Im Anschluß an Recktenwalds Forderung nach einer umfassenden „Theorie des Staatsversagens“ werden unterschiedliche Dimensionen einer solchen Theorie diskutiert: politisches Staatsversagen als Entscheidungsschwäche; funktionelles Staatsversagen als Effizienzmangel; Unwirtschaftlichkeit im Staatssektor und Unwirtschaftlichkeit, des Staats-sektors. Am Beispiel der Kriminalitätsbekämpfung, des Gesundheitswesens und des Umweltschutzes werden Art und Ausmaß gegenläufiger Entwicklungen von Kosten und Nutzen veranschaulicht. Die zentrale These lautet: Das politische Staatsversagen, d. h. die unzureichende Intervention in die Struktur der industriellen „Versorgung", bedingt die Un-wirtschaftlichkeit des Staatssektors, die sich insbesondere im Wachstum des mit Reparaturfunktionen befaßten „Entsorgungssektors" manifestiert. Dessen bürokratische und industrielle Komponenten werden untersucht unter der Hypothese eines latenten staatlich-bürokratischen Interesses am Wachstum von „Sozial-Industrien“. Die staatlichen und industriellen Sozial-Technokratien entwickeln analoge (symptombezogene) Definitionstendenzen im Hinblick auf industriegesellschaftliche Probleme; die aus ihrer engen Symbiose erwachsende gemeinsame Definitionsmacht verstärkt die Tendenz, politisch-vorsorgliche Strategien zugunsten kurzfristig wachstumsträchtiger, teurer Entsorgungskonzeptionen zu vernachlässigen. Ursachen und Folgen einer gegenläufigen Entwicklung vpn Quantität und Qualität staatlicher Problembearbeitung werden ansatzweise systematisiert.
I. Einleitung
Daß die Strukturschwächen des Marktes zunehmend den Staat auf den Plan rufen, die Probleme dort aber nur gleichsam vom Regen in die Traufe geraten, hat nach der Theorie des Marktversagens zur Forderung nach „einer geschlossenen Theorie des Staatsversagens" geführt. Das Thema ist älter als der von Recktenwald ins Spiel gebrachte Begriff. Es hat vor allem mehr Aspekte, als dieser neoklassische Ansatz zur Sprache bringt
Recktenwalds Diagnose des „Staatsversagens“ ist auf den Tatbestand der „Unwirtschaftlichkeit im Staatssektor" beschränkt (so der Titel seiner Arbeit). Es geht ihm um den verschwenderischen öffentlichen Umgang mit Steuergeldern, um den zu hohen Preis staatlicher Leistungserbringung usw. Die Ursachen dieser Unwirtschaftlichkeit werden im Rahmen einer marktwirtschaftlich orientierten Bürokratie-kritik bestimmt. Verwiesen wird auf die problematische Trennung von Nutzer und Zahler bei öffentlichen Leistungen, auf das Fehlen von Erfolgskontrollen und materiellen Effektivitätsanreizen im Verwaltungsapparat, auf die Kosteneffekte der gewerkschaftlichen Selbst-organisation der Staatsdiener, auf die strukturellen Hemmnisse von Produktivitätssteigerungen, die Unüberschaubarkeit des Budget-mechanismus usw. Einer der wichtigsten Reformvorschläge lautet: „Entstaatlichung“.
Das Interessante an dem Thema ist zunächst einmal, daß es hier um Probleme geht, die die Gesellschaft dem Staat nicht zufällig überant-wortet hat und von denen die Theorie des Marktversagens nicht zufällig behauptete, daß sie von privaten Anbietern nicht zu lösen seien. War diese Theorie denn falsch? Und käme eine Entstaatlichung nicht der Rückverweisung sozialer Probleme von der Traufe in den Regen gleich? Vor allem aber: Sind wir nicht längst Zeugen einer Entstaatlichung von Problembearbeitungen? In immer mehr Tätigkeitsfeldern beteiligt der Staat spezialisierte Industrien (von der öko-bis zur Medizin-Industrie) an seinem Aufgabenpensum, in immer mehr Bereichen läßt er Probleme technologisch bearbeiten und besorgt lediglich die Finanzierung. Ich meine, es ist vor allem diese Ökonomisierung von Staatstätigkeiten, die den Staat „so teuer“ macht Das eigentlich Bemerkenswerte an der von Recktenwald beklagten Unwirt29 schaftlichkeit des Staates sind demnach ihre ökonomischen Gründe. Dies ist die erste zentrale Paradoxie, mit der sich eine Theorie des Staatsversagens zu befassen hätte. Die bürokratischen Parkinsoniaden sind nur die eine — harmlosere — Seite des teuren Staates. Die andere ist die staatliche Alimentierung von Industrien, die sich auf bestimmte politische Aufgabenfelder — und Etats — spezialisiert haben. Dies führt zu einem zweiten Paradoxon: Der Staat versagt vor einem Großteil der ihm gesellschaftsnotwendig überantworteten Aufgaben (von der Gesundheits-bis zur Bildungspolitik), er versagt sogar zunehmend dort, wo er als „ideeller Gesamtkapitalist" systemnotwendige Steuerungsfunktionen übernommen hat. Und dennoch verhält er sich „ökonomisch", indem er dem an seinem Aufgabenpensum beteiligten Wirtschaftssektor Wachstumsmöglichkeiten schafft. Das dritte Paradoxon lautet: Je mehr Geld der Staat für die Bearbeitung gesellschaftlicher Probleme ausgibt, desto breiter institutionalisiert er ein gesellschaftliches Interesse am Bestand dieser Probleme Das vierte Paradoxon: Das „quantitative" Wachstum des Staates ist kein Indiz politischen Machtgewinns, sondern umgekehrt der Preis wachsender Entscheidungsschwäche und Unregierbarkeit, nicht dem Bürger, sondern den industriellen und bürokratischen Großtechnokratien gegenüber.
