Zur Frage nach den Grenzen der öffentlichen Verschuldung
Wolfgang Stützel, Wilfried Krug Wilfried Wolfgang Stützel Krug
/ 21 Minuten zu lesen
Link kopieren
Zusammenfassung
1. Mit der rasch steigenden Geldvermögensbildung risikoscheuer privater Haushalte ging in der Bundesrepublik Deutschland eine zunehmende Verschuldung des Unternehmens-sektors einher. Diese Verschuldung der Unternehmen verstärkte die Konjunkturanfälligkeit und damit die Konjunkturzyklen in der gesamten Volkswirtschaft. In dem Maße, in dem sich nun der Staat stärker verschuldet, erhöht sich sein Anteil an der gesamten Verschuldung; die Risiken des Unternehmenssektors verringern sich also: Die aus Steuereinkünften bediente Staatsschuld transformiert — was bisher kaum beachtet wurde — den weniger begehrten . Rohstoff unsicherer Direkterträge der Produktion in die begehrte . Fertig-ware' sicherer Zins-oder Renteneinkünfte. Beim heute erreichten Staatsschuldbestand ist allerdings die Frage zu stellen, ob nicht das hierdurch geleistete Ausmaß an Risikentransformation bereits so hoch ist, daß andere wirtschaftspolitische Ziele, wie etwa das reale Wachstum, gefährdet sind. 2. Die Höhe der öffentlichen Verschuldung könnte — nach landläufiger Ansicht— auch dadurch begrenzt sein, daß sie zu Zinssteigerungen am Kapitalmarkt führt. Dies ist jedoch nicht zwingend; denn rein quantitativ sind staatlicher Ausgabenüberschuß und (potentiell anlagebereite) private Einnahmeüberschüsse stets genau deckungsgleich. Der Kapitalmarktzins bestimmt sich vielmehr danach, inwieweit Anlagewünsche der Kreditgeber und Verschuldungszwang der Kreditnehmer übereinstimmen und welche Erwartungen diese hegen. 3. Wesentlich für die gebotene Höhe der öffentlichen Verschuldung ist schließlich, wie die Kreditwürdigkeit eines Landes auf dem internationalen Kapitalmarkt eingeschätzt wird. Dies drückt sich in den Wechselkurserwartungen sowie in den Zinsen aus, den die Schuldner dieses Landes — darunter der Schuldner Staat — für Kredite bieten müssen. Der erhebliche Rückgang der deutschen Devisenreserven sowie die z. Z. schwache Position der DM an den Devisenmärkten deuten darauf hin, daß eine Fortsetzung staatlicher Nettokreditaufnahme in der Größenordnung der letzten Jahre sich in absehbarer Zeit in dem Sinne als zu hoch erweisen könnte, als sie über das hinausgeht, was der internationale Kapitalmarkt auf Dauer zu finanzieren bereit ist.
Wer zur Frage der heute in der Bundesrepublik Deutschland gebotenen Höhe der öffentlichen Verschuldung Stellung nehmen wollte, käme nicht umhin, die gesamte wirtschaftspolitische Lage mit einzubeziehen. Besonders zu berücksichtigen wären bei einer solchen Stellungnahme die bereits bestehende, hohe Belastung der Bürger durch das Ausmaß der staatlichen Tätigkeit und die Auswirkungen dieser Belastung All dies ist hier, allein schon wegen der notwendigen Kürze, nicht beabsichtigt Wir beschränken uns vielmehr auf drei Aspekte dieser Frage, die — soweit zu sehen — in der laufenden Debatte weitgehend vernachlässigt werden, die aber bei einer Würdigung der Höhe der öffentlichen Verschuldung unbedingt einbezogen werden müssen.
I. Eine bestehende Staatsschuld als Instrument der gesamtwirtschaftlichen Risikentransformation
Der erste Aspekt betrifft die Funktion eines existierenden Bestandes an Staatsverschuldung im Gefüge der gesamten Gläubiger-Schuldner-Beziehungen in einer Volkswirtschaft — im Vergleich zu einer Situation, in der kein Staatsschuldbestand vorhanden ist. Zu den Wirkungen eines derartigen Bestandes werden in der einschlägigen Literatur unterschiedliche Auffassungen vertreten. Diese reichen von der zusammenfassenden Wertung, ein hoher Staatsschuldbestand sei grundsätzlich abzulehnen, bis hin zur Auffassung, er sei unbedenklich; denn die Bürger zählten sich durch die Erhöhung der Staatsverschuldung reicher, da sie den Barwert ihrer • künftigen Zinseinkünfte als Vermögenserhöhung, den Barwert ihrer künftigen Steuermehrbelastung jedoch nicht als entsprechenden Vermögensrückgang bewerteten (Schulden-Illusion"). Wenig erörtert wurde dagegen bisher die Frage, inwieweit durch die Existenz eines Bestandes an öffentlicher Verschuldung die Risiken in einer Volkswirtschaft verändert werden. Um dies zu untersuchen, muß zunächst darge-stellt werden, wie sich der Staatsschuldbestand in die gesamtwirtschaftliche Bilanz aller Gläubiger-Schuldner-Beziehungen einfügt und welche Rolle dieser Bestand dort spielt.
Betrachten wir dazu die Struktur dieser Gläubiger-Schuldner-Beziehungen in der Bundesrepublik Deutschland etwas näher. Die Deutsche Bundesbank, die diese Zahlen regelmäßig ermittelt, faßt die Wirtschaftssubjekte (Haushalte, Unternehmen usw.) zu den folgenden Sektoren zusammen:
— private Haushalte, — Unternehmen (unterteilt in finanzielle und nichtfinanzielle) — öffentliche Haushalte (Staat) und — Ausland.
