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Menschenrechte im SED-Staat | APuZ 46/1980 | bpb.de

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APuZ 46/1980 Artikel 1 Menschenrechte im SED-Staat Kulturpolitik und literarische Zensur in der DDR Dreißig Jahre Kulturpolitik der DDR im Spiegel ihrer Malerei

Menschenrechte im SED-Staat

Jörg Bernhard Bilke

/ 43 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Eine Bürgerrechtsbewegung, die mit denen in der Tschechoslowakei und in Polen vergleichbar wäre, hat es im anderen Teil Deutschlands nie gegeben. Zu verzeichnen sind allenfalls Ansätze von öffentlich artikulierter Unzufriedenheit seit der Unterzeichnung der KSZE-Schlußakte von Helsinki am 1. August 1975. Die dort getroffenen Vereinbarungen wurden jedoch durch ein neues Strafgesetz 1979 neutralisiert. Eine wichtige Aufgabe als Informationsträger fällt in der DDR der Literatur zu, die zu Protesten gegen staatliche Bevormundungen ermutigt hat. So erscheint es nur konsequent, daß sich Veröffentlichungsverbote, Verhaftungen und Ausweisungen seit 1976 zuerst gegen oppositionelle Autoren und Intellektuelle überhaupt richteten, die durch die realistische Beschreibung der Zustände im „realen Sozialismus“ die Machtpositionen der kommunistischen Minorität gefährdeten. Daneben besteht ein zweites und drittes Unruhepotential in der Arbeiterschaft, die sich um die Früchte ihrer Anstrengungen betrogen sieht, und in der Jugend, die durch „Wehrerziehung“ sozialisiert werden soll. Die Folge wachsender Unzufriedenheit mit dem dürftigen Angebot sozialistischer „Lebensqualität" sind zahlreiche Ausreisebegehren, die bei prominenten DDR-Bürgern fast immer zum Erfolg führen, während unbekannte Gesuchssteller oft jahrelang schikaniert werden, ohne Aussicht auf Änderung ihrer Situation. In neuerer Zeit sind die DDR-Behörden dazu übergegangen, die KSZE-Vereinbarungen durch juristische Zweckinterpretation ideologisch zu entschärfen und den Begriff „Menschenrechte" so umzudeuten, daß er für Übersiedlungswünsche unbrauchbar wird. Die in den letzten Wochen intensiv betriebenen Abgrenzungsbemühungen sowohl gegen Massenmedien und Verwandtenbesuche aus dem Nachbarstaat Bundesrepublik Deutschland als auch gegen revisionistische Tendenzen aus dem sozialistischen „Bruderland" Polen zeigen, in welchem Ausmaß die ohne demokratische Legitimierung herrschende kommunistische Minderheit ihre Machtpositionen gefährdet sieht.

„Man muß den wirklichen Druck noch drückender machen, indem man ihm das Bewußtsein des Drucks hinzufügt, die Schmach noch schmachvoller machen, indem man sie publiziert."

Karl Marx (1844)

Der Mauerbau vom 13. August 1961, mit dem die DDR-Bürger an der Massenflucht zu ihren Landsleuten gehindert werden sollten, hat die inneren Widersprüche der „sozialistischen Gesellschaftsordnung" nicht verschwinden, sondern nur noch stärker hervortreten lassen. Da die staatlich gelenkte Presse ihrer Aufgabe, die Leser über die politischen Zustände im eigenen Land zu informieren, seit mehr als 35 Jahren nicht mehr nachkommen kann, wurde nach 1961, verstärkt nach 1971, zunächst eine kritische Literatur, deren Verfasser sich dem „gesellschaftlichen Auftrag" zu entziehen verstanden, zu einem Informationsund Oppositionsträger, in welchem die unaufgeklärt und unmündig gehaltene Bevölkerung „ihren Schmerz und ihre Unruhe" (Alexander Solschenizyn) artikuliert fand.

Spätestens mit der gewaltsamen Abgrenzung gegen den „Klassenfeind", dessen Wirtschaftshilfe gleichwohl benötigt wurde, und dem „umfassenden Aufbau des Sozialismus" wurde die bis heute anhaltende Finalitätskrise des Systems eingeleitet, wonach die Staatsreligion des Marxismus-Leninismus nicht mehr als weltverändernde Doktrin mit aufklärerischem Impetus erscheint, sondern nur noch als Zitatensammlung zur Absicherung der Machtpositionen einer selbsternannten Elite. In seinem Lied „Porträt eines Monopolbürokraten" (1972) hat Wolf Biermann die politische Physiognomie der „neuen Klasse" (Milovan Djilas), die zwar die Produktionsmittel nicht besitzt, aber fast uneingeschränkt über sie verfügt, eindringlich beschrieben: „In deinem Land ist die Revolution lebendig begraben, Genosse .. . Von deinen Lippen wehn uns die Fahnen aus Rotwein. Ja, schön ist es, das Wort zu ergreifen im Klassenkampf der Trinksprüche. Die Macht in der Tasche, vor Augen den Herzinfarkt, so sehn wir dich die umkämpfte Stellung halten hinter den Bankett-Barrikaden. Warum säufst du dich tot für uns? Warum frißt du dich krank für uns? Warum redest du dich kaputt für uns? ... Warum zitterst du so vor der Diktatur des Proletariats?"

Wie das im konkreten Einzelfall aussieht, wird durch einen Korrespondentenbericht belegt, worin das vor Volkes Augen hermetisch abgeschirmte, vom Volksmund „Volvograd" genannte Konsumparadies der SED-Spitzen-funktionäre am märkischen Wandlitzsee geschildert wird: „Sie leben nicht nur zwischen Stacheldraht und Wachtruppen, sondern auch zwischen Kaviar und Krimsekt, schottischem Whisky und französischem Cognac, dänischer Butter und englischen Zigaretten, westdeutschen Farbfernsehern und argentinischem Frischfleisch. Auch in den , Intershop-Läden sind die Schätze kaum zu bekommen, unter denen sich in . Volvograd'die Regale biegen ... In den großen Villen von , Volvograd'mit ihren jeweils zehn bis zwölf Zimmern (Edelholz-Täfelung, türkische Teppiche, belgische Leuchter, kostbare Vorhänge), mit Sauna, Swim-ming-Pool, Massage-und Kosmetik-Zentren läßt sich vorzüglich leben. Man kann verstehen, daß die Funktionäre jeden Abend gerne hierher zurückkehren, um Kraft für ihre Bemühungen am nächsten Tag zu schöpfen, der werktätigen Bevölkerung zu sagen, daß der Aufbau des Sozialismus hohe und höchste private Opfer fordert."

Zur innenpolitischen Situation Für den nicht privilegierten Rest von 17 Millionen DDR-Bürgern bleibt die Verheißung auf einen irgendwann in grauer Zukunft ausbrechenden Kommunismus der alle Unzu-länglichkeiten der Gegenwart auslöschen wird. Nur glauben an dieses leuchtende Ziel, das nach dem zweimal umgearbeiteten und dann doch verbotenen Stück „Die Sorgen und die Macht" (1962) von Peter Hacks nur die völlige Negation heutiger Zustände sein kann („Kollegen, Kommunismus, wenn ihr euch den vorstellen wollt, dann richtet eure Augen auf, was jetzt ist, und nehmt das Gegenteil"), nicht einmal die allmächtigen Mitglieder des Politbüros: „Wir stellen fest: Keine herrschende Klasse Deutschlands hat jemals so schmarotzt und sich jemals so gegen das Volk gesichert wie jene zwei Dutzend Familien, die unser Land als einen Selbstbedienungsladen handhaben. Keine hat sich derart exzessiv goldene Gettos in die Wälder bauen lassen, die festungsgleich bewacht sind. Keine hat sich derart schamlos in Sonderläden und Privatimporten aus dem Westen, durch Ordensblech, Prämien und Sonderkliniken, Renten und Geschenke so korrumpiert und bereichert wie diese Kaste."

Wer als hart arbeitender Untertan aber die Versprechungen einfordert und aus dem bedrückenden DDR-Alltag ausbricht, Kritik übt, die Ausreise „legal" betreibt oder die „Republikflucht", die seit 1957 als „illegal" gilt, vorbereitet, der riskiert wenn nicht sofortige Verhaftung und Verurteilung, so doch berufliche Degradierung und öffentliche Diskriminierung. Denn der SED-Staat verfügt nicht nur über ein alle bürgerlichen Freiheiten negierendes Strafrecht, sondern auch über die ideologischen und militärischen Machtmittel, seinen politischen Willen durchzusetzen. So bedeutete die Neufassung des Strafrechtsänderungsgesetzes vom 28. Juni 1979 Oppositionsverbot für die „werktätige Bevölkerung" insgesamt, während die Ausbürgerung, Verhaftung oder vorübergehende Westbeurlaubung von Intellektuellen — von Ausschlüssen aus Par-» tei und Schriftstellerverband abgesehen — gegen den Versuch gerichtet war, Literatur und Geistesarbeit für autonom zu erklären und Wirklichkeitsbeschreibungen ohne ideologische Vorgaben vorzunehmen.

Den Ausbruchsversuchen einer unruhiger werdenden Jugend, die keine „Perspektive" mehr sieht, wurde mit der Einführung des Pflichtfachs „Wehrerziehung" 1978 und einer neuen Schulordnung 1979 begegnet. Sollte es dennoch, wie 1977 auf dem Ost-Berliner Alex-anderplatz und im neuen Stadtteil Marzahn, später auch in einigen Provinzstädten wie Erfurt und Wittenberge, zu Streiks und Revolten kommen, dann stehen — abgesehen von den 20 Divisionen der Roten Besatzungs-Armee — die regulären NVA-Truppen von 170 000 Mann kampfbereit in Reserve, wenn es der Bürgerkriegsarmee in Millionenstärke — bestehend aus den „Kampfgruppen der Arbeiterklasse", den Verbänden der „Gesellschaft für Sport und Technik", den Schülerregimentern der Oberklassen, den Kräften der „Zivilverteidigung", den Einheiten der „Deutschen Volkspolizei" und des „Ministeriums für Staatssicherheit" — nicht gelingen sollte, die „herrschende Klasse“ und ihre Privilegien gegen die aufgebrachte Menge zu schützen.

Mit den drei Bevölkerungsgruppen Arbeiter, Jugendliche und Intellektuelle sind die Schwachstellen des Systems bezeichnet, die bei zunehmender Wirtschaftsanarchie im 1980 ablaufenden Fünfjahrplan zu Kristallisationspunkten politischer Opposition werden könnten, wie es ansatzweise schon zu beobachten ist. So hat die drastische Rohstoffverteuerung auf dem Weltmarkt seit 1975 zu einer Erschütterung des Preisgefüges auf dem DDR-Binnenmarkt geführt, was sich in Versorgungsengpässen mit Käuferschlangen und heimlichen Preiserhöhungen bei Konsumwaren ausdrückt. Der Unmut des Bevölkerungsteils, der ein niedriges Einkommen hat und keine Westmark besitzt oder besitzen darf, wurde noch durch die staatliche Intershop-Politik geschürt, die zwei Klassen von DDR-Bürgern, die mit und die ohne Westwährung, entstehen ließ. Hinzu kommen steigende Rüstungslasten im Rahmen des Warschauer Paktes und im Interesse überseeischer Kriegsabenteuer (Angola, Mosambik, Kambodscha, Afghanistan), was auf Kosten eines stagnierenden, teilweise sinkenden Lebensstandards geht.

