Während die Menschen im allgemeinen gegenüber neuen Technologien neutral eingestellt sind oder sie allenfalls nach dem Nutzen oder Schaden beurteilen, den sie bei ihrem ersten Einsatz verursacht haben, gibt es gegenüber der Kernenergie große Gruppen prinzipieller Gegner und prinzipieller Befürworter. Dies beruht in beiden Fällen auf einer Vielzahl von Gründen. Die Kernenergiegegner sehen Kernkraftwerke nicht nur in einer gewissen Beziehung zu Kernwaffen, sondern betrachten die Kerntechnik und die ihr zugrunde liegenden physikalischen Vorgänge generell als etwas Zerstörerisches, das Mensch und Umwelt in gleichem Ausmaße gefährdet. Weitere Argumente dieser Gruppe erwachsen aus einem tiefen Mißtrauen gegenüber der Kernkraftwerksindustrie, die in den fünfziger Jahren etwas zu optimistische Erwartungen hinsichtlich der Kernenergie geweckt hat und die darüber hinaus geneigt ist, heute die Entwicklung von „soft technologies“ als nicht sehr aussichtsreich abzutun. Von der Gegenseite wird demgegenüber darauf hingewiesen, daß nicht nur Radioaktivität und die damit verbundenen Strahlen, sondern sogar die Kernspaltung selbst Prozesse sind, die es in der irdischen Natur von Anfang an gegeben hat. Auch die Wirkung von Kernstrahlen ist nicht etwas vollkommen Neues und Einmaliges, vielmehr kennen wir Hunderte von Chemikalien, die sich in unserer Umgebung befinden und ebenfalls Krebs, Leukämie und Erbschäden erzeugen können. Zieht man eine Bilanz aus den von beiden Seiten vorgebrachten Argumenten, so zeigt sich, daß die Kernenergie wohl nicht ein qualitatives, aber ein quantitatives Problem ist. Es wird darauf ankommen, ihre Entwicklung so unter Kontrolle zu halten, daß gegebenenfalls für die dringend weiter zu entwickelnden alternativen Energieumwandlungsverfahren hinreichend Raum bleibt, wenn sie technische Reife erlangt haben. Als endgültige Lösung des Energieproblems kann die Kernspaltung nicht angesehen werden.
Würde man heute einen Menschen fragen: „Sind Sie für oder gegen Kohlekraftwerke, für oder gegen die Nutzung der Wasserkraft, für oder gegen Personenkraftwagen, für oder gegen die Herstellung von Pestiziden?“ — so würde man im allgemeinen auf Erstaunen stoßen. Die Antwort würde meistens lauten: „Das kann man doch nicht so einfach beantworten. Jede dieser Technologien hat ihre Probleme und Gefahren, jede hilft aber auch, andere Gefahren und Probleme zu überwinden." Bei der Beurteilung der Kernspaltungsenergie gibt es dagegen heute starke Gruppen einmütiger Gegner und ebenso einmütiger Befürworter. Wie ist das zu verstehen? Kann man sich wirklich eindeutig für oder gegen die Kernenergie aussprechen, ohne in beiden Fällen erhebliche Einschränkungen zu machen, wie es in der Tat viele Fachleute und Nichtfachleute heute auch tun?
Warum man nicht einfach für die Kernenergie sein kann
Es soll hier zunächst davon ausgegangen werden, wie sich die Kernenergie (damit ist im folgenden generell die Energiegewinnung durch Kernspaltung gemeint) dem Nichtfachmann darstellt und welche Argumente für ihn eine rückhaltslose Befürwortung unmöglich machen. Der im Umgang mit Kernenergie, Strahlung und Radioaktivität erfahrene Spezialist wird einige dieser Argumente — freilich nicht alle — entkräften oder zumindest modifizieren können. Davon wird im zweiten Abschnitt die Rede sein.
1. Auf der Kernspaltung beruhen die Atombombe, die furchtbarste Waffe aller Zeiten, und der Kernreaktor, der der Energiegewinnung dient. In beiden Fällen entstehen ungeheure Mengen radioaktiver Stoffe, einmal freilich in Sekunden und völlig offen, das andere Mal in Jahren und Jahrzehnten und im Innern mehrfacher Sicherheitsbehälter. Diese Stoffe senden unsichtbare Strahlen aus, die — in einer früheren Generationen völlig unbekannten Weise — Lebewesen schädigen, insbesondere Krebs und negative erbliche Veränderungen erzeugen, die sich erst in späteren Generationen voll auswirken. Gewisse Mengen an Radioaktivität treten schon im Normalbetrieb aus Kernkraftwerken aus. Im Fall von Störungen könnten es weitaus größere Mengen sein, die dann zu Tod oder Krankheit unzähliger Menschen führen.
2. Bei vielen radioaktiven Stoffen klingt die Strahlung erst nach Hunderten, Tausenden oder Millionen Jahren ab. Radioaktiv verseuchte Gebiete sind damit einer Art „Feuer" ausgesetzt, das immer weiter brennt und das man nicht löschen kann. 3. Einen Kernreaktor kann man nicht völlig „abschalten“. Beim Betrieb entstehen im Reaktorkern in den „Brennelementen“, in denen die Kernspaltung abläuft, künstlich radioaktive Stoffe, die „Spaltprodukte". Schaltet man den Reaktor ab, so senden diese Spaltprodukte weiter Strahlung aus und erzeugen auf diese Weise weiterhin Wärme. Diese Wärmeenergie beträgt etwa 15 % der Leistung, die der Reaktor im Betrieb abgibt. Handelt es sich um einen 1000 Megawatt-Reaktor, so sind das immerhin noch 150 Megawatt. Diese Leistung nimmt nur langsam ab und der Reaktor muß deshalb nach dem Abschalten und Unterbrechen der Kettenreaktion auch weiterhin gekühlt werden. Es ist so, als ob bei einem Kohle-kraftwerk die Asche noch weiterbrennen würde. 4. Diese . Asche" muß auch bei störungsfreiem Betrieb irgendwann beseitigt werden. Sie ist durch die Radioaktivität nicht nur „giftig“, sondern erzeugt auch noch weiterhin beträchtliche Wärme. Wie kann man diesen heißen und strahlenden Atommüll" sicher lagern?
