch deutlich benachteiligt sind obwohl der Einkommens-abstand zu den Durchschnittseinkommen der Industriearbeiter weitestgehend aufgeholt ist’ Die Kommission hat darüber hinaus vorgeschlagen, die Erzeuger stärker als bisher an den Kosten der Beseitigung der Überschüsse zu beteiligen. Sie will u. a. die Erzeugerabgabe von Milch von den bisherigen 0, 5 auf 1, 5 % erhöhen Auch diese Sparmaßnahme konnte noch nicht beschlossen werden.
Auf der anderen Seite mehren sich Anzeichen, daß grundlegendere Lösungen unausweichlich werden: Nicht nur Großbritannien weigert sich, seinen Beitrag zum Haushalt zu zahlen auch die Finanzminister der EG haben zu erkennen gegeben, daß sie nicht bereit sind, den Haushalt der EG zur Finanzierung von Agrarüberschüssen aufzustocken Und schließlich hat das Europäische Parlament, das bis zum Zeitpunkt der Direktwahl die Agrarlobby stets unterstützt hat den Haushalts-entwurf abgelehnt, so daß er neu verhandelt werden muß
Zwei Ansatzpunkte bieten sich für eine prinzipielle Umorientierung an:
1. Allmähliche Ablösung der Preisstützung durch eine Einkommenssubvention
Von verschiedenen Seiten wurde vorgeschlagen, die Preispolitik schrittweise durch eine Politik der direkten Einkommenssubventionierung zu ergänzen bzw. ganz zu ersetzen Volkswirtschaftlich brächte dies erhebliche Vorteile:
— Unproduktive Aufwendungen für die Beseitigung, Denaturierung, den billigen Export oder die Einlagerung von agrarischen Über-schüssen entfallen oder werden zumindest erheblich verringert.
— Eine Abschwächung des Anstiegs der Agrarpreise ist ein erheblicher Beitrag zur Preisstabilität im Inland. Immer noch müssen die Arbeitnehmer in der Europäischen Gemeinschaft zwischen 16 und 31 % ihrer Gesamteinkommen für Nahrungsmittel ausgeben. — Direkte Einkommensbeihilfen sind im Gegensatz zu Marktordnungsausgaben in ihrer Höhe kalkulierbar und können gezielt eingesetzt werden. Damit wird zugleich verhindert, daß landwirtschaftliche Großbetriebe, die mit den niedrigsten Kosten produzieren, überproportional begünstigt werden.
2. Stärkere Betonung der Strukturpolitik
Unter den Vorzeichen einer anhaltenden Arbeitslosigkeit in den meisten europäischen Ländern wird es zunehmend schwieriger, die Modernisierung der Landwirtschaft durch Abwanderung der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte in andere Wirtschaftsbereiche zu bewerkstelligen. Als Ziel muß vielmehr verstärkt angesehen werden, die Agrarstrukturen vor allem in regional unterentwickelten Gebieten so zu verbessern, daß die dort lebende Bevölkerung ausreichende Erwerbsmöglichkeiten findet. Der Ministerrat der EG beginnt dem Rechnung zu tragen. Er hat bei der Festsetzung der Agrarpreise für 1978/79 zugleich eine Reihe von strukturellen Maßnahmen zur Verbesserung der Lage der Landwirtschaft in den Mittelmeergebieten beschlossen. Sie umfassen die Verbesserung von Verarbeitungsund Vermarktungsbedingungen, gemeinsame Bewässerungsmaßnahmen und die Verbesserung der Infrastruktur in bestimmten ländlichen Gebieten in Süditalien und in Südfrankreich
Hier stößt die Agrarpolitik allerdings an eine deutliche Grenze. Ebensowenig wie die Preis-und Marktpolitik das Problem der regionalen Unterentwicklung lösen konnte, wird sich dies durch Maßnahmen der Agrarstrukturpolitik erreichen lassen. Dauerhaften Erfolg verspricht hier nur eine langfristige, intensive und globale Entwicklungspolitik. Eine umfassende Konzeption hierfür ist um so erforderlicher, als der beschlossene Beitritt Griechenlands und der beabsichtigte Beitritt von Spanien und Portugal die bestehenden Ungleich-gewichtesehr stark vergrößern werden Die ebenfalls bereits öfter geforderte Koordinierung der Mittelvergabe aus dem Regional-und dem Sozialfonds sowie derjenigen der Europäischen Investitionsbank wäre hier ein sinnvoller Ansatzpunkt. Die gemeinsame Agrarpolitik der EG weist neben den aufgezeigten und dringend der Lösung bedürfenden Schwächen zweifellos auch Erfolge auf. Sie bestehen in der Sicherheit der Versorgung der 260 Millionen Verbraucher in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft und dem vorhandenen, äußerst vielfältigen Angebot bei zwar hohen, wenn auch wenig schwankenden Preisen. Diese Vorteile sollten wir einerseits nicht den Sonderinteressen einer kleinen Gruppe von Agrarlobbyisten zuliebe in Frage stellen. Sie profitieren in erster Linie von der Ausgestaltung der Agrarpolitik, die mit ihren gegenwärtigen Auswüchsen die Integration Europas gefährdet
über diese Vorteile sollten wir andererseits nicht die Interessen der Drittländer vergessen. Dazu wäre zum einen zu überlegen, inwieweit Agrarüberschüsse stärker als bisher als Nahrungsmittelhilfe in Hungergebiete geliefert werden sollten als Unterstützung, bis diese Länder inder Lage sind, ihre Bevölkerung selbst zu ernähren; zum anderen widerspricht es der immer wieder geforderten Öffnung der Märkte der Industrieländer für Länder der Dritten Welt, wenn sich die Europäische Gemeinschaft gerade auf den für Entwicklungsländer wichtigen Agrarmärkten nahezu total abschottet
Jutta Kneißel, Dr. rer. pol., Diplom-Volkswirt, geb. 1944; 1970— 1976 Sachbearbeiterin in der Bank für Gemeinwirtschaft, Abt. Gemeinwirtschaft, seit 1976 Sachbearbeiterin in der Grundsatzabteilung beim Vorstand der IG Metall. Veröffentlichungen u. a.: Gesellschaftsstrukturen und Unternehmensformen in China. Zur Analyse der wirtschaftlichen Entwicklung einer traditionellen Gesellschaft, Frankfurt 1978; Europäische Regionalpolitik. Die Unterschiede haben sich noch vergrößert, in: DER GEWERKSCHAFTER Juni 1979; Gewerkschaftscharta ist ein Kompromiß. Zur Entwicklungscharta des IBFG, in: Entwicklungspolitik, Informationen, Berichte, Analysen Nr. 16/78; Volkswirtschaft für Sie I (gemeinsam mit U. Freier), München 19772; Volkswirtschaft für Sie II (gemeinsam mit U. Freier und M. Gros), München 1978.
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