Kann man Fehlplanung, Materialvergeudung, eine Mangel-und Mißwirtschaft, die den weltweiten Auswirkungen der Teuerungswelle und Rohstoffverknappung nicht gewachsen ist, fast noch als normales Spezifikum der Planökonomie bezeichnen, so offenbaren auch andere, nicht eingeplante Schwierigkeiten wie der Kälteeinbruch des strengen Winters 1978/79 die Untauglichkeit des Systems. Der im vorletzten Jahr des Planjahrfünfts entstandene Schaden von zehn Milliarden Mark kann auch nicht annähernd durch erhöhte Arbeitsleistung wettgemacht werden. Von daher gesehen, ist die „Talfahrt ins vierte Jahrzehnt" (Ilse Spittmann) deutlich vorprogrammiert und die juristische Aggression gegen die aufbegehrenden Bürger, wie sie im neuen Strafgesetz gegeben ist, nur folgerichtig, nachdem die Ideologie zur Verklärung des Mangels nicht mehr ausreicht.

Die Alternativen zum Niedergang des aufgezwungenen Sozialismus sind wenig ermutigend. Was Rudolf Bahro in seinem Buch „Die Alternative. Kritik des real existierenden Sozialismus" (1977) anbietet, ist ohne Aussicht auf Verwirklichung unter den herrschenden Verhältnissen. Da Ausreiseanträge, von denen 200 000 vorliegen sollen, von den Behörden kaum noch angenommen und bearbeitet werden, bleibt nur der „illegale" Weg über die Staatsgrenze oder über das sozialistische Ausland. Spektakuläre Fluchtunternehmungen mit dem Ruderboot über die Ostsee mit Flugzeugen zur Insektenbekämpfung über die grüne Grenze oder mit selbstgebauten Ballons wie am 16. September 1979 erinnern die Weltöffentlichkeit daran, daß die deutsche Frage noch immer ungelöst ist. Selbst wenn sich die Masse der DDR-Bürger in Anpassung an das Unvermeidliche übt, so ist der Wunsch nach Wiedervereinigung, die die politische Zwangslage beenden könnte, nach wie vor virulent; sie wird sogar, wie der DDR-Schriftsteller Karl-Heinz Jakobs schrieb, in den nächsten Jahren noch stärker werden: „Ich glaube immer noch, daß es möglich sein wird, ein von Grund auf erneuertes Land zu schaffen. Sollte das nicht gelingen, sollte sich das als unmöglich herausstellen, so wird im Volke der Gedanke einer wiedervereinigten Nation mehr und mehr an Bedeutung gewinnen. Ein Gedanke, den keiner in der Welt liebt, die Franzosen nicht, die Russen nicht, die Dänen nicht, nicht die Polen, die Tschechen, die Niederländer und sogar die Deutschen nicht."

Oppositionelle Strömungen Während die eigentliche Bürgerrechtsbewegung erst 1975 — von vereinzelten Vorläufern abgesehen — mit der Unterzeichnung und Veröffentlichung der KSZE-Schlußakte von Helsinki, die als Berufungsinstanz dient, einsetzte, so haben ihr doch oppositionelle Strömungen in der Bevölkerung den politischen Nährboden bereitet. Dazu gehören die Unzufriedenheit der Arbeiter, die sich in Streiks und Arbeitsniederlegungen äußert die Aufsässigkeit der Jugend, die staatskritische Haltung eines Teils der Kirchen — deren sichtbarer Ausdruck die Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz am 18. August 1976 in Zeitz war — und die Mißstimmung unter den Intellektuellen.

Während das DDR-Jugendgesetz vom 31. Januar 1974 und Erich Honecker selber die heranwachsende Generation als die „sozialistischen Hausherren von morgen" bezeichnen, zeigt die Skala der Verhaltensweisen Jugendlicher ein ganz anderes Bild. Politische Schulung und Leistungsdruck von der Kinderkrippe bis zum Eintritt in die „Freie Deutsche Jugend" und darüber hinaus sowie in der gleichgeschalteten „Gesellschaft für Sport und Technik" haben zu einer ideologischen Über-sättigung geführt, deren Äquivalent nur in seltenen Fällen in der Suche nach einer echten Alternative, in der Regel aber im Verharren in unreflektierter Ablehnung staatlicher Ansprüche besteht. Niko Hübner beschreibt diese ablehnende Haltung in seinem Manifest: „Der Jugendliche verfügt... bereits über einen Erfahrungsschatz aus der Alltagswelt des SED-Staates. Seine Kritik kommt aus der Praxis, denn er kann mit den fast leeren Begriffen, die er gelernt hat und mit denen er den . realen Sozialismus'begreifen soll, nichts anfangen. Da aber die Bewußtseinsinhalte schon im frühen Kindesalter indoktriniert werden, ist es dem Jugendlichen kaum möglich, zu vernünftigen, durch Erfahrung gebildeten theoretischen Anschauungen zu gelangen. Den Marxismus-Leninismus stößt er als wertlos ab.

Doch wird der Jugendliche dadurch meistens theorielos und verharrt in bloßer Opposition ohne eine greifbare Alternative. Er wird von anderen politischen, philosophischen und kulturellen Strömungen bewußt ferngehalten. So bildet er vom 16. Lebensjahr an einen destruktiven Nihilismus aus, indem er alle Werte ablehnt."

Selbstverständlich gibt es auch den sozialistischen Musterschüler, der den vom Westen eingeschleppten Jeans-und Beat-Kult, wie ihn Ulrich Plenzdorfs Held Edgar Wibeau in dem Theaterstück „Die neuen Leiden des jungen W." (1972) vorlebt, ablehnt und den Sozialismus als einzig humanitäres Gesellschaftssystem verherrlicht. Doch das sind gewiß Ausnahmen wie auch die 1977 beim „Fest der Baumblüte" in Werder aufgetretenen Rocker-Banden als nicht repräsentativ anzusehen sind. Daß gerade die Funktionärskinder (Thomas Brasch, Florian Havemann, Niko Hübner, Gerald Zschorsch) das privilegierte Elternhaus verlassen und für den Prager Reformkommunismus Partei ergreifen, scheint für die Funktionäre in schweren Erziehungsfehlern zu liegen, die ihrer Ansicht nach mit dem neuen Schulfach „Wehrerziehung" behoben werden könnten — abgesehen davon, daß dieses Fach, wie Armee-general Heinz Hoffmann 1978 in der Partei-hochschule „Karl Marx“ erklärte, eine einzigartige Rolle „bei der Erfüllung des militärischen Klassenauftrags" spielt. Und wenn ein Jahr später als Hauptaufgabe der neuen Schulordnung die „Vervollkommnung der kommunistischen Erziehung der Schuljugend" genannt wird, so verrät dieses Erziehungsziel zugleich, daß bisher offenbar immer nur Annäherungswerte erreicht wurden. Gerhart Neuner zum Beispiel, Präsident der „Akademie der Pädagogischen Wissenschaften", meint, die DDR-Jugend sei für „gegnerische Einflüsse empfänglich", was freilich nur eine Umschreibung dafür ist, daß sich die Jugendlichen in ihren Freiheitsrechten beschränkt sehen. Zwei Beispiele fünfzehnjähriger Schüler, die wegen „Republikflucht" verhaftet wurden, zeigen, daß der Staat erbarmungslos zuschlägt, wenn er seine scheinlegal sanktionierte Willkür provoziert sieht: Simone Streuzek, deren Eltern ein Ausreisevisum beantragt hatten, wurde am 28. April 1980 verhaftet; sie befindet sich seitdem mit schweren psychischen Störungen in Untersuchungshaft. Sie hatte versucht, mit dem Zug die slowakisch-österreichische Grenze bei Preßburg zu erreichen. Volker Mehlis aus Thale im Harz erhängte sich am 24. Mai 1980 im Jugendstrafhof Halle, verurteilt zu einem Jahr Gefängnis, weil er mit seinem Freund Thomas Kühne im Interzonenzug aufgegriffen worden war.

Literatur als Informationsträger Zwischen diesen Schicksalen aus staatlichen Zwängen ausbrechender DDR-Jugendlicher und einigen Beispielen neuerer DDR-Literatur — ob gedruckt oder verboten — gibt es zweifellos Berührungspunkte. Gemeint ist hier der Realitätsgehalt einer Literatur, welche die Verfassung einer Gesellschaft reflektiert oder, anders ausgedrückt, die Differenz zwischen „Zeitungswahrheit" und „Literaturwahrheit".

Die beiden Begriffe werden neuerdings von DDR-Bürgern benutzt und besagen, daß das aus der Zeitung bezogene Sozialismus-Bild mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt, während manche Werke der DDR-Literatur so realistisch geschrieben sind, daß sie aus Sicherheitsgründen in keinem DDR-Verlag erscheinen können. Solche Bücher können nur im Westen gedruckt werden und zirkulieren dann im Ringtauschverfahren bei DDR-Lesern. In Tina Österreichs zweitem Buch „Gleichheit, Gleichheit über alles. Alltag zwischen Elbe und Oder" (1978) zum Beispiel sind eine Fülle von DDR-Nachrichten aus der Bezirkshauptstadt Leipzig um 1970 enthalten, die in der „Leipziger Volkszeitung" nicht zu finden waren

Der Anspruch der Leser an diese sozialismus-kritische Literatur ist hoch. So berichtet Reiner Kunze in seinem Buch „Die wunderbaren Jahre" (1976), daß er von einem Forstarbeiter in Thüringen gefragt worden sei, ob er schreibe, wie es in der Zeitung stehe oder wie es im Leben sei Die Gefahr solcher Literatur für die Machthaber liegt darin, daß ein in drei Jahrzehnten unter dem Einsatz aller ideologischen und bürokratischen Mittel errichtetes Informationsmonopol durchbrochen wird, wobei der Autor mit seiner Leserschaft ohne „parteiliche" Zwischeninstanz, welche die politische Realität durch ideologische Einfärbung des Stoffes verfälschen möchte, zu einer augen-zwinkernden Verständigung kommt. Diese neue Aufgabe der Literatur, deren Erfüllung der Leser vom Autor erwartet, wurde schon vor elf Jahren von Manfred Bieler so beschrieben: „Die Literatur ist ein wesentlicher Informationsträger. Sie durchlöchert die Käseglocke über Rennsteig und Rostock." Klaus Poche und Karl-Heinz Jakobs haben, wenn auch mit bedauerndem Unterton, diese Auffassung bestätigt. So bemerkte Poche ein halbes Jahr, bevor sein Roman „Atemnot" (1978) in der Schweiz erschien: „Ich muß von der Wirksamkeit von Literatur bei uns in der DDR ausgehen, von den Erwartungen, die unsere Leser an ihre Schreiber stellen. Das ist etwas anderes als hier. Die Literatur hat bei uns auch Aufgaben zu erfüllen, die sie, streng genommen, unterfordern. Ein Beispiel: In unseren Zeitungen wird vorwiegend ein Leben geschildert, wie es sein soll, nicht, wie es wirklich ist. Die Leute mit ihren Nöten, Sorgen und Problemen finden sich nicht wieder. Diese Diskrepanz zwischen der Realität und den kosmetisch gefärbten Berichten auszufüllen, das erwarten die Leser in irgendeiner Form von der Literatur." Jakobs pflichtete ihm ein Jahr später bei: „Wir haben den beklagenswerten Zustand, daß unsere Presse nicht das schreibt, was den Bürger interessiert. Es gibt keine tief-gehenden Auseinandersetzungen über Prozesse in unserem Land. Und nun kommen die Schriftssteller und versuchen, das, was in der Presse nicht geleistet wird, in ihre Bücher reinzunehmen."

