Strategieinterpretationen und Rüstungskontrollkonzepte Anmerkungen zum NATO-Doppelbeschluß
Hans Rattinger
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Zusammenfassung
Seit dem Doppelbeschluß der NATO vom Dezember 1979 über die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper in Westeuropa stehen Fragen der Rüstungskontrolle in Europa im Brennpunkt öffentlichen Interesses und politischer Auseinandersetzungen um die Gewichte seiner beiden Komponenten „Verhandlung" und „Nachrüstung“, in diesem Beitrag wird gezeigt, daß hinter den gegensätzlichen Positionen in der Regel — und oft unausgesprochen — unterschiedliche Auffassungen über die westliche Militärstrategie stehen, daß also die Diskussion um Rüstungskontrolle nur im Rahmen einer Diskussion um Strategie sinnvoll ist. Die gültige Militärstrategie der NATO, „flexible response", ist seit ihrer offiziellen Annahme 1967 noch nie einheitlich interpretiert worden. Ihre zwei wichtigsten Deutungen kann man als „Eskalationsstrategie“ und als „Kriegführungsstrategie“ bezeichnen. Das oberste Ziel beider ist Kriegsverhütung durch Abschreckung. Während aber die erstere Auslegung Abschreckung vor allem dadurch als wirksam ansieht, daß der Gegner für den Fall einer Aggression mit unannehmbaren Zerstörungen rechnen müßte, beruht nach der zweiten Auslegung Abschreckung auf der Gewißheit des Gegners, einen militärischen Konflikt nicht zu seinen Gunsten entscheiden zu können. Diesen beiden Strategieinterpretationen entsprechen unterschiedliche militärische Potentialerfordernisse und Lagebeurteilungen. Für die Kriegführungsstrategie spielt der fortwährende Vergleich der Kräfte von NATO und Warschauer Pakt eine große Rolle; die gegenwärtige Lage wird als durch Disparitäten und westliche Unterlegenheit gekennzeichnet betrachtet. Bei Vertretern der Eskalationsstrategie herrscht dagegen die Auffassung vor, daß, solange die gesicherte westliche Fähigkeit zur nuklearen Eskalation gegeben sei, wovon gegenwärtig ausgegangen wird, genaue Zahlenverhältnisse in einzelnen Rüstungsbereichen eher zweitrangig seien. Zweckbestimmungen der Rüstungskontrolle hängen mit Beurteilungen der militärischen Lage eng zusammen. Werden Ungleichgewichte und westliche Unterlegenheit als wichtigste Aspekte der gegenwärtigen Situation gesehen, bleibt der Rüstungskontrolle nur die Aufgabe, als Ergänzung eigener westlicher Rüstungsanstrengungen an der Veränderung des militärischen Kräfteverhältnisses zu eigenen Gunsten mitzuwirken. Hält man dagegen stabile gegenseitige Abschreckung für eine treffende Charakterisierung des militärischen Ost-West-Verhältnisses, dann kann man Rüstungskontrolle mit größerer Flexibilität handhaben und daneben auch für ökonomische oder politische Zwecke einsetzen. Die möglichen Motivationen der Rüstungskontrolle sind nicht ohne Folge für die konkreten Verhandlungsziele. Soll Rüstungskontrolle der militärischen Stabilisierung dienen, muß sie bedrohliche militärische Handlungsweisen der Gegenseite unwahrscheinlicher machen. Da entsprechende asymmetrische zahlenmäßige Beschränkungen der östlichen Arsenale kaum verhandelbar sein dürften, sinkt in der Kriegsführungsstrategie das Interesse an Rüstungskontrolle in Europa bzw. es beschränkt sich auf die sogenannten „vertrauensbildenden Maßnahmen". Mit der in der Eskalationsstrategie denkbaren ökonomischen oder politischen Instrumentalisierung der Rüstungskontrolle dagegen wären auch numerische Rüstungskontrollabkommen vereinbar, welche die militärische Ausgangstage der NATO nicht verbessern, solange ihre Eskalations-und Vergeltungsfähigkeit unangetastet bleibt. Die zukünftigen Konturen der konventionellen und eurostrategisch-nuklearen Rüstungskontrolle für diesen Kontinent sind derzeit so unklar, weil die gegensätzlichen strategischen Deutungsmuster nicht zu einheitlichen Aussagen über Zwecke und Ziele der Rüstungskontrolle gelangen. Im Fall der eurostrategischen „Nachrüstung" der NATO ist wie nie zuvor deutlich geworden, daß Rüstungskontrolle nur im Kontext der Militärstrategie bewertet werden kann.
I. Einleitung
Wohl nie zuvor haben Fragen der Rüstungskontrolle in Europa hierzulande soviel Aufmerksamkeit gefunden wie seit dem Doppelbeschluß der NATO vom 12. Dezember 1979 über die Stationierung von 572 amerikanischen Mittelstreckenraketen und Marschflugkörpern in einigen westeuropäischen Mitgliedstäaten des Bündnisses. Der Beschluß sieht vor, etwa ab 1983 folgende Potentiale aufzubauen: in der Bundesrepublik 108 Pershing II Mittelstreckenraketen und 24 Startgeräte für landgestützte Marschflugkörper (ground launched cruise missiles = GLCM) mit jeweils vier Flugkörpern, zusammen also 96 Raketen, 160 Marschflugkörper in Großbritannien, 112 in Italien und jeweils 48 in Belgien und den Niederlanden. Alle 572 Systeme sollen mit jeweils einem nuklearen Sprengkopf ausgerüstet sein. Die Vereinigten Staaten wollen möglichst rasch 000 nukleare Gefechtsköpfe aus Europa abziehen; die 572 Sprengköpfe für die neuen Systeme sollen innerhalb des derart verminderten Bestandes untergebracht werden. Parallel dazu sollen Verhandlungen mit der Sowjetunion angestrebt werden über die Vereinbarung von Begrenzungen für amerikanische und sowjetische landgestützte und für den Einsatz in Europa bestimmte Kernwaffensysteme mit großer Reichweite 1).
Die in der Bundesrepublik um den Doppelbeschluß entbrannten Kontroversen sind bekannt. Sie gehen im Kern um das relative Gewicht seiner beiden Komponenten „Verhandlung“ und „Nachrüstung“. In beiden Regierungsparteien werden dazu sehr gegensätzliche Standpunkte vertreten. Die Regierung beharrt darauf, das Nachrüstungsprogramm so-lange fortzusetzen und durchzuführen, bis konkrete Verhandlungsergebnisse es entbehrlich machen oder seine Einschränkung gestatten. Andererseits wird gefordert, die Nachrüstung auszusetzen und rasch Verhandlungen zu eröffnen, um nach einer Einigung mit der Sowjetunion auch längerfristig auf die geplanten Systeme verzichten zu können. Als wichtiges Argument für diese Abkehr vom Doppelbeschluß wird angeführt, daß eine der zentralen „Geschäftsgrundlagen" für seine Unterstützung mit der Verschiebung der Ratifikation von SALT II auf unbestimmte Zukunft in den Vereinigten Staaten entfallen sei. Deutlicher als durch die mehr oder weniger verklausulierten Rücktrittsdrohungen des Bundeskanzlers von Mitte Mai 1981 hätte die Ernsthaftigkeit dieser Auseinandersetzungen kaum unterstrichen werden können.