5. Aus allem bisher Gesagten muß man den Eindruck gewinnen, daß Kernspaltung und die damit erzeugte Radioaktivität künstlich vom Menschen erzeugte Prozesse sind, die sich in ihren Auswirkungen gegen die Natur, gegen jedes Leben wenden.
6. Seit der Verkündigung des Programms „Atome für den Frieden" durch die USA vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen im Jahre 1953 haben die Befürworter der Kernenergie, später dann auch besonders Vertreter der nuklearen Industrie, die Kernspal-B tung als den idealen und problemfreien Weg derEnergieerzeugung gepriesen. Nur zögernd wurde zugegeben, daß bei Störfällen doch Menschenleben gefährdet seien, daß Wieder-aufbereitung und Endlagerung weitere Probleme mit sich bringen, daß Kernkraftwerke im Kriegsfall eine besondere Gefahrenquelle bilden können und daß die weltweite Verbreitung der Kernenergie nicht unabhängig von dem Problem der Weiterverbreitung nuklearer Waffen gesehen werden kann. Große Teile der Öffentlichkeit fühlten sich damit getäuscht. Warum hatte man nicht von Anfang an gesagt, daß es sich hier nicht um eine „völlig gefahrlose" Technologie handelt? Der Verdacht kam auf und hält an, daß es sich bei der Entwicklung der Kernenergie in erster Linie um ein wirtschaftlich lohnendes Geschäft bestimmter Großindustrien handelt, bei dem auf das Gemeinwohl wenig Rücksicht genommen wird. 7. Dieser Verdacht wird noch bestärkt durch die Art und Weise, in der in Werbeschriften für Kernenergie die Alternativen zur Energie-gewinnung aus „nicht erschöpfbaren“ Quellen behandelt werden, also Sonnen-, Wind-, Wellen-, Gezeitenenergie, Energie aus Erdwärme oder aus zusätzlich erzeugter Biomasse. Natürlich weiß jeder, daß das alles Zukunftsprojekte sind, aber der Pessimismus, mit dem enthusiastische Kernenergiebefürworter diese technischen Möglichkeiten abqualifizieren, ist — gelinde gesagt — befremdend. Man fragt sich, wie es mit der Entwicklung der Kernenergie vorangegangen wäre, wenn man in den fünfziger Jahren, als diese Technik sich selbst noch im Entwicklungsstadium befand, ähnlich reserviert oder gar ablehnend über sie geurteilt hätte. Statt dessen hat man — wie allgemein bekannt — Milliardenbeträge an öffentlichen Geldern für ihre Entwicklung bereitgestellt, eine Förderung, wie sie auch nicht annähernd einem alternativen Energieerzeugungsprogramm zuteil wurde. Nicht einmal die aufwendige, aber als Langzeitlösung günstigere Schwester der Kernspaltung, die Kern-verschmelzung (Fusion), hat so umfangreiche finanzielle Hilfe erhalten. 8. Die Gefahr einer Entwendung von Kern-brennstoffen, z. B. durch Terroristen, auch das Problem der Sabotage in kerntechnischen Anlagen, erfordern außerordentliche Schutz-und Bewachungsmaßnahmen, einschließlich sorgfältigster Kontrolle aller in solchen Anlagen Beschäftigten. Führt das nicht notwendigerweise in einen totalen Polizeistaat? 9. Bringt die Kernenergie am Ende wirklich wirtschaftliche Vorteile? Kann sie vor allem einen Ersatz für Erdöl bieten? Auch wenn man zugesteht, daß weiteres Energiewachstum selbst in den Industrieländern erforderlich ist, so ist der Beitrag, den die Kernenergie liefern kann, doch nur „begrenzt verwendungsfähig'1, im wesentlichen zur Deckung der Grundlast an elektrischer Energie. Nun werden zur Zeit nur 27 % der Primärenergie in elektrische Energie umgewandelt, (mit einem Wirkungsgrad von 30— 35 %). An der Endenergie, d. h.der für praktische Zwecke zum Einsatz kommenden Energie, ist elektrische Energie („Strom“) nur mit 10— 15 % beteiligt. Die Hauptursache dafür ist, daß weit mehr als die Hälfte der Endenergie als Wärme gebraucht wird. Elektrischen Strom für Heizzwecke zu verwenden, ist aber unwirtschaftlich, da bei seiner Erzeugung im Kraftwerk 65— 70 % der Primärenergie als „Abwärme“ verlorengehen. Elektrische Energie sollte deshalb nur dort eingesetzt werden, wo „hochwertige" Energie gebraucht wird (Antrieb von Motoren, Beleuchtung, elektronische Geräte u. ä.). Die Energiekrise, die vor allem aus der Verknappung und Verteuerung von Erdöl entsteht, kann deshalb offenbar durch Kernenergie gar nicht überwunden werden.
Dieser Katalog von Argumenten gegen die Kernenergie ist sicher nicht vollständig. Er umfaßt aber diejenigen Punkte, die besonders ernst zu nehmen sind. Ernst zu nehmen sind deshalb auch diejenigen, die sie vorbringen. Sicherlich gibt es hier und da Gruppen von Kernenergiegegnern, bei denen der „Kampf gegen die Kernenergie“ weniger durch Argumente bestimmt ist, wie sie hier vorgetragen wurden, sondern politische Motivationen eine Rolle spielen. Die überwiegende Mehrheit derer, die sich heute gegen einen weiteren Ausbau der Kernenergie wenden, ist aber zweifellos von ernster Sorge erfüllt.