Warum dieses neue Selbstverständnis einiger DDR-Schriftsteller für die Entstehung einer Bürgerrechtsbewegung seit 1975 wichtig ist, wird deutlich, wenn man die Themen dieser systemkritischen Literatur näher betrachtet. Fast alle Forderungen, welche die Bürgerrechtler gegen den Staat erheben, werden auch in der Literatur gestellt, wobei auffällt, daß gesellschaftliche Mißstände von Schriftstellern oft Jahre früher artikuliert wurden als von den betroffenen Bürgern selbst. Insofern schuf die Literatur das politische Klima für eine Berufung auf die vom Staat vorenthaltenen Bürgerrechte. Das ging so weit, daß manche der früher ignorierten Themen wie die Verhältnisse an DDR-Schulen oder die hohe Selbstmordrate unter der Bevölkerung zugleich in der inoffiziellen, also nur im Westen gedruckten, und in der offiziellen DDR-Literatur auftauchten. In Erich Loests Erzählung „Eine Falte, spinnwebfein" (1974) zum Beispiel wird der im Sozialismus eigentlich undenkbare Konkurrenzkampf zweier Leipziger Schülerinnen beschrieben, wobei es um die bessere Mathematiknote geht, die zum Aufstieg in die Oberstufe und schließlich zu Abitur und Studium berechtigt. Günter Görlichs Schulroman „Eine Anzeige in der Zeitung"

(1978) handelt von einem Lehrerselbstmord und Erik Neutschs Novelle „Zwei leere Stühle" (1979) von der Kritik am autoritären Schulsystem überhaupt, das „von der Kinderkrippe bis zur Universität ein reiner Zensurenstreß" sei, womit die sozialistische Pädagogik als gescheitert betrachtet wird.

Noch weiter gegen die herrschende Lehrmeinung von der konfliktfreien DDR-Gesellschaft greift Jurek Becker mit seinem nur im Westen erschienenen Schulroman „Schlaflose Tage" (1978) aus. Sein Lehrer Karl Simrock entwikkelt da eine pädagogische Privattheorie, wonach er der Verbündete seiner Schüler zu sein hat; er scheitert damit, geht zur „Bewährung“

in die Produktion und weigert sich schließlich, unter unwürdigen Bedingungen in die Schule zurückzukehren: „Wie können Sie hoffen, ich entschuldigte mich für ein Unrecht, das man mir zugefügt hat? Wie können Sie von mir erwarten, daß ich Dankbarkeit für eine Demütigung aufbringe? Und vor allem: Wie können Sie sich einen Lehrer wünschen, der auf solche Angebote einzugehen bereit ist?" Dieser Roman wird auch zur Kritik an der herrschenden Strafjustiz, die dem DDR-Bürger die Freiheit vorenthält, sein Land zu verlassen, wann immer er möchte. Ganz anders als Brigitte Reimann und Christa Wolf, die schon 1963 mit ihren Romanen „Die Geschwister" und „Der geteilte Himmel" das Thema „Republikflucht“

aufgriffen und in „parteilichem" Sinne lösten, läßt Becker seinen Helden auf der Seite des Opfers, der Übersetzerin Antonia Kramm, seiner Lebensgefährtin, stehen, die in Ungarn über die Grenze wollte: „Dann ergriff ihn, als er auf den Knien die Wohnung aufwischte, eine erdrückende Wut auf die Umstände, die Antonia von ihm trennten. Er hielt es plötzlich für ihr gutes Recht, dorthin zu gehen, wohin sie gehen wollte, und für ein ebenso gutes Recht zurückzukehren, wenn es ihr an dem anderen Ort nicht mehr gefiel. Sie daran hindern zu wollen, so kam ihm heiß zu Bewußtsein, sei eine unerhörte Anmaßung, und nur der konnte sie auf sich nehmen, der Glück für etwas hielt, wofür der Tag noch nicht gekommen war." Es ist nicht verwunderlich, daß der stellvertretende Kultusminister Klaus Höpcke auf der Pressekonferenz der Leipziger Buchmesse am 12. März 1978 die Veröffentlichung dieses Romans als unzumutbar ablehnte, weil darin der Sozialismus „als etwas Temporäres" vorgeführt werde. In seiner „Unvollendeten Geschichte" (1975), die in der Literaturzeitschrift „Sinn und Form erschien, hat auch Volker Braun die Themen „Republikflucht" und sozialistische Erziehung behandelt. Das vom „Ministerium für Staatssicherheit" überwachte Liebespaar Karin und Frank aus dem Bezirk Magdeburg, das die Republik keineswegs verlassen will, aber dennoch verdächtigt wird, gerät in eine derart ausweglose Situation, daß Frank in einen doppelten Selbstmordversuch getrieben wird und die Funktionärstochter Karin ihre politische Erziehung abwirft wie ein überflüssig gewordenes Kleidungsstück: „Sie spürte eine ungewohnte, exotische Versuchung, sich vom gesellschaftlichen Leben abzukehren, ihre Ideale zu vergessen, ihre Aufgaben weg-zuwerfen. Und in die bekannte Gleichgültigkeit zu fallen, die politische Abstinenz, die sie sonst verachtet hatte."

Wenn schon dieses heute zur verbotenen Literatur zählende Buch bei der DDR-Jugend Aufsehen erregte, obwohl darin eine sozialistische Lösung des Konflikts mit dem Staat angedeutet ist, so waren die kurzen Prosastücke Reiner Kunzes in „Die wunderbaren Jahre” (1976) mit ihren unterdrückten Nachrichten aus Schule und „Nationaler Volksarmee" noch geeigneter, ein von der Staatsdoktrin „Optimismus und Lebensfreude" abweichendes Wirklichkeitsbild zu vermitteln: „In E., sagte sie, habe sich ein Schüler erhängt. Am nächsten Morgen hätten Jungen verschiedener Klassen schwarze Armbinden getragen, aber die Schulleitung habe durchblicken lassen, daß die Armbinden als Ausdruck oppositioneller Haltung gewertet würden. Der Schüler sei Mitglied der Jungen Gemeinde gewesen und habe einen Zettel mit durchgekreuztem Totenkopf und der Aufschrift . Jesus Christushinterlas-sen. Als erste hätten die Abiturienten die Armbinden abgelegt, weil sie kurz vor den Prüfungen stehen. Einigen Schülern, die nicht in die Klasse des Toten gehen, sei es vom Lehrer erlaubt worden, an der Beerdigung teilzunehmen, aber auf Anordnung des Direktors habe der Lehrer die Erlaubnis rückgängig machen müssen. Dem Pfarrer sei es nicht gelungen, den Direktor umzustimmen. Die Parteimitglieder habe man angewiesen, Gespräche über den Toten zu unterbinden. Am Tag der Beerdigung sei für die Zeit des Unterrichts ein Schülerwachdienst eingeführt worden, und die Schultür sei abgeschlossen gewesen."

Mit dieser sozialismuskritischen Literatur, die dem Leser eine Fülle bekannter, aber bisher literarisch kaum fixierter Einzelheiten aus dem DDR-Alltag vorführt, wurde ein neuer Begriff von Wirklichkeit geschaffen, der die engen Grenzen eines „sozialistischen Realismus"

sprengt. Er läßt die offizielle DDR-Literatur, auch wenn sie kritische Akzente setzt, noch immer als politisches Erziehungsinstrument der Staatspartei erscheinen. Aus der Sicht derer, die in der kritischen Literatur eine Diffamierung der auf unbedingte Machterhaltung gerichteten Politik sehen, waren die Ausbürgerung von Intellektuellen 1976/78, die Aberkennung der Staatsbürgerschaft, Schreibverbote und Zensurverschärfung, Kriminalisierung von Kritik überhaupt nur ein konsequenter Akt.

Wenn der Schriftsteller die Zustände beschreibt, wie er sie sieht, dann kann er — so Stefan Heym 1977 — auch dem Machtzentrum Politbüro gefährlich werden: „In einer sozialistischen Gesellschaft nimmt der Schriftsteller eine bedeutendere Stellung ein als im Westen. Im Kapitalismus kann man sich die Zunge aus dem Hals schreien, aber es kommt nicht viel dabei heraus. Die in der sozialistischen Welt vorherrschenden Restriktionen verleihen dem Wort des Schriftstellers mehr Gewicht, insbesondere wenn er etwas sagt, was vorher noch nicht ausgesprochen wurde oder was im Gegensatz zur offiziellen Doktrin steht."

Theoretische Grundlagen Die innenpolitische Situation, bestimmt durch die mangelhafte Versorgung und die ihr folgende Disziplinierung der Bevölkerung, und ihre Widerspiegelung in der Literatur waren die Ausgangslage für die Bürgerrechtsbewegung, nachdem die Flucht in den Westen nicht mehr möglich war. Eine Berufung auf die DDR-Verfassung vom 7. Oktober 1974, deren Abschnitt I „Bürger und Gemeinschaften in der sozialistischen Gesellschaft" behandelt, erwies sich als wenig zweckdienlich, da schon in Abschnitt II „Grundlagen der sozialistischen Gesellschafts-und Staatsordnung" die angeblich herrschenden Machtverhältnisse definiert waren: „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei... Alle politische Macht in der Deutschen Demokratischen Republik wird von den Werktätigen in Stadt und Land ausgeübt. Der Mensch steht im Mittelpunkt aller Bemühungen der sozialistischen Gesellschaft und ihres Staates." (Artikel 1 und 2).

Eine Behauptung von Bürgerrechten war demnach schon durch den ideologischen Rahmen, auf den sie innerhalb des Kontextes bezogen waren, relativiert. Der Satz „Alle Bürger sind vor dem Gesetz gleich“ (Artikel 20) wird schon durch Artikel 1 widerlegt, was auch für die Meinungsfreiheit (Artikel 27) gilt, die nur „den Grundsätzen dieser Verfassung gemäß" ausgeübt werden kann. Artikel 32 wiederum sieht überhaupt nicht vor, daß der Bürger das Recht habe, sein Land zu verlassen: „Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat im Rahmen der Gesetze das Recht auf Freizügigkeit innerhalb des Staatsgebietes der Deutschen Demokratischen Republik."

Die Situation änderte sich, als die DDR 1972 den Vereinten Nationen beitrat und damit die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 akzeptierte. Besonders die Artikel 13 (Freie Wahl des Wohnsitzes), (Freiheit der Weltanschauung), 19 (Meinungsfreiheit) widersprechen der DDR-Verfassung in so eklatanter Weise, daß die DDR-Führung es nicht wagt, die UN-Dokumente der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Unterzeichnung der KSZE-Schlußakte vom 1. August 1975 jedoch, die in einigen DDR-Publikationen veröffentlicht wurde, brachte den Bürgerrechtlern einen entscheidenden Fortschritt. Zum ersten Mal nämlich wurde ihnen ein durch die Unterschrift Erich Honeckers beglaubigter Text in die Hand gegeben, der auf das Ost-West-Verhältnis abgestimmt war. Der Abschnitt „Zusammenarbeit in humanitären und anderen Bereichen" mit den Kapiteln „Menschliche Kontakte" und „Information" brachte eine Reihe von Zugeständnissen, die zwar keine Gesetzeskraft erlangten, doch ausdrücklich als vor der Weltöffentlichkeit sanktionierte Absichtserklärung galten. Da wurde, was keinem aufmerksamen DDR-Leser entgehen konnte, von „Gesuchen auf zeitweilige Besuchsreisen" ins westliche Ausland gesprochen, die „wohlwollend" und „innerhalb vernünftiger Fristen" zu prüfen seien, wobei der Antragsteller in keiner Weise diskriminiert („zu keiner Veränderung der Rechte und Pflichten ... führen wird") werden sollte; eine Familienzusammenführung sollte „in positivem und humanitärem Geist" möglich sein, weiterhin auch Eheschließungen zwischen Bürgern beider deutscher Staaten „auf der Grundlage humanitärer Erwägungen"; wo keine verwandtschaftlichen Bindungen bestanden, sollten Reiseverkehr „aus persönlichen oder beruflichen Gründen" und Tourismus „auf individueller oder kollektiver Grundlage" entwickelt werden, desgleichen Jugend-begegnungen, Kontakte auf sportlicher und sonstwie nichtstaatlicher Ebene.

Das Kapitel „Information" sieht nicht nur die „Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Journalisten" vor, sondern auch die schrittweise Einführung der Informationsfreiheit, sofern sie noch nicht bestand, durch das Zugeständnis, die Einfuhr von Zeitungen und Zeitschriften aus dem nichtsozialistischen Ausland zu genehmigen und sie in den Lesesälen öffentlich zugänglich zu machen.

Die DDR-Behörden haben sich gegen die politische „Zumutung" dieser Vereinbarungen, deren strikte Erfüllung zur Selbstauflösung des SED-Staats hätte führen müssen, nach anfänglicher Irritation mit allen Mitteln gewehrt.

Nachdem zunächst eine Unzahl von DDR-Bürgern, die in Grenznähe wohnten und vom Kleinen Grenzverkehr zwischen Lübeck und Hof betroffen waren, zu „Geheimnisträgern“ erklärt und damit vom Verwandtenbesuch ausgeschlossen wurden, sind durch die zweimalige Novellierung des Strafgesetzbuchs vom 7. April 1977 und vom 28. Juni 1979 juristische Verhältnisse geschaffen worden, welche die Berufung auf die Vereinbarungen von Helsinki unter die Androhung hoher Gefängnisstrafen stellen. Als die neuen Strafgesetze am 1. August 1979 wirksam wurden, sollte damit auch das Ende einer immer unbequemer werdenden Bürgerrechtsbewegung angezeigt werden. Ideologisch suchte man sich zusätzlich dadurch abzusichern, daß in juristischen Kommentaren der „Nachweis" geführt wurde, daß sich die „Menschenrechtsdiskussion" keineswegs auf DDR-Verhältnisse beziehen könne 18). Der ungeliebte Staat Die freie Wahl des Wohnortes, auch außerhalb der Staatsgrenzen, die nach der DDR-Verfassung nicht vorgesehen ist, führte schon 1974 zu mehreren Demonstrationen in Ost-Berlin und in der DDR-Provinz. Im folgenden seien an einem Beispiel die Widerstände gegenüber einem Antrag auf legale Ausreise aufgezeigt. Selbst dieses Beispiel dürfte aber noch nicht typisch sein für die vom System üblicherweise veranlaßten Schikanen gegenüber „normalen" DDR-Bürgern, falls diese es wagen sollten, ein selbstverständliches Menschen-, und Bürger-recht zu beanspruchen. Die Bemühungen des Medinzinprofessors Horst Gundermann aus Neuruppin, heute Heidelberg, um eine legale Ausreise, erstreckten sich vom 23. Juni 1975 bis zum 11. Mai 1976. In seinem Buch „Entlassung aus der Staatsbürgerschaft" (1978) hat Gundermann die einzelnen Stationen seines von den DDR-Behörden behinderten Weges in den Westen aufgezeichnet.

Im ersten Antrag auf Ausreise, gerichtet am 23. Juni 1975 an den Rat des Kreises und fußend auf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, war als Motiv die Abneigung gegen die Staatsdoktrin des Marxismus-Leninismus angegeben: „Unsere Gründe sind religiös und weltanschaulich-politisch. Wir betrachten dies als eine ernste, auch für unser persönliches Leben folgenschwere Entscheidung. Es ist darum notwendig, ausführlich darauf einzugehen. Wir halten uns dabei frei von polemischen oder apologetischen Gedanken und sprechen freimütig unsere eigene Überzeugung aus, die sich nicht mit der anderer Gläubiger decken muß. Wir erklären ausdrücklich, daß uns keine amtskirchliche Bevormundung oder Beeinflussung gedrängt hat. Als engagierte und praktizierende Christen sind wir nach langjähriger geistiger Auseinandersetzung und sorgfältiger Prüfung unserer Motive in Überein-stimmung mit den für uns verbindlichen Worten der Heiligen Schrift: Gott stets mehr zu gehorchen als den Menschen — zu der Gewißheit gelangt, daß wir nicht länger aufrichtigen Herzens und wahrhaftigen Gewissens in einem Gemeinwesen leben können, das an seine Bürger — besonders auch an die heranwachsenden — einen weltanschaulich-politischen, eindeutig atheistisch geprägten Totalitätsanspruch stellt... Wir bekennen dagegen, daß unsere Existenz und unser Handeln total von Gott vereinnahmt sind. Wir gestehen ein, daß wir die Botschaft des Herrn heute oft verfälscht und verraten haben. Das lastet als eine ständige Schuld auf uns. Aber es enthebt uns nicht der Gehormsamspflicht, der Stimme unseres Gewissens zur gebotenen Stunde Folge zu leisten."

Nach einer Aussprache am 8. Juli 1975 beim Rat des Kreises, mit der versucht wurde, die Rücknahme des Gesuchs zu erreichen, wurde auf den Dienstweg verwiesen. Am 22. September 1975 wurde, als nichts geschah, der zweite Ausreiseantrag gestellt, der am 1. Oktober vom Ministerrat in Ost-Berlin bestätigt wurde.

Eine weitere Unterredung in der Abteilung für Inneres beim Rat des Kreises am 4. November 1975 sollte den Antragsteller moralisch zermürben, wie dieser am gleichen Tag in einem Brief festhielt: „Ich muß gestehen, daß ich mit einem kleinen Funken Hoffnung der . Klärung Ihrer Angelegenheiten', also jener schriftlichen Aufforderung vom Rat des Kreises Neuruppin, entgegengesehen habe. Es wurde aber nichts geklärt. Die alte Brühe wurde aufgewärmt und schmeckte abgestanden. Auf Argumente wurde nicht eingegangen, immer die gleichen Leitartikel, immer dieselben Phrasen, und auch immer wieder die Suggestivunterstellung: Ich müsse mich mit meiner Familie in der DDR wohl fühlen! Man spricht wie gegen eine Gummiwand, die sich aber nach dem ersten sanften Anprall als eine sehr feste, undurchdringbare Betonmauer erweist! So bleibt ein Gefühl der Hilflosigkeit.

, Und wenn ich mit Engelszungen redete', die Funktionäre bleiben unerschütterlich. Wie können nach einem solchen . Gespräch'Verzweiflung und Ausweglosigkeit ausbleiben! Die menschliche Kommunikation ist abgebrochen, übrig bleibt ein Kontakt mit ideologischen Robotern, die automatenhaft versichern, daß sie die humanste aller bisherigen Gesellschaftsformationen vertreten." Als der dritte Antrag vom 10. November 1975 wiederum unbeantwortet blieb, wandte sich Gundermann am 1. Dezember an die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen und schickte am 23. Dezember seinen vierten Antrag an den Ministerrat in Ost-Berlin.

Am 7. Januar 1976 wurde der Antragsteller als Chefarzt der Hals-Nasen-Ohren-Klinik des Bezirkskrankenhauses abgelöst und der Poliklinik zugeteilt. Am 17. Februar 1976 wurde der fünfte Ausreiseantrag gestellt: „Es bleibt uns unverständlich, warum wir nahezu ein Dreivierteljahr auf die Ausreise warten müssen ... Angesichts des anhaltenden Schweigens appellieren wir an die Verantwortlichen, die selbst dekretierten moralischen und rechtlichen Instanzen nicht zu übergehen. Unsere Haltung ist unverändert. Wir werden für unser gerechtfertigtes Anliegen — das im Kern simpel und selbstverständlich ist — weiterhin mit der vollen Intensität unseres Glaubens und unserer Überzeugung einstehen, mit unseren Möglichkeiten und ungeachtet persönlicher Konsequenzen."

Am 19. Februar 1976 schließlich fand eine weitere Unterredung in der Abteilung für Inneres beim Rat des Kreises statt, wo dem Antragsteller ein „doppelseitig bedruckter Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft" ausgehändigt wurde. Der Zustand innerer Spannung löste sich. Am 11. April 1976 schrieb Gunderman an einen Freund: „Ich beginne langsam, aus einer Art von Betäubung zu erwachen. Die Gedanken, die sich in der letzten Zeit oft getrübt haben, ordnen sich wieder klarer, wenn ich auch noch Mühe habe, meine psychische Müdigkeit abzustreifen. Ich baue zuversichtlich auf die belebende Kraft der neuen Eindrücke und frischen Winde."

Die Ausreise erfolgte dann am 11. Mai 1976: „Als wir abfuhren — sechseinhalb Jahre hatten wir dort gewohnt —, blickten wir nicht zurück. Vor der Stadtausfahrt hielten wir noch einmal. Ein letzter Apfelsaft-Drink unter Freunden. Es fielen nur wenige Worte. Wir sahen uns an und reichten uns die Hand. Die Stimmung war nicht aufgepeitscht, aber auch nicht niedergedrückt. Man sprach es nicht aus, aber es war ein Abschied — für immer?... Das waren einmal unsere Freunde, von denen wir ungewissen Abschied nehmen mußten. Jeder von ihnen war ein langes oder kurzes Stück mit uns gemeinsam gegangen. Keiner unter ihnen, der unsere Beweggründe nicht verstanden hätte, wenn auch die Bereitschaft, einen gleichen Weg zu gehen, aus unterschiedlichen Motiven nicht bei allen vorhanden war. Bei keinem aber fehlte die Zustimmung und die Einsicht in die Konsequenz unserer Haltung. ... Schwer fiel es, sich vorzustellen, daß man die vielen, oft nur flüchtigen Bekanntschaften und zufälligen Begegnungen nicht wiedersehen sollte. Die Verkäuferin etwa, die uns bei Nennung unseres Namens mit aufschlußreicher Zuvorkommenheit behandelte. Der junge Mann von der volkseigenen Dienstleistung, der unseren Auftrag mit ungewohnter Promptheit ausführte. Der Handwerker, der uns sagte: Was Sie wollen, das ist doch die selbstverständlichste Sache von der Welt! Der junge, bisher unbeachtete Kollege, der uns ohne jede Scheu coram publico seine Hochachtung aussprach. Die Krankenschwester, die uns ihr Leid klagte, daß ihr Mann nicht die Courage habe, einen ähnlichen Schritt zu riskieren. Der Lehrer, der unter der Schizophrenie staatlich geforderter Erziehungspolitik und christlich geprägter Weltanschauung litt und resignierend meinte: Wenn ich meine Gesinnung offenbaren würde, in welchem Beruf könnte ich dann wohl arbeiten, ich habe ja nur gelernt, Pädagoge zu sein. Der Patient, der kam, nicht um ärztlichen Rat einzuholen, sondern mir — wie er es verstanden wissen wollte — einen Auftrag zu geben: Herr Doktor, wenn Sie drüben sind, dann verdrücken Sie sich aber nicht in die schweigende Mehrheit, dann berichten Sie von uns. Dann sagen Sie, daß wir nicht die Hoffnung auf ein geeintes und freies Deutschland aufgegeben haben."

Die Ausreisegenehmigung für Horst Gundermann und seine Familie war, gemessen an den Schicksalen unbekannter DDR-Bürger, die in die Bundesrepublik Deutschland übersiedeln wollen, ein Sonderfall. Ein Arzt, noch dazu ein Professor und Direktor einer Klinik, genießt in seiner Stadt und in der näheren Umgebung eine gewisse Prominenz, die ihn, wie die Gespräche mit den Funktionären zeigen, schützt, auch wenn sie die Erfüllung seines Wunsches nicht beschleunigt. Es erschien nicht opportun, einen weithin bekannten und offensichtlich auch beliebten Mann — auch wenn man dadurch andere Bürger von ähnlichen Unternehmungen noch mehr hätte abschrecken können — verhaften und für Jahre im Zuchthaus verschwinden zu lassen. Die Ausreise wurde außerdem begünstigt durch die Wahl des Zeitpunkts, zu dem der erste Antrag gestellt wurde: die Vorbereitungen für das Treffen in Helsinki, das den Bürgern aller beteiligten Staaten freie Ausreise zusicherte, liefen bereits. Die Reaktion des Staates und seiner Funktionäre in den ersten Jahren nach Helsinki verriet Unsicherheit, weil von den Ausreisewilligen überwiegend nicht gegen das System argumentiert, sondern darauf gedrungen wurde, die eingegangenen Verpflichtungen auch einzuhalten. So mußten, als die Zahl der Ausrei-ser anstieg, andere Mittel und Wege gefunden werden, innenpolitische Vorgänge unter Kontrolle zu halten, die Abgrenzungspolitik gegen den Westen voranzutreiben und dennoch die antidemokratische „Diktatur des Proletariats" für die Weltöffentlichkeit als sozialistischen Rechtsstaat erscheinen zu lassen.

Zweckdienlich erschien hier einmal die juristische Umdeutung der Beschlüsse von Helsinki als für den SED-Staat nicht zutreffend und auf sein Gesellschaftssystem nicht anwendbar, zum anderen die vorsätzliche Schikanierung — man könnte auch von „individualisiertem Terror" sprechen — ausreisewilliger Bürger, getarnt als „sozialistische Gesetzlichkeit", unterhalb der Schwelle strafrechtlicher Verfolgung. Das fand und findet seinen Ausdruck in beruflicher Benachteiligung wie Degradierung und Lohnminderung, Verweigerung von Prämien, Ferienplätzen, Qualifizierung, Wohnungszuteilung oder Ausweisentzug. Kinder und Verwandte der Antragsteller wurden durch eine Art Sippenhaft betroffen, die in Verboten, die Stadt oder den Landkreis zu verlassen, Urlaub im sozialistischen Ausland zu machen, weiterführende Schulen oder die Universität zu besuchen, bestehen. Zusätzlich wird die Situation mancher Bürger noch dadurch erschwert, daß sie sich regelmäßig bei der „Volkspolizei" melden müssen oder ständigen Verhören unterworfen sind. Eine Verhaftung und Verurteilung (womit nicht mehr wie früher die Abschiebung in den Westen nach mehreren Jahren Strafverbüßung verbunden ist) wurde dann eingeleitet, wenn durch Transparente, Briefe an westdeutsche Zeitungen und Rundfunksender, '‘Telefongespräche ins „kapitalistische Ausland" die Flucht in die (westliche) Öffentlichkeit angetreten war.

Eine Durchsicht der im Westen bekanntgewordenen Fälle politischer Verfolgung belegt, daß die überwiegende Mehrheit der DDR-Bürger, die nach Helsinki ihre Menschenrechte einforderten, die Familienzusammenführung als Übersiedlungsgrund angab und dann erst, wo Verwandte im Westen fehlten, die politisch unerträglichen Verhältnisse im Sozialismus. Das bedeutet, da andere Menschenrechte wie Meinungs-und Versammlungsfreiheit nicht angesprochen wurden, daß die innenpolitische Situation den Antragstellern als hoffnungslos und unabänderlich erscheinen muß.

öffentlicher Protest gegen die innenpolitische Entwicklung wurde in den letzten Jahren nur in einem Punkt angemeldet: gegen die Einführung des Schulfachs „Wehrerziehung", wogegen 1978 in Berlin das Ehepaar Renate und Harry Pohl und in Dresden Uwe Reimann ihre Stimme erhoben. Mag die zunehmende Militarisierung der DDR-Gesellschaft für viele Bürger auch nicht mehr akzeptabel sein, weshalb besonders Mutige dagegen protestieren, so ist sie doch bei den Ausreisewilligen nur ein weiteres Indiz für die innere Verfassung des Staates, den sie unbedingt verlassen wollen.

Am leichtesten gelingt dieses Vorhaben noch „Kulturschaffenden", die auf Auslandsreisen geschickt werden, um für den Sozialismus zu werben.

Prominente Fälle Wer unter den zahlreichen Bürgerrechtlern im SED-Staat keine Möglichkeit hat, seinen Fall im Westen bekannt zu machen durch Veröffentlichungen in Fernsehen, Rundfunk und Zeitungen, der gerät sehr leicht in Gefahr, vom Staatssicherheitsdienst verhaftet und in irgendein Zuchthaus zwischen Bützow-Dreibergen in Mecklenburg und Hoheneck in Sachsen verschleppt zu werden. So ist die Dunkel-ziffer der unbekannten DDR-Bürger, die unter Berufung auf die KSZE-Vereinbarungen um die Ausreise kämpfen, recht hoch; die Zahl von 200 000 Petenten beruht auf Schätzungen. Andererseits kann, was im Verhaftungsfall als strafverschärfend gilt, ein gewisser Grad von Prominenz im Westen den Antragsteller vor ungerechtfertigt harter Verfolgung schützen. Die Riesaer Bürgerrechtsbewegung zum Beispiel, die am 10. Juli 1976 mit der an die Vereinten Nationen gerichteten „Petition zur vollen Erlangung der Menschenrechte" einsetzte und am 31. August 1976 mit der Verhaftung des Arztes Dr. Karl-Heinz Nitschke und seiner engeren Mitarbeiter in den Wochen danach zerschlagen wurde, ist der in West-deutschland bekannteste Fall, daß zunächst 33, dann 79 Einwohner einer einzigen Stadt gegen die sozialistische Menschenrechtspraxis per Unterschrift protestierten. Nachdem Nitschke, der mehrere Fluchtversuche und zwei Verhaftungen hinter sich hatte, festgenommen worden war, ging man gegen die anderen Wortführer der Gruppe wie Uta und Oskar Porsche, Jörn Riedesel und Gerno dann 79 Einwohner einer einzigen Stadt gegen die sozialistische Menschenrechtspraxis per Unterschrift protestierten. Nachdem Nitschke, der mehrere Fluchtversuche und zwei Verhaftungen hinter sich hatte, festgenommen worden war, ging man gegen die anderen Wortführer der Gruppe wie Uta und Oskar Porsche, Jörn Riedesel und Gernot Zimmermann vor. Wolfram Wenzel, der die westdeutsche Öffentlichkeit von Nitschkes Verhaftung unterrichtet hatte, wurde am 8. September 1976 verhaftet und zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt 26). Nitschke und die anderen Initiatoren der Riesaer Petition wurden 1977/78 in den Westen entlassen.

Rudolf Kulike aus Ost-Berlin und Sigrid Arlt aus Dresden versuchten, ohne den Schutz einer gleichgesinnten Gruppe für sich und ihre Familien die Ausreise in den Westen zu erreichen. Der Maschinenbau-Ingenieur und Kraftfahrzeugmeister Kulike 27) wurde am 9. August 1976 bei einem Fluchtversuch in Rumänien gestellt und ausgeliefert. Während der zweijährigen Gefängnishaft gab er am 10. November 1977 eine achtseitige „Stellungnahme zu meiner Tat" ab, worin er „Haß und abgrundtiefe Verachtung" 28) gegen den Staat äußerte: „Denn unfähig, Politik im Interesse des Volkes zu führen, weiß sich dieser Staat keinen anderen Rat als durch Mauern, Minen und Stacheldraht seine Bevölkerung zu den Segnungen des Sozialismus zu zwingen... Nichts wird mich zurückschrecken lassen, diese Abneigung offen zu äußern. Sollten mir jemals Zweifel an der Richtigkeit meiner politischen Einstellung gekommen sein, so dürfen Sie als Erfolg für sich verbuchen, mich davon restlos geheilt zu haben... Ich bin bereit, für meine Überzeugung wiederholt ins Gefängnis zu gehen, aber nicht mehr bereit, meine Arbeitskraft diesem Staat zur Verfügung zu stellen...

Seien Sie versichert, daß ich die zwei Jahre Haft, die Zeit meiner tiefsten Erniedrigung und Schmach, diesem Staat nie verzeihen und auch nie vergessen werde. Mein Ziel ist und bleibt, in einem Land mit freiheitlicher und demokratischer Ordnung mein weiteres Leben zu verbringen." 29)

Am 7. April 1978, unmittelbar nach der Haft-entlassung, schrieb Kulike einen „Offenen Brief" an Erich Honecker, der freilich nie beantwortet wurde: „Haben Sie es wirklich nötig, Bürger, die mit Ihrer Politik nicht konform gehen, so zu behandeln? Sie so zu entmündigen? Glauben Sie, mit so einer kleinlichen Verhaltensweise diese Bürger zu Ihrer Politik zwingen zu können?" 30) Er stellte am 14. August seinen dritten Ausreiseantrag; am 1. September 1978 schaltete er zusätzlich einen in Westdeutschland lebenden Freund ein: „Ich möchte bloß wissen, warum ich es aus Cottbus nicht geschafft habe. Das zerrt an meinen Nerven und an meiner Gesundheit. Ständig habe ich Herzschmerzen und grüble viel... Ich bin so fertig, daß ich sogar meinen Urlaub abbrechen mußte, weil er zu anstrengend war." 31) Nach mehreren ergebnislosen Briefen an DDR-Behörden kündigte er am 20. Oktober 1978 eine Demonstration in Ost-Berlin an: „Ich wende mich extra an den Stadtbezirk Mitte, da ich der Meinung bin, gerade Ihr Stadtbezirk ist prädestiniert auf Grund des hohen Touristen-stroms für solch eine Demonstration. Ich dachte an den Alexanderplatz, Weltuhr, Rathausstraße, Staatsratsgebäude oder Brandenburger Tor. Die Entscheidung überlasse ich Ihnen. Diese Stätten werden bevorzugt aufgesucht und ergeben dadurch für mich eine hohe Publikumswirksamkeit. Als Anlage sende ich Ihnen einige Texte zur Auswahl. Teilen Sie mir bitte mit, welche Sie mir genehmigen. Die Nichtbeantwortung meines Antrags fasse ich als wohlwollende Zustimmung Ihrerseits auf und würde dann so gegen Mitte November oder zur Eröffnung des Weihnachtsmarktes diese Demonstration durchführen." 32) Wenige Tage später wurde Rolf Kulike verhaftet und 1979 zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Die Eheleute Hans und Sigrid Arlt, die heute in Hamburg leben, wurden am 17. August 1978 ausgebürgert, nachdem der langwierige Kampf um die Ausreise am 18. Februar 1976 begonnen hatte. In ihrem Tagebuch „Die Ausreise" 33) hat Sigrid Arlt über die zweieinhalb Jahre dauernden Bemühungen berichtet: „Der Betrieb reagiert so, wie wir uns das nie vorgestellt hätten. Hans verlor schlagartig alle seine Posten und Funktionen und wird angegiftet. Er wollte sich das nicht gefallenlassen, laut Konvention darf ihm aus seiner politischen Haltung und Meinung keinerlei finanzieller Schaden entstehen. Die ersten Karrieristen ziehen sich von ihm zurück. Man beginnt, Hans zu meiden aus Furcht, es könne der eigenen Haut schaden. Nun wollte Hans den Umsetzungsvertrag nicht unterschreiben, bevor nicht die Konfliktkommission des Betriebes entschieden hätte. Ein mit diesen Rechtsdingen vertrauter Kollege warnte ihn jedoch. Er sagte: Hans, wenn du jetzt nicht unterschreibst, ist der Betrieb berechtigt, dich nach zwölf Tagen zu entlassen. Unterschreibe! Wenn dir Recht wird, schadet dir diese Unterschrift nicht.'Hans unterschrieb glücklicherweise und wurde nicht arbeitslos, denn die Konfliktkommission entschied zugunsten des Betriebes, anders war es nicht zu erwarten gewesen. Ein Leiter müsse, so hieß es, politisch-ideologisch einwandfrei sein, da er ja auch junge Menschen anzuleiten hätte, und das wäre bei einem Antragsteller nicht gewährleistet. Auf die Umstufung waren wir vorbereitet gewesen, nur auf die finanzielle Rückstufung nicht. Also ging Hans noch zum Arbeitsgericht, aber auch dort bekam er kein Recht: In Sachen Ausreise wäre das Gericht nicht entscheidungsberechtigt, das läge auf einer anderen Ebene. Natürlich verlor Hans wiederum seine Funktion als nebenberuflicher Dozent in der Betriebsakademie und damit auch die Nebeneinnahmen. Das macht mit der nun natürlich auch ausgebliebenen Lohnerhöhung monatlich 500 Mark aus, so daß wir mit 880 Mark auskommen müssen. Das ist nicht viel. Auch wenn wir nur 57 Mark Miete zahlen, so kommen doch ca. 70 Mark für Kohle, 35 Mark für Gas und Elektroenergie dazu. Dann b Mark für Gas und Elektroenergie dazu. Dann braucht Hans monatlich ca. 120 Mark Benzingeld, da seine Arbeitsstelle sehr ungünstig zu erreichen ist. Mit dem Rest müssen wir versuchen, über die Runden zu kommen." 34)

Dieser Bericht gibt einen Einblick in die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die in voller Absicht einem bürgerlichen Durchschnittsehepaar in Sachsen bereitet werden, um die Ausreise zu verhindern, obwohl alle diese Praktiken gegen Geist und Buchstaben der Vereinbarungen von Helsinki verstoßen.

In eine politisch-ideologisch ganz andere Richtung weist der Fall des Leipziger Lektors Rolf Mainz und seiner drei Brüder, die heute alle im Westen leben. Von den vier Söhnen des Altkommunisten Albert Mainz, der den SED-Staat schon 1960 verließ, obwohl er im antifaschistischen Widerstandskampf gestanden hatte, stellten zwei 1975 Ausreiseanträge, die vom Bruder Rolf unterstützt wurden. Daraufhin wurde er von seinem Verlag entlassen und erhielt für die ganze Republik Berufsverbot, was ihn dazu brachte, seinen Fall in einer westdeutschen Wochenzeitung zu publizieren: „Und Helsinki? Buchstabe und Geist der legendären Schlußakte? Lese ich beispielsweise die auch von Erich Honecker feierlich signierte Botschaft, daß , die Einreichung eines Gesuches betreffend Familienzusammenführung zu keiner Veränderung der Rechte und Pflichten des Gesuchsstellers oder seiner Familienmitglieder führen wird', kann ich als DDR-Bürger nur lachen. Hier ist es selbstverständlich an der Tagesordnung, daß nicht nur der Gesuchssteller auf rabiate Weise belehrt wird, was Helsinki wert ist... Sogar jene, die sich lediglich bittstellend für die Familienzusammenführung des Nachbarn, des Kollegen, des Freundes, der Verwandten mit ihren Angehörigen in der Bundesrepublik einsetzen, trifft die Schrotladung der Obrigkeit. Sie erhalten, wenn sie nicht eben Ärzte sind oder Arbeiter, Berufsverbot wie die Antragsteller selbst... Wer hilft den Tausenden und Aber-tausenden Deutschen östlich der Elbe in ihrem Kampf um Ausreiseerlaubnis oder Rehabilitation oder Aufhebung von Berufsverbot? Es können sich doch hier die Leute familien-weise das Leben nehmen, weil sie wirklich verzweifelt und am Ende sind — kaum einer erfährt es. Und so es sich trotz sorgfältigster Sicherheitsvorkehrung trotzdem herum-spricht, werden die Opfer als Kriminelle oder Geisteskranke oder beides verhöhnt. Daß man Menschen töten kann, ohne sie physisch zu liquidieren, ist freilich keine Erfindung der real-sozialistischen Autokratie, aber die hat die Lizenz unerhört perfekt weiterentwickelt. Der Krieg währt nun schon 30 Jahre. Sein erfahrenster General heißt Totschweigen. Berufs-verbote gibt es hier nicht, sie werden weder offiziell ausgesprochen noch öffentlich diskutiert. Was es öffentlich nicht gibt, existiert nicht. Die DDR ist frei von Berufsverboten. So ist es nur legitim, daß die Berufsverbotenen frei sein wollen von der DDR." 35) Verhaftet und am 12. April 1977 zu viereinhalb Jahren verurteilt, ist Rolf Mainz ins Zuchthaus Brandenburg-Görden verbracht worden, wo er 1978 wegen „staatsfeindlicher Hetze" zu weiteren fünf Jahren verurteilt wurde. Veröffentlichungen in westdeutschen Zeitungen und vermutlich auch innerdeutsche Verhandlungen führten dazu, daß er am 20. Dezember 1978 in die Bundesrepublik Deutschland abgeschoben wurde. Seine Tochter Simone Lang-rock ist am 22. April 1980 in Leipzig verhaftet worden

Diese Fälle zeigen, daß die juristische, politische und ideologische Herrschaftsabsicherung oberstes Ziel des Ministeriums für Staatssicherheit bei der gnadenlosen Verfolgung Andersdenkender ist. So schützen weder proletarische Abstammung noch Verdienste beim „Aufbau des Sozialismus" noch Parteimitgliedschaft vor Berufsverbot, Verhaftung und Ausbürgerung. Kommunistische Dissidenten wie Wolf Biermann und Robert Havemann werden in gleicher Weise verfolgt wie die marxistischen Häretiker und Erneuerer der Staatsideologie Rudolf Bahro und Helmut Warmbier, die 1977 verhaftet wurden. Selbst eine auf wissenschaftlicher Basis vorgetragene Kritik an Staat und Gesellschaft gilt als „staatsfeindlicher Akt" wie im Falle des Weimarer Hochschullehrers Reiner Hoefer, der am 22. September 1978 an Erich Honecker schrieb und am 25. Mai 1979 verhaftet wurde. Auch Hellmuth Nitschke war Hochschullehrer, Germanistikprofessor an der Ost-Berliner Humboldt-Universität, der wegen zweier Fluchtversuche und Kritik an der Wissenschaftspolitik berufliche Degradierung und Gehaltskürzung hinnehmen mußte, weshalb er 1976 bei Erich Honecker protestierte. Als, wie üblich, keine Antwort eintraf, trat er aus der SED aus und stellte einen Ausreiseantrag. In einem Brief vom l. März 1977 „Helsinki — enttäuschte Hoffnung" wandte er sich an den amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter: „Gesunken ist die Hoffnung von Millionen Menschen im kommunistischen Machtbereich, daß es möglich sein könnte, sozialistisehe Verhältnisse schrittweise zu demokratisieren." Der Brief wurde am 4. April von der Gesellschaft für Menschenrechte in Frankfurt veröffentlicht. Am 6. April wurde Nitschke verhaftet. Nach einer Strafandrohung von zehn Jahren wurde er ohne Angaben von Gründen am 23. April 1977 nach West-Berlin entlassen.

Ein weiterer Fall aus dem DDR-Alltag: Die politische Auseinandersetzung mit dem SED-Staat begann für die 1954 geborene Helgard Krumm, Facharbeiterin mit Abitur aus Benndorf im Bezirk Halle, bereits während der Schulzeit, als sie sich 1968 weigerte, der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft beizutreten Mit diesem Minuspunkt in der Kaderakte kam sie 1970 zur Berufsausbildung nach Halle-Neustadt, wo sie für ihre Klassenkameradinnen wegen ihres mutigen Auftretens und ihrer Unbestechlichkeit zum bewunderten Vorbild wurde, weshalb sie vom Lehrerkollektiv der Schule bei jeder Gelegenheit beschimpft und gedemütigt wurde: „Mein Gewissen aber verbot mir zu heucheln, Dinge freudig zu bejahen und zu bejubeln, in denen ich keinen Sinn oder keine Gerechtigkeit fand ... Während dieser Lehrzeit befand ich mich infolge der autoritären, ungerechtfertigten und entwürdigenden Behandlungen seitens der Lehrer und Internatserzieher in einem psychisch sehr labilen Zustand, was sich in Konzentrationsschwächen, nervöser Erschöpfung, Lustlosigkeit, Resignation und auch körperlichen Schwächezuständen ausdrückte. .. Geblieben aus dieser Lehrzeit sind mir außer Vorurteilen gegen eifrige Funktionäre noch eine Abschlußbeurteilung, die mich recht negativ schildert, und eine Kaderakte mit verschiedenen diskriminierenden Aussagen über mich.“