Die Deutsche Bundesbank ermittelt für jeden dieser Sektoren dessen Netto-Geldvermögensposition; darunter versteht man die Summe aller Geldforderungen — hier: eines Sektors gegen alle übrigen Sektoren — abzüglich der Summe aller Geldverbindlichkeiten (Geldschulden) dieses Sektors an die übrigen Sektoren. Ein Sektor mit einer positiven Netto-Geldvermögensposition (Netto-Forderungsposition) heißt Nettogläubiger; ein Sek-Vorabdruck aus: D. B. Simmert und K Wagner (Hrsg.), Staatsverschuldung — kontrovers, Schriftenreihe der Bundeszentrale fürpolitische Bildung, Bonn 1981. tor mit einer negativen Netto-Geldvermögensposition (Netto-Verschuldungsposition) heißt Nettoschuldner.
Aus der folgenden Tabelle ist ersichtlich, daß per Saldo der bei weitem größte Nettogläubiger der Sektor der privaten Haushalte ist. Bedeutsam ist weiter, daß die Netto-Verschuldungsposition des Staates nur einen verhältnismäßig kleinen Teil der schuldnerischen Gegenposition hierzu ausmacht; bis 1975 war der Staat sogar Nettogläubiger, was für einen modernen Industriestaat eher ungewöhnlich ist. Seitdem weist er eine zunehmende Netto-Verschuldungsposition auf; sie betrug (Ende 1979) 150 Mrd. DM.
Diese Zahl ist übrigens wesentlich niedriger als die aus der einschlägigen Diskussion bekannte (Brutto-) Verschuldung des Sektors Staat (d. h.: Gebietskörperschaften und Sozi-alversicherungen). Nach den von der Deutschen Bundesbank ausgewiesenen „Beständen an Forderungen und Verpflichtungen" (s. Tabelle) waren dies 430 Mrd. DM. Um die Netto-Verschuldungsposition zu erhalten, wurden hiervon in der zitierten Statistik der Deutschen Bundesbank noch abgezogen: die beträchtlichen Forderungen der Gebietskörperschaften und der Sozialversicherungen, die die Deutsche Bundesbank ihrerseits (im Bewußtsein ihrer oftmaligen „Unterverzinslichkeit", vor allem bei ersteren) insgesamt mit 280 Mrd. DM bewertet; es bleiben die erwähnten 150 Mrd. DM als Netto-Verschuldungsposition.
Der größte Teil der schuldnerischen Gegenpositionen zum hohen Netto-Geldvermögen der privaten Haushalte entfällt, wie die Tabelle zeigt, nach wie vor auf den Sektor „Unternehmen". Seine Netto-Verschuldungsposition betrug (Ende 1979) 962 Mrd. DM; der Anteil des Bereichs „Wohnungswirtschaft" betrug davon 545 Mrd. DM
Dieser Tatbestand wirft — unter dem Gesichtspunkt der Verteilung der Risiken in der Wirtschaft — bestimmte Probleme auf, denn es bestehen erhebliche Unterschiede zwischen den Geldanlageformen, die die privaten Haushalte auf Grund von Risiko-Erwägungen bevorzugen, und den Verschuldungsformen, die der Risikostruktur des Sachvermögens der Unternehmen entsprechen. Genauer: Die privaten Haushalte in der Bundesrepublik Deutschland bevorzugen typischerweise sichere (wenig riskante) Forderungstitel mit fester Verzinsung. Die Unternehmen dagegen müssen ihre Verschuldung aus Erträgen bedienen, die typischerweise risikobehaftet sind und im Zeitverlauf schwanken; von der Risikostruktur her würden dazu für die Unternehmen eher Formen der Kapitalbeschaffung passen, die variabel, ertragsabhängig verzinst werden (wie Beteiligungstitel). Aus anderen als Risikogründen — u. a. wegen steuerlicher Vorschriften — ist jedoch auch für die Unternehmen oft die Kapitalbeschaffung in Form von Forderungstiteln vorteilhafter.
Aus dem Zusammenwirken dieser Geldanlage-und Verschuldungsentscheidungen ergibt sich die eigentümliche Struktur der Forderungen und Verpflichtungen zwischen den Sektoren: Vom Geldvermögen der privaten Haushalte entfällt nur ein Zwanzigstel (zu Tages-kursen bewertet) auf Aktien, während der größte Teil dieses Geldvermögens in Form festverzinslicher bzw. vertragsmäßig verzinslicher Forderungstitel (einschließlich Geldanlagen bei Banken) gehalten wird. Entsprechend überwiegt bei den Unternehmen die Kapitalbeschaffung durch vertragsmäßig, also ertrags-unabhängig zu verzinsendes Forderungskapital. Die Unternehmen müssen also ihre Schulden mit fest vereinbarten, ertragsunabhängigen Zinszahlungen bedienen, aus Erträgen, die typischerweise risikobehaftet sind und im Zeitablauf schwanken. Dies beinhaltet sowohl einzel-als auch gesamtwirtschaftliche Risiken, und zwar wegen des sog. Leverage-Effekts, der hier nur kurz erläutert werden soll:
Angenommen, der prozentuale Gesamtkapitalertrag eines Unternehmens, die Gesamtkapitalrentabilität, schwanke mit über die Zeit hinweg vorgegebener Schwankungsbreite (z. B. in einer Bandbreite zwischen 3% und 13% des Gesamtkapitals). Je größer nun der Anteil des Gesamtkapitals, der zu festen Zinssätzen, also mit Fremdkapital finanziert ist, desto größer fallen dann die Schwankungen des prozentualen Ertrags auf den übrigen Teil (der Eigenkapitalrentabilität) aus. Je nach dem Anteil des festverzinslichen Fremdkapitals könnten diese Schwankungen dann z. B. zwischen 0% und 18% oder zwischen — 7% und 30% oder in einem noch viel breiteren Bereich liegen.