Ein beträchtlicher Teil dieser Sorgen ist jedoch — wie sich zeigen läßt — sachlich unbegründet. Völlig aus dem Weg räumen lassen sich die aufgezeigten Probleme aber nicht; und ein unkritisches Eintreten für die Kernenergie — so als ob es sich hier um eine ideale und endgültige Lösung des Energieproblems handele — kann auch der Fachmann nicht verantworten.
Warum man nicht einfach gegen die Kernenergie sein kann
Unter den neun Argumenten, die gegen die Kernenergie vorgebracht wurden, ist eines, das mehr abgeleiteten Charakter hat, nämlich das der „Unmenschlichkeit''(Nr. 5). Gerade dieser Eindruck dürfte aber am nachhaltigsten diejenigen Menschen bestimmen, die aus tiefer Überzeugung einem der wichtigsten und positivsten Trends unserer Zeit folgen: der Erkenntnis, daß wir technischen Fortschritt nicht gegen, sondern nur im Einklang mit unserer natürlichen Umwelt durchsetzen dürfen.
Niemand wird bestreiten, daß wir nicht weiter — wie in den letzten Jahrzehnten — unbedacht Hunderttausende neuer chemischer Stoffe erzeugen und auf Mensch und Umwelt „loslassen" dürfen; daß wir Abfälle nicht beliebig anwachsen lassen und wegwerfen dürfen; daß wir die Erdoberfläche nicht ohne sorgfältigste Planung mit Straßen und Siedlungen überziehen dürfen; daß es nicht angeht, unsere Böden, die wir für die langfristige Sicherung unserer Ernährung brauchen, beliebig auszulaugen — die Reihe der umweltschädlichen Maßnahmen durch unbedacht angewendete Technik ließe sich beliebig verlängern. Niemand aber würde daran denken, die Energieerzeugung durch Wasserkraft oder durch Verbrennung fossiler Stoffe ohne weiteres hier einzureihen. Hier handelt es sich — so wird man sagen — um uralte Technologien, die sich ganz natürlich ergeben.
Es kann nun aber nicht nachdrücklich genug betont werden, daß Radioaktivität und die damit verbundene „ionisierende“ Strahlung auch keineswegs nur künstliche Produkte der Wissenschaft und Technik sind (wie es für die Mehrzahl der heute genutzten chemischen Stoffe gilt), sondern daß sie Bestandteile unserer Umwelt bilden, die älter sind als das Leben auf dieser Erde und die bei der Entwicklung des Lebens bis hin zum Menschen aller Wahrscheinlichkeit nach sogar eine nicht unwichtige Rolle gespielt haben.
Die Mengen natürlicher radioaktiver Stoffe in Luft, Wasser und den oberen Bodenschichten sind heute noch mehr als zehnmal so groß wie die gesamte bislang durch Kernenergietechnik erzeugte künstliche Radioaktivität. Der Mensch ist seit seiner Entstehung auf dieser Erde durch diese Umweltradioaktivität einer natürlichen Strahlenbelastung ausgesetzt. Zu dieser tragen auch noch radioaktive Elemente bei, die sich von Natur aus in unserem Körper befinden; und schließlich kommt noch die so-genannte Höhenstrahlung hinzu, die biologisch in der gleichen Weise wirkt wie die Strahlung radioaktiver Stoffe.
So wie man die Belastung durch chemische Substanzen etwa durch die Zufuhr in mg/Jahr angeben kann, mißt man die Strahlenbelastung durch die Strahlendosis/Jahr. Die dafür verwendete Einheit Millirem (mrem) ist so definiert, daß die natürliche Strahlenbelastung sich im Mittel zu etwa 100 mrem/Jahr ergibt. Dieser Wert ist jedoch keine Konstante, sondern er schwankt je nach der geologischen Struktur des Untergrundes, auf dem man sich befindet, als Folge verschiedener Baumaterialien von Häusern und ferner als Folge der Höhenlage zwischen etwa 70 und 150 mrem/Jahr. Es gibt auf der Erde einige Gebiete, in denen sogar das zehnfache dieser Werte gemessen wird.
Es ist bisher nicht gelungen nachzuweisen, daß Menschen, die in diesem Rahmen einer verschieden hohen Strahlenbelastung ausgesetzt sind, irgendwelche gesundheitlichen Veränderungen aufweisen. Alles spricht dafür, daß sich der Mensch im Laufe seiner Entwicklung diesem natürlichen Umweltfaktor ebenso angepaßt hat wie all den anderen, denen er ausgesetzt ist (z. B. auch einer gewissen Menge ultravioletter Strahlung). Die soge-nannte „künstliche“ Radioaktivität, die bei der Kernspaltung entsteht, ist aber in ihrem Wesen von der „natürlichen“ Radioaktivität so wenig verschieden, wie das Feuer, das wir im Ofen entzünden, von dem eines Waldbrandes oder eines Vulkans.
Radioaktivität ist also der Qualität nach ein natürlicher Umweltfaktor. Gefahren entstehen erst durch zu große Quantitäten. Es erscheint wenig sinnvoll, einen großen Aufwand um einige mrem/Jahr Strahlenbelastung durch Kernenergieerzeugung zu machen, gleichzeitig es aber jedem Menschen freizustellen, sich aus einem sandigen Flachlandgebiet mit niedriger Umweltradioaktivität ins granithaltige Gebirge zu begeben, wobei er u. U. 50— 60 mrem/Jahr mehr ausgesetzt ist. Schon der Umzug aus einem Holz-oder Ziegelsteinhaus in einen Betonbau kann die „natürliche" Strahlenbelastung um 10— 20 mrem/Jahr erhöhen. Hinzu kommen künstliche Strahlenbelastungen aus anderen Quellen: Fernsehen, längere Jet-Flüge und vor allem Röntgenuntersuchungen, die wir entweder nicht vermeiden wollen oder nicht vermeiden können. Diese „zivilisatorische" Strahlenbelastung kann bis zu 50 mrem/Jahr betragen.
Ist die Kernspaltung, wie sie im Reaktor vor sich geht, nicht aber ein erst von der Technik eingeführter Prozeß? Seit einiger Zeit wissen wir, daß zumindest an einer Stelle der Erde, an der Uranlagerstätte Oklo im afrikanischen Staate Gabun, vor etwa 1, 7 Milliarden Jahren eine natürliche Kernspaltungsreaktion abgelaufen ist, die etwa eine Million Jahre anhielt. Die Endprodukte dieses Prozesses, die allerdings längst nicht mehr radioaktiv sind, lassen sich in der Umgebung nachweisen. Durch umfangreiche Messungen hat man in weitem Umkreis um diese Region festzustellen versucht, ob und in welchem Umfange sich die Spaltprodukte dieses „natürlichen Reaktors" in die Umgebung ausgebreitet haben. ist ja -Dies be kanntlich die Befürchtung, die in Hinblick auf die Lagerung radioaktiver Abfälle aus Kernkraftwerken geäußert wird. Es hat sich jedoch gezeigt, daß sogar in diesem Falle, in dem ja keine Schutzeinschließungsmaßnahmen erfolgt sind, die meisten Spaltprodukte praktisch am Orte verblieben sind.
Aus all diesen Tatsachen ergibt sich, daß es ein bewußtes oder unbewußtes, aber auf jeden Fall falsches Vorurteil ist, wenn man meint, bei der Kernenergie handele es sich um völlig natur-fremde, erst vom Menschen in die Welt gebrachte Prozesse. Die Energiegewinnung aus Kernreaktionen ist nicht mehr und nicht weniger unnatürlich als die Nutzung der Wasser-kraft oder die Verbrennung von Kohle oder öl bei hohen Temperaturen. Im vom Menschen nicht beeinflußten Haushalt der Natur kommen all diese Prozesse nicht vor. Will man dem Beispiel der Natur folgen, so kann man nur auf die Solarenergie zurückgreifen (und wird es früher oder später auch sicher in großem Ausmaße tunl).
Von dieser allgemeinen Betrachtung ausgehend kann man nun die anderen, im ersten Abschnitt vorgebrachten Argumente, analysieren. Zu 1: Atombombe und Kernreaktor sind voneinander so verschieden wie die Wassermassen eines Sees und der in feine Tröpfchen verteilte Wassergehalt eines Wolkengebietes. Eine Atombombe besteht bekanntlich aus einer konzentrierten Menge von spaltbarem Material (Plutonium oder Uran— 235). Das im Reaktorkern über ein größeres Volumen verteilte spaltbare Material kann ebensowenig wieder zusammenkommen, wie sich die Wassertröpfchen in einer Wolke zu einer geballten Wassermenge zusammenschließen können, die beim Hinunterstürzen auf die Erde ganz andere verheerende Wirkungen haben würde als selbst der heftigste Regenfall. Eine „Kernexplosion" ist also in einem Kernkraftwerk aus naturgesetzlichen Gründen nicht möglich.
Richtig ist, daß man von der Strahlung, die bei einer Kernreaktion auftritt und dann weiterhin von der der radioaktiven Abfälle erst seit etwa 80 Jahren etwas weiß. Die umfassenden wissenschaftlichen Erkenntnisse, die sich nach der Entdeckung der Radioaktivität einstellten, wurden in der Öffentlichkeit zu wenig bekannt. Sie wurden vor allem im Rahmen der medizinischen Strahlenkunde gewonnen. Wir wissen heute aber auch, daß es keine Wirkungen ionisierender Strahlen gibt, die sich nicht auch durch Chemikalien oder andere physikalische Faktoren hervorrufen lassen. Es gibt Hunderte, vielleicht sogar Tausende chemischer Verbindungen, die genau wie ionisierende Strahlen Krebs, Leukämie und erbliche Veränderungen (Mutationen) beim Menschen hervorrufen. Dabei handelt es sich nicht um seltene, ausgefallene Stoffgruppen, sondern in erheblichem Ausmaß um solche, die heute schon in nennenswerter Konzentration in unserer Umwelt vorhanden sind. Als Beispiel seien Benzpyren, Formaldehyd, Aethylenoxid und Nitrite genannt. In industriellen Ballungsgebieten beträgt die cancerogene und mutagene Belastung • des Menschen durch diese Substanzen heute schon ein Mehrfaches der natürlichen Strahlenbelastung und liegt damit um ein bis zwei Größenordnungen über der Strahlenbelastung durch Kernkraftwerke im Normalbetrieb.
Störfälle in Anlagen, die solche Stoffe verarbeiten, stellen zweifellos ein höheres Risiko dar als Reaktorunfälle. Seveso war dafür noch ein vergleichsweise harmloses Beispiel. Es ist unverständlich, wie hier in der Öffentlichkeit gegenüber der Kernenergie mit verschiedenen Maßstäben gerechnet wird.
Zu 2.: Selbst die langlebigsten radioaktiven Stoffe klingen mit der Zeit ab; Thallium, Cadmium, Blei und auch toxische Verbindungen z. B. in Pesticiden tun dies nicht. Ein damit verseuchtes Gebiet läßt sich erheblich schwerer „entseuchen" als ein radioaktives, in dem noch die kleinste verbleibende Restaktivität in einfachster Weise gemessen und kontrolliert werden kann. Diese leichte Nachweisbarkeit die es möglich macht, die Verseuchungsgefahr zu erkennen, ihr auszuweichen und Pollutionen quantitativ zu beseitigen, ist ein Grund dafür, daß Hiroshima und Nagasaki heute wieder bewohnte Städte sind.
Zu 3 und 4: Die im Kernreaktor nach Abschalten verbleibende beträchtliche „Restleistung" — als Folge der in den Brennelementen beim Betrieb gebildeten Radioaktivität — ist einer der Hauptgründe für die umfassenden Sicherheitseinrichtungen, die ein Kernkraftwerk erfordert. Das Problem, das hier zweifellos für die Kernindustrie besteht, setzt sich in der Wärmeentwicklung des „Atommülls” fort und muß ernst genommen werden.