Dies soll nun näher begründet werden — notwendigerweise nur skizzenhaft Der erste Schritt ist eine Verdeutlichung des Phänomens staatlicher Kostenineffizienz an ausgewählten Beispielen.
1. Kriminalitätsbekämpfung Der Schutz von Leben, Gesundheit oder Eigentum vor ungesetzlichen Angriffen ist eine der zentralen und zugleich eine der ältesten Staatsfunktionen. Dennoch hat die Kriminalität im Zuge der Industrialisierung und Urbanisierung ständig zugenommen. Das Ausmaß dieser Entwicklung bringt in Ländern wie den USA oder der Bundesrepublik Deutschland die Regierungen zunehmend unter Legitimationsdruck. Die Ausgaben für Innere Sicherheit steigen dementsprechend überproportional. Der Polizeiapparat wächst und seine technische Ausrüstung wird ständig verbessert. Dennoch sinken die Aufklärungsraten, und die Kriminalität steigt weiter.
Dieses Staatsversagen führt zu parallelen Gegenmaßnahmen auf der privaten Ebene.
Tabelle 1:
Straftaten und Aufklärungsquoten in der Bundesrepublik Deutschland Wach-, Werk-und Begleitschutz beschäftigen heute in der Bundesrepublik etwa halb so viele Menschen wie die Innere Sicherheit des Staates. Faktisch tritt der Staat hier sogar einen Teil seines Gewaltmonopols an Privatpolizeien ab. Gleichzeitig wächst der Markt industrieller Sicherheitstechnologien und schafft über die rund 450 000 (1978) Beschäftigten des internen Sicherheitssektors hinaus zusätzliche Einkommen. Da auch diese Maßnahmen wenig an der Kriminalitätsentwicklung ändern, entsteht ein dritter Typ von (überwiegend privaten) Kosten: Die Schadenskosten, die vor allem dem Versicherungswesen einen wachsenden Markt verschaffen, aber auch Ausweichkosten (avoidence costs; z. B. Umzüge aus gefährlichen Gegenden) einschließen.
Nimmt man noch die Alarmpublizistik hinzu, so gibt es einen ziemlich großen Teil von Einkommensbeziehern marktwirtschaftlicher Industriegesellschaften, die vom Problem Straffälligkeit leben, für die das kriminalpolitische Staatsversagen bishier nicht unwirtschaftlich ist. Vorsichtig geschätzt wurden 1977 rund zwei Prozent des Bruttosozialprodukts (BSP) für dieses Problem ausgegeben. über die Ursachen dieses Staatsversagens ist damit noch wenig gesagt. Offenkundig ist immerhin dies: Staat und Gesellschaft konzentrieren ihre Mittel auf vorhandene Kriminalität. Die Maßnahmen greifen zu spät in die problematische Kausalkette ein. Die Bedingungen von Straffälligkeit und entsprechende sozialpolitische Vorsorgestrategien werden weitgehend dethematisiert Da der Abbau kriminalitätsträchtiger Sozialstrukturen seiner ganzen Natur nach eine öffentliche Aufgabe ist, fällt auch dessen Vernachlässigung unter den Begriff des Staatsversagens. 2. Gesundheitswesen Die Diskrepanz zwischen Aufwendungen und erzielten Wirkungen ist im Gesundheitswesen nicht ganz so spektakulär wie im Falle der Kriminalitätsbekämpfung. Dafür ist das Ausgabenniveau und seine bisherige Anstiegstendenz beträchtlich.