Gesamtwirtschaftlich hat dies folgende Wirkung: Konjunkturell bedingte Schwankungen der Gesamtkapitalrentabilität führen bei zunehmenden Fremdkapitalquoten zu ebenfalls zunehmenden Schwankungsbreiten der Eigenkapitalrentabilität; die Unternehmen werden hierdurch zunehmend empfindlicher für Konjunkturschwankungen, was wiederum die konjunkturellen Ausschläge in der Gesamtwirtschaft verstärkt.
Wenn die Konjunkturanfälligkeit der Unternehmen und die daraus resultierende Selbst-verstärkung gesamtwirtschaftlicher Konjunkturschwankungen gedämpft werden soll, müssen die Unternehmen von einem Teil der Risiken, die sie wegen der hohen Fremdkapitalanteile tragen, entlastet werden. Es besteht also ein erheblicher Bedarf an Risikentransforma. tion; diese ist notwendig, um die in ihrer Struktur unterschiedlichen Geldanlage-bzw. Kapitalbeschaffungswünsche in übereinstim. mung zu bringen. Drei Möglichkeiten solcher Risikentransformation sind denkbar:
Die erste besteht in der Direktbeteiligung breiter Schichten am Vermögen der Unternehmen, in Form von Aktien und anderen Beteiligungstiteln. Hierbei kann jeder einzelne Haushalt durch Streuung (Diversifikation) seiner Beteiligungen sein individuelles Risiko verringern. Gleichzeitig verringert sich das Ri. siko für die Unternehmen, da derartige Titel ertragsabhängig bedient werden. Unter dem Gesichtspunkt der Verringerung der Konjunkturanfälligkeit sollte diesem Weg der Vorzug gegeben werden. Zur Förderung der Direktbeteiligung müssen daher die Hindernisse, die gegenwärtig die Finanzierung durch Beteiligungskapital sowohl für Unternehmen als auch für Anleger wenig attraktiv erscheinen lassen, abgebaut werden.
Eine zweite Möglichkeit der Risikentransformation besteht in der Tätigkeit der sog. „finanziellen Mittler" (Banken, Kapitalanlagegesellschaften u. ä.). Sie können durch geeignete Streuung ihrer Anlagen einen Teil des Risikos von den nichtfinanziellen Unternehmen tragen. Ihre Fähigkeit hierzu ist allerdings begrenzt durch ihre (typischerweise) extrem niedrigen Eigenkapitalquoten.
Wenig beachtet blieb bisher eine dritte Möglichkeit: Eine bestehende Staatsschuld hat ebenfalls die Wirkung, Risiken zu transformieren. Dies wird deutlich, wenn man die eingangs erwähnte gesamtwirtschaftliche Bilanz der Forderungen und Verbindlichkeiten betrachtet: In dem Maße, in dem der Staat sich stärker verschuldet, übernimmt er einen größeren Teil der schuldnerischen Gegenposition zum wachsenden Geldvermögen der privaten Haushalte. In diesem Maße verringert sich die Verschuldungsposition der Unternehmen (bzw. steigt weniger stark), und die Unternehmen werden vom Risiko, das sich aus der Pflicht zur festen Bedienung dieser Schulden aus schwankenden Erträgen ergibt, entlastet; statt dessen verwandelt dann der Staat im Ausmaß seiner Verschuldung den wenig begehrten Rohstoff unsicherer Direkterträge der Produktion in die begehrte Fertigware sicherer Zins-oder Renteneinkünfte.
Je weniger andererseits der Staat von dieser schuldnerischen Gegenposition selbst (durch eigene Verschuldung) übernimmt, desto größer ist die Last der Verschuldung der Unter-B nehmen (von einem recht geringen Anteil des Auslandes abgesehen), desto höher sind die daraus resultierenden Risiken und desto größer ist, . aus den genannten Gründen, das Ausmaß konjunktureller Schwankungen.
Sieht der Staat gar davon ab, eine Netto-Verschuldungsposition einzugehen, und weist statt dessen — wie der Sektor Staat in der Bundesrepublik Deutschland bis 1975 — selbst eine Netto-Gläubigerposition auf, so erhöht sich in diesem Maße noch die Netto-Verschuldungsposition des Unternehmenssektors, erhöhen sich die daraus resultierenden Risiken und das Ausmaß konjunktureller Schwankungen entsprechend. Auf diese Gefahren hoher Kreditfinanzierungsquoten der Unternehmen hat der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung bereits 1967 hingewiesen
Beurteilt man einen existierenden Bestand an öffentlicher Verschuldung unter dem Gesichtspunkt seiner Wirkung als Risikentransformationsinstrument, so muß dieser Bestand, zusammengefaßt ausgedrückt, um so größer sein, je weniger der genannte Bedarf an Risikentransformation durch die finanziellen Mittler (Banken u. ä.) und durch die Direktbeteiligung breiter Schichten befriedigt werden kann.