Es handelt sich jedoch auch hier nicht um eine grundsätzlich neue Problematik. Daß etwas „auf keinen Fall versagen darf, ist in der modernen Technik eine durchaus vertraute Forderung: Man denke nur an einen Staudamm (der dann gelegentlich doch bricht), an die elektronischen Kontrollsysteme eines Groß-flugzeuges, an Großbehälter für giftige Gase, z. B. Chlor. Selbst ein schwerer Reaktorunfall weist gegenüber den genannten Gefahrenquellen sogar einen Unterschied in anderer Richtung auf: Wenn die Gefahr einer nuklearen Verseuchung bemerkt wird, ist es nicht „schon zu spät“. Irreversible Strahlen-schäden treten erst nach einer gewissen Dosis auf, die der Mensch — zumindest wenn er außerhalb einer nuklearen Anlage lebt — erst nach einer gewissen Zeit erhalten hat (auch hier ein ganz fundamentaler Unterschied zur nuklearen Explosion). In vielen Fällen wird hinreichend Zeit bleiben, das gefährdete Gebiet zu verlassen. Die radioaktiven Abfälle sind auch nur zu einem kleinen Teil so konzentriert, daß sie zu hohen Temperaturen führen.
Bei der vorgesehenen Wiederaufarbeitung fallen pro Jahr pro Kernkraftwerk 120m 3 schwach-oder mittelaktive Abfälle an, die praktisch keine Wärme entwickeln; das Volumen der hochradioaktiven Abfälle beträgt demgegenüber nur ca. 2, 5 m 3 pro Jahr und Kraftwerk in Form von Glasblöcken, die bekanntlich in Salzstöcken oder in Granit eingelagert werden sollen. Auch hier wird deutlich, daß alle Probleme der Kernenergie quantitativer Natur sind: Werden sehr viele Kernkraftwerke über sehr lange Zeiten hin betrieben, so kann die Menge radioaktiven Abfalls ein nicht mehr akzeptables Ausmaß erreichen. Es ist ohne weiteres verständlich, daß die Überwachung zu vieler Lagerstätten immer größere Probleme aufwirft. Solche Erscheinungen sind auf technischem Gebiet nichts Neues. Man brauch sich nur einmal vorzustellen, daß in unseren industrialisierten Ländern der Individualverkehr auf das Zwei-oder Dreifache zunähme. Selbst mit extremem Ausbau der Verkehrswege und der Sicherheitsmaßnahmen im Verkehr dürfte er dann kaum noch zu meistern sein.
Andererseits dürfte — und damit wird der 5. Punkt des ersten Abschnitts noch einmal aufgegriffen — klargeworden sein, daß die Kernenergietechnik nichts mit sich bringt, das in unserer hochindustrialisierten Welt etwas völlig Neuartiges darstellt und Kennzeichnungen wie „teuflisch" rechtfertigen würde. Es handelt sich um die Nutzung einer natürJi-eben Energiequelle; die Kernenergie ist nicht ein qualitatives, sondern ein quantitatives Problem. Die weiteren oben genannten Argumente, die eine Stellungnahme „für“ Kernenergie erschweren, sind eigentlich gewichtiger und vor allem auch psychologisch verständlicher:
Zu 6: Der Versuch, die Kernenergietechnik als etwas Besseres und Vollkommeneres darzustellen als alle übrigen Technologien, hat sicher dazu geführt, daß heute der Kampf gegen die genau entgegengesetzte Meinung geführt werden muß. Psychologisch ist zu verstehen, daß sich in den fünfziger Jahren bei den Fachleuten so etwas wie eine Kernenergiebegeisterung entwickelte. In den ersten zwei Jahrzehnten unseres Jahrhunderts war die Struktur der Atome und dann auch der Atomkerne mehr und mehr aufgeklärt worden. Es schien möglich, Energie aus Reaktionen der Atom-kerne zu gewinnen. Allerdings dachte man dabei vorwiegend an Prozesse wie sie heute mit der „Kernfusion" verfolgt werden und technisch ja noch nicht nutzbar sind. Hahns Entdeckung der Kernspaltung 1938 zeigte dann plötzlich einen anderen, vorher noch gar nicht vorausgesehenen Weg, das Ziel einer Energie-gewinnung durch Kernreaktionen zu erreichen. Dann präsentierte sich 1945 die neue Entdek-kung der Welt zuerst in der Form der Atombombe, für die meisten Wissenschaftler und Ingenieure ebenso ein Schock wie für die ganze übrige Welt. Das „Atoms for Peace" -Pro-gramm war ein Versuch, die frühere Begeisterung wieder zu wecken und den „militärischen Schandfleck" vergessen zu machen. Dabei verstieß man gegen die Erfahrung, daß historische Fakten ebenso real sind wie naturwissenschaftliche. Daß wirtschaftliche Interessen zu dieser psychologischen Motivation hinzutra-ten, ist wohl kaum zu leugnen. Darauf wird noch einmal zurückzukommen sein.
Zu 7: Die allzu pessimistische Beurteilung alternativer Energietechnologien seitens der Atomindustrie ist eine echte Gefahr, da sie die dringend erforderliche Forschung auf diesem Gebiete behindern kann. Ebenso ist es freilich höchst gefährlich, wenn Kernenergiegegner heute den Eindruck zu erwecken suchen, die „soft technologies" (Sonnen-, Wind-, Biomassen-Energie usw.) wären heute oder in allernächster Zukunft schon in einem solchen Ausmaße verfügbar, daß wir auf Kernenergie verzichten könnten. Selbstverständlich war es ein Planungsfehler, Forschungsmittel im Energiesektor in den letzten Jahrzehnten fast nur auf die Kernspaltung zu konzentrieren. Eine etwas stärkere Förderung, z. B. von Sonnenenergieprojekten zu einem früheren Zeitpunkt, hätte heute schon beträchtliche Früchte tragen können. Die Konsequenz, jetzt das Gebäude der Kernenergie einzureißen und lieber auf der Straße zu liegen, bis ein neues, schöneres Bauwerk der „erneuerbaren Energiequellen" errichtet ist, ergibt sich daraus jedoch nicht.