Der Lärm der innenpolitischen Schlacht um den NATO-Doppelbeschluß hat zwar mitgeholfen, in der westdeutschen Öffentlichkeit die Auffassung zurückzudrängen, die Kontrolle nuklearer Rüstungen in Europa sei ausschließlich Sache der beiden Großmächte. Gleichzeitig wurde aber der konventionelle Bereich der europäischen Rüstungskontrolle, der sich ohnehin noch nie besonders breiter Aufmerksamkeit erfreuen durfte, noch weiter in den Hintergrund gerückt. Die seit 1973 geführten Wiener MBFR-Verhandlungen über beiderseitigen und ausgewogenen Truppenabbau stagnieren seit Jahren; ihre einzelnen Runden — die 23. und bisher letzte fand von Januar bis Ostern 1981 statt — werden in der Presse inzwischen bestenfalls noch einiger Zeilen für würdig befunden Der Druck öf-fentlicher Erwartungen auf diese Gespräche, wie er sich etwa in der Kritik des SPD-Fraktionsvorsitzenden Wehner im Frühjahr 1979 an der westlichen Verhandlungsposition in Wien widerspiegelte, ist durch die Nachrüstungsdebatte stark vermindert worden, was die Chancen einer Übereinkunft nicht gerade verbessert hat. Derzeit knüpfen sich an die MBFR-Gespräche kaum große Hoffnungen. Ihr politischer Sinn besteht vor allem nur noch darin, ein etabliertes Forum des sicherheitspolitischen Dialogs zwischen NATO und War-schauer Pakt nicht aufzugeben, auch wenn konkrete Ergebnisse von ihm gegenwärtig nicht erwartet werden können.
Schon die Stagnation der MBFR-Verhandlungen, die gegenseitige Blockierung der beiderseitigen Verhandlungsziele und die anschließende Datendiskussion hatten gezeigt, daß die Rüstungskontrollpolitik des westlichen Bündnisses für Europa einer sorgfältigen Überprüfung bedarf, wobei vorrangig zwei Fragen zu klären sind. Die erste Frage lautet: Wozu eigentlich Rüstungskontrolle? Für welche allgemeinpolitischen Vorgaben kann und soll Rüstungskontrolle in Europa einen Beitrag leisten, was soll sie erreichen? Die zweite Frage ist aus der Antwort auf die erste abzuleiten: Welche konkreten Verhandlungsziele sollen eingebracht, welche Verhandlungsergebnisse angesteuert werden, damit die Rüstungskontrolle in Europa tatsächlich den ihr im ersten Schritt gesetzten Zweck erfüllt? Die Meinungsverschiedenheiten über den NATO-Doppelbeschluß haben eine solche kritische Standortbestimmung der westlichen Rüstungskontrollpolitik noch viel notwendiger und dringender werden lassen, zumal seine Rüstungskontrollkomponente noch recht vage ist. Wenn man davon ausgeht, daß sie nicht als Beruhigungspille für die Gegner jeglicher Nachrüstung gedacht ist, zu welchem Zweck soll dann über die Begrenzung nuklearer Waffensysteme in Europa mit größerer Reichweite verhandelt werden und welches Ergebnis sollten solche Verhandlungen haben?
Der vorliegende Beitrag geht von der These aus, daß es auch nach einer gründlichen rüstungskontrollpolitischen Neubewertung auf diese Fragen keine eindeutigen Antworten geben kann, daß vielmehr hinter unterschiedlichen Antworten seit langem divergierende Auffassungen über die Strategie der westlichen Allianz stehen. Im Jahre 1961 formulierten Thomas Schelling und Morton Halperin in ihrem inzwischen klassischen Buch „Strategy and Arms Control", daß die Ziele der Rüstungskontrolle und der Militärstrategie identisch sein müßten: Vermeidung von Kriegen, Schadensbegrenzung im Konfliktfall und eine Begrenzung endlosen Wettrüstens Diese einfache Gleichung geht schon lange nicht mehr auf. Da es keine einheitliche Auslegung der Militärstrategie der NATO gibt — wahrscheinlich nie gegeben hat —, haben wir auch von der Möglichkeit gegensätzlicher Zweck-vorgaben für die Rüstungskontrolle auszugehen. Zwischen verschiedenen Interpretationen von Militärstrategie und verschiedenen Rüstungskontrollkonzeptionen bestehen enge logische Beziehungen, die oftmals in der politischen und wissenschaftlichen Diskussion unterschlagen und vernachlässigt werden. Voraussetzung für die Bewertung der zukünftigen Richtungen und Aussichten der Rüstungskontrolle in Europa ist also, die zentralen Interpretationsmuster für die Strategie der NATO und ihre Implikationen für Ansätze zur Rüstungskontrolle herauszuarbeiten. Die Beschränkung auf Europa bedeutet nicht, daß die Bemühungen um Kontrolle strategischer Rüstung von der Diskussion um die Militärstrategie der NATO nicht berührt würden. Aus Platzgründen ist es aber hier nicht möglich, die im folgenden vorzutragenden Überlegungen über den Zusammenhang zwischen Strategie und Rüstungskontrolle auch für den SALT-Prozeß zu konkretisieren.
Aus diesen Überlegungen leitet sich die folgende Struktur dieses Beitrags ab: Zunächst sind kurz die Militärstrategie der NATO, ihre Grundwidersprüche und ihre verschiedenen Auslegungen zu erläutern. Anschließend wird das Verhältnis zwischen Strategieinterpretationen einerseits und militärischen Potential-erfordernissen und Lagebeurteilungen andererseits dargestellt, weil die Aufgaben der Rüstungskontrolle nur im Rahmen solcher Überlegungen zur militärischen Ausgangssituation definiert werden können. Hat man Klarheit über die möglichen und sinnvollen Zweckbestimmungen der Rüstungskontrolle gewonnen, dann kann man sich zum Schluß der Bandbreite konkreter Rüstungskontrollziele für Europa und ihren Zukunftsaussichten zuwenden. Der logische Aufbau dieser Argumentationskette wird durch Abbildung 1 wiedergegeben.
II. Die NATO-Strategie der flexible response
Abbildung 7
Tabelle 1: O E z #0 • E 2 3 Mittelstreckenraketen Kurzstreckenraketen Unterseebootraketen Summe Raketen Kampfflugzeuge Summe Kurzstreckenraketen Unterseebootraketen") Summe Raketen Kampfflugzeuge Summe französische Systeme Summe incl.französische Systeme Der Zielplanung des NATO-Oberbefehlshabers Europa (SACEUR) unterstellte amerikanische Poseidon-Unterseebootraketen Summe incl.französische Systeme incl. Poseidon Waffensysteme 600 668 69 1337 3 993 5 330 180 64 244 1 055 1 299 213 1 512 40 1552 Verfügbare S
Tabelle 1: O E z #0 • E 2 3 Mittelstreckenraketen Kurzstreckenraketen Unterseebootraketen Summe Raketen Kampfflugzeuge Summe Kurzstreckenraketen Unterseebootraketen") Summe Raketen Kampfflugzeuge Summe französische Systeme Summe incl.französische Systeme Der Zielplanung des NATO-Oberbefehlshabers Europa (SACEUR) unterstellte amerikanische Poseidon-Unterseebootraketen Summe incl.französische Systeme incl. Poseidon Waffensysteme 600 668 69 1337 3 993 5 330 180 64 244 1 055 1 299 213 1 512 40 1552 Verfügbare S
1967 setzte die NATO nach langjähriger bündnisinterner Diskussion die Militärstrategie der „flexible response“ an die Stelle der Doktrin massiver nuklearer Vergeltung. „Massive retaliation" sollte in den fünfziger Jahren die konventionelle militärische Überlegenheit der Sowjetunion dadurch kompensieren, daß der Einsatz der überlegenen amerikanischen Nuklearstreitmacht auch für den Fall begrenzter und ausschließlich konventionell vorgetragener östlicher Übergriffe angedroht wurde Im Gegensatz dazu soll die Strategie der „flexible response", der flexiblen Reaktion, nach der Lesart des Verteidigungsweißbuchs 1979 dadurch abschrecken, daß die per difinitionem defensive NATO drei militärische Reaktionsarten vorbereitet, die je nach Konflikt nacheinander oder gleichzeitig ausgeführt werden sollen: „Die Direktverteidigung soll dem Aggressor verwehren, sein Ziel zu erreichen, und zwar auf der Stufe des militärischen Konflikts, die der Angreifer gewählt hat Entweder scheitert damit die Aggression oder der Aggressor wird mit der Gefahr der Eskalation konfrontiert. Die NATO schließt den Einsatz nuklearer Waffen nicht aus.