Im September 1973 war sie zum ersten Mal arbeitslos, da sie weder an der Ost-Berliner Humboldt-Universität Psychologie studieren noch bei der Interflug eine Ausbildung als Stewardeß beginnen durfte. Schließlich fand sie eine Stelle als Sachbearbeiterin am Heimatmuseum der Kreisstadt Eisleben, dessen Direktor freilich Zuträger des Ministeriums für Staatssicherheit war, der ihre aus dem Schreibtisch entwendete Privatkorrespondenz zur Auswertung der Kreisdienststelle übergab. Nun folgten, im Jahr 1975, mehrstündige Verhöre, in denen ihr und ihrer Freundin Fluchtabsichten unterstellt wurden; eine Ferienreise nach Bulgarien mußte abgesagt werden, da der Personalausweis eingezogen wurde. Im September 1976 verlor sie ihre Arbeitsstelle und kam im Januar 1977 als Kinderpflegerin in einem Heim der Evangelischen Kirche unter, wurde aber ständig überwacht: „Diese und andere Sorgen bedrücken mich unentwegt, ich fühle mich ständig bedroht und bewacht und lebe in ständiger Angst, die mich bis in meine Träume verfolgt. Auch zunehmende Aggressivität und extreme Stimmungsschwankungen als Folge dieser Erlebnisse muß ich mir öfter vorhalten lassen. Neben dieser Angst steht auch noch die unüberwindliche Verzweiflung über mein Schicksal, in dem ich kein Ziel und Sinn mehr erblicken kann." Am 9. September 1977 stellte Helgard Krumm ihren dritten Ausreiseantrag und schickte zugleich ihre autobiografischen Aufzeichnungen nach Westdeutschland, wo sie am 7. Oktober 1977 veröffentlicht wurden Am 12. Oktober wurde sie verhaftet und zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt: „Meine Freundschaften wurden gewaltsam zerstört. Verwandte und Bekannte im Ausland darf ich nicht sehen. Ich bin nun bald 24 Jahre alt und müßte eigentlich schon wesentliche Konzeptionen für das Leben angelegt und mit ihrer Realisierung begonnen haben. Statt dessen zerschlagen sich alle Pläne. Zukunftsaussichten gibt es nicht. Einstige Lebensfreude weicht mehr und mehr dem Pessimismus. Wie soll ich eine Familie haben können, Kinder, für die das Leben hier unzumutbar ist?... In völliger Hilflosigkeit und Verzweiflung sende ich Ihnen diesen Bericht... Es ist nur ein Versuch, denn noch möchte ich mich nicht selbst aufgeben müssen." Im April 1979 durfte sie überraschend in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen und lebt heute in Konstanz, wo sie Psychologie studiert.

Von besonderem Zuschnitt ist der Fall des 1956 geborenen Niko Hübner, der am 14. März 1978 verhaftet wurde. Hübner, Sohn überzeugter und staatstreuer Funktionäre, lebte in OstBerlin und berief sich auf den Vier-Mächte-Statusseiner Heimatstadt, als er dem Einberufungsbefehl zur Nationalen Volksarmee nicht nachkam. Als er seine kritischen Aufzeichnungen über die Situation der DDR-Jugend im Westen veröffentlichte wurde er nicht wegen Wehrdienstverweigerung, sondern wegen Nachrichtenübermittlung angeklagt und zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Im Oktober 1979 wurde er aus dem Zuchthaus Bützow-

Dreibergen entlassen und nach Bayern abgeschoben. Aufschlußreich ist vor allem die Schilderung der psychischen Situation, in der sich Hübner befand, als er den Antrag für eine Übersiedlung in die Bundesrepublik gestellt hatte: „In dieser Atmosphäre befindet sich ein Antragsteller in einer sozialen Isolierung. Die eigenen Erfahrungen werden nur noch im . gesamtdeutschen Bewußtsein von DDR-Dissidenten mitteilbar. Hinzu kommen die täglichen Schikanen des Regimes: Zurückstufung im Beruf, Diskriminierung im Bildungswesen bis hin zu einem praktizierten Bildungsverbot, Kontrollen durch den ABV (Abschnittsbevollmächtigter der Volkspolizei). Nachdem die Behörden den Freundes-und Bekanntenkreis herausbekommen haben, bestellen sie jeden einzelnen zur Volkspolizei oder zum Kaderleiter oder machen ihm auf andere Weise deutlich, daß es besser wäre, daß er den für die Gesellschaft negativen Kontakt'abbrechen würde. Ansonsten müßte man über seine berufliche Stellung, sein Studium usw. noch einmal nachdenken. Dem Antragsteller selbst wird offiziell die völlige Aussichtslosigkeit seines Vorhabens mitgeteilt: a) solch einen Antrag zu stellen, sei durch Gesetz nicht vorgesehen; b)

der Antragsteller lege die Gesetze einseitig aus; Menschenrechte seien in Chile und Südafrika erst noch zu verwirklichen, nicht aber im Sozialismus, hier seien sie verwirklicht; c) ein Übersiedlungsantrag sei deshalb rechtswidrig und müsse abgewiesen — nicht abgelehnt — werden; d) neue Anträge werden nicht mehr entgegengenommen und nicht mehr bearbeitet. Es sei also sinnlos, neue Anträge zu stellen.“

Der in Dresden lebende Elektro-Ingenieur Rainer Bäurich, 1937 geboren, der sich offen und mit allen daraus erwachsenden Folgen zum Christentum bekennt, ist 1980 bereits zum zweiten Mal verhaftet worden. Nach der Veröffentlichung seines „Manifest eines Christen im Sozialismus" durch das Brüsewitz-Zentrum in Bad Oeynhausen wurde er am 29. November 1977 verhaftet und am 7. April 1978 zu fünfeinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt, aber zum „Tag der Republik" am 7. Oktober amnestiert. Er mußte, weit unter seiner Qualifizierung, als Betriebselektriker in einer Brotfabrik arbeiten, wobei er sich standhaft weigerte, seinen Ausreiseantrag zurückzuziehen. Im März 1980 wurde er daraufhin ein zweites Mal verhaftet, wobei er befürchten muß, daß die Reststrafe des ersten Urteils der zweiten Strafe zugeschlagen wird. In seinem „Offenen Brief" bemerkte er: „Ich habe verfügt, daß ich in der DDR nicht einmal in die Erde gesenkt sein möchte. Sollte mir die Übersiedlung in das Land, wo mein Herz ist, nicht gelingen — dann möge wenigstens meine Asche überführt werden. Ich warne vor dem Kommunismus, weil vor diesen Leuten nicht genug gewarnt werden kann — aber ich möchte in diesem Brief vor allem flehentlich um mehr Unterstützung der Zwangs-DDR-Bürger bei Übersiedlungsbemühungen ersuchen... Wir Niedergedrückten im Osten sind ohne christliche Solidarität von außen hoffnungslos den Kommunisten ausgeliefert... Es ist ein gefährlicher Irrtum zu glauben, daß der Kommunismus menschliche Züge bekommt... Das ganze Gegenteil ist der Fall: Gibt der Westen klein bei, dann werden sich die Kommunisten in ihrer Siegestrance bestimmt bis in einen Blitz-krieg hineinsteigern. Die Welt kennt von jeher unsagbares Leid durch Weltverbesserer — doch noch keiner hat wohl in seinem Beglükkungsdrang schon einmal die Völker derartig vergewaltigt wie die Kommunisten." „Gesetze im Interesse der Bürger"

Der sich zum Christentum bekennende und dafür verfolgte Raiher Bäurich scheint kein Einzelfall zu sein, wie überhaupt die Kirchen beider Konfessionen zum Zufluchtsraum bedrängter DDR-Bürger geworden sind. So arbeiteten Helgard Krumm und Rolf Kulike bei kirchlichen Einrichtungen. 1978 setzte sich der Görlitzer Bischof Hans-Joachim Fraenkel, nach einem Gespräch mit Erich Honecker, vor der Synode für Ausreisewillige ein: „Die Grundaussagen des Vorsitzenden des Staats-ratessind eine Garantieerklärung, daß jeder Bürger das Maß an Recht und Freiheit in unserer Gesellschaft findet, das zu einem sinnvollen Leben gehört."

Wenn man bedenkt, wie mißtrauisch der Auftritt des marxistischen Dissidenten Wolf Bier-mann in der Kirche von Prenzlau/Uckermark 1976 von der Partei beobachtet worden ist oder daß der frühere Sozialist Reiner Kunze in den Jahren nach 1968 nur bei kirchlichen Veranstaltungen aus seinen Werken lesen konnte, so sind die verschärften Reglementierungen des dritten Strafrechtsänderungsgesetzes — das genau vier Jahre nach der Konferenz von Helsinki, am 1. August 1979, wirksam wurde — kaum verwunderlich. Beachtenswert war vielmehr, daß die KSZE-Beschlüsse am 2. August überhaupt in zwei DDR-Zeitungen und später noch in zwei Zeitschriften veröffentlicht wurden, obwohl dadurch eine politische Diskussion der Zustände im SED-Staat erst mobilisiert und legalisiert wurde. Schrittweise und, wie man sieht, durchaus mit Erfolg, wurde in den Jahren danach die Wirkung dieser unangenehmen Vereinbarungen kanalisiert. Obwohl das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten eindeutig auf den zwischenstaatlichen Verkehr eingegrenzt war, wurde es gegen die in Ost-Berlin akkreditierten Westjournalisten von Presse, Funk und Fernsehen ausgespielt. Diese wurden, weil sie durch ihre kritischen Beiträge ansatzweise eine bisher nicht existierende DDRÖffentlichkeit schufen, zu „Handlangern des Monopolkapitalismus" erklärt und, wie Lothar Loewe 1976 und Jörg Mettke 1977, ausgewiesen. Zur gleichen Zeit setzte in zahlreichen Aufsätzen die „Relativierung der Menschenrechte“ (Joachim Nawrocki) ein, deren Tenor immer lautete: „Wir werden nicht dulden, daß die internationalen Verträge, insbesondere die Schlußakte von Helsinki, im Kampf gegen den Sozialismus mißbraucht werden."

Die systematische Aushöhlung der in Helsinki unterzeichneten Dokumente wurde vornehm-lieh in der SED-Zeitschrift Einheit vorgenommen, wobei schon die Titel der einzelnen Aufsätze, die sich 1978 häuften, die marxistische Uminterpretation der Menschenrechte erkennen ließen Zum fünften Jahrestag des Treffens in Helsinki erschien zudem in der SED-

Zeitung Neues Deutschland ein anonymer Leitartikel, worin man die Westmächte als Saboteure der Entspannung bezeichnete: „Das Ergebnis von Helsinki war für die Verfechter des Kalten Krieges eine Niederlage. Es war ein Erfolg der Politik des Realismus, der Vernunft und des guten Willens... Alles, was im Sinne der Schlußakte von Helsinki an guten Ergebnissen erreicht wurde, mußte gegen den Widerstand der Entspannungsfeinde durchgesetzt werden. Ja, man muß feststellen, daß die aggressivsten Kräfte des Imperialismus in den letzten Jahren immer aktiver wurden." Nachdem schon im April 1979 die Arbeitsmöglichkeiten für Westjournalisten eingeschränkt worden waren, sollte das neue Strafgesetz die Artikulation innenpolitischer Schwierigkeiten in jeder Weise verhindern, was allein schon in 48 Strafverschärfungen gegenüber der Fassung vom 7. April 1977 zum Ausdruck kommt So wurde bei politischen Delikten — aufgeführt im Kapitel 2 „Verbrechen gegen die Deutsche Demokratische Republik" des „Besonderen Teils" — die Strafandrohung durchweg um ein Drittel erhöht, wobei es fast immer um Freiheitsstrafen geht. Auch die bisher benutzte Formel des „subjektiven Tatbestandsmerkmals", die dem Strafverteidiger noch immer einen Ansatzpunkt für die Verteidigung seines Klienten bot, wurde ersatzlos gestrichen. Es heißt nun also nicht mehr: „Wer es mit dem Ziel, die sozialistische Gesellschaftsordnung zu schädigen, unternimmt. . sondern nur noch, wie in Paragraph 106 „Staatsfeindliche Hetze": „Wer die verfassungsmäßigen Grundlagen der sozialistischen Staats-und Gesellschaftsordnung der Deutschen Demokratischen Republik angreift oder gegen sie aufwiegelt..."

Der absichtlich unklare Gebrauch von Begriffen für Straftatbestände dient eindeutig juristischer Willkür und ist, politisch gesprochen, die verklausulierte Erklärung des Bürgerkriegs einer Minorität — die aber über alle Machtmittel verfügt — gegen die Bevölkerung. Danach kann jeder DDR-Bürger, der gegenüber „Westverwandten" — und sei es nur brieflich oder im Gespräch unter vier Augen, das denunziert wurde — Kritik an den Zuständen äußert, verfolgt werden.

Die gleiche Rechtsunsicherheit bewirken die beiden Paragraphen 219 „Ungesetzliche Verbindungsaufnahme" und 220 „öffentliche Herabwürdigung", die immer zuungunsten des Angeklagten auslegbar sind. Der Paragraph 221 „Herabwürdigung ausländischer Persönlichkeiten" stellt sogar — unscharf gefaßt, wie er ist — eine Kritik an DKP-Funktionären oder kubanischen Generälen in Afrika unter Strafe. Die Möglichkeit strafrechtlichen Vorgehens gegen kritische und oppositionelle Bürger ist durch dieses Gesetz so ausgeweitet worden, daß — wie in einem Feudalstaat des 18. Jahrhunderts — willkürlich gegen Untertanen vorgegangen werden kann. Der Volksmund drüben kommentierte das hämisch: „Wer etwas tut oder unterläßt, wird bestraft. Abweichendes regelt das Politbüro."

Von der SED freilich wurde dieses Gesetz als Erfüllung der KSZE-Beschlüsse gefeiert: „Die Volkskammer hat am vergangenen Donnerstag (28. Juni 1979) eine Reihe von Gesetzen beschlossen, die die Vervollkommnung der inneren Rechtsordnung der DDR betreffen... Es ist ein normaler Vorgang, die Wahrnehmung des Selbstbestimmungsrechts, daß ein souveräner Staat seine Rechtsordnung von Zeit zu Zeit unter Berücksichtigung der Erfordernisse und Erfahrungen des Kampfes gegen die Kriminalität vervollkommnet. Durch das 3. Strafrechtsänderungsgesetz der DDR werden die verschiedenen Erscheinungsformen krimineller Straftaten gesetzlich differenzierter und eindeutiger gefaßt. Das betrifft vor allem Angriffe gegen die sozialistische Staats-und Gesellschaftsordnung, gegen die öffentliche und staatliche Ordnung, gegen das sozialistische Eigentum und die Volkswirtschaft... Weil die DDR die Schutz-und Verteidigungsfunktion, die ein jeder Staat hat, in voller Übereinstimmung mit dem Völkerrecht so verantwortungsvoll erfüllt, gilt heute unsere Republik als eines der sichersten Länder der Welt. Es ist in vielen Teilen der Erde beileibe nicht so wie bei uns, daß Sicherheit und Geborgenheit selbstverständliche Attribute des Lebens der Bürger sind. Dabei ist natürlich zu berücksichtigen, daß sich die DDR an der Nahtstelle der beiden großen Gesellschaftssysteme befindet,. .. inmitten des Spannungsfeldes, in dem über Krieg und Frieden entschieden wird. Der großen Verantwortung, die sich daraus für die Friedenssicherung, die Stärkung des Sozialismus und die Verteidigungsbereitschaft ergibt, kommt unser Staat auch auf dem Gebiet des Rechts nach. Er tritt der verstärkten Diversion und Hetze gegen die DDR und ihre Bürger entschieden entgegen und trifft alle notwendigen Vorkehrungen dagegen." Dieser Artikel erschien am 2. Juli 1979 im „Neuen Deutschland" und trug die Überschrift: „Gesetze im Interesse der Bürger".

Das neue Strafrecht von 1979, dem gegenüber die Karlsbader Beschlüsse 1819 des Fürsten Metternich eine liberale Tat waren, sowie die in den letzten Wochen praktizierten und programmierten Restriktionen (Erhöhung des Zwangsumtausches, Unterbindung journalistischer Arbeit, Einschränkung des Telefonverkehrs zwischen beiden deutschen Staaten) setzen ein überdeutliches Zeichen dafür, daß das SED-Politbüro den Entspannungsprozeß, zumindest im politisch-ideologischen Sektor, als beendet betrachtet. Künftig wird es für die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik in noch stärkerem Maße strafbar sein, sich auf die UNO-Charta der Menschenrechte von 1948, den Grundvertrag von 1972 und die Beschlüsse von Helsinki von 1975 zu berufen

Fussnoten

Fußnoten

  1. Wolf Biermann, Für meine Genossen, Berlin 1972, S. 52.

  2. Peter Rückert, Bonzograd, Rheinischer Merkur vom 10. März 1978.

  3. Vgl.den Programmentwurf der KPdSU 1961/80, Neues Deutschland vom 31. Juli 1961.

  4. DDR. Das Manifest der Opposition, München 1978, S. 26/27.

  5. Tina Österreich, Ich war RF. Ein Bericht, Stuttgart 1978.

  6. Jürgen Petschull, Mit dem Wind nach Westen, München 1980.

  7. Westfälische Rundschau vom 23. Juni 1979.

  8. VgL: Fragen an eine Brigade, Kursbuch 38/1974.

  9. Die Welt vom 31. März 1978.

  10. Vgl. die Kapitel „Wegen Geschäftsübergabe geschlossen“ und „Beneidenswertes Land“.

  11. Reiner Kunze, „Forstarbeiter", in: Die wunderbaren Jahre, Frankfurt/M. 1976, S. 120/21.

  12. Die Welt vom 16. Januar 1969.

  13. Börsenblatt für den deutschen Buchhandel vom 17. Mai 1978.

  14. Süddeutsche Zeitung vom 28. Februar 1979.

  15. Frankfurter Rundschau vom 5. April 1978.

  16. Eine Buchausgabe erschien 1977 nur bei Suhrkamp.

  17. Newsweek vom 25. Juli 1977.

  18. Vgl. Menschenrechte im Klassenkampf (zwei Bände), Potsdam-Babelsberg 1980, und Robert Stei-gerwald, Menschenrechte in der Diskussion, Frank-furt/M. 1977.

  19. Horst Gundermann, Entlassung aus der Staatsbürgerschaft, Berlin 1978, S. 14f.

  20. Ebenda, S. 61.

  21. Ebenda, S. 128f.

  22. Ebenda, S. 138.

  23. Ebenda, S. 151.

  24. Ebenda, S. 155 ff.

  25. Siehe: Dokumentation über Bürgerrechtler in der DDR, Frankfurt 1977.

  26. Vgl. Die Welt vom 22., 24. und 25. März 1980.

  27. Rolf Mainz, Genossen, kommt doch zu uns, Die Zeit vom 1. Oktober 1976.

  28. Hartwig Suhrbier, Jetzt kämpft er gegen die alten Freunde, Frankfurter Rundschau vom 15. Dezember 1977; Haug von Kuenheim, In akuter Lebensgefahr, Die Zeit vom 6. Oktober 1978.

  29. Karl Wilhelm Fricke, Verfolgt in der dritten Generation, Freiheitsglocke 343/1980.

  30. Vgl. Spiegel vom 14. Mai 1979.

  31. In: Stern vom 8. September 1977.

  32. Vgl. Wilfried Ahrens, a. a. O., S. 185— 200.

  33. Vgl. Jörg Bernhard Bilke, In diesem Staat keine Zukunft mehr, Rheinischer Merkur vom 4. August 1978.

  34. Ebenda.

  35. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. Oktober 1977.

  36. Ebenda.

  37. Vgl. Die Welt vom 31. März 1978.

  38. Ebenda.

  39. Rainer Bäurich, Manifest eines Christen im Sozialismus, Bad Oeynhausen 1978.

  40. Ebenda.

  41. Die Welt vom 4. April 1978.

  42. Die KSZE-Beschlüsse wurden am 2. August 1979 im Neuen Deutschland und in der Berliner Zeitung veröffentlicht, später erschienen sie auch noch in zwei außenpolitischen Zeitschriften.

  43. Vgl. u. a.: Herbert Scheibe, Unser sozialistisches Aufbauwerk zuverlässig schützen, Einheit 7/1976, oder Hermann Klenner, Menschenrechte im Klassenkampf, Einheit 2/1977.

  44. Herbert Scheibe, a. a. O.

  45. Vgl. Günter Söder, Freiheit, Demokratie und Menschenwürde im Sozialismus, 5/6— 1976, S. 551— 558; Alexander Abusch, Die Dynamik unseres realen Sozialismus, 5/1978, S. 482— 491; Manfred Banaschak, Das Recht auf Leben in unserer Zeit, 11/1978, S. 1096— 1104; Hermann Klenner, Menschenrechte und Völkerrecht, 11/1978, S. 1105— 1113; Wera Thiel, Arbeit und Würde des Menschen, 11/1978, S. 1114— 1120.

  46. „Fünf Jahre nach Helsinki“, in: Neues Deutschland vom 1. August 1980; Wolfgang Kleinwächter/Falko Raaz, Die Schlußakte — eine Charta für den Frieden und die Sicherheit, in: Junge Welt vom 1. August 1980.

  47. Strafgesetzbuch und Strafprozeßordnung der Deutschen Demokratischen Republik mit den Änderungen vom 28. 6. 1979, Seminarmaterial des Gesamtdeutschen Instituts 1979.

  48. Ebenda, S. 25.

  49. Vergleiche den „Spiegel" Nr. 43 vom 20. Oktober 1980: „Der Osten macht dicht".

Weitere Inhalte

Jörg Bernhard Bilke, Dr. phil., geb. 1937 in Berlin; 1958-1961 Studium der Literaturwissenschaft in West-Berlin und Mainz; als Mitarbeiter der Mainzer Studentenzeitschrift „nobis" 1961 auf der Leipziger Buchmesse verhaftet und zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus in der DDR verurteilt; im Sommer 1964 freigekauft. Fortsetzung des Studiums in Mainz. 1972 Gründung des „Archivs für DDR-Literatur und DDR-Germanistik" in Mainz (heute in Bonn), 1977/78 Kulturredakteur der „Welt" in Bonn, Mitarbeiter zahlreicher Zeitungen und Zeitschriften. Veröffentlichungen: Troglodytische Jahre. Meine Jugend in Deutschland. Autobiografischer Bericht, Mainz 1965/66; Die Germanistik in der DDR: Literaturwissenschaft in gesellschaftlichem Auftrag, Stuttgart 1971; Auf schreckliche Weise in der Fremde? DDR-Autoren im „westdeutschen Exil", Berlin 1979; Siebzehn Millionen Befehlsempfänger. Zum Feindbild des DDR-Sozialismus, Freiburg 1979; Die Revolutionsthematik in der frühen Prosa von Anna Seghers (1927— 1932), Wiesbaden 1979.