Berechtigt ist übrigens die Warnung, sich für die Zukunft nicht allzusehr auf fossile Energieträger zu verlassen. Selbst wenn, wie bei der Kohle, die Vorräte noch beträchtlich sind, selbst wenn ein Teil der bei Kohleverbrennung emittierten Schadstoffe (darunter auch Radioaktivität!) durch neue technische Maßnahmen zurückgehalten werden können, so bleibt doch die Bildung riesiger Mengen von Kohlendioxid, die unvermeidlich globale Auswirkungen auf Klima und Umwelt zur Folge hat. Es ist dringend erforderlich, sich klarzumachen, daß Kernkraftwerke Umweltschäden nicht im Normalbetrieb, sondern nur bei ernsteren Störfällen verursachen. Die Kohleverbrennung im Großmaßstab (ebenso wie die anderer fossiler Brennstoffe) führt dagegen schon im Normalbetrieb zu irreversiblen Umweltveränderungen durch Erhöhung des Kohlendioxidgehaltes der Atmosphäre und damit zur Störung des seit Bestehen der Erde vorhandenen Strahlungsgleichgewichtes.
Zu 8: Wie ernst die Gefahr einer Entwendung spaltbaren Materials, aus dem dann Atombomben hergestellt werden könnten, schon seit Jahren genommen wird, kann man daraus ersehen, daß die Vereinten Nationen eine eigene Einrichtung zur internationalen Überwachung des Spaltstoff-Flusses, d. h. eine Kontrolle des Verbleibs von Plutonium und Uran 235, bei der Atombehörde in Wien geschaffen haben. Es wird oft behauptet, daß diese „Safe-guards-Abteilung" zu klein und nicht effizient genug sei. Es besteht aber kein prinzipielles Hindernis, sie zu vergrößern. Viel wichtiger ist, daß über hundert Nationen diese Kontrollmaßnahmen, die doch immerhin einen Eingriff in die nationale Souveränität bedeuten, freiwillig akzeptiert haben.
Zu dem gesamten sehr ernsten Problem der Weiterverbreitung der Herstellung von Kernwaffen (der „Proliferation“) sind zwei Bemerkungen zu machen: Kernkraftwerke und der zu ihnen gehörende Brennstoffzyklus sind weder eine notwendige Voraussetzung noch ein sehr geeignetes Hilfsmittel zur Herstellung atomarer Waffen. Alles Material für Atombomben ist bisher auf andere Weise — über kleine, dafür geeignete Reaktoren — erzeugt worden. Zweitens kann man sich gar nicht oft genug ins Gedächtnis zurückrufen, daß Tausende fertiger nuklearer Waffen heute an verschiedensten Stellen der Erde lagern. Die Entwendung auch nur eines solchen Sprengkopfes wäre eine sehr viel ernstere Bedrohung als jede behelfsmäßig konstruierte „Atombombe“.
Natürlich werden die Atomwaffenlager militärisch streng bewacht, ebenso wie bei den 231 heute in Betrieb befindlichen Kernkraftwerken Sicherungs-und Schutzmaßnahmen gegen Sabotage und Terrorismus getroffen sind. Brächte dies die Gefahr eines „atomaren Polizeistaates'1 mit sich, so hätte sich das allerdings schon bemerkbar machen müssen. Bisher ist die Polizei im größeren Umfange nur dort in Erscheinung getreten, wo radikale Kernenergiegegner glaubten, die sachliche Diskussion mit anderen als den hierfür reichlich vorhandenen legalen Hilfsmitteln führen zu müssen. Es wäre in diesem Zusammenhang vielleicht lohnend, einmal zu vergleichen, in welchem Ausmaße Sicherungskräfte in anderen Zweigen der Industrie eingesetzt sind.
Zu 9: Es ist richtig, daß der Ausbau der Kernenergie in der derzeitigen Form kein direktes Mittel zur Überwindung der Erdölkrise darstellt, zumindest nicht in Deutschland, wo Erdöl kaum zur Stromerzeugung verwendet wird (in Japan und in vielen Entwicklungsländern ist es freilich anders). Zu erwägen ist allerdings, ob nicht auch der Bau von Kernkraftwerken dem von Kohlekraftwerken vorzuziehen ist, da dadurch die oben erwähnte, langfristige extrem gefährliche Vermehrung des Kohlendioxids vermieden wird und überdies Rohstoffe erhalten bleiben, die nicht zu ersetzen sind. Bei der immer noch anhaltenden Zunahme der Weltbevölkerung müssen wir damit rechnen, daß mehr und mehr Kohle, öl und Erdgas zur Herstellung anderer wichtiger Produkte wie Kunststoffe, Kleidung, pharmazeutischer Produkte und u. U. sogar Nahrungsmitteln benötigt werden. Uran, wie es im Reaktor verwendet wird, ist für andere Zwecke nur in sehr geringem Umfange zu nutzen. Die in ihm enthaltenen spaltbaren Anteile machen sowieso nur weniger als 1% aus. Für sie kennt man überhaupt keine andere Verwendung als die Erzeugung von Energie (und natürlich den militärischen Einsatz). Deshalb gibt es gar keine Alternative, diesen Rohstoff für andere Zwecke als für die direkte Erzeugung elektrischer Energie zu nutzen; und elektrische Heizung mit Strom aus Kernkraftwerken ist deshalb etwas grundsätzlich anderes als mit Strom aus Kraftwerken, in denen Kohle oder öl verbrannt wird, die man ohne weiteres Trendumkehr beim Energieverbrauch? auch direkt zur Wärmeerzeugung nutzen könnte. Im übrigen kann die elektrische Heizung, z. B. durch Wärmepumpen, heute auch schon sehr viel effizienter gemacht werden, insbesondere gerade in Verbindung mit Sonnenenergie — ganz zu schweigen von der sprichwörtlichen Sauberkeit und Betriebssicherheit der elektrischen Energie.
Richtig und wichtig ist allerdings, daß die bei der Kernspaltung im Reaktor entstehende Wärmeenergie noch vollständiger genutzt werden könnte. Weitaus bessere Möglichkeiten dazu als die zur Zeit fast ausschließlich genutzten Leichtwasserreaktoren bieten neue Konzepte wie z. B.der vorwiegend in Deutschland entwickelte Hochtemperaturreaktor.
Der Impuls, auch im Rahmen der Kernspaltungstechnologie nach neuen und besseren Lösungen zu suchen, wird sicher durch die Erstmals seit 1974 ist im vergangenen Jahr wieder eine deutlichere Veränderung der Energieverbrauchsstruktur eingetreten. Zwar stieg der Mineralölverbrauch noch einmal weiter an (auf 210 Mio. t Steinkohleneinheiten), doch blieb der Zuwachs hinter dem des gesamten Energieverbrauchs zurück. Der Anteil des Mineralöls an der Energieversorgung, der vor der Ölkrise einen Höchstwert von über 55% erreicht hat, sank demzufolge auf 51 %. In erster Linie war diese Entwicklung auf den fast stagnierenden Absatz von Motorenbenzin sowie leichtem und schwerem Heizöl zurückzuführen.
Zugleich gelang die Stabilisierung des Beitrags der Steinkohle zur Energieversorgung. Die Trendumkehr, die den Anteil der Steinkohle am Primärenergieverbrauch wieder auf 18, 4% anwachsen ließ, dürfte auch in den nächsten Jahren Bestand haben, da die vor kurzem vereinbarten Abnahmeverpflichtungen der Elektrizitätswirtschaft gegenüber dem Steinkohlenbergbau der Kohle im nächsten Jahrzehnt erhöhte Bedeutung einräumen. sachliche Kritik an bestehenden Programmen gefördert. Dazu gehört auch, daß die wirtschaftlichen Aspekte der Kernenergie ständig neu überprüft werden und daß vor allem jeder Alternative aus dem Bereich der „unkonventionellen“ Energieerzeugungsmethoden Chancen zur Verwirklichung geboten werden, so-bald sie sich als wettbewerbsfähig erweist. Die Weiterentwicklung auf dem Energiesektor kann als ein Prüfstein für das Funktionieren der freien Marktwirtschaft angesehen werden. Dabei ist begründete Kritik sinnvoll, ebenso wie unbegründete Vorurteile zerstörend wirken können.
Bilanz
In unserer technischen Welt gibt es hier und da Entwicklungen, für die man sich begeistern und bedingungslos im Sinne eines „Pro“ einsetzen kann. Es gibt ebenso technische Maßnahmen, die nicht zu tolerieren sind und ein hartes „Contra“ herausfordern. Zu der ersten Gruppe würde ich rechnen: Rekultivierungsmaßnahmen verödeter Landstriche, Wasser-gewinnung in ariden Gebieten, bessere Anpassung unserer Nutzpflanzen an ihre Umgebung, Humanisierung des industriellen Betriebes, Nutzbarmachung des Luftstickstoffes für das Pflanzenwachstum anstelle immer weiter gesteigerter künstlicher Düngung und auch die Weiterentwicklung der Sonnenenergietechnik. Klar zu verneinen ist auf der anderen Seite die ständige Weiterentwicklung von Zerstörungswaffen (an der Spitze die Nuklearwaffen), die fortschreitende Zersiedlung noch halbwegs natürlicher Landschaften, die unbegrenzte Erweiterung des Individualverkehrs, der künstliche Eingriff in die biologische Grundkonstitution des Menschen durch Genmanipulation — um nur einige Beispiele zu nennen.
Wie die meisten Technologien gehört die Kernenergie in keine der beiden Gruppen. Ihre Grenzen und Gefahren liegen vor allem in der Überschreitung eines vernünftigen Maßes, räumlich und zeitlich gesehen. Sie wegen des Zusammenhanges mit der Herstellung von Nuklearwaffen zu verbieten, wäre dasselbe wie ein Verbot der Erzeugung von Impfstoffen oder von Pestiziden, weil diese Technologien enge Verwandtschaft mit der Herstellung biologischer und chemischer Waffen besitzen.
Wenn die Kernenergie in den nächsten Jahrzehnten weiter genutzt und in kontrollierter Weise ausgebaut wird, kommt alles darauf an, wie man es macht. Gewaltsame Einschnitte — wie ein prinzipieller Verzicht auf Wiederaufbereitung oder auf die bessere Nutzung des Kernbrennstoffes durch Brutreaktoren — sind sicher keine Lösung. Wiederaufarbeitungsanlagen gibt es fast ebensolange wie Kernreaktoren. Es handelt sich hier also nicht um eine noch unerprobte Technologie. Die Erfahrungen mit Brütern sind sehr viel weniger umfangreich und die Gefahr von Störungen und Unfällen ist hier sicher höher als bei den jetzt in Betrieb befindlichen Kernkraftwerken. Aber auch der Brüter stellt keine prinzipiell neue Technologie dar, die völlig aus dem Rahmen unserer modernen Technik herausfiele. Beschränkung im Umfang, auch über lange Zeiten hin, ist auch hier das wichtigste Gebot
Die größte Gefahr besteht darin, den Charakter der Kernenergie als einer Übergangslösung aus dem Auge zu verlieren. Nachdem gerade auf dem Energiesektor vielversprechende Ansätze für Langzeitlösungen unter Nutzung unerschöpflicher oder erneuerbarer Primärquellen bestehen, muß vermieden werden, daß sich ein riesiges Kernenergiesystem so etabliert, daß am Ende eine irreversible Situation geschaffen ist. (In gewisser Weise ist dies z. B. heute auf dem Verkehrssektor der Fall.) Der Weg zu den genannten Lösungen würde aber durch Energiekrisen und daraus erwachsende Wirtschaftskrisen vermutlich für immer blockiert.
Es ist in der deutschen Öffentlichkeit vielleicht nicht hinreichend bekannt, daß eine Anzahl von Entwicklungsländern, die keine oder zu wenig eigene Primärenergiereserven besitzen, entschlossen sind, Kernenergie zu nutzen, z. T. sogar schon nutzen. Der dadurch bestehende Exportmarkt wird von unseren Nachbarländern ebenso wie von den USA und Kanada sehr wohl wahrgenommen. 1976 lag die Bundesrepublik im nuklearen Exportgeschäft noch an zweiter Stelle. Inzwischen haben andere Länder aufgeholt; und wesentliche Einschränkungen unserer eigenen Kernenergie-technik würden in Kürze zum völligen Verlust dieser Exportchancen führen. Wiederaufarbeitung wird im nennenswerten Maßstab zur Zeit in den USA der UdSSR, in Großbritannien und in Frankreich betrieben. An Frankreich wird die Bundesrepublik in den nächsten zehn Jahren zwei Milliarden DM für die Wiederaufarbeitung unserer ausgebrannten Reaktorbrennelemente zahlen. Sieben weitere Länder (einschließlich Deutschland) betreiben kleinere bzw. Pilot-Anlagen für die Wieder-aufarbeitung.
Diese pragmatischen und nicht aus der Welt zu schaffenden Überlegungen haben nichts mit einer Überschätzung der Kernenergie zu tun. Zugrunde liegt die realistische Erkenntnis, daß die wirtschaftliche — ebenso wie die politische — Lage unserer jetzt schon überbevölkerten Welt viel zu labil ist, um sprunghaft langfristige Planungen über Bord zu werfen, ohne daß ein anderer sicherer Weg besteht.
Es ist festzuhalten, daß man aus rationalen Gründen nicht einfach für oder gegen die Kernenergie sein kann. Wenn in der heutigen öffentlichen Debatte gefühlsmäßige oder weltanschauliche Momente mitsprechen, so sollte man diese auf beiden Seiten klar als solche bezeichnen. Die Kernenergie hat Probleme wie jede andere Technologie; und bei keiner Technologie kann man diese Probleme vollständig lösen — daher bleiben bei jeder Technik Risiken. Eine sinnvolle Diskussion kann sich nur bei guter Sachkenntnis darauf konzentrieren, wie weit die noch bestehenden Probleme der Kerntechnik zu lösen sind. Dabei haben natürlich entsprechend gründlich vorgebildete und in der Sache erfahrene Physiker, Chemiker, Biologen, Mediziner, Ingenieure und besonders auch Ökologen mitzuwirken.
Das wichtigste aber ist, daß diese Diskussion sich nicht isoliert und begrenzt nur mit der Kernenergie beschäftigt, sondern daß sie die Risiken dieser Technologie mit anderen Risiken unserer technischen Welt vergleicht. Wir leben nun einmal nicht in einer ausgeglichenen, sauberen, einwandfrei funktionierenden Welt, in die als einziger drohender Störenfried die Kernenergie eingedrungen ist. Kernenergie ist ein Teil unserer technischen Welt, von der der Pionier der „sanften" Technologien, E. F. Schumacher, sagt: „In der Industriegesellschaft sind die Dinge zu groß, zu kompliziert, zu kapitalintensiv und zu gewaltsam geworden — es gilt, sie wieder auf ein menschliches Maß zurückzuführen". Gleich wie man den Gedanken der „soft technologies“ beurteilt — die Aufgabe besteht, unsere Welt mit all ihren technischen Einrichtungen zu verbessern und den natürlichen Bedingungen eines ausgeglichenen Ökosystems mehr und mehr anzunähern. Daß der Weg dahin ohne einen begrenzten Ausbau der Kernenergie gegangen werden kann, erscheint sehr unwahrscheinlich. Daß am Ende die Kernspaltung — ebenso wie die Verbrennung von Kohle und öl und viele andere unserer heutigen „Errungenschaften" — in einer solchen verbesserten technischen Welt kaum noch einen Platz hat, möchte ich als gewiß ansehen.
Hellmut Glubrecht, Dr. Ing., geb. 1917; studierte Physik in Hannover und Göttingen und war bis 1945 in einem Elektroniklaboratorium tätig. 1959 ordentlicher Professor und Leiter des Instituts für Strahlenbiologie (heute Institut für Biophysik) an der Technischen Universität Hannover. 1967 übernahm er zusätzlich die Leitung einer Abteilung für ökologische Physik der Gesellschaft für Strahlen-und Umweltforschung, München. 1973 bis 1977 stellvertretender Generaldirektor und Leiter der Abteilung Forschung und Isotope in der Atombehörde der Vereinten Nationen (International Atomic Energy Agency) in Wien. Seit 1977 leitet er wieder seine früheren Institute in Hannover. Veröffentlichungen: Zahlreiche fachwissenschaftliche Publikationen auf dem Gebiete der Strahlenbiologie, der allgemeinen Biophysik und der Isotopentechnik, besonders im landwirtschaftlichen Bereich. Nichtfachwissenschaftliche Publikationen u. a.: Welternährungskrise, ro ro ro aktuell 1147, 1968 (Mitverfasser); Ist unsere Kultur gespalten?, in: Kreuzer (Hrsg.), Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz, Stuttgart 1969; Umweltschutz und Umweltgestaltung, in: Umschau 72, 1972; Das Wachstum der Weltbevölkerung und seine anthropologischen Konsequenzen, in: Neue Anthropologie, Stuttgart 1972.