Die hier angeführten Gesundheitsleistungen aus dem Sozialbudget (einschließlich Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle) haben 1977 — nach einer Vervierfachung gegenüber 1965 — 120 Mrd. DM oder 10, 1 Prozent des BSP der Tabelle 2:
Gesundheitsleistungen aus dem Sozialbudget sowie Arbeitsunfähigkeits-und Krankenhausfälle der gesetzlichen Krankenversicherung Bundesrepublik erreicht Seit 1975 haben die Ausgaben nur noch absolut zugenommen. Aber das erreichte Kostenniveau ist beträchtlich, zumal wenn man bedenkt, daß das Sozial-budget die privaten Gesundheitsaufwendungen (Haushalte und Privatversicherungen) und auch einen Teil der staatlichen Gesundheitsaufwendungen nicht erfaßt. Nimmt man diese hinzu, so kommt man für das Jahr 1975 auf über 13 Prozent des BSP 1 Bedenkt man, welch hohen Anteil an den Gesundheitskosten des Sozialbudgets die Betriebe aufbringen müssen (Arbeitgeberanteil, Lohnfortzahlung, Unfallversicherung, dazu noch: indirekte Kosten durch Produktionsausfall etc.), so ist es erstaunlich, wie wenig Gesundheit mit diesem gewaltigen ökonomischen Potential „erkauft“ wurde. Die Arbeitsunfähigkeitsfälle haben — von den rezessionsbedingten „Krankheitsverdrängungen'1 abgesehen — insgesamt deutlich zugenommen. Bei den Krankenhausfällen zeigt sich hier sogar eine kontinuierliche Zunahme. Das gleiche Bild bietet die Entwicklung der Berufskrankheiten (auch in anderen Ländern). Zwar gibt es mittlerweile eine breite Diskussion über die Unzulänglichkeiten einer bloß kurativen Medizin, die die gesellschaftliche („zivilisatorische") Bedingtheit der Krankheitsstruktur der Industrieländer ignoriert, aber nach wie vor wird der weitaus größte Teil der enormen Gesundheitsaufwendungen in die Behandlung anfallender Krankheiten investiert. 3. Umweltschutz Einer der Bereiche, in denen gesellschaftspolitische Gesundheitsvorsorge betrieben werden kann, ist der Umweltschutz. Im Vergleich zum Gesundheitswesen spielt er jedoch eine geringe Rolle. Gegenüber den sechziger Jahren hat es in den OECD-Ländern aber einen erheblichen Ausgabenanstieg gegeben. Staat und Industrie der westlichen Länder geben für Luft-und Wasserreinhaltung, Lärmschutz und Abfallbeseitigung zwischen ein und zwei Prozent des BSP aus (im Falle Japans waren es zeitweilig — 1975 — sogar drei Prozent). Die Kosten der gleichwohl nicht verhinderte Umweltschäden machen nach Angaben der OECD in ihrem Länderbereich immerhin zusätzlich 3— 5 Prozent des BSP aus
Im Vergleich zu den eben angeführten beiden Problembereichen hat der Umweltschutz vermutlich die sichtbarsten Erfolge erzielt: Gegenüber den sechziger Jahren ist der Himmel über den meisten Industriestädten wieder etwas blauer geworden. Neuerdings sind auch Erfolge bei der Wasserreinhaltung erzielt worden. In den meisten westlichen Ländern hatten diese zumindest optischen Erfolge (s. u.) in den letzten Jahren einen dämpfenden Effekt auf den Anstieg der unmittelbaren Umweltschutzaufwendungen (Schweden, Japan, Bundesrepublik). Nun hat es gerade der Umweltschutz an sich, daß Messungen dort vorgenommen werden, wo man Maßnahmen ergreift. Die Folge ist regelmäßig eine spezialistisch verengte und zu optimistische Sicht. Beschränkt man den Gegenstand des Umweltschutzes nicht auf die engen Problemdefinitionen des technokratischen Apparates, definiert man also als Umweltproblem alle Schädigungen, Beeinträchtigungen und Gefährdungen von Mensch und Natur durch industrielle Produktionen und Produkte, so ergibt sich auch für diesen dritten Bereich eine überwiegend negative Erfolgsbilanz (mit Zusatzkosten in Bereichen wie dem des Katastrophenschützes). Dies kann hier nicht näher begründet werden. Vielleicht genügt die Feststellung, daß auch im Bereich der engeren Problemdefinitionen des staatlich-industriellen Umweltsektors schon bald mit weniger günstigeren Entwicklungen zu rechnen ist (s. Tabelle 3), weil Umweltschutz als Symptombearbeitung den Wachstumsfaktor der umweltproblematischen Produktionen und Produkte grundsätzlich tabuisiert und dieser die erzielten Niveauverbesserungen der Umweltqualität tendenziell neutralisiert. Nimmt man nicht die örtlich gemessenen Schadstoffkonzentrationen, sondern die insgesamt in die Luft abgegebenen Emissionen, so werden diese bei den wichtigsten fünf Schadstoffen allem Umweltschutz zum Trotz — und ungeachtet beträchtlicher Reduzierungen der Staubbelastung — in der Bundesrepublik 1980 wieder das Gesamtvolumen von 1970 erreichen (reichlich 14 Millionen Tonnen). Diese Prognose betrifft wohlgemerkt den Kernbereich des Umweltschutzes, nicht etwa den Bereich der ungezählten toxischen Schadstoffe, die bisher weder Gegenstand von Messungen noch Maßnahmen sind, oft aber bereits in kleinen Mengen eine hohe Gefährdung darstellen.
III. Anmerkung zur Evaluation von Staatstätigkeiten
Nicht nur am Umweltschutz läßt sich zeigen, daß politische Leistungsbilanzen — das Attestieren von Erfolg oder Versagen — entscheidend von den angewandten Bewertungskriterien abhängen. Staat und Industrie neigen dazu, ihre Tätigkeit als solche bereits als Leistung zu deklarieren. Die Tatsache, daß man tätig wurde und vor allem: daß man Geld ausgageben hat, ist die Kernaussage technokratischer Selbstbewertungen. Oft ersetzt diese subjektive die objektive Leistungsevaluation. Dem entspricht dann auch die Logik, daß die Ausgaben steigen müssen, weil die Probleme zunehmen. Wir haben uns an diese Logik gewöhnt und finden sie plausibel. Politisch lo-gisch wäre hingegen die kritische Feststellung eines Problemanstiegs, obwohl die Ausgaben steigen.
Das Vorhandensein problembezogener Erfolgsmaßstäbe ist folglich das erste notwendige Evaluationskriterium. Die Angemessenheit der Erfolgsdefinition ist das zweite. Technokratien konzentrieren ihre Problemwahrnehmung meist auf Bereiche, in denen sich „etwas machen läßt”. Ihre Erfolgsmessungen wiederum konzentrieren sie — wenn sie sie vornehmen — auf solche Tätigkeitsfelder. Diese sind daher enger als die tatsächlichen Problemfelder. Der Bereich der Luftreinhaltung, in dem es ein Heer von Schwefeldioxid-Spezialisten und eine ganze Wissenschaft der Messung dieses einen Schadstoffs, aber eine große Unkenntnis über die toxische Gesamt-B Belastung gibt, ist nur ein besonders deutliches Beispiel.
Ein drittes notwendiges Bewertungskriterium, das der technokratische Subjektivismus tendenziell ausblendet, ist die Frage einer Problemverschiebung. Der Umweltschutz ist hier wiederum reich an Beispielen, angefangen bei der regionalen Umverteilung von Schadstoffen über Umweltbeeinträchtigungen durch Kläranlagen bis hin zu der enormen und stark zunehmenden Abfallbelastung als Folge „erfolgreicher" Reinigungsmaßnahmen. (Die amerikanischen Umweltschutzabfälle der Industrie werden sich nach einer Schätzung 1983 gegenüber 1974 verdoppeln: auf fast 20 Prozent oder 35, 7 Mio. Tonnen! Besonders aktuell ist derzeit die Problemverschiebung im Energiesektor, wo im Namen der Energieeinsparung die Energieverschwendung (z. B. durch Verstromung im Heizungsbereich) neue Formen gewinnt.
Wird das Problem wie in den angeführten Beispielen innerhalb des zuständigen Sozialsektors verschoben oder von ihm in neuer Form hervorgebracht, so kann (in Ausweitung des medizinischen Begriffs) von einer „technokratischen latrogenese“ gesprochen werden*). Ihre starke Verbreitung im Bereich öffentlicher Problembearbeitung — von der Infektion in Großkliniken bis zur Professionalisierung von Kriminalität in Haftanstalten — ist ein wesentlicher Aspekt einer Theorie des Staats-versagens. Eine Effizienzbewertung staatlicher Maßnahmen darf — viertens — den Erfolgsfall erst at-testieren,wenn Gratiseffekte auszuschließen sind. So war die Substitution von Kohle durch öl oder Gas in den sechziger Jahren kein Resultat von Umweltpolitik, sondern Folge der Preisentwicklung. Einige Verbesserungen im Gesundheitsbereich sind Folge der Aufklärungsarbeit der Medien oder der Abwanderung aus den Ballungsgebieten, ein Teil der Arbeitslosigkeit wird durch Rückzug vom Arbeitsmarkt (vor allem bei Frauen) verringert usw.
Fünftens ist schließlich stets nach der Dauerhaftigkeit eines positiven Effekts zu fragen. Beschränken sich staatliche Maßnahmen auf Symptombehandlung und steckt im Kausalbereich ein Wachstumsfaktor, so ist mit einem Wiederanstieg oder dem Dilemma der N-Kurve (Anstieg-Rückgang-Wiederanstieg) zu rechnen (s. u.).
Nur wenn solch kritische Erfolgsmaßstäbe angelegt werden, wird begreiflich, warum der staatliche und industrielle Sozial-bzw. Entsorgungssektor (s. u.) so gewaltig angewachsen ist. Er „lebt" nicht nur von der primären Problembearbeitung; sein ökonomisches Gewicht bestimmt sich vielmehr zusätzlich durch die sekundäre Behandlung der unzulänglichen Problembehandlung: die Kompensation nicht verhinderter Schäden, die Behandlung der Folgen von Problemverschiebungen oder „technokratischer latrogenese", die zusätzliche Maßnahme gegen Probleme, die sich wachstumsbedingt erneut zuspitzen, usf.
IV. Versorgung und Entsorgung: Das Wachstum des staatlich-industriellen Sozialsektors
Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem Staatsversagen in zentralen Regelungsbereichen und dem Wachstum des staatlichen und industriellen Sozialsektors. Man kann diesen Sektor auch als Entsorgungssektor bezeichnen. Dieser bietet Güter und Dienstleistungen an, die auf einen Bedarf reagieren, welcher durch Problemfolgen des Versorgungssektors mehr oder weniger erzwungen wird. Vermutlich ist diese begriffliche Dichotomie von Versorgung und Entsorgung nur schwer operationalisierbar. Dies gälte auch, wenn man die „entsorgenden" Industrien und Dienstleistungsbereiche als „quartären Sektor bezeichnen würde.
Worauf es ankommt, ist ein sprachliches Hilfsmittel, das hinreichend anschaulich diejenigen bürokratischen und industriellen Bereiche heraushebt, die die industriegesellschaftliche Problementwicklung voraussetzen. Sie sind nur funktional zu bestimmen. Umweltschutz, Katastrophenschutz (wenn man von Naturkatastrophen absieht), die Behandlung von Zivilisationskrankheiten oder Kriminalität sind solche Funktionsbereiche. Aber auch die techniB sehe Sicherheit, ein großer Teil des Versicherungswesens oder Bildungs-und Forschungsanstrengungen, die nur um den Preis der Krise vermieden werden können, gehören hierzu.
Der Stellenwert beider Begriffe steht und fällt mit der Relevanz und Plausibilität der folgenden Hypothese: Die Struktur der Versorgung moderner Industriegesellschaften bestimmt das Gewicht des Entsorgungssektors. Dies ließe sich am Beispiel der modernen Wachstumsbranchen „Energie", „Straßenverkehr" und „Chemie" ausführlich begründen, muß jedoch hier unterbleiben. Der Leser mag selbst ermessen, in welchem Umfang Industriezweige wie die genannten zur Produktion von Umwelt-, Gesundheits-, Sicherheits-oder Forschungsproblemen beitragen, den Stellenwert des Entsorgungssektors mithin erhöhen..
Für eine Theorie des Staatsversagens ist in diesem Zusammenhang entscheidend, daß der Staat im entwickelten Industriekapitalismus (nur von ihm ist hier die Rede) gerade im Zeichen sinkender Wachstumsraten dazu tendiert, die Intervention in sozial problematische Wachstumssektoren zu tabuisieren und statt dessen das zusätzliche Wachstum von Sozial-bzw. Entsorgungsindustrien zu begünstigen. Diese ökonomistische „Strategie" — meist handelt es sich eher um das Resultat vieler unkoordinierter Verlegenheitslösungen — führt zu teuren, aber kurzfristig wachstums-trächtigen Maßnahmen. Für den Teil der Wirtschaft, der direkt oder indirekt die Kosten trägt, ist dies „unwirtschaftlich", für den Teil, der diese Kosten als Einnahmen verbucht, ist es das nicht. Unökonomisch aus gesamtwirtschaftlicher Sicht ist die Expansion des staatlichen Sozial-und Entsorgungssektors, über dessen Etats sich die Sozial-Industrien überwiegend alimentieren. Gänzlich „unwirtschaftlich" an dieser teuren Politik ist aber vor allem die Tatsache, daß sie der Wirtschaft nicht die Kostenentlastung einbringt, deretwegen man ja doch den Staat auf den Plan rief. Der letzte Funkt bedarf der Erläuterung: Die Problembereiche „Umwelt", „Gesundheit" und „Innere Sicherheit" wurden hier nicht nur angeführt als Beispiele starker Kosten-Effektivitäts-Diskrepanzen; es sind zugleich Aufgabenbereiche, bei denen der Staat — angesichts von Markt-versagen — nicht zufällig ins Spiel kam, deren ineffektive Bearbeitung also alles andere als ein Kavaliersdelikt ist. Die Wirtschaft braucht sauberes Wasser (z. B. die Chemieindustrie) und saubere Luft (Stichwort: Korrosionskosten). Sie hat ein brennendes Interesse an einem niedrigen Krankenstand. Die indirekten Einbußen durch Krankheit betrugen 1972 immerhin fast 5 Prozent des BSP Hierzu kommen aber noch die Kosten der Lohnfortzahlung, der Unfallversicherung (die für die steigenden Berufskrankheiten aufkommt, und zwar auf Kosten der Unternehmen) und die Unternehmeranteile der steigenden Sozialversicherungsbeiträge. Und natürlich sind die Unternehmen auch an einer Senkung der Unkosten interessiert, die ihnen durch Kriminalität entstehen. Sie zahlen einen hohen Preis an den öffentlichen Sozialsektor, damit er sie von derartigen Unkosten entlaste. Der aber funktioniert sehr unzulänglich. Dies ist keine Un-wirtschaftlichkeit im Staatssektor, sondern eine eklatante Unwirtschaftlichkeit des Staatssektors.
„Staatsversagen" hat also zumindest drei Aspekte:
1. Es wird auf politische Entscheidungen verzichtet. Hier handelt es sich um politisches Staatsversagen!
2. Es wird ein zu teures Instrumentarium in Gang gesetzt. Dies ist einmal Folge von bürokratischer Unwirtschaftlichkeit im Staatssektor, zum anderen Folge der Ökonomisierung von Staatstätigkeiten in Form einer kosten-trächtigen Beteiligung von Sozial-Industrien am staatlichen Aufgabenpensum.
3. Es wird ein Instrumentarium in Gang gesetzt, das zu ineffektivist. Hier handelt es sich um ein funktionelles Staatsversagen.
Im Rahmen einer systematischen Theorie wäre damit das Vorfeld von Krisen umschrieben Eine Radikalisierung von Staatsversagen vor allem auf der dritten Ebene dürfte Krisen der Ökonomie und/oder Krisen der politischen Legitimation zur Folge haben. Umgekehrt wäre es aber töricht zu übersehen, in welchem Maße Staatsversagen gerade in der Bundesrepublik ohne manifeste Krisenfolgen bleibt.
V. Die staatliche Förderung von Sozial-Industrien
Hier interessieren jedoch primär die ökonomischen Gründe staatlicher Unwirtschaftlichkeit Es wurde gesagt, daß die ungelösten Probleme der industriellen Gesellschaftsentwicklung zu Wachstumszonen nicht nur von entsorgenden Sozial-Bürokratien, sondern auch von entsprechenden Sozial-Industrien geworden sind. Im Anschluß an O'Connors Begriff des „sozial-industriellen Komplexes" verstehe ich unter Sozial-Industrien industrielle Produktionsbereiche, die in gesellschaftspolitischen Problemfeldern tätig werden und überwiegend von staatlicher oder staatlich geregelter Nachfrage leben. Es handelt sich also um Unternehmungen, denen lediglich gemeinsam ist, daß sie sich im Einzugsbereich staatlicher Einzeletats ansiedeln und soziale Probleme vorwiegend über öffentliche Haushalte vermarkten. Die volle Bedeutung dieses Sektors erschließt sich erst, wenn man seine Einnahmen nicht allein von den staatlichen Investitionen oder Sachausstattungen her bestimmt, sondern auch die sozialen Transfer-zahlungen (z. B. Wohngeld), das staatlich regulierte Finanzaufkommen (z. B. gesetzliche Versicherungen) und schließlich auch die durch staatliche Maßnahmen erzwungene Nachfrage (z. B. Umweltschutzinvestitionen) hinzurechnet. Hierzu ist ferner noch die staatsfreie Problemvermarktung zu rechnen, die häufig erst durch die Ineffizienz staatlicher Maßnahmen möglich wird (z. B. private Sicherheitsmaßnahmen). Unterscheidet man generell zwischen Industrien, die vorwiegend von Staatskundschaft, und Industrien, die von Privatkundschaft leben, so läßt sich ein interessanter Verhaltens-unterschied gegenüber dem Staatsapparat feststellen. Während von Privatkundschaft lebende Industrien typischerweise negativ auf den Staat bezogen sind, als Veto-Gruppen interessenschädliche Staatsinterventionen abwehren, werben die Sozial-Industrien positiv um staatliche Zuwendung. Beide Industrien unterscheiden sich auch darin, daß die einen für bestimmte Produkte werben, während die Sozial-Industrien Staatszwecke propagieren.
Die einen müssen ihre Werbemittel selbst aufbringen, die anderen können die öffentliche Meinung mobilisieren. Die einen findet man im Anzeigenteil, die anderen dringen in den Nachrichtenteil vor. Dies etwa dann, wenn im Anschluß an Alarmmeldungen (Kriminalität, Krebs, Katastrophen) routinemäßig eine bessere „personelle und technische Ausstattung" des diesbezüglichen öffentlichen Sektors gefordert wird. Hier müssen die Zwecke, für die produziert wird, nicht propagiert werden. Es handelt sich um anerkannte Staatszwecke. Propagandistische Anstrengungen zielen hauptsächlich auf zwei Punkte: — auf die kontinuierliche Erweiterung derjenigen Etats, auf die man sich spezialisiert hat — hier ist die Interessenidentität mit entsprechenden Teilen des staatlichen Sozialsektors offenkundig —, und — auf Strategien, die dort ansetzen, wo die Nachfrage am stabilsten ist und eine Massenproduktion zuläßt, auf Strategien vor allem, die nicht politisch vorsorgen, sondern technologisch nachträglich einsetzen.
Dabei werden dann etwa:
Um weltprobleme zu Problemen des Baus von Klär-, Filter-oder Abfallbeseitigungsanlagen, Krankheitsprobleme zu einer Angelegenheit teurer Diagnosegeräte oder des Krankenhaus-baus, Kriminalitätsprobleme zu einer Frage der technischen Ausstattung der Kriminalpolizei, Bildungsprobleme zu einer Frage der Baupolitik und der materiellen Ausstattung von Bildungseinrichtungen, Verkehrsprobleme zu Fragen des Straßenbaus. Die Reihe ließe sich verlängern, bis hin zur Forschung in der Rolle eines Substituts für politische Entscheidungen.
Thesenartig verallgemeinert gilt:
1. Sozial-Industrien wie Sozial-Bürokratien expandieren am stärksten dort, wo Wachstums-bedingte Staatsfunktionen im Spiel sind, Wo also Wachstumsbedingungen und Wachstumsfolgen prekär sind.
2. In diesen Bereichen ist auch ihre Symbiose besonders eng.
3. Problemverstaatlichung und Problemvermarktung gehen Hand in Hand. Besser sollte hier von einer Bürokratisierung und einer Industrialisierung von Problembehandlungen gesprochen werden. 4. Der Staat hat an der Entwicklung von Sozial-industrien im Zeichen reduzierten Wachstums ein ökonomisches Interesse; ihre Förderung ist zunehmender Bestandteil keynesianischer Nachfrageförderung.
5. Die Industrie entwickelt ihrerseits ein wachsendes Interesse an Staatskundschaft: Sie ist besser kalkulierbar als die Privatkundschaft; sie ermöglicht beträchtliche Preisaufschläge; sie stellt oft eine Art Zwangsmarkt dar; sie ergibt sich häufig auf dem Wege einer Gratiswerbung durch die Medien.
6. Der engen Symbiose öffentlicher und privater Problemlösungs-Technokratien entsprechen strukturelle Analogien, deren Folge eine Angleichung von Strategiepräferenzen ist;
— beide sind zentralistisch und arbeitsteilig organisiert, — beide haben eine Präferenz für generelle Routinelösungen („Massenproduktion“), — beide neigen zur Symptombehandlung, d. h.
zu Maßnahmen am Ende problematischer Kausalketten, wo Probleme manifest, massenweise und kalkulierbar anfallen, — beide — staatliche wie industrielle Technokratien — haben ökonomische fnteressen, die eng miteinander koinzidieren: hier das Interesse an der Etaterweiterung, dort das Interesse an Markterweiterungen. 1. Folge dieser strukturellen Analogien sind technokratische Problemdefinitionen, die — die Komplexität von Problemen ignorieren (Folge der Spezialisierung), — die Ursachen von Problemen vernachlässigen (Symptombehandlung), — die einmaligen („außeralltäglichen") billigen Maßnahmen zugunsten kostenträchtiger Maßnahmen außer acht lassen (Ökonomisierung), — die strukturpolitisch vorsorgende Komponente zugunsten nachträglicher Maßnahmen ausblenden.
8. Dieser gemeinsamen Definitionstendenz bürokratischer und industrieller Sozial-Technokratien entspricht ihre vereinigte Definitionsmacht, der gegenüber politische Entscheidungsinstanzen zunehmend ins Hinter-treffen geraten.
9. Das Wachstum der Sozial-Industrien wie auch der Sozial-Bürokratien ist also auch ein Indiz wachsender Unregierbarkeit des Industriesystems bzw. einer Krise der politischen Instanz.
Deren vielfältige Gründe können hier nicht analysiert werden. Generell geht es sowohl um die Entscheidungsfähigkeit im Staatssektor als auch um die Entscheidungsfähigkeit des Staatssektors im Verhältnis zu den hoch-organisierten Erwerbsinteressen. Erstere ist reduziert durch Faktoren wie die immer ungünstigere Relation von zwecksetzend-kontrollierender und exekutiv-bürokratischer Instanz oder das unüberschaubare Ausmaß der Spezialisierung. Die Entscheidungsfähigkeit des Staates hat ungleich größere Bedeutung.
Sie reduziert sich ebenso durch die immer drängenderen Rücksichten des verschuldeten Steuerstaates gegenüber seinen Finanzquellen wie durch Faktoren der industriellen Machtbildung. Industrielle Macht im Verhältnis zum (National-) Staat erhöht sich im Ausmaß der Akkumulation, Konzentration und Internationalisierung des Kapitals. Immer kleinere Oligarchien entscheiden über immer gewaltigere Investitionsmassen in einem immer weiteren, multinationalen Aktionsfeld. Die weltweite Konkurrenz von Staaten, Regionen und Kommunen um Industrieansiedlungen ist das anschaulichste Beispiel für die Motive staatlicher Interventionsverzichte. Man kann sie ohne aufwendige methodologische Veranstaltungen mit bloßem Auge studieren.
VI. Die Tabuisierung sozialer Problemursachen und ihre Konsequenzen
Die starke Tabuisierung politischer Interventionen in den Versorgungssektor ist, wie gesagt, Wachstumsbedingung des Entsorgungssektors. Interventionsverzicht und Ökonomisierung von Staatstätigkeiten — sinkende Entscheidungsqualität und wachsende Staats-Quantität — hängen also eng miteinander zusammen. An die Stelle eines einmaligen, vorsorglichen, kostengünstigeren „Nein" zur Problemursache tritt in der Tendenz ein doppeltes „Ja“: einmal zur Problemproduktion, zum anderen zur kostenträchtigen technokratischen Entsorgung in Form von bürokratisch-industriellen Gegenproduktionen. So erhöht die Verpackungsindustrie die Bedeutung der Abfallbeseitigung, fördert das laute Auto die Anstrengungen auf dem Gebiet des passiven Lärmschutzes, gibt die ungestüme Entwick37 lung der Chemie dem Gesundheitssektor zusätzliches Gewicht, erhöhen gefährliche (und gefährdete) Großtechnologien die Nachfrage nach Schutzeinrichtungen, von der technischen und polizeilichen Sicherheit bis zum Versicherungs-und Katastrophenschutz. Dem liegt kein zynischer Plan zugrunde. Beunruhigend ist gerade die Naturwüchsigkeit dieses Prozesses.
Das wohl wichtigste Dilemma einer staatlichen Problembearbeitung unter maßgeblicher Beteiligung von Sozial-Industrien ist, soweit sie sich auf Symptombehandlung beschränkt und die Problemursachen einen Wachstums-faktor enthalten, die Wiederanstiegstendenz der Symptomvariablen. Probleme, die das anhaltende Wachstum der Industrie verursacht, weisen typischerweise einen solchen N-förmigen Kurvenverlauf — oder steigende Kosten für Gegenmaßnahmen — auf: Durch Umweltschutz verringerte Emissionsraten bewirken einen nur zeitweiligen Emissionsrückgang, wenn die Zahl der Anlagen bzw. das Volumen emissionsintensiver Produktionen weiter ansteigt. Ähnliches gilt, wenn die Krebsmortalität durch medizinische Maßnahmen reduziert wird, die Krebsmorbidität aber unverändert steigt. Verbesserte Aufklärungsraten bei der Kriminalitätsbekämpfung werden (wenn es sie gibt) durch die allgemeine Kriminalitätsentwicklung langfristig neutralisiert. Ebenso werden Maßnahmen der Verkehrssicherheit durch die Zunahme der Kraftfahrzeuge neutralisiert (dasselbe gilt für geringere Abgas-oder Lärmwerte pro Kfz). Ähnlich verschieben technische Energiesparmaßnahmen nur das Verbrauchsniveau, ohne die Anstiegstendenz selbst zu ändern. Rein logisch ergeben Strategien der nicht-ursächlichen Symptombekämpfung (ceteris paribus) folgende Gesetzmäßigkeiten: 1. Die Reduktion von Symptomvariablen wird im Zeitverlauf durch Wiederanstieg neutralisiert, wenn der Anstieg der Ursachenvariablen unberührt bleibt. 2. Der Zeitpunkt des Wiedererreichens des Ausgangsniveaus (N 2) bestimmt sich durch die Reduktionsrate im Symptombereich und das Anstiegstempo im Ursachenbereich. Da beide Werte in aller Regel bekannt sind, können hier relativ verläßliche Prognosen gemacht werden. 3. Die Kosten des wiedererreichten Ausgangs-niveaus (N 2) liegen um den Preis der Reduktionsrate höher als die des ursprünglichen Ausgangsniveaus (N 1). 4. Ein gleichbleibendes Symptomniveau wird dauerhaft nur zu einem steigenden Preis erkauft. 5. Die Kosten eines im Wachstumsprozeß gleichbleibenden Problemniveaus steigen in der Regel exponentiell an, da die Schwierigkeiten einer immer weiteren Beseitigung von Restproblemen unverhältnismäßige Kosten-steigerungen mit sich bringen; die Reduktionsrate aber muß ständig im Maße der Wachstumszunahme erhöht werden, soll ein Wiederanstieg verhindert werden.
Prinzipiell gibt es hier drei Möglichkeiten: die der technologischen Symptombekämpfungsstrategie immanente Alternative: a) Wieder-anstieg bei gleichbleibenden Kosten oder b) Niveaustabilisierung zu steigenden Kosten; oder die Strategiealternative zur technologischen Symptombekämpfung: c) Struktum’andel in Richtung auf grundsätzlich weniger problemträchtige Sozialformen. Die N-Kurven-Problematik entsteht im Maße der Konservierung solcher Sozialstrukturen.
VII. Fazit
Das Wachstum der Industriegesellschaften hat Voraussetzungen und Folgen, die immer prekärer werden. Die meisten dieser Probleme sind marktwirtschaftlich nicht zu bearbeiten und werden an den Staat delegiert. Sie können also auch nicht unbesehen wieder „privatisiert" werden. Eine neue Form der Privatisierung hat aber längst Platz gegriffen: die Beteiligung spezialisierter Sozial-Industrien an diesen hoch legitimierten Aufgabenfeldern. Im Gegensatz zur privaten Vermarktung besorgt der Staat hier direkt oder indirekt die Finanzierung. Wir haben bisher immer nur von Sozialkosten gesprochen, ohne den gewaltigen Wirtschaftssektor zu untersuchen, der von ihnen lebt. Wir haben über den Begriff der Sozialkosten aber auchsübersehen, wie hoch mittlerweile die Privatkosten für den gleichen Zweck sind: Mehr als ein Viertel des BSP wurde in der Bundesrepublik 1975 für die stark gewachsenen Sekto ren Gesundheit, Umweltschutz, Innere Sicherheit sowie Bildung/Forschung ausgegeben (einschließlich der Kosten von Umwelt-und Kriminalitätsschäden). Etwa ein Drittel dieser Ausgaben wurde von Privaten getätigt — der weitaus größte Teil von Betriebenl Dies scheint mir auch das handfesteste Dilemma dieser Entwicklung zu sein (wenn man von dem politisch leider weniger konflikt-trächtigen Schicksal der von Krankheit, Umweltbelastungen oder Unsicherheit Betroffenen einmal absieht): Die Problembearbeitungsgebühren, die die Betriebe an den Staat und gesetzliche Versicherungen zu zahlen haben, steigen, aber die erwartete Kostenentlastung bleibt weitgehend aus. Durch eigene quasi-staatliche Zusatzmaßnahmen und nicht verhinderten Schaden (vom krankheitsbedingten Arbeitsausfall bis zur Wasseraufbereitung) entstehen eher zusätzliche ökonomische Belastungen. Ein immer größerer Teil des Bruttosozialprodukts setzt also die Probleme des anderen Teils voraus. Die Negativeffekte des Versorgungssektors fördern das Wachstum des staatlich-industriellen Entsorgungssektors. Sie werden damit partiell zur kurzfristigen Wachstumsbedingung. Die Frage ist nur, ob dieser Strukturwandel gesamtwirtschaftlich und längerfristig nicht bereits zur Bedingung reduzierten Wachstums geworden ist Die bürokratische Unwirtschaftlichkeit im Staatssektor jedenfalls ist der harmlosere Aspekt einer Theorie des Staatsversagens. Die dort zu konstatierende Verschwendung steht noch am ehesten zur Disposition, wenn die oft überschätzte „Finanzkrise" des Staates einmal radikalere Lösungen erfordert (und die von konservativer Seite propagierte Kürzung der für die Sozial-Industrien nicht profitablen Sozialleistungen an ihre Grenze stößt). Ein strukturpolitisches „Austrocknen" des Sozial-bzw. Entsorgungs-Sektors hingegen ist derzeit nicht absehbar — obwohl der Staat mit auflagenpolitisch erzwungenen oder steuerpolitisch suggerierten Innovationen im Sinne der „low impact technologies" vermutlich einen gewaltigen Investitionsboom anstoßen könnte.
Martin Jänicke, Dr. phil., geb. 1937; Professor für vergleichende Analyse politischer Systeme am Fachbereich Politische Wissenschaft der Freien Universität Berlin; Vorsitzender der Beiräte des Wissenschaftszentrum Berlin und des Instituts für Zukunftsforschung. Veröffentlichungen u. a.: Totalitäre Herrschaft, 1971; Herrschaft und Krise, 1973; Umweltpolitik, 1978; Wie das Industriesystem von seinen Mißständen profitiert, 1979.
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