Beim heute hierzulande erreichten Staatsschuldbestand spricht allerdings — unter diesem Gesichtspunkt — vieles dafür, daß die Staatsschuld inzwischen einen beachtlichen Teil dieser Risikentransformation leistet. Angesichts dieses Bestandes ist sogar die Frage zu stellen, ob nicht das dadurch bewirkte Ausmaß an Risikentransformation bereits so hoch ist, daß die Erreichung anderer Ziele gefährdet wird. Die Dämpfung von Konjunkturschwankungen (Schwankungen im Auslastungsgrad des Produktionspotentials) ist — daran sei abschließend erinnert — nicht das einzige wirtschaftspolitische Ziel, auf das es hier ankommt; sie wäre sinnlos, wenn sie dadurch erkauft werden müßte, daß die Sachvermögens-bildung etwa im Zuge der zunehmenden Staatsverschuldung stark beeinträchtigt würde, d. h. dieses Produktionspotential selbst nicht mehr laufend verbessert werden könnte
Hinzu kommt, daß ein Bestand an öffentlicher Verschuldung nur insoweit als Risikentransformationsinstrument wirkt, als es sich um Verschuldung bei Inländern handelt. In dem Maße, in dem der Staat sich — mittelbar oder unmittelbar — bei Ausländern verschuldet, d. h. netto Kapital importiert, und in Höhe dieses Netto-Kapitalimports eine Passivierung der äußeren Leistungsbilanz bewirkt (sog. Realtransfer), verringert sich nicht die Netto-Verschuldungsposition der Unternehmen, sondern diejenige des Sektors Ausland; die Risikosituation des inländischen Unternehmenssektors bleibt unverändert.
II. Zum Einfluß der öffentlichen Verschuldung auf den Kapitalmarktzins
Ein zweiter Aspekt im Zusammenhang mit der Höhe der öffentlichen Verschuldung ist deren Einfluß auf den Kapitalmarktzinssatz. In der einschlägigen Diskussion herrscht offensichtlich die Auffassung vor, eine hohe öffentliche Verschuldung — genauer: ein hoher Zuwachs der öffentlichen Verschuldung, also eine hohe Nettokreditaufnahme während eines Zeitraums — habe schon deshalb negative Auswirkungen, weil sie einen höheren Kapitalmarkt-zins verursache (verglichen mit der Situation einer niedrigeren öffentlichen Nettokreditaufnahme): Nach einer solchen Erhöhung des Zinses wären für einige private Kreditnachfrager ursprünglich geplante Investitionen nicht mehr rentabel und sie würden daher auf geplante Kreditaufnahmen verzichten, während der (als „zinsrobust" geltende) Staat seine Kreditaufnahmepläne voll durchführen werde. In dem Maße, in dem deshalb private Investitionen unterblieben, wäre der künftige Kapital-Stock (und damit die künftigen Produktionsund Einkommensmöglichkeiten) in der Volkswirtschaft niedriger als bei einer niedrigeren staatlichen Nettokreditaufnahme (unter der impliziten Annahme, daß private Investitionen stets auch volkswirtschaftlich produktiver seien als die Verwendung der entsprechenden Mittel durch den Staat).
Die Gültigkeit dieser Argumentation hängt entscheidend von ihrem ersten Schritt ab, d. h. von der Annahme, eine Erhöhung der öffentli17 chen Nettokreditaufnahme führe zu einer Erhöhung des Kapitalmarktzinssatzes. Vielfach trifft man auf die Auffassung, dieser Wirkungszusammenhang gelte zwangsläufig und damit könne in jedem Fall gerechnet werden
Eine solche Auffassung wird nur verständlich, wenn man annimmt, daß ihre Vertreter von folgender Vorstellung ausgehen: Die Summe der Mittel, die die Kapitalanbieter (vor allem die privaten Haushalte) am Kapitalmarkt pro Jahr (neu) anlegen wollen, sei praktisch fest vorgegeben, nach Art einer Quelle mit konstanter Schüttung. Will nun einer der Kreditnachfrager, der Staat, davon mehr „absaugen“, so bedeute dies zwangsläufig, daß andere Kreditnachfrager nur noch weniger Kredit aufnehmen könnten; und zwar erfolge diese Verdrängung („crowding-out“) auf dem Weg über einen höheren Zins.
Dieses Bild der Quelle ist jedoch unzutreffend, weil es zwingende saldenmechanische Zusammenhänge vernachlässigt: Bei einer Nettokreditaufnahme des Staates verschwinden die aufgenommenen Mittel nicht in irgendwelchen Horten, sondern werden wieder ausgegeben; der Staat tätigt in gleichem Maße einen Ausgabenüberschuß, und die aufgenommenen und ausgegebenen Mittel fließen letztlich irgendwelchen anderen Wirtschaftssubjekten (in ihrer Eigenschaft als Lieferanten, Vorlieferanten, Arbeitnehmer u. a.) zu. Alle diese Wirtschaftssubjekte (Unternehmen und private Haushalte, Inländer und Ausländer) zusammengenommen weisen dann genau den entsprechenden Einnahmeüberschuß auf, der gleichzeitig und zwangsläufig als Gegenstück zum staatlichen Ausgabenüberschuß entsteht. Im Zuge jeder Erhöhung der staatlichen Nettokreditaufnahme, d. h. erhöhter staatlicher Ausgabenüberschüsse (verglichen mit dem vorangegangenen Zeitraum oder mit vorher bestehenden Plänen), erhöht sich also der Einnahmeüberschuß der Gesamtheit aller übrigen Wirtschaftssubjekte in genau dem gleichen Maße; bei einigen von ihnen spiegelt sich dies in Form höherer Einnahmeüberschüsse, bei anderen in Form niedrigerer Ausgabenüberschüsse wider. Diese Wirtschaftssubjekte können daher am Kapitalmarkt entsprechend mehr Mittel zur Anlage anbieten, als sie ursprünglich anzubieten planten (bzw.fragen selbst weniger Kredite nach, als sie ursprünglich nachzufragen planten).
Will man wieder ein Bild aus dem Bereich der Wasserwirtschaft verwenden, so gleicht dieser Vorgang eher der Wirkungsweise einer Fontäne: In dem Maße, in dem der Staat (per Saldo) Kredit aufnimmt („Wasser absaugt“), tätigt er einen Ausgabenüberschuß, der gleichzeitig Einnahmeüberschüsse bei irgendwelchen anderen Wirtschaftssubjekten darstellt; diese anderen Wirtschaftssubjekte verfügen damit über entsprechend höhere potentiell anlage-bereite Mittel, die somit in den „Teich“ zurückfallen
Die Frage, inwieweit sich der Kapitalmarkt-zinssatz ändert, wenn der Staat zur Deckung zusätzlicher Ausgabenüberschüsse am Kapitalmarkt zusätzliche Kredite aufnimmt, ist demnach nie ein quantitatives, sondern stets ein qualitatives Problem. Rein quantitativ sind staatlicher Ausgabenüberschuß und Einnahmenüberschüsse der übrigen Wirtschaftssubjekte stets genau deckungsgleich. Die für die Höhe des Kapitalmarktzinssatzes — und auch für die Zinsstruktur — entscheidende Frage ist vielmehr qualitativ: inwieweit die Inhaber von Einnahmeüberschüssen auch bereit sind, ihr Geldvermögen langfristig anzulegen. In der Fachsprache ausgedrückt: Der Zinssatz wird beeinflußt durch die Liquiditäts-bzw. Anlageneigung der potentiellen Kreditgeber und durch den Konsolidierungszwang der potentiellen Kreditnehmer (einschließlich des Staates
Eine Erhöhung der Anlageneigung (anders ausgedrückt: eine „Verringerung der Liquiditätsneigung") der Kreditgeber — d. h. eine Verstärkung ihrer Bereitschaft, vorhandenes Geldvermögen eher längerfristig anzulegen, als es in liquider Form zu halten — wirkt tendenziell zinssenkend; eine Verringerung der Anlageneigung (anders ausgedrückt: eine „Erhöhung der Liquiditätsneigung“ der Kreditgeber) wirkt entsprechend tendenziell zinserhöhend. Eine Erhöhung des Konsolidierungszwangs der Kreditnehmer schließlich — d. h.des Zwangs, ihre Verschuldung, zumindest zu einem bestimmten Teil, in langfristiger Form einzugehen — wirkt tendenziell zinserhöhend; eine Verringerung des Konsolidierungs-zwangs entsprechend tendenziell zinssenkend. Inwieweit sich der Kapitalmarktzins im Zuge einer Erhöhung der öffentlichen Nettokreditaufnahme ändert, hängt also vom Zusammenwirken dieser Größen ab:
Wenn der Staat viel weniger als die Unternehmen unter dem Zwang steht, seine Defizite langfristig zu finanzieren — d. h.der Konsolidierungszwang des Staates geringer ist (und bleibt) als derjenige der anderen Schuldner (im wesentlichen der Unternehmen) —, nimmt der Kapitalmarktzins bei zunehmendem Anteil des Staates als Schuldner ab, unter der Annahme unveränderter Liquiditäts-bzw. Anlageneigung der Kreditgeber. Dies ist eine mögliche Erklärung des starken Rückgangs des Kapitalmarktzinssatzes 1974 bis 1978 (von ca. 10, 5% auf ca. 5, 5%).
Führt dagegen das Wissen um eine unverändert hohe staatliche Nettokreditaufnahme (und damit um einen stark zunehmenden Staatsschuldenbestand) zu Befürchtungen zukünftig wieder steigender Inflationsraten oder gar zu Befürchtungen einer Zahlungsunfähigkeit des Schuldners Staat, so schlägt sich dies in einer höheren Liquiditätsneigung (geringeren Anlageneigung) der Anleger nieder, und dies bedeutete — bei unverändertem Konsolidierungszwang — ein Ansteigen des Kapitalmarktzinses.
Wichtig ist: Ein eventuelles Ansteigen des Kapitalmarktzinses — und damit eine eventuelle Verdrängung privater Kreditnehmer vom Kapitalmarkt (finanzielles „crowding-out") — im Zuge einer erhöhten öffentlichen Nettokreditaufnahme kann nur mit Hilfe derartiger Erwartungsänderungen begründet werden (d. h. beispielsweise als Folge von Erwartungsänderungen, die zu einer Erhöhung der Liquiditätsbzw. zu einer Verringerung der Anlageneigung führen). Diese Effekte entstehen aber keineswegs schon zwingend als Ergebnis einer bloßen Erhöhung der staatlichen Kreditnachfrage (anders ausgedrückt: einer Erhöhung des Angebots an Staatsschuldtiteln).
Die Auswirkungen einer hohen öffentlichen Nettokreditaufnahme auf den Kapitalmarkt-zinslassen sich, um dies zusammenzufassen, nicht so zwingend und eindeutig herleiten, wie dies aufgrund der eingangs genannten, häufig anzutreffenden Argumentationsweise den Anschein hatte. Dies hat zunächst zwei Folgen:
Zum einen kann offensichtlich nicht mit Sicherheit auf einen Rückgang der privaten Investitionen im Gefolge einer Erhöhung der Staatsverschuldung geschlossen werden; insoweit wird dieser häufig genannte Einwand gegen eine hohe öffentliche Nettokreditaufnahme abgeschwächt. Eine solche negative Wirkung auf die privaten Investitionen könnte nur aufgrund anderer Wirkungsketten als über den Kapitalmarktzins begründet werden, etwa aufgrund einer „realen" Verdrängung (reales „crowding-out").
Die zweite Folgerung ist schwerwiegender: Da der Einfluß einer Erhöhung der öffentlichen Verschuldung auf den Kapitalmarktzins weder zwingend noch eindeutig ist, kann umgekehrt auch der Kapitalmarktzins nicht als Kriterium dienen für die Beurteilung der Höhe der Staatsverschuldung. Ein hoher Kapitalmarktzins bedeutet nicht notwendigerweise, daß die öffentliche Nettokreditaufnahme „zu hoch" sei; ein niedriger Kapitalmarktzins deutet nicht notwendigerweise auf Unbedenklichkeit der öffentlichen Kreditaufnahme hin. Man kann also nicht darauf setzen, daß mit zunehmender öffentlicher Verschuldung ein „Warnzeichen" in Form eines hohen Kapitalmarktzinssatzes sichtbar wird und den Staat — mittelbar oder unmittelbar — zu entsprechenden Handlungskonsequenzen veranlaßt. In einer offenen Volkswirtschaft mit freiem Kapitalverkehr — wie etwa der Bundesrepublik Deutschland — haben gerade die auf dem internationalen Geld-und Kapitalmarkt herrschenden Erwartungen einen großen Einfluß auf das heimische Zinsniveau. Bei bestimmten außenwirtschaftlichen Bedingungen kann dieser Einfluß überwiegen: Für die DM bestanden etwa 1974— 1978 überwiegend Aufwertungserwartungen, was ein — verglichen mit anderen Währungen — andauernd niedrigeres DM-Zinsniveau erlaubte. Wer damals darauf gesetzt hatte, die öffentliche Kreditaufnahme in der Bundesrepublik Deutschland werde allein dadurch gebremst werden, daß der Staat selbst solche — erwartete — hohe Zinsverpflichtungen bald nicht mehr werde eingehen, wollen, sah sich eines besseren belehrt: Das Zinsniveau stieg im Zeitraum 1974— 1978 nicht an, sondern fiel sogar, wie oben erwähnt, auf die Hälfte, von ca. 10, 5% auf 5, 5%.
III. öffentliche Verschuldung und internationaler Kapitalmarkt
Der internationale Kapitalmarkt beeinflußt nicht nur die Konditionen für öffentliche Verschuldung in einem Lande; er leistet auch die Einschätzung der Kreditwürdigkeit eines Staates und ist daher sehr aufschlußreich für die — uns hier interessierende — Beurteilung der Höhe der öffentlichen Verschuldung eines Landes.
In einer offenen Volkswirtschaft mit freiem internationalen Geld-und Kapitalverkehr werden Wirkungen der öffentlichen Verschuldung auf Zahlungsbilanz und Wechselkurs deutlich sichtbar die Entwicklung von Zahlungsbilanz und Wechselkurs hat ihrerseits, als Kriterium für die internationale Kreditwürdigkeit, wieder Rückwirkungen auf die Möglichkeiten der Verschuldung dieses Staates. Da dieser Zusammenhang für die Bundesrepublik Deutschland zur Zeit wichtig ist, soll er hier als dritter Aspekt zur Höhe der öffentlichen Verschuldung erörtert werden. Er kommt nicht erst bei einer formellen Auslandsverschuldung des Staates, sondern (unter der genannten Voraussetzung freien internationalen Kapitalverkehrs) bei jedweder staatlichen Kreditaufnahme zum Tragen.
Die Kreditwürdigkeit scheint zunächst für den Schuldner „Staat“ kein Problem zu sein: Jedes andere Wirtschaftssubjekt kann sich zwar normalerweise nur soweit verschulden — und insofern „über seine Verhältnisse leben“ —, als Dritte noch bereit sind, ihm Kredite zu gewähren; wenn dies nicht mehr der Fall ist, droht ihm Zahlungsunfähigkeit. Für den Schuldner Staat scheint diese Grenze indes nicht zu existieren; der Staat hat — wegen des national-staatlichen Währungsmonopols — die Verfügung über den Inhalt der Währungseinheit, in der er seine Verschuldung eingeht (soweit er sich in seiner eigenen Währung verschuldet). In seiner eigenen Währung kann zumindest der Zentralstaat nicht zahlungsunfähig werden. Hierin liegt sicherlich der Grund dafür, daß die Diskussion über öffentliche Verschuldung so brisant ist und so leidenschaftlich geführt wird: Eine hohe öffentliche Verschuldung löst allgemein nicht nur — wie bei jedem anderen Schuldner — die Befürchtung aus, der Staat werde „über seine Verhältnisse leben“, bis ihm niemand mehr Kredit zu geben bereit wäre.
Befürchtet wird vielmehr, der Staat werde gegebenenfalls sein Währungsmonopol, seine Zugriffsmöglichkeit auf die Währung, ausnutzen, um sich weitere Kredite zu verschaffen und dabei die Gefahr einer stärkeren Inflationierung oder gar Zerrüttung der Währung in Kauf nehmen. Hiervon wären nicht nur die Gläubiger des Staates, sondern alle Inhaber von Netto-Forderungspositionen in dieser Währung betroffen. Anders ausgedrückt: Es scheint, als bestünde das Problem der Kreditwürdigkeit für den Staat gar nicht.
Dies kann jedoch nur insoweit gelten, als das nationalstaatliche Währungsmonopol uneingeschränkt wirksam ist. Wenn etwa eine vollständige Devisenbewirtschaftung besteht, schlagen sich die mit den staatlichen Ausgabenüberschüssen zwangsläufig entstehenden Einnahmeüberschüsse nur bei inländischen Wirtschaftssubjekten nieder; diese haben unter dieser Bedingung gar keine andere Wahl, als die ihnen zufließenden Mittel bei inländischen Kreditnehmern anzulegen.
Die Einbindung eines Landes in den freien internationalen Geld-und Kapitalverkehr bewirkt jedoch gerade, daß die Wirksamkeit des nationalstaatlichen Währungsmonopols eingeschränkt wird: Unter dieser Rahmenbedingung können die Inhaber von Einnahmeüberschüssen (potentielle Anleger) die ihnen zufließenden Mittel auch in anderen Währungen als der eigenen und im Ausland anlegen; die mit den staatlichen Ausgabenüberschüssen entstandenen Einnahmeüberschüsse können letztlich auch (mittelbar oder unmittelbar) bei ausländischen Wirtschaftssubjekten anfallen, die dann ebenfalls die freie Wahl haben, in welchem Land und in welcher Währung sie diese Mittel anlegen wollen.
Ein Staat, der unter dieser Rahmenbedingung Verschuldungspläne hat, muß zu ihrer Durchführung Konditionen bieten, die auch am internationalen Kapitalmarkt konkurrenzfähig sind, d. h. — in der Terminologie des vorangehenden Abschnitts — die „qualitative Überein-stimmung" zwischen seinem Kreditaufnahme-zwang und den Geldanlagewünschen der (jetzt: inländischen und ausländischen) Anleger herstellen. Diese Konditionen umfassen Zinssatz, Laufzeit und Rückzahlungssicherheit. Verschuldet sich der Staat in einer fremden Währung, besteht das Rückzahlungsrisiko — wie bei jedem anderen Schuldner — darin, daß der Staat bei Fälligkeit möglicherweise in bezug auf die vereinbarte Währung zahlungsunfähig ist. Verschuldet sich der Staat in sei-20 ner eigenen Währung (in der er nicht zahlungsunfähig werden kann), besteht dagegen ein Rückzahlungsrisiko in der Form des Wechselkursänderungsrisikos dieser Währung gegenüber anderen Währungen.
Für jeden Kreditnehmer, einschließlich des Schuldners Staat, wird auf diese Weise — durch die Konditionen, die er bieten muß — deutlich, wie seine Kreditwürdigkeit international eingeschätzt wird. Die Einbindung eines Landes in den freien internationalen Kapitalverkehr wirkt auf diese Weise darauf hin, daß jeder Kreditnehmer, auch der Schuldner Staat, nur in dem Maße Ausgabenüberschüsse tätigen (insoweit „über seine Verhältnisse leben") kann, in dem die Einschätzung seiner Kreditwürdigkeit durch die Gläubiger dies erlaubt. In einer offenen Volkswirtschaft wird das Ausmaß, in dem alle Wirtschaftssubjekte eines Landes zusammen (einschließlich des Schuldners Staat) „über ihre Verhältnisse gelebt" haben — hier genauer: während eines bestimmten Zeitraums mehr ausgegeben, als sie gleichzeitig eingenommen haben —, deutlich sichtbar; es drückt sich aus im Leistungsbilanzdefizit dieses Landes. Das Leistungsbilanzdefizit in einem Zeitraum ist (aufgrund strenger, saldenmechanischer Zusammenhänge) gleich der Summe aller Ausgabenüberschüsse der Wirtschaftssubjekte dieses Landes, also gleich dem Betrag, den sie alle zusammen in diesem Zeitraum mehr ausgegeben als sie gleichzeitig eingenommen haben.
Unter Verwendung der Sektorengliederung aus dem obigen ersten Abschnitt läßt sich das Leistungsbilanzdefizit ausdrücken als Summe aus den Ausgabenüberschüssen des Sektors „private Haushalte“ (diese geben typischerweise weniger aus, als sie gleichzeitig einnehmen, haben also einen Einnahmeüberschuß) des Unternehmenssektors und eben des Sektors Staat.
Vor diesem Hintergrund ist der drastische Umschwung in der Leistungsbilanz der Bundesrepublik Deutschland nicht verwunderlich. Betrachtet man die Zahlen für 1979, so ergibt sich folgendes Bild:
Der Einnahmeüberschuß der privaten Haushalte stieg auch 1979 weiter an und erreichte den Betrag von 99 Mrd. DM Der Ausgabenüberschuß des Unternehmenssektors erhöhte sich — wie regelmäßig in Zeiten zunehmender wirtschaftlicher Aktivität — sehr stark; er stieg auf das Doppelte des Vorjahresbetrages, auf 70 Mrd. DM. Der Ausgabenüberschuß des
Sektors Staat verringerte sich dagegen nicht, anders als in früheren Jahren zunehmender wirtschaftlicher Aktivität, sondern erhöhte sich noch von 35 auf 39 Mrd. DM. Mit diesen Veränderungen ging folglich der bereits erwähnte Umschwung in der Leistungsbilanz einher: von einem Leistungsbilanzüberschuß von 18 Mrd. DM 1978 zu einem Leistungsbilanzdefizit von 10 Mrd. DM 1979 und von rd. 30 Mrd. DM 1980, mit der Erwartung eines nicht wesentlich niedrigeren Defizits für 1981.
Für sich genommen ist ein Leistungsbilanzdefizit nicht alarmierend; soweit Dritte bereit sind, den Wirtschaftssubjekten eines Landes in entsprechendem Umfang kaufmännische Kredite zu gewähren, können letztere mehr ausgeben, als sie gleichzeitig einnehmen. Probleme entstehen dann, wenn dieser kaufmännische Kapitalimport hierfür nicht ausreicht, d. h., wenn mit dem Leistungsbilanzdefizit auch ein erheblicher Rückgang der eigenen Devisenreserven einhergeht. Dies bedeutet, daß die Grenze überschritten ist, bis zu der Dritte bereit sind, Ausgabenüberschüsse der Wirtschaftssubjekte dieses Landes (einschließlich und insbesondere des Schuldners Staat) zu finanzieren:
„Die Grenze für die öffentliche Verschuldung im Sinne der jährlichen Kreditfinanzierung öffentlicher Ausgaben wird ... ausschließlich markiert durch die Entwicklung der äußeren Zahlungsbilanz. Wenn diese äußere Zahlungsbilanz Defizite aufweist, so ist das ein Indiz dafür, daß unser Fontänen-Becken einen . Abfluß nach außerhalb'aufweist, daß die Empfänger der vom Fiskus defizitär verausgabten Mittel eben nicht mehr die Anlage im Inland als die relativ beste ansehen. Erst dann also, wenn die Bundesbank unerträglich hohe Devisenbeträge verliert, ist die . kritische Grenze für Defizitfinanzierung'überschritten."
Wohl konnte einer der Verfasser im gerade zitierten, 1977 konzipierten Beitrag noch schreiben, nichts spreche dafür, daß die Bundesrepublik Deutschland diese Grenze auch nur annähernd erreicht hätte; anders als Italien und England habe sie noch genügend Spielraum Aber das hat sich mittlerweile drastisch geändert. Die Netto-Währungsreserven der Deutschen Bundesbank sanken beispielsweise von September 1979 bis September 1980 um fast 24 Mrd. DM; das Niveau der DM-Zinssätze muß vergleichsweise hoch bleiben, um Kapitalimporte wieder einigermaßen attraktiv werden zu lassen, zumal — dies ist die dritte wesentliche Änderung — derartige Kapitalimporte nicht mehr durch Aufwertungserwartungen der DM angezogen werden; im Gegenteil, die DM zählt z. B. in diesen Tagen im Europäischen Währungssystem sowie gegenüber US-Dollar und Yen zu den schwächeren Währungen. Vor diesem Hintergrund muß angestrebt werden, das deutsche Leistungsbilanzdefizit stark zu verringern und auf mittlere Sicht wieder Überschüsse auszuweisen. Dies ist allein schon aus dem Grunde notwendig, damit die Bundesrepublik Deutschland als wohlhabendes Industrieland ihren Verpflichtungen als Mitglied einer weltweiten Finanzausgleichsgemeinschaft wirklich gerecht werden kann. Zusammengefaßt: Das Leistungsbilanzdefizit zeigt an, inwieweit die Wirtschaftssubjekte in der Bundesrepublik Deutschland insgesamt „über ihre Verhältnisse leben", d. h. mehr ausgeben, als sie gleichzeitig einnehmen. Der erhebliche Rückgang der Devisenreserven sowie die schwache Position der DM an den Devisenmärkten deuten darauf hin, daß dies zur Zeit in stärkerem Maße erfolgt, als Dritte bei den geltenden Konditionen zu finanzieren bereit sind. Für die privaten Haushalte und Unternehmen bewirken schon die hohen Zinsen (die notwendig sind, um Kapitalimporte anzuziehen) einen starken Anreiz, Einnahmeüberschüsse zu erhöhen bzw. Ausgabenüberschüsse zu verringern. Für den Staat haben hohe Zinsen zwar nicht automatisch diese Wirkung, soweit der Staat „zinsrobust" ist. Es sollte aber deutlich geworden sein — unter unserem dritten Aspekt, dem Kriterium der* internationalen Kreditwürdigkeit, betrachtet—, daß eine Fortsetzung Von jährlichen staatlichen Nettokreditaufnahmen in der Größenordnung der letzten Jahre sich in absehbarer Zeit in dem Sinne als zu hoch erweisen könnte, als sie über das hinausgeht, was der internationale Kapitalmarkt auf Dauer zu finanzieren bereit ist.
Wolfgang Stützel, Dr. rer. pol., geb. 1925; ordentlicher Professor der Wirtschaftswissenschaft an der Universität das Saarlandes (seit 1958); Studium der Volkswirtschaftslehre in Tübingen, Hamburg, Freiburg i. Br. und London; danach Volkswirt bei der Berliner Bank AG und der Deutschen Bundesbank; 1965— 68 Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Veröffentlichungen u. a.: Volkswirtschaftliche Saldenmechanik — Ein Beitrag zur Geldtheorie, Tübingen 1978; Währung in weltoffener Wirtschaft, Frankfurt/M. 1973; über unsere Währungsverfassung, Tübingen 1975; Paradoxa der Geld-und Konkurrenzwirtschaft, Aalen 1979. Zahlreiche Aufsätze zur Geld-, Banken-, Währungs-, Konjunktur-und Ordnungspolitik. Wilfried Krug, Diplom-Volkswirt, geb. 1952; Studium der Volkswirtschaftslehre in Saarbrücken und Washington, D. C.; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Wirtschaftswissenschaft der Universität des Saarlandes.
Helfen Sie mit, unser Angebot zu verbessern!
Ihre Meinung zählt: Wie nutzen und beurteilen Sie die Angebote der bpb? Das Marktforschungsinstitut Info GmbH führt im Auftrag der bpb eine Umfrage zur Qualität unserer Produkte durch – natürlich vollkommen anonym (Befragungsdauer ca. 20-25 Minuten).