Die Vorbedachte Eskalation soll einen Angriff dadurch abwehren, daß die Qualität des Abwehrkampfes durch den Einsatz nuklearer Waffen verändert oder der Konflikt räumlich ausgedehnt wird. Dem Angreifer soll durch den politisch kontrollierten selektiven Einsatz nuklearer Waffen deutlich gemacht werden, daß Erfolgschance und Risiko für ihn nicht mehr in einem tragbaren Verhältnis stehen. Außerdem kann der Angreifer auch dort getroffen werden, wo er besonders verwundbar ist, oder mit Mitteln, die denen des Angreifers überlegen sind.
Die Allgemeine Nukleare Reaktion richtet sich vor allem gegen das strategische Potential des Angreifers und bedeutet den Einsatz der nuklear-strategischen Waffen der Allianz. Seine Androhung ist das stärkste Abschrekkungsmittel, seine Anwendung die stärkste militärische Reaktion der, NATO."
Jeder dieser drei Reaktionsarten entspricht eine Komponente der westlichen Rüstung: Konventionelle Truppenverbände, nukleare Kräfte in und für Europa (atomare Sperrmittel, Nuklearartillerie, mit atomaren Bomben und Luft-Boden-Raketen bestückbare Jagdbomber und Bomber, Kurz-und Mittelstreckenraketen, dem alliierten Oberbefehlshaber für Europa SACEUR zugeordnete amerikanische Polaris-Unterseebootraketen), strategische Kernwaffen (strategische Bomberflotte, Interkontinentalraketen, Unterseebootraketen). Ein zentrales Prinzip der NATO-Strategie ist das der Vorneverteidigung, der grenznahen Abwehr mit dem Ziel, möglichst wenig Gebiet zu verlieren. Elastische Verteidigung in der Tiefe des Raumes ist für die westeuropäischen Mitglieder der Allianz nicht akzeptabel. In einem Streifen von 100 km Breite entlang der Ost-grenzen der Bundesrepublik sind 30% ihrer Bevölkerung und 25% ihres Industriepotentials angesiedelt.
Es kann nicht genug betont werden, daß die Strategie der flexiblen Reaktion die Bereitschaft zum nuklearen Ersteinsatz durch die NATO auf allen drei Konfliktstufen verlangt — sofern natürlich nicht der Gegner selbst sofort mit Kernwaffen angreift Absprachen über den Verzicht auf nuklearen Ersteinsatz wären mit dieser geltenden westlichen Doktrin völlig unvereinbar. Die Möglichkeit der Notwendigkeit des nuklearen Ersteinsatzes auf allen Es-kalationsebenen stellt eines der Kernprobleme der Strategie der flexiblen Reaktion dar Auf der untersten Ebene des Kernwaffeneinsatzes auf dem Gefechtsfeld im Rahmen der Direktverteidigung ist es am wenigsten ausgeprägt, weil er im konkreten Konfliktfall wahrscheinlich allein verhindern könnte, daß die Verteidigungslinien der NATO und die nuklearen Waffensysteme zu ihrer Unterstützung konventionell überrannt würden. Schon die vorbedachte nukleare Eskalation leidet aber unter Glaubwürdigkeitsproblemen. Sofern nämlich dabei auch militärische und zivile Ziele im Hinterland des Gegners angegriffen werden sollten, müßte die Gefahr einkalkuliert werden, daß durch die Reaktion der Sowjetunion dem viel engeren und konzentrierteren westeuropäischen Hinterland der NATO ein ähnliches Schicksal widerfahren könnte.
Noch fragwürdiger ist die Drohung mit der allgemeinen nuklearen Reaktion. Zum einen ist es nicht unwahrscheinlich, daß sie genau dann zur Diskussion stünde, wenn sich im Konflikt-ablauf erwiesen hätte, daß weder Direktverteidigung noch vorbedachte Eskalation den Gegner zur Aufgabe der Aggression zwingen konnten. In dieser Situation könnte durch vor-bedachte Eskalation der NATO und Gegeneskalation des Warschauer Pakts die Zerstörung Mitteleuropas bereits soweit forgeschritten sein, daß die allgemeine nukleare Reaktion nicht mehr dem Schutz Westeuropas dienen würde, sondern nur noch den Charakter einer Strafexpedition trüge. Militärische Lagen in Europa, die zur allgemeinen nuklearen Reaktion führen müßten, nehmen ihr dann paradoxerweise jeglichen Sinn.
Zum zweiten wirft die allgemeine nukleare-Reaktion als Erstschlag zusätzlich das Dilemma auf, daß von den strategisch selbst noch nicht angegriffenen Vereinigten Staaten verlangt wird, den ersten nuklear-strategischen Schlag zu führen und eine gleichartige Reaktion hinzunehmen. Die von Verteidigungsminister Schlesinger 1974 verkündeten „beschränkten nuklearen Optionen" und die Presidential Directive 59 vom Sommer 1980 über selektive strategische Nuklearschläge stellen konsequenterweise Versuche dar, diesem Dilemma zu entgehen, indem zwischen vorbedachte Eskalation und allgemeine nukleare Reaktion eine vierte Reaktionsform des demonstrativen strategischen Einsatzes gegen das strategische Potential des Gegners eingeschoben wird. Daß es sich um erfolgreiche Versuche handelt, kann man freilich bezweifeln. Die Gefahr der unakzeptablen Zerstörung Westeuropas im Vollzug der vorbedachten Eskalation läßt sich durch selektive strategische Schläge auch nicht bannen. Ferner müßte es gelingen, der Sowjetunion in einer fortgeschrittenen Konfliktphase die Differenzierung zwischen selektiven strategischen Nuklearschlägen und einem Entwaffnungsversuch zu kommunizieren. Der Widerspruch zwischen nuklearstrategischem Ersteinsatz und beiderseits gesicherter Fähigkeit zum vernichtenden zweiten Schlag schließlich wurde nicht aufgehoben, sondern nur zeitlich etwas hinausgezögert.
Ein weiteres Grundproblem der NATO-Strategie der flexiblen Reaktion besteht in der Unsicherheit über Art und Zeitpunkt nuklearer Eskalationsschritte. Die Auslösung der Eskalation für den Gegner unklar zu lassen, macht aus der Not der Uneinigkeit eine Tugend, bevorzugen doch die Europäer vorwiegend die Androhung frühzeitiger nuklearer Eskalation, wogegen man in den Vereinigten Staaten die nukleare Schwelle lieber möglichst hoch legen möchte. Ähnliche Meinungsverschiedenheiten herrschen bezüglich des Gegensatzes zwischen umfassender oder demonstrativ-selektiver Eskalation. Während amerikanische Strategen vorbedachte Eskalation zunächst vor allem als „Schuß vor den Bug“ oder höchstens als „begrenzten Nuklearkrieg" auffassen, wird sie in Europa eher als allgemeine Anhebung des Konfliktes auf die nukleare Ebene ausgelegt
Europäisch-amerikanische Interessenunterschiede sind aber nur eine Dimension dieser Kontroversen, zumal Interessen an deklaratorischer Politik und im konkreten Konfliktfall auseinanderfallen können. Angesichts existenzieller Gefährdung eigener Truppenverbände könnte in diesem Fall die amerikanische Bereitschaft zur raschen und intensiven nuklearen Konfliktausweitung diejenige der Europäischen NATO-Staaten übertreffen, die sie zum großen Teil auf eigenem Territorium gewärtigen müßten. Die in Friedenszeiten zur NATO-Strategie bezogenen Positionen könnten sich so im Kriegsfall möglicherweise genau umkehren. Dies weiter zu vertiefen, ist hier nicht möglich. Es sollte nur verdeutlicht werden, wie offen die Strategie der flexiblen Reaktion für Kritik und divergierende Auslegungen ist Auf zwei solche grundsätzlich verschiedenen Interpretationen wird im folgenden etwas genauer eingegangen.
III. Zwei Interpretationen der flexible response
Die Militärstrategie der flexiblen Reaktion hat zum Ziel, Krieg durch Abschreckung zu verhüten. Glenn Snyder führte in den sechziger Jahren die Differenzierung zwischen „Abschrekkung durch Verweigerung von Erfolgsaussichten" (deterrence by denial) und . Abschreckung durch Strafandrohung" (deterrence by punishment) in die Abschreckungstheorie ein Das Begriffspaar im Titel von Helmut Schmidts Buch „Verteidigung oder Vergeltung" ist an Snyders Kategorien orientiert Was bedeutet dieses Begriffspaar für die inhaltliche Präzisierung der Abschreckungsdoktrin der NATO? „Abschreckung ist die Einwirkung auf den Willen eines potentiellen Gegners, die ihn zum Verzicht auf eine mögliche oder bereits begonnene Aggression bewegen soll, indem er zur Überzeugung gebracht wird, daß er bei einem Angriff oder dessen Fortführung mehr verlieren als gewinnen oder doch nicht die erwarteten Vorteile erlangen würde." Die Variante der „Abschreckung durch Verweigerung von Erfolgsaussichten" sieht die eigene Fähigkeit zur wirksamen Kriegführung und Verteidigung als dafür ausschlaggebend an, daß der Gegner auf Aggressionen verzichtet. Er wird vom Angriff nicht so sehr dadurch abgehalten, daß eine strategisch-nukleare Reaktion auf seine Aggression den Fortbestand seiner sozialen Werte gefährden könnte, sondern durch die klare Aussicht der Unmöglichkeit eines Erfolges. Der Abschreckungswert der flexiblen Reaktion ist also danach zu beurteilen, in welchem Ausmaß die NATO in der Lage ist, einem Gegner auf jeder Konfliktstufe einen militärischen Erfolg einer Aggression zu verweigern, wenn nicht sogar jede militärische Auseinandersetzung zu ihren eigenen Gunsten zu entscheiden. Die annähernde Gewißheit ihrer Erfolglosigkeit macht Aggression für einen rationalen Gegenspieler unattraktiv, so daß es die Hauptaufgabe von Strategie und Sicherheitspolitik sein muß, eine entsprechende Wahrnehmung bei den Entscheidungsträgern des Warschauer Pakts herbeizuführen. Voraussetzungen für die Wirksamkeit dieser Abschreckungsstrategie sind natürlich, daß die NATO entsprechende militärische Potentiale bereithält und zu ihrem Einsatz entschlossen ist und dies im Warschauer Pakt realistisch eingeschätzt wird.
Die Existenz von Kernwaffen bedeutet nach dieser Interpretation der flexiblen Reaktion keine grundsätzliche Veränderung der Rolle militärischer Macht. Vielmehr gilt auch für diese Waffen, daß die bewußte und wirkungsvolle Vorbereitung auf begrenzte und kontrollierte nukleare Kriegführung der Gegenseite vor Augen führt, daß sie auch durch nuklearen Einsatz keinen militärischen Konflikt zu ihren Bedingungen führen und zu ihren Gunsten entscheiden kann. Diese Konzeption der Abschreckung mißt naturgemäß sämtlichen militärischen Potentialen beider Seiten und ihrem fortwährenden Vergleich große Bedeutung bei. Ihre Vertreter sind in den Vereinigten Staaten wesentlich häufiger zu finden als in Europa, weil flexible Reaktion als „Kriegführungsstrategie'’ den Vorteil bietet, bei ihr entsprechenden konventionellen Potentialen der NATO die Wahrscheinlichkeit der Notwendigkeit nuklearer Eskalation in Europa — oder gar bis zur strategischen Ebene — zu senken. Man übertreibt höchstens geringfügig, wenn man sagt, daß die Vereinigten Staaten die Doktrin der flexiblen Reaktion seit 1961 in der NATO vor allem propagierten, um die Bedeutung der Drohung mit dem allgemeinen Kernwaffenkrieg zugunsten einer verstärkten westlichen Verteidigungsfähigkeit zurückzudrängen
Die Interpretation der flexiblen Reaktion als einer Doktrin der . Abschreckung durch Strafandrohung" sieht in der gegenseitigen Bedrohung beider Militärblöcke durch nukleare Zerstörungspotentiale eine völlig neuartige Situation, in der Überlegungen über die Führbarkeit oder Gewinnbarkeit militärischer Auseinandersetzungen auf verschiedenen Eskalationsstufen obsolet geworden sind. Aggressionen werden nicht dadurch abgeschreckt, daß sie — nach welchen beim Gegner unterstellten pseudo-rationalen Kalkulationen auch immer — keinerlei oder zu geringe Aussichten auf den erstrebten Erfolg haben, sondern durch die nicht mit Gewißheit ausschaltbare Möglichkeit, daß durch die prinzipiell unvorhersehbare Reaktion auf die Aggression ein rational nicht akzeptierbarer Schaden an den eigenen gesellschaftlichen Werten entsteht. Für diese Einschätzung des abzuschreckenden Aggressors ist der auf der Seite der Angegriffenen erlittene Schaden irrelevant.
Im Gegensatz zur Auffassung der flexiblen Reaktion als einer Strategie der Fähigkeit zur erfolgreichen Kriegführung auf allen Stufen wird sie hier als „Eskalationsstrategie", als Strategie der gesicherten Fähigkeit zur nuklearen Eskalation und Vergeltung betrachtet. Die strategische Doktrin der gesicherten Vergeltung (assured destruction) führt dem Gegner die Aussicht vor Augen, bei einer Aggression durch keinerlei militärischen Einsatz verhindern zu können, daß er durch strategische Gegenschläge als lebensfähige Industriegesellschaft vernichtet wird. Sind für den Erfolg der Abschreckung in der ersten Variante die militärischen Potentiale beider Seiten und ihre Konkurrenz entscheidend, so sind es in der zweiten Variante vor allem ein gegenüber feindlicher Einwirkung unverletzliches atomares Vergeltungspotential, seine hinreichend glaubhafte Anbindung an die nukleare Eskalation und die Wahrnehmung des potentiellen Angreifers, daß dieses Potential zu unerträglicher Zerstörung führen und tatsächlich eingesetzt würde.
Eine solche Interpretation der flexiblen Reaktion, die in dem Risiko der Eskalation zum allgemeinen Kernwaffenkrieg den wichtigsten Abschreckungsfaktor sieht, hält innerhalb der neuen NATO-Strategie an zentralen Bestandteilen der Doktrin der massiven Vergeltung fest. Ohne diese Auslegungsfähigkeit wäre die Strategie der flexiblen Reaktion von den westeuropäischen NATO-Staaten kaum ratifiziert worden, in deren sicherheitspolitischen Denkmustern die Abschreckung durch Vergeltungsdrohungen nach wie vor einen großen Stellenwert hat
Der zentrale Einwand gegen flexible Reaktion als Eskalationsstrategie lautet, daß sie im — zugegebenermaßen unwahrscheinlichen — Fall einer östlichen Aggression in Europa, die von der NATO durch den Einsatz konventioneller Rüstung nicht zum Scheitern gebracht werden kann, neben dem rechtzeitigen Einlenken einer oder beider Seiten nur die Alternative zwischen gegenseitiger nuklear-strategischer Ausrottung und einseitiger Kapitulation bereithält. Präsident Nixon wies 1971 diese Alternative sogar für die vom amerikanischen Standpunkt aus noch gravierendere Situation einer direkten atomaren Attacke auf die USA zurück: „Mir und meinen Nachfolgern darf nicht als einzige mögliche Antwort auf eine Herausforderung die undifferenzierte Vernichtung feindlicher Zivilisten zur Verfügung stehen. Dies um so mehr, als diese Antwort die Wahrscheinlichkeit einschließt, Kernwaffenangriffe auf unsere eigene Bevölkerung auszulösen."
Der flexiblen Reaktion als Kriegführungsstrategiewird andererseits angelastet, daß sie Konflikte der unteren Eskalationsstufen durch theoretische Verringerung der Kopplung zum allgemeinen Kernwaffenkrieg führbarer und damit wahrscheinlicher mache, daß sie aber letzten Endes die Notwendigkeit ihrer nuklear-strategischen Eskalation auch nicht mit Sicherheit ausschalten könne, wenn die NATO sich — entgegen allen Forderungen und Hoffnungen — mit konventionellen Mitteln und eventuell nuklearer Gefechtsfeldunterstützung eines Angriffs nicht erwehren kann, überdies wird ihr entgegengehalten, daß sie von unrealistischen Vorstellungen über die Rationalität von Entscheidungsträgern in extremen Krisensituationen ausgehe und die Psychologie der Abschreckung verzerre. Im Gegensatz zur Abschreckung durch Strafandrohung, die zwar auf der Furcht vor unannehmbarem Schaden beruht, setze die Kriegführungsstrategie beim Gegner die Fähigkeit voraus, Konfliktabläufe und -resultate verläßlich vorauszusagen. Angesichts der präzise, aber nicht abschätzbaren Möglichkeit, dadurch die Existenz der eigenen Gesellschaft in ihrer bisherigen Form aufs Spiel zu setzen, seien Kalkulationen der Gegenseite über etwaige Mißerfolge bei begrenzten militärischen Aggressionen wahrscheinlich überhaupt nicht durchführbar, auf jeden Fall jedoch zweitrangig
Diese Diskussionen können hier nicht vertieft werden. Statt dessen wenden wir uns nun den mit diesen beiden Interpretationen der NATO-Strategie verbundenen Anforderungen an westliche Militärpotentiale und Lagebeurteilungen zu, welche die Spielräume für Rüstungskontrolle in beiden Konzeptionen definieren.
IV. Strategieinterpretationen, Potentialerfordernisse und Lagebeurteilungen
Flexible Reaktion als Kriegführungsstrategie bedarf zu ihrer Glaubwürdigkeit eindeutiger und umfassender militärischer Potentiale. Der Westen muß dem Warschauer Pakt in allen Bereichen der militärischen Rüstung ebenbürtig, besser noch überlegen sein. Nur dann besitzt er die sogenannte „Eskalationsdominanz" also die Fähigkeit, sich auf allen Konfliktebenen erfolgreich zu verteidigen und die kontrollierte nukleare Eskalation entsprechend den eigenen politisch-militärischen Notwendigkeiten anzudrohen und notfalls auch durchzuführen. Konventionelle und taktisch-nukleare militärische Disparitäten zu ungunsten der NATO dagegen schaffen im Konfliktfall automatische Eskalationszwänge und sind deshalb mit dieser Strategieinterpretation unvereinbar. Wenn die NATO die nach der Kriegführungsstrategie erforderlichen Kräfte nicht besitzt, einem Angriff des War-schauer Pakts durch konventionellen oder taktisch-nuklearen Einsatz mit großer Sicherheit den erwünschten Erfolg zu verwehren, beruht ihre Abschreckungsfähigkeit letzten Endes doch wieder nur auf der Drohung mit dem Einsatz strategischer Kernwaffen. Versagt die Abschreckung, ist das westliche Bündnis beim zu erwartenden Scheitern der ersten beiden Stufen der flexiblen Reaktion zur Ausweitung des Konflikts zum allgemeinen Kernwaffen-krieg gezwungen.
Daß die militärischen Voraussetzungen der Kriegführungsstrategie erfüllt sind, wird häufig bezweifelt. Bei den strategischen Arsenalen der beiden Supermächte sehen viele Beobachter zumindest gegenseitige Neutralisierung durch die in SALT zur Maxime erhobene Parität Daraus zog Henry Kissinger 1979 in einer bekannt gewordenen Rede den Schluß, die nuklearstrategischen Abschreckungsgarantien der Vereinigten Staaten für Europa seien unglaubhaft geworden Und Bundeskanzler Schmidt führte schon im Oktober 1977 vor dem Internationalen Institut für Strategische Studien in London aus: „SALT schreibt das nuklearstrategische Gleichgewicht zwischen der Sowjetunion und den USA vertraglich fest. Man kann es auch anders ausdrücken: Durch SALT neutralisieren sich die strategischen Nuklearpotentiale der USA und der Sowjetunion. Damit wächst in Europa die Bedeutung der Disparitäten auf nuklear-taktischem und konventionellem Gebiet zwischen Ost und West. Neben der These der wechselseitigen Neutralisierung der strategischen Kernwaffenpotentiale wird in jüngster Zeit auch zunehmend sogar die Auffassung vertreten, die Sowjetunion sei auf dem besten Weg, sich die Fähigkeit zum entwaffnenden ersten Schlag gegen die amerikanischen Interkontinentalraketen zuzulegen
Wie dem auch sei, der Übergang zur strategischen Parität hat für die flexible Reaktion als Kriegführungsstrategie die Bedeutung von konventionellen und taktisch-nuklearen Kräftevergleichen ansteigen lassen. Im letzteren Bereich findet sich — parallel zur strategischen Balance — die Lagebeurteilung, die in Europa stationierten Kernwaffen der westlichen Allianz seien vor allem durch die massive Einführung der mobilen und nachladbaren sowjetischen SS-20-Mittelstreckenraketen unterlegen und yerwurdbar geworden Diese Beurteilung bildet den Hintergrund des NATO-Doppelbeschlusses vom Dezember 1979. Daß die konventionellen Verbände der NATO in Mitteleuropa denjenigen des War-schauer Pakts alles andere als ebenbürtig seien, steht für viele Autoren seit langem fest Die westliche Forderung in den Wiener MBFR-Verhandlungen nach asymmetrischen Truppenreduktionen ist aus dieser Einschätzung abgeleitet worden.
Die logische Konsequenz aus solchen pessimistischen Darstellungen der Fähigkeit der NATO zur tatsächlichen Verwirklichung der flexiblen Reaktion als Kriegführungsstrategie lautet: verstärkte westliche Aufrüstung. Bei den strategischen Waffen stehen vor allem die mobilen MX-Interkontinentalraketen, die Beschleunigung des Trident-Unterseebootpro-gramms und die Wiederbelebung des B-1-Bombers auf der Tagesordnung Bei den Kernwaffen in Europa werden die sogenannte „Nachrüstung“ der NATO mit Mittelstrecken-waffen und die Modernisierung der Kurzstreckensysteme gefordert. Letztere sollte bereits durch die von Präsident Carter gestoppte Entwicklung und Einführung von relativ kleinen Kernwaffen mit verstärkter Strahlungswirkung („Neutronenbomben'') bewerkstelligt werden, um die mit den hohen Sprengladungen und Zerstörungswirkungen der bisher für den Einsatz in Europa gelagerten amerikanischen Kernwaffen verbundenen Selbstabschreckungseffekte zu vermindern, die im Konfliktfall die NATO vor ihrem Einsatz angesichts der zu erwartenden Nebenwirkungen zurückschrecken lassen könnten Das langfristige Verteidigungsprogramm der NATO von 1978 sieht schließlich den Ausbau des konventionellen Potentials in einer Reihe von Punkten vor. Es geht extremen Konventionalisten aber nicht weit genug, welche die NATO in die Lage versetzen wollen, jeden konventionellen Krieg in Europa zu ihren Gunsten zu entscheiden
Für flexible Reaktion als Eskalationsstrategie sind die in der Kriegführungsstrategie angestellten Potentialvergleiche weniger bedeutungsvoll. Der zentrale Abschreckungsfaktor ist ein annähernd unverwundbares strategisches Vergeltungspotential, das durch nukleare Gefechtsfeldwaffen und eurostrategische Kernwaffen zu einem Eskalationskontinuum vervollständigt wird. Seine Hauptaufgabe ist die Kriegsverhütung durch Androhung unberechenbarer und unannehmbarer Zerstörungen. Die zentrale Frage nach militärischen Potentialen lautet im Rahmen dieser Strategie also, ob unter allen denkbaren Umständen die westliche Fähigkeit zur nuklearen Eskalation auf allen Stufen dergestalt gesichert ist, daß die Folgen der Eskalation für Bevölkerung, Wirtschaft und Industrie des Gegners untragbar erscheinen müssen. Solange die andere Seite solche Schäden durch ihre eigenen Streitkräfte nicht verhindern kann, ist ihr genauer Umfang im Grunde unbedeutend. Das psychologische Hauptproblem der Eskalationsstrategie lautet natürlich, ob es glaubhaft ist, für den Fall nicht gewinnbarer und nicht begrenzbarer Konflikte mit dem gegenseitigen atomaren Selbstmord zu drohen
Die militärischen Potentiale der NATO werden im Rahmen der Eskalationsstrategie nicht als unerträglich ungünstig beurteilt. Kleinere, begrenzte militärische Ost-West-Konflikte in Europa kann man mit großer Sicherheit ausschließen. Sollte der Warschauer Pakt aber einen groß angelegten Angriff gegen die NATO mit weitgehenden Kriegszielen vortragen, ist die Beschränkung des Konflikts auf ausschließlich konventionelle Waffensysteme weder vom Aggressor noch vom Verteidiger aus gesehen militärisch sinnvoll, planbar oder erzwingbar Für die NATO etwa wird in der Regel behauptet, daß sie eine massive Aggression des Warschauer Pakts in Mitteleuropa rein konventionell kaum aufhalten und zurückschlagen könnte und eine entsprechende militärische Kapazität aus Gründen der Kosten und der sozialen Durchsetzbarkeit auch kaum erwerben kann. Deshalb wäre sie in diesem Fall im Rahmen der Vorneverteidigung auf den raschen nuklearen Einsatz auf dem Gefechtsfeld angewiesen, wollte sie nicht beträchtliche anfängliche Geländeverluste und die überrennung ihrer nuklearen Kräfte zur Gefechtsfeldunterstützung und zur Abriegelung in der Tiefe riskieren. Daß die NATO über ein breites Spektrum entsprechender nuklearer Eskalationsoptionen verfügt, wird von niemandem ernsthaft bestritten Dadurch wird aber die Bedeutung des angeblich für den Westen so ungünstigen konventionellen Kräfteverhältnisses relativiert
Die zur Rechtfertigung des NATO-Doppel-beschlusses angeführte Überlegenheit der Sowjetunion hinsichtlich der für den Einsatz in Europa bestimmten Kernwaffen mittlerer und großer Reichweite wird im Rahmen der Eskalationsstrategie folgendermaßen bewertet: Erstens haben sich die Kräfteverhältnisse zwischen Ost und West in diesem Bereich nicht dramatisch verändert, und die Diagnose der deutlichen westlichen Unterlegenheit hängt stark von der Abgrenzung der in den Vergleich einbezogenen Waffensysteme ab. Beschränkt man sich auf landgestützte Mittelstreckenraketen und Mittelstreckenbomber, dann hat die NATO der Sowjetunion in Europa in der Tat nur sehr wenig entgegenzusetzen. Dieser Zustand ist aber keineswegs neu, sondern Mitte der sechziger Jahre war dieses Ungleichgewicht noch viel größer -Schließt man auch andere für Europa relevante Kernwaffenträger ein (Jagdbomber, auf Flugzeugträgern stationierte Bombenflugzeuge, Unterseebootraketen), dann ist das Bild ebenso konstant recht günstig für die NATO. Von dramatischen Effekten des sowjetischen Modernisierungsprogramms zur Ablösung von SS-4-und SS-5-durch SS-20-Mittelstreckenraketen auf den Kräftevergleich kann dann nicht mehr die Rede sein Die nukleare Eskalationsfähigkeit der NATO in Europa steht somit nicht in Frage.
Zweitens wird gefordert, die eurostrategische Rüstung unter dem aus der Analyse der strategischen Potentiale der Supermächte entlehnten Kriterium der beiderseits gesicherten Fähigkeit zur Vernichtung des Gegners im zweiten Schlag („mutual assured destruction") zu sehen. Ein derartiger Bewertungsversuch wurde erstmals 1980 vom Internationalen Institut für Strategische Studien in London vorgelegt. Er nennt zunächst für jede Seite verfgbaren Waffensysteme mit Reichweiten über 160 Kilometer und die aufgrund ihres nuklearen Nutzungsgrades, ihres Wartungs-Standes und ihrer Nutzlast verfügbaren AtomSprengköpfe Schließlich wird geschätzt, wie viele Sprengköpfe in einem Gegenschlag nach konzentriertem eurostrategischem Einsatz durch den jeweiligen Gegner unter Berücksichtigung ihrer Überlebensfähigkeit, Zuverlässigkeit und Durchdringungsfähigkeit gegenüber Abwehrmaßnahmen bei gegnerischen Zielen ankommen würden Diese Analyse ist in vereinfachter Form in Tabelle 1 wiedergegeben. Nach dieser Untersuchung besitzt die NATO nicht nur eindeutige nukleare Eskalationsfähigkeit in Europa, sondern auch eurostrategische Zweitschlagsfähigkeit. Sie wäre in der Lage, selbst nach dem Versuch eines sowjetischen Entwaffnungsschlages mit den verbleibenden, für den Einsatz in Europa vorgesehenen Kernwaffen eine sehr hohe Anzahl militärischer und ziviler Ziele im Bereich des Warschauer Pakts zu zerstören
Was schließlich die strategische Balance angeht, sehen die Vertreter der Eskalationsstrategie keine dramatischen Veränderungen, und sie verweisen auf die Schwierigkeit, strategische Potentialunterschiede bei beiderseitiger unverletzlicher Zweitschlagkapazität militärisch tatsächlich zu nutzen. Selbst wenn die landgestützten amerikanischen Interkontinentalraketen in den letzten Jahren für einen sowjetischen Angriff verwundbarer geworden sein sollten unterstreicht das nur die traditionelle Forderung die strategische Abschreckung auf relativ unverletzliche Systeme — d. h. also vor allem auf Unterseebootraketen — zu verlagern, um Anreize zum Entwaffnungsversuch mittels eines ersten strategischen Schlags zu verringern. SALT II würde dem nicht entgegenstehen, da es erlaubt, land-gestützte Interkontinentalraketen durch Unterseebootraketen zu ersetzen, nicht aber umgekehrt. Die gegenwärtigen Entwicklungen der Unterseebootabwehr lassen einen solchen Schritt nicht als untragbares Risiko erscheinen Für den Abschreckungszweck der Androhung von Eskalation und Vergeltung reicht das strategische Bomber-und Unterseeboot-potential der Vereinigten Staaten aus. Man könnte sogar argumentieren, daß ein amerikanischer Verzicht auf landgestützte Interkontinentalraketen die Glaubwürdigkeit von demonstrativen und selektiven strategischen Nukleareinsätzen gegen militärische Ziele der Gegenseite erhöhen dürfte, weil dadurch nicht mehr zu dem Versuch provoziert würde, die verbunkerten Interkontinentalraketen der Vereinigten Staaten auszuschalten.
V. Lagebeurteilungen und Zweckbestimmungen der Rüstungskontrolle
Wir haben gezeigt, inwiefern Strategieinterpretationen, Potentialerfordernisse und Einschätzungen der militärischen Lage zusam-menhängen. Ebenso eng sind militärische Lagebeurteilungen und Zweckbestimmungen der Rüstungskontrolle miteinander verbunden. Man kann allgemein dreierlei Anliegen unterscheiden, für die Rüstungskontrolle instrumentell eingesetzt werden kann: ökonomische, militärische und politische Unter ökonomischen Aspekten kann Rüstungskontrolle angestrebt werden, um Rüstungslasten zu verringern oder um sie zumindest für die Zukunft kalkulierbarer zu machen. Militärischen Vorgaben kann Rüstungskontrolle dienen, wenn sie hilft, militärische Kräfteverhältnisse zu verändern und/oder zu stabilisieren oder im Konfliktfall zu erwartenden Schaden zu begrenzen. Politisch bestimmte Zwecke der Rüstungskontrolle wären etwa eine Einschränkung des Wettrüstens, die Verminderung der Wahrscheinlichkeit gewaltsamer Konflikte, die Signalisierung friedlicher Absichten, internationaler Spannungsabbau oder schließlich die Absicht, eigene Bündnispartner von einseitigen Verringerungen ihrer Rüstungsanstrengungen abzuhalten Wird flexible Reaktion als Kriegführungsstrategie ausgelegt, dann werden für die Kriegführung auf allen Ebenen geeignete, dem War-schauer Pakt ebenbürtige militärische Potentiale gefordert, und es dominieren, weil sie derzeit fehlten, eine sorgenvolle Lagebeurteilung und die Wahrnehmung der Notwendigkeit von westlicher Aufrüstung und „Nachrüstung". Welche Rolle bleibt in einer solchen Strategieinterpretation für die Rüstungskontrolle? Da militärische Disparitäten und Instabilitäten als das entscheidende Merkmal der gegenwärtigen Situation angesehen werden, erscheint ihre Beseitigung als oberstes Gebot der Stunde, und die Rüstungskontrolle ist diesem Zweck unterzuordnen. Rüstungskontrolle hat genau dann Platz in einer solchen Strategie der NATO, wenn sie militärisch bedeutungsvoll ist, das heißt, die behauptete Unterlegenheit der NATO verringert und die Vorteile des Gegners abbaut. Rüstungskontrolle ist als Ergänzung oder Alternative zu eigener Aufrüstung aufzufassen und hat dem gleichen militärischen Zweck zu dienen, einen Gleichstand aller Rüstungspotentiale anzusteuern und die Balance dergestalt zu stabilisieren, daß dem Gegner Anreize genommen werden, ein überlegenes Potential als erster und in möglichst massivem Umfang einzusetzen
Das Beharren der NATO in den Wiener MBFR-Verhandlungen auf asymmetrischen Verminderungen von Mannschaftszahlen und Kampfpanzern entspricht dieser Zwecksetzung der Rüstungskontrolle ebenso wie die Vorstellung, durch Gespräche mit der Sowjetunion vor allem die Bedrohung Westeuropas durch landgestützte sowjetische Mittelstrekkenraketen zu verringern, ohne daß die NATO außer der Rücknahme oder Einschränkung ihres Nachrüstungsbeschlusses Gegenleistungen anzubieten bereit wäre, was kaum realistisch ist, wie weiter unten noch gezeigt wird. Solche vom Standpunkt der NATO aus militärisch wirkungsvollen Potentialbeschränkungen tragen aber Nullsummencharakter — was der eigenen Seite zum Vorteil gereicht, vermindert den Vorteil der anderen Seite. Abbau westlicher Unterlegenheit bedeutet Abbau östlicher Überlegenheit Derartige Beschränkungen militärischer Rüstungen sind kaum verhandelbar, da sie von der Sowjet-Union fordern würden, auf die „Früchte“ eigener intensiver Rüstungsanstrengungen praktisch ohne Kompensation zu verzichten.
Wer solche Forderungen erhebt, muß einfach zugeben, daß auch die NATO nicht daran denkt, eigene Teilpotentiale, bei denen sie quantitativ und/oder qualitativ eindeutig überlegen ist, zugunsten einer allgemeinen abstrakten Gleichgewichtsforderung oder zugunsten der Entspannung einseitig aufzugeben. Vielmehr wird solche sektorale Überlegenheit der NATO als angesichts der östlichen Überlegenheit in anderen Teilbereichen der Balance unerläßlich deklariert. Wenn also die Strategieinterpretation den Potentialausgleich als zentrale militärische Notwendigkeit erscheinen läßt, wenn ferner erkannt wird, daß Rüstungskontrollverhandlungen sich zum Abbau der als bedrohlich empfundenen östlichen Überlegenheiten nicht eignen können, schwindet sehr rasch das Interesse an Rüstungskontrolle. Genau dieser Prozeß konnte in den letzten Jahren in den Vereinigten Staaten und zum Teil auch in Europa beobachtet werden
Flexible Reaktion als Eskalationsstrategie läßt der Rüstungskontrolle logischerweise einen viel größeren Spielraum. Solange das verbleibende eigene Potential als hinreichend für die glaubhafte Androhung der nuklearen Eskalation auf allen Ebenen betrachtet werden kann, bestehen keine prinzipiellen Einwände gegen verhandelte Einschränkungen der beiderseitigen konventionellen und nuklearen Rüstungsstände. Das Abschreckungssystem wird als robust gegenüber allen militärischen Veränderungen gesehen, welche die glaubwürdige Fähigkeit zur gesicherten Vergeltung nicht berühren. Die NATO muß nur in der Lage bleiben, auf dem Gefechtsfeld eurostrategisch und strategisch mit Kernwaffen derart zu eskalieren, daß die Folgen für den Warschauer Pakt untragbar wären. Besitzt sie eine solche Fähigkeit, kann ihre Sicherheit durch Rüstungskontrollmaßnahmen für die über die zur minimalen oder finiten Abschreckung erforderlichen Potentiale hinausgehenden Streitkräfte nicht gefährdet werden.
Rüstungskontrolle kann also im Rahmen dieser Strategieinterpretation natürlich auch der militärischen Stabilisierung dienen — etwa, wenn es gilt, eine Beeinträchtigung der beiderseitigen Fähigkeit zur gesicherten Vergeltung zu verhindern, wie z. B. durch den ABM-Vertrag zur Ausschaltung der Möglichkeit strategischer Raketenabwehr beabsichtigt —, sie muß aber nicht darauf beschränkt bleiben. Vielmehr kann sie ebenso für politische oder ökonomische Zwecke instrumentalisiert werden, etwa um Rüstungshaushalte zu entlasten, Entspannungsinitiativen zu ergreifen oder friedliche Absichten zu demonstrieren. Die Auffassung der flexiblen Reaktion als Eskalationsstrategie entzieht die Rüstungskontrolle teilweise militärischen Sachzwängen und unterstellt sie politischer Instrumentalisierung. Für eine solche Wahrnehmung größerer Handlungsspielräume der Rüstungskontrolle spricht, daß auch Rüstungsentscheidungen politischen Zwängen unterworfen sind. Aufgrund politischer Restriktionen hat die NATO die für die Kriegführungsstrategie erforderlichen Militärpotentiale niemals erworben, durch ihr Handeln also die theoretisch verneinte relative Robustheit der Glaubwürdigkeit von Abschreckungsdrohungen gegenüber präzisen numerischen Kräfteverhältnissen bestätigt Wenn in der Praxis die militärischen Vorbereitungen der NATO nicht aus der Kriegführungsstrategie abgeleitet worden sind — so können Vertreter größerer westlicher Flexibilität in der Rüstungskontrolle argumentieren —, warum sollen dann die Potentialerfordernisse dieser Strategieinterpretation die Bandbreite der Rüstungskontrolle definieren?
VI. Zweckbestimmungen und Ziele der Rüstungskontrolle
Wir sind nun fast am Ende der Argumentationskette von Abschreckungsbegriffen und Strategieinterpretationen bis hin zu Rüstungskontrollkonzeptionen angelangt. Ein wichtiger letzter Zusammenhang ist aber noch darzustellen, nämlich derjenige zwischen Zweck-bestimmungen der Rüstungskontrolle und konkreten Rüstungskontrollzielen. Was man durch Rüstungskontrolle im Einzelfall beschränken und begrenzen will, muß nämlich eine Funktion liessen sein, was mit ihrer Hilfe erreicht werden soll. Wird Rüstungskontrolle nicht als Selbstzweck aufgefaßt, ist ihre Einordnung in eine solche rationale Ziel-Mittel-Hierarchie unerläßlich.
Rüstungskontrolle auf dem Verhandlungsweg bedarf einer Art Zählsystem, um eindeutig und überprüfbar zu definieren, was wann wo und wie beschränkt werden soll. Solche Bewertungssysteme zerfallen in zwei Gruppen: Die der ersten Gruppe konzentrieren sich auf den Aufwand von Ressourcen für das Militär, also von Geld, Personal, Material oder Technologie, ohne spezifische, dadurch ermöglichte militärische Verhaltensweisen ins Auge zu fassen. Die der zweiten Gruppe befassen sich mit den Resultaten dieses militärischen Aufwands, also mit militärischer Macht, Kampfkraftpotentialen und verfügbaren Handlungsstrategien. Restriktionen des militärischen Aufwands erlauben den beteiligten Staaten in der Regel interne Anpassungen, so daß ihre verfügbaren militärischen Optionen dadurch unberührt bleiben können. Restriktionen dieser militärischen Handlungsweisen andererseits können sowohl durch speziell dafür zugeschnittene Beschränkungen des militärischen Aufwands als auch direkt und ungeachtet der eingesetzten Ressourcen erfolgen, vor allem durch vertraglich vereinbarte Regelungen über Dislozierung und Einsatz von Streitkräften und über Informationsaustausch
Diese Systematik konkreter Zielsetzungen und Bewertungsmaßstäbe der Rüstungskontrolle ist für unser Thema höchst bedeutungsvoll. Wird flexible Reaktion als Kriegführungsstrategie ausgelegt, muß Rüstungskontrolle im Interesse der NATO der militärischen Stabilisierung dienen, vornehmlich durch Abbau militärischer Disparitäten. Nur dann ist sie militärisch relevant. Einfache Aufwandsbeschränkungen tragen dazu nur bei, wenn dadurch besonders bedrohliche militärische Handlungsmöglichkeiten des War-schauer Pakts beschnitten oder besser noch beseitigt werden. Diese wären vor allem die vermuteten Fähigkeiten zum überfallartigen konventionellen Angriff aus dem Stand (dem Umfang, Struktur, Stationierung und Qualität der gepanzerten Verbände des Warschauer Pakts gewisse Erfolgsaussichten verleihen) und zum eurostrategischen Entwaffnungsschlag gegen die nuklearen Arsenale der NATO in Westeuropa, der durch die rasche Vermehrung der SS-20-Mittelstreckenraketen ausführbarer erscheint. Bei den gegenwärtigen Kräfteverhältnissen in Europa ist es aber sehr schwer vorstellbar, dem Warschauer Pakt diese militärischen Optionen, wenn er sie mit großer Erfolgsgewißheit besitzen sollte, durch verhandelte Begrenzung des beiderseitigen militärischen Aufwands zu nehmen. Was mit der Sowjetunion an numerischen Aufwandsbeschränkungen ausgehandelt werden kann, schafft diese militärischen Optionen nicht aus der Welt. Die Sowjetunion erklärt in allen Bereichen der Rüstung in Europa Gleichgewicht und Stabilität als bereits gegeben und lehnt deshalb asymmetrische Obergrenzen und Reduktionen kategorisch ab, sofern sie mehr als kosmetischen Charakter tragen. Vom westlichen Standpunkt aus wirksame numerische Schranken für den Rüstungsaufwand, die notwendigerweise dem Warschauer Pakt wesentlich größere Zurückhaltung auferlegen müßten als der NATO, sind somit praktisch nicht verhandelbar.
Damit bleibt unter der aus der Kriegführungsstrategie abgeleiteten Prämisse der Notwendigkeit der militärischen Relevanz von Rüstungskontrolle als deren Ziel nur die direkte Einschränkung der Ausnutzbarkeit militärischer Optionen durch Abkommen über Streitkräftedislozierung und -Operationen und über Informationsaustausch übrig. Ein entsprechender Konsens zur Umorientierung der Rüstungskontrolle in Europa auf solche — auch sehr weitgehende — vertrauensbildende Maßnahmen scheint sich in den letzten Jahren bei denjenigen abzuzeichnen, die in der unbezweifelbaren Fähigkeit zu erfolgreicher Verteidigung das Kernstück westlicher Abschrekkungsstrategie sehen Ob eine solche Umorientierung Verhandlungserfolge näher rükken könnte, kann und soll hier nicht untersucht werden. Es sei allerdings die skeptische Anmerkung erlaubt, daß das Problem der Notwendigkeit asymmetrischer Beschränkungen dadurch nicht automatisch gelöst würde, so lange die NATO davon ausgeht, daß sie selbst — im Gegensatz zum Warschauer Pakt — keine für den Gegner besonders bedrohlichen militärischen Einsatzoptionen besitze. Sie müßte also von der Forderung nach asymmetrischen numerischen Reduktionen zur Forderung nach asymmetrischen vertrauensbildenden Maßnahmen übergehen. Daß die Sowjetunion darauf aufgeschlossener reagiert, kann bezweifelt werden.
Die Auslegung der flexiblen Reaktion als Eskalationsstrategie läßt der Rüstungskontrolle auch im Hinblick auf ihre konkreten Verhandlungsziele größeren Spielraum. Da die Nützlichkeit der Rüstungskontrolle nicht allein unter dem Kriterium beurteilt werden muß, ob ihre Ergebnisse die eigene militärisch Position verbessern, können neben der vertraglichen Erschwerung unerwünschter militärischer Handlungsmöglichkeiten . durch vertrauensbildende Maßnