Wachsende Zukunftsrisiken für Umwelt, Beschäftigung und Demokratie? Eine Interpretation neuerer Langzeitprognosen
Martin Jänicke
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Zusammenfassung
Eine Reihe von Langzeitprognosen — u. a.des Baseler Prognos-Instituts und der OECD — wird auf ihre politischen, sozialen und ökologischen Konsequenzen hin untersucht. Dabei wird der vermutlichen Gleichzeitigkeit zunehmender Umweltprobleme und wachsender Arbeitslosigkeit besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Als dritte Problem-Tendenz wird die sinkende Regierbarkeit des „super-industriellen Systems“ (H. Kahn) untersucht, die sich u. a. in einer unzureichenden Durchsetzung von Zukunftstechnologien und steigenden Sozialkosten für staatliche . Reparaturleistungen'niederschlägt Aus diesen Tendenzen werden Folgen für das politische System abgeleitet.
Die Zukunftsforschung ist umstritten, weil es in der Vergangenheit viele Fehlprognosen gegeben hat. Zum einen gibt es wohl keinen Bereich, in dem die Psychologie des Wissens und Denkens eine solche Bedeutung hat. Pessimistische oder optimistische Grundstrukturen von Forschern (und Auftraggebern) stellen bei der Auswahl und Bewertung der Fakten unreflektierte Auswahlmechanismen dar, die nicht notwendig falsche, aber einseitige Prognosen ergeben. Zum zweiten ist der Weg der Zukunftsprognosen — seit Marx — auch deshalb mit Widerlegungen gesät, weil nur die Krise, nicht aber das mögliche Krisenmanagement Gegenstand der Vorhersage war; hier sind die Schwierigkeiten der Prognose ungleich größer. Und schließlich wird eine Vielzahl von Krisenwarnungen ja gerade in der Hoffnung ausgesprochen, daß sie sich als falsch erweisen, weil man sie ernst nimmt und Gegenmaßnahmen ergreift.
Diese Schwierigkeiten der Zukunftsforschung rechtfertigen nicht mehr Mißtrauen als die jeder anderen Disziplin. Aus politologischer Sicht geht es bei der Prognostik auch nicht primär um ein möglichst zutreffendes Bild der Zukunft, sondern um kritische Vorhersagen, die auf politische Widerlegung bewußt abzielen. Eine gute Prognose dieser Art zerstört sich also (als sogenannte self-destroying pro-phecy) durch ihre politische Wirkung. Diese kritischen Prognosen nach dem Motto „Unfall bei unveränderter Fahrtrichtung" erhalten heute eine immer höhere Bedeutung. Denn das Tempo der Veränderung erhöht sich in den Industriegesellschaften mit ihrem Wachstum. Die immer weiter reichenden Konsequenzen einer bestimmten Fahrtrichtung erfordern immer weiterreichende prognostische Scheinwerfer. Daran aber mangelt es.
Noch unzulänglicher ist die Steuerung. Die Fähigkeiten der Regierungen, auf Warnungen hin gegenzulenken, nimmt — zunehmend unbestritten — ab. Die Ölkrise ist das bisher anschaulichste Beispiel dafür. Krisenprognosen werden heute also oft gerade nicht durch Politik widerlegt. Bei schlechter Sicht und wachsendem Tempo nehmen die Unfälle eher zu. Gegenmaßnahmen werden zwar ergriffen, aber mit großer Regelmäßigkeit an zwei falschen Punkten: Man panzert das großindustrielle Gefährt, so daß es Zusammenstöße eher verkraftet, weil „nur" die soziale oder physische Umwelt Schaden leidet, und man investiert in das Reparaturwesen
Es gibt also gute Gründe für einen Ausbau der systematischen Prognostik. Aber Sinn hat diese nur, wenn auch die Steuerungsfähigkeit der Industrieländer, d. h. die politische Fähigkeit zur rechtzeitigen, vorsorglichen Gegen-steuerung systematisch verbessert wird. Beides ist nicht voneinander zu trennen.
Nun gibt es zweifellos ernst zu nehmende Prognosen über die längerfristige Entwicklung der internationalen Gesellschaft. Dazu gehört die von der OECD geförderte Studie von IN-TERFUTURES (Facing the Future, Paris 1979), desgleichen der unlängst erschienene „Euro-Report 1980" des Baseler Prognos-Instituts. Auch die bereits 1977 veröffentlichte UNO-Studie „Die Zukunft der Weltwirtschaft" von Wassily Leontief u. a. verdient in diesem Zusammenhang Interesse. In gewissen Grenzen gilt dies auch für die neuesten Verlautbarungen des notorischen Optimisten Herman Kahn und seines Hudson-Instituts 1. Keine dieser Prognosen sagt eine Einbuße des hohen Lebensstandards der reichen westlichen Industrieländer voraus. Auch die ungünstigste Annahme sieht diesen so gern beschworenen Fall nicht vor. Er ist in der Tat unwahrscheinlich, auch wenn in den siebziger Jahren phasenweise sinkende Realeinkommen festzustellen waren, dies im Jahre 1980 in einer Reihe von westlichen Ländern (z. B.den USA und Großbritannien) erneut droht und derartige Rückschläge sich im nächsten Jahrzehnt noch häufen dürften. Im Gegensatz zur Weltwirtschaftskrise würde heute selbst eine Halbierung der Pro-Kopf-Einkommen (Folge einer kaum vorstellbar verheerenden Wirtschaftskrise!) in einem Land wie der Bundesrepublik „nur" einen Rückschritt in die Zeit um 1960 darstellen. In dieser Zeit gab es immerhin bereits ein Unbehagen am Wohlstand! Die ungerechte Verteilung dieses Wohlstands — damals wie heute — ist ein anderes Thema. Es wird in dem Maße aktuell werden, wie der Kuchen kaum noch größer wird und seine kleinen Stücke klein bleiben.
2. Dies führt zum zweiten Punkt: Die angeführten Prognosen stimmen darin überein, daß sich der Zuwachs der Wirtschaftsproduktion in den entwickelten kapitalistischen Ländern verringert. INTERFUTURES kommt nach Abwägung verschiedener möglicher Wachstums-pfade zu der Annahme eines „gemäßigten Wachstums", das für die wichtigsten westlichen Industrieländer 1975— 1990 im Jahres-durchschnitt 6 Prozent ausmacht und sich bis zum Jahre 2000 auf 3, 1 Prozent verlangsamt. Diese Annahme deckt sich in etwa mit derjenigen des Hudson-Instituts 3). Das Pro-gnos-Institut nimmt für die kapitalistischen OECD-Länder von 1978 bis 1984 ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum von 3, 3 Prozent an, das bis 1990 auf 3, 2 zurückgeht (in der Bundesrepublik von 2, 7 auf 2, 5 Prozent).
Wieso diese Wachstumsverlangsamung? Schließlich gibt es ernst zu nehmende Theorien über ein langfristig erneut beschleunigtes Wirtschaftswachstum: — die auf Kondratieff zurückgehende Theorie der „langen Wellen", die von langfristigen Wachstumsbewegungen der Weltwirtschaft ausgeht und aus diesen ein günstiges Bild zumindest für die neunziger Jahre ableitet (zu den Anhängern dieser Theorie gehört immerhin auch der Marxist Immanuel Wallerstein) , und — hiermit durchaus vereinbar — — die Theorie, daß gerade die zu erwartenden Rohstoff-und Energieprobleme einen Zwang zu Innovationen und Investitionen schaffen, der der Situation der Nachkriegszeit vergleichbar ist.
Demgegenüber diskutiert das INTERFUTU-RES-Team zwar auch einen optimistischen Wachstumspfad, der den wichtigsten kapitalistischen Industrieländern ein jährliches Durchschnittwachstum von 4, 3 Prozent bis zum Jahre 2000 einbringen würde, kommt aber zu dem Resultat: „Dies Szenario ist nicht sehr plausibel. Es müßten viele Hindernisse überwunden werden, um es zu verwirklichen." Dies gilt zum einen in ökonomischer Hinsicht in bezug auf Inflation, Zahlungsbilanzprobleme und unzureichende Investitionsanreize. Es gilt aber auch in politisch-sozialer Hinsicht. Größtes Hindernis ist hier das, was die Autoren (im Anschluß an Olson) als „institutioneile Sklerose" bezeichnen: die unzureichende Handlungsfähigkeit des Staates gegenüber der Übermacht organisierter Erwerbsinteressen. Sie hindert die Regierungen nicht nur an der angemessenen Wahrnehmung von Allgemeininteressen, die schwer organisierbar sind, wie die Interessen von Konsumenten, Steuerzahlern oder Arbeitslosen.
Sie verzögert vor allem notwendige Innovationen und die Umverteilung von Mitteln in zukunftsträchtige Wirtschaftszweige. Zu wenig handlungsfähig sind die Regierungen der Industrieländer aber auch nach außen, wenn es darum geht, ihre Wirtschaftspolitik international zu koordinieren, die Dritte Welt z. B. durch erheblich gesteigerte Entwicklungshilfe in den Weltmarkt einzugliedern und Störungen rechtzeitig auszugleichen. Als drittes Hindernis eines optimalen Wachstums der Weltwirtschaft nennt INTERFUTURES veränderte Ein-Stellungen der Bürger reicher Länder: „Wandlungen der Werte bedrohen nicht nur die Legitimität des Wachstums, sie erhöhen auch die Widerstände auf dem Wege seiner Realisierung." 3. Es besteht Übereinstimmung, daß sich die Wachstumszonen der Weltwirtschaft in bestimmte Regionen der Dritten Welt verlagern. Während die westlichen Industrieländer 1970 noch zwei Drittel des Sozialprodukts der Welt erwirtschafteten (bei einem Bevölkerungsanteil von nur 20 Prozent), wird der Anteil im Jahre 2000 vermutlich nur noch etwa die Hälfte betragen Der Wirtschaftsanteil der COMECON-Länder wird sich unwesentlich erhöhen, bei den Ländern der Dritten Welt aber könnte er von 13 auf etwa 24 Prozent zunehmen (China: von 5 auf 8 Prozent) Die entscheidende Verschiebung tritt innerhalb der Dritten Welt ein: Dem raschen Aufstieg der OPEC-Länder, einiger Länder Lateinamerikas und Asiens steht die weithin unveränderte Armut von Ländern wie Bangladesch oder der Sahel-Zone gegenüber. Innerhalb der entwickelten kapitalistischen Länder wird allgemein eine Wachstumsverlagerung zuungunsten Nordamerikas und der EG erwartet. 4. Entgegen den Berechnungen des Club of Rome werden physische Grenzen des Wachstums weder für den Bereich der Rohstoffe noch für die Nahrungsmittelproduktion angenommen. Eine Weltbevölkerung, die sich im nächsten Jahrhundert nach Meinung von INTERFUTURES bei Mrd. 12) stabilisieren könnte, ist — auch nach Meinung anderer Studien — durch anhaltende Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion grundsätzlich zu ernähren. Allerdings ist dies eine globale Aussage, die den sehr unterschiedlichen Möglichkeiten zur Steigerung etwa von Hektarerträgen in der Welt kaum angemessen Rechnung trägt. Mit ähnlichen Globalaussagen wird der grundsätzliche Optimismus in der Rohstoff-frage begründet. Zwar werden Zink, Blei, Silber, Quecksilber oder Asbest etwa um die Jahrhundertwende erschöpft sein zwar ist die Verknappung des Erdöls schon mittelfristig absehbar und ein allgemeiner Anstieg der Rohstoffgewinnungskosten zu erwarten; aber mit Hilfe der reichlich vorhandenen Kohle, der Kernenergie (später der Kern-Fusionsenergie, wie man hofft) und auch der Sonnen-energie hält das INTERFUTURES-Team das weitere Wachstum des Energiesektors „im Prinzip" für realisierbar. So könne sich der Energieverbrauch der westlichen Industrieländer bis zum Jahre 2000 fast verdoppeln. In den Entwicklungsländern wird er noch erheblich stärker zunehmen. Im Bereich der Produktionsmaterialien kann auf Grundstoffe wie Eisenerz noch lange gesetzt werden.
Grenzen der Rohstoffversorgung sieht diese Gruppe gleichwohl, wenn auch an ganz anderen Fronten: Was ihnen Sorgen macht, sind politische, ökonomische und soziale Wachstumsgrenzen in Form politischer Rohstoffpreise, politisch bedingter Angebotsverknappungen, unzureichender Investitionen in die Rohstoffgewinnung und . Akzeptanzprobleme" in Form von Bürgerwiderstand und dessen Rückwirkungen auf den politischen Entscheidungsprozeß. 5. Neben der Rohstofferschöpfung wurde seit dem berühmten Meadows-Bericht des Club of Rome stets die Umweltproblematik als mögliche Grenze des Industriewachstums angesehen. Auch eine optimistische Studie am Berliner Wissenschaftszentrum, die die Meadows-Studie („Grenzen des Wachstums") durch günstigere technologische Annahmen zu widerlegen sucht geht von einer weiter ansteigenden Umweltbelastung aus.
Die hier kurz referierten Prognosen (und ihre Auftraggeber) sind an diesem Thema naturgemäß wenig interessiert, da es ihnen um die Bedingungen und Formen künftigen Wirtschaftswachstums geht, weniger um dessen außerökonomische Negativeffekte. So wird die Umweltproblematik im Euro-Report von Prognos durchgängig ignoriert. In der UNO-Studie von Leontief wird sie in unverkennbar verharmlosender Absicht zur Sprache gebracht (indem zum Beispiel die geringen amerikanischen Ausgaben von 1970 als Preis eines angemessenen Umweltschutzes gelten oder die Luftbelastung ausgerechnet nach dem Schadstoff berechnet wird — Staub —, der allgemein die relativ günstigsten Trendwerte aufweist). Das INTERFUTURES-Team erwähnt immerhin die Gefahr einer zunehmenden Umweltbelastung durch toxische Substanzen oder die Klimarisiken eines wachsenden Energieverbrauchs. Es wird auch angedeutet, daß die Umweltfolgen des weiteren Industrie-wachstums dessen Legitimationsbasis bei wesentlichen Teilen der Bevölkerung beeinträchtigen könnte. Ansonsten aber ist die Zukunft der Umwelt auch hier ein Nebenthema.
Die eigentlichen Umweltexperten der OECD sind da deutlicher. Einer von ihnen, J. Mac-Neill, gab kürzlich nach einer sehr kritischen Einschätzung der Umweltsituation in den westlichen Industrieländern die Prognose ab, „daß ohne verbesserten aktiven Umweltschutz die Umweltbedingungen sich bis 1985 noch verschlechtern werden. Unter bestimmten Voraussetzungen könnte es im Zeitraum von 1978 bis 1985 eine Erhöhung der Emissionen um 10 bis 25 Prozent bei den wichtigsten Schadstoffen geben und ein noch größeres Ansteigen bei den weniger leicht kontrollierbaren Mikro-Schadstoffen. Im gleichen Zeitraum könnte es bei einigen Schadstoffen in der Landwirtschaft einen Anstieg um mehr als 50 Prozent geben", falls keine Gegenmaßnahmen ergriffen würden. Beim Energiesektor wird für diese Zeit ein Emissionsanstieg um 30 Prozent vorausgeschätzt — unter der Voraussetzung einer im Vergleich zum Bruttosozialprodukt langsameren Zunahme des Energieverbrauchs (Entkoppelung) Aber auch die zitierten Wirtschaftsprognosen geben zahlreiche indirekte Anhaltspunkte dafür, daß sich die Unmweltproblematik — auch längerfristig — noch zuspitzt. Ein Blick auf die vermutliche Entwicklung der Wirtschaftsstruktur der EG macht dies deutlich. Danach wird das Wirtschaftswachstum der nächsten zehn Jahre überwiegend von den folgenden Branchen getragen:
— dem Chemiesektor (mit der höchsten Steigerung) — dem Energiesektor (mit der zweithöchsten Steigerung)
— der Metallverarbeitung — den Banken und Versicherungen.
In der europäischen Chemieindudstrie wird die Produktion von Plastik bis 1990 mit 32 Millionen Tonnen den doppelten Umfang gegenüber 1976 erreichen Im Energiebereich wird von INTERFUTURES bis zum Jahre 2000 eine Verdoppelung des Verbrauchs der westlichen Industrieländer angenommen. Angesichts der zugleich erwarteten Umorientierung der Stromerzeugung auf Kohle und Kernenergie ist dies eine gewaltige umweltpolitische Herausforderung, deren rein technologische Bewältigung in Frage steht. Die Autoindustrie wird ihre führende Rolle langsam einbüßen, aber die Neuzulassungen werden in Westeuropa bis zum Jahre 2000 mit 15 Millionen Wagen gegenüber 1974 noch einmal um fast 60 Prozent zunehmen! Auch der Bausektor wird zwar einen weiteren Anteilsverlust hinnehmen müssen, aber gleichwohl durch Bestandserhöhungen seiner Produkte erhebliche Umweltprobleme aufwerfen. Die betonierte Fläche wird sich weiter ausdehnen. Sie könnte sich in der Bundesrepublik nach meiner Schätzung in 60 Jahren verdoppelt haben.
Hinter dem starken Wachstum des Versicherungswesens verbirgt sich gleichermaßen ein gesellschaftliches Dilemma. Denn ein wesentlicher Teil dieses Zuwachses ergibt sich durch Problemvermarktungen: Weil Diebstahl und Einbrüche zunehmen, weil die Unfälle zunehmen, weil die Transportrisiken und die Risiken industrieller Großanlagen zunehmen, wächst auch der Umsatz dieser Branche. Insbesondere gilt dies auch für das Rückversicherungswesen — ein Indikator großtechnischer Risiken, wie mir scheint.
Zusammengefaßt läßt sich also mit einiger Sicherheit vorhersagen: Ein verringertes Wirtschaftswachstum wird von überwiegend umweltproblematischen Branchen getragen. Hier mag man auf technische oder — im Chemiebereich — auf biotechnische Neuerungen setzen. Aber in absehbarer Zeit hat diese Problemtendenz ihre Gültigkeit.
Frühere Verheißungen einer „nachindustriellen Gesellschaft" (Bell) erweisen sich also hinsichtlich der zu erwartenden Produktionsstruktur und Technologie als irreführend. Auch Herman Kahn muß uns hier auf das Jahr 2000 vertrösten: Die Vision von der nachindustriellen Gesellschaft sei zwar „attraktiv". Aber zunächst einmal „werden wir in der problem-trächtigen super-industriellen Gesellschaft leben". In diesem Zusammenhang wird auf den Reaktorunfall in Three Miles Island verwie-sen
Richtig an der Theorie der „nachindustriellen Gesellschaft" bleibt gleichwohl diese Aussage: Die Industrie, die weiterhin für Wachstum sorgt, setzt in hohem Tempo Arbeitskräfte frei. Das prekäre Verhältnis von struktureller Arbeitslosigkeit und struktureller Umweltproblematik scheint mir das entscheidende innenpolitische Problem der nächsten zehn Jahre zu sein. Deshalb seien beide Aspekte noch etwas stärker hervorgehoben. Im Euro-Report 1980 heißt es: „Die Ergebnisse ... bestätigen unsere pessimistische Sicht... Die europäische Wirtschaft hat bereits ein hohes Arbeitslosigkeitsniveau zu verkraften. Aber unsere Ergebnisse zeigen zweifelsfrei, daß die Arbeitslosenziffern in den nächsten zehn Jahren neue Höhepunkte erreichen werden“ Auch INTERFUTURES hält den Anstieg der strukturellen Arbeitslosigkeit für einen „langfristigen Trend" und meint: „Der Arbeitsmarkt stellt für die Regierungen der entwickelten Länder weiterhin eine sehr reale Herausforderung dar." Wir werden es also vermutlich mit einem Wirtschaftswachstum zu tun haben, — das selbstlegitimierende Effekte in Form von Vollbeschäftigung, höheren Realeinkom-men und mehr Wohlfahrt kaum noch hervorzubringen vermag, — das andererseits beträchtliche Negativeffekte produziert in Form von Beschäftigungs-, Umwelt-und Gesundheitsrisiken (zumal im Arbeitsleben), aber auch etwa in Form weiter ansteigender Kriminalitätsoder Selbstmord-ziffern, den indirekten Folgen einer Entwicklung mit überfordernden Frustrationen und Anpassungszwängen. Von diesen Ziffern reden die großen Prognosen naturgemäß nicht, obwohl man auch hier über Zeitreihen verfügt, die in der bekannten Manier fortschreibbar sind, und zwar mit sehr plausiblen Argumenten. — Wir werden ferner ein Wirtschaftswachstum haben, das dem Staat in den Bereichen Sozialwesen, Subventionen, Bildung, Forschung, Energie, Innere Sicherheit oder Katastrophen-schutz neue Aufgaben und Ausgaben aufzwingt, obwohl die Steuern entsprechend der Wirtschaftsentwicklung eher rückläufige Wachstumsraten haben dürften. Die Tendenz zur Staatsverschuldung ist damit vorprogrammiert. Dies gilt ebenso für die Rolle des Staates als Wachstumsmotor Der Staat wird eher hektisch Wachstum fördern und eher zögern, problematische Wachstumszonen durch Eingriffe zu gefährden. Andererseits wird er weiter dazu tendieren, zusätzliches Wachstum in den Reparaturbereichen der Industriegesellschaft zu fördern, vom Schallschutz an Straßen bis zur Technologie der Beseitigung von Ölteppichen, überspitzt, aber hoffentlich anschaulich formuliert, kommt der Staat hier in die Gefahr, wie ein Verkehrspolizist zu handeln, der vor einem wachsenden Autostrom kapituliert, dafür aber am Straßenrand Gutscheine für die Beseitigung von Unfallschäden verteilt. Dies führt zum entscheidenden Punkt: — Das zentrale und sich zuspitzende Problem der künftigen Wirtschaftsentwicklung ist deren Steuerbarkeit. Hier gilt alles, was über „Unregierbarkeit", über die Ohnmacht der Allgemeininteressen gegenüber der Macht der Verbände („institutionelle Sklerose"), aber auch über freiwillige Interventionsverzichte des am wachsenden Steueraufkommen interessierten Staates gesagt wurde. Hinzu kommt die Größendimension und Komplexität der „super-industriellen Wirtschaft", die Herman Kahn so beschreibt: „In solch einer Wirtschaft ... sind viele Vorhaben so groß, daß un-geplante Folgen — Wirtschaftler nennen sie externe Effekte — wichtiger als die geplanten sein können ... Dadurch tendiert die super-industrielle Wirtschaft dazu, die bereits bestehende Malaise zu vertiefen, weil sie die Furcht der Bevölkerung erhöht und Überreaktionen fördert, die wiederum exzessive Kosten für die Behandlung dieser externen Effekte verursachen." Die Gefahr von „Überreaktionen" ist hier vermutlich noch das geringste Problem. Wichtiger dürfte insgesamt die zunehmende Verflechtung der nationalen Ökonomien in einen weithin unregierbaren Weltmarkt zu sein. Der Außenhandel z. B. wächst deutlich schneller als die Weltwirtschaft. Auch die unkalkulierbaren Bewegungen von Kapital undArbeit nehmen zu. In jedem Fall wächst die internationale Verflechtung mit ihren störanfälligen Interdependenzen ebenso wie etwa die Macht der multinationalen Unternehmungen. Der internationale Sektor der nationalen Gesellschaften dehnt sich aus und reduziert den Handlungsspielraum der Regierungen. Zu alledem kommt die innere Unbeweglichkeit übermäßig bürokratischer und zentralisierter Staatsapparate. Die so bedingte Tendenz einer Krise der politischen Instanz weist allerdings Gradunterschiede im internationalen Vergleich auf. In Japan ist sie z. B. nach Meinung von INTERFUTURES geringer als etwa in den USA. Beide Länder illustrieren anschaulich, welche ökonomische Bedeutung heute der „Faktor Regierbarkeit" (neben Kapital, Arbeit und technischem Fortschritt) erhalten hat. Aus der skizzierten vierfachen Wachstums-problematik lassen sich thesenartig vierpolitische Tendenzen ableiten:
— eine ambivalente Tendenz in der Arbeiterschaft, die durch immer schnellere Arbeitsplatzvernichtungen verunsichert und, zahlenmäßig abnehmend, zur konservativen Erhaltung jeder Art von Wachstum neigen wird, die andererseits aber von den Negativeffekten moderner Großtechnologien so stark betroffen ist, daß Fragen der Arbeitsumwelt und der Stabilisierung der Beschäftigung durch Arbeitszeitverkürzungen immer größere Bedeutung erhalten; — eine weiter ansteigende Ökologie-und Alternativ-Bewegung, die den Sinn dieses Wachstums, das sich kaum noch durch Wohlfahrtseffekte rechtfertigt, zunehmend in Frage stellt; im Gegensatz zum Staat wird sie auch weiterhin in den Wirtschaftsprozeß einwirken und Großinvestitionen blockieren, wenn nicht stoppen können; — eine national unterschiedlich starke Tendenz zum Steuerprotest, dessen Hauptargumente die Staatsverschuldung, der hohe Preis und die bürokratische Ineffizienz staatlicher Leistung sein dürften; — eine national ebenfalls unterschiedliche Tendenz zum Wachstumsautoritarismus.
Während der Steuerprotest im Rahmen konservativer Parteien integrierbar ist, stellt die Alternativbewegung das an Wachstum und Verteilung orientierte Parteiensystem insgesamt in Frage. Dies könnte Veränderungen des Parteienspektrums ergeben — oder aber einen Legitimationsverfall des Parlamentarismus. Dies gilt vor allem dann, wenn eine verunsicherte, konservativ werdende Gewerkschaftsbewegung Mehrheitsbeschaffer für eine Politik wird, die wachstumshemmende Bürger-rechte einschränkt. In vieler Hinsicht ist dieser Gegensatz zwischen einer von den Verhältnissen produzierten „aufsteigenden" Alternativbewegung und einer im Zeichen zunehmender Rationalisierung „absteigenden" Arbeiterschaft ein Scheinkonflikt. Schließlich ist die Arbeiterschaft von den neuen Technologien viel negativer betroffen als die Opfer allgemeiner Umweltbelastungen.
Die Arbeiterschaft — ist kränker als die Gesamtbevölkerung, — stirbt früher als die Gesamtbevölkerung, — lebt durchschnittlich in ungesünderen Wohngegenden — und ist durch die neuen Technologien auch materiell am stärksten bedroht.
An alledem wird sich wenig ändern. Das Problem wird sich eher radikalisieren. In dem Maße, wie es zutrifft, daß die „Super-Industrie" neben ihren Unweltrisiken eher höhere Beschäftigungsrisiken mit sich bringt, daß ihre hohe Arbeitsproduktivität zudem dadurch neutralisiert wird, daß sie hohe soziale Reparaturkosten nach sich zieht, dürfte die Alternativbewegung auch in der Arbeiterschaft Anhänger finden. Auch die „neuen" Arbeitnehmer des Reparatursektors — vom Sozialhelfer bis zum Umweltschutzbeamten — werden tendenziell eher zu einer Kritik des super-industriellen Systems neigen.
Die Tendenz zum Wachstumsautoritarismus ergibt sich im Maße, wie — das verringerte Wirtschaftswachstum von Produktionsformen getragen wird, die hohe Umweltrisiken aufweisen, — diese Entwicklung auf politischen Widerstand stößt und — der verschuldete Steuerstaat jede (durch industrielle Planungen vorgegebene) Form des Wachstums verteidigt, — statt durch Festlegung strukturpolitischer Rahmenbedingungen eine breit akzeptierte, innovative Wirtschaftsentwicklung durchzusetzen.
Diese autoritäre Tendenz — die auch in parlamentarischen Formen denkbar ist, weil das Parteiensystem in vielen westlichen Ländern eine starke Solidarität der vielfältigen Repräsentanten herkömmlicher Wachstumsinteressen aufweist — kann nur im Zusammenhang mit der Steuerungskapazität der jeweiligen Regierungen gesehen werden. Ist diese gering, so wird die Tendenz zum fallweisen Wachstum unter Polizeischutz stark sein. Diese aber ist nicht nur ein Problem der Demokratie und des rechtsstaatlichen Minderheitenschutzes. Vielmehr ist anzunehmen, daß die Kombination von wirtschaftlichem Liberalismus und politischer Bürgerfeindlichkeit ökonomische Stagnationstendenzen eher fördert.
Dies aus drei gewichtigen Gründen: Erstens wird die prekäre Regierbarkeit des Industrie-systems vermutlich nur dann erhöht, wenn der demokratische Staat seine zukunftsorientierten Bürger als politische Ressource nutzt, statt im Konflikt mit ihnen Legitimation einzubü9 ßen (und ökonomische Unkalkulierbarkeiten, z. B. durch Gerichtsentscheide, zu fördern). Die Erhöhung der Steuerungskapazität des Staates aber ist — zweitens — auch eine wesentliche Bedingung für die rechtzeitige Durchsetzung von Zukunftstechnologien. (Da auch die traditionell starken Wirtschaftszweige diesen Begriff für ihre super-industriellen Vorhaben verwenden, ist er auf Technologien einzuschränken, deren ökologische, politische und ökonomische Risiken und Kosten langfristig gering sind — low impact technologies also.) Und drittens wird der Verzicht auf Eingriffe in problemträchtige industrielle Entwicklungen die Volkswirtschaft langfristig mit enormen unproduktiven Reparaturkosten belasten — allein für das Problem Gesundheit zahlt die Bundesrepublik rund 13 Prozent ihres Sozial-produkts; und dieser Ausgabentypus steigt aller Voraussicht nach weiterhin an Regierungen, die hier nicht strukturpolitisch gegensteuern, sollten sich über reduziertes Wachstum nicht wundern. Positiver formuliert: Es gibt keine stärkere politische Basis für eine Minderung der negativen externen Effekte der industriellen Entwicklung als die von ih-nen Betroffenen. Nur die institutioneile Förderung ihrer Position schafft politisches Gegengewicht und mehr staatlichen Handlungsspielraum. Vermutlich liefe dies auf den Verzicht auf einige „hochproduktive" Großtechnologien hinaus. Wo aber deren Produktivität durch die entstehenden Sozialkosten mehr oder weniger „aufgefressen" wird, ist dies per saldo weniger problematisch, als gemeinhin behauptet wird. Eine Erhöhung des demokratischen Steuerungspotentials wird technische Innovationen insgesamt eher beschleunigen. Einige von ihnen werden arbeitsintensiver und damit weniger produktiv sein als diejenigen, die auf den Widerstand der Betroffenen stoßen. Sie sind in diesem Fall kaum ein Beitrag zur Erhöhung des Wirtschaftswachstums. Was aber — neben dem Beschäftigungsniveau — erhöht wird, ist die Stabilität und Kalkulierbarkeit der Wirtschaftsentwicklung, deren politische Legitimation und staatliche „Finanzierbarkeit". Es ist freilich leichter, ein solches Alternativ-konzept zu skizzieren als die „institutionelle Sklerose" des politischen Systems abzubauen. Sie hat tief sitzende Gründe und ist das vorrangige Problem. In jedem Fall hängen Umwelt, Demokratie und Wirtschaftlichkeit langfristig enger zusammen, als es die Technokraten des super-industriellen Systems wahrhaben wollen.
Martin Jänicke, Dr. phil., geb. 1937; Professor für vergleichende Analyse politischer Systeme am Fachbereich Politische Wissenschaft der Freien Universität Berlin; Vorsitzender der Beiräte des Wissenschaftszentrums Berlin und des Instituts für Zukunftsforschung. Veröffentlichungen u. a.: Totalitäre Herrschaft, 1971; Herrschaft und Krise, 1973; Umweltpolitik, 1978; Wie das Industriesystem von seinen Mißständen profitiert, 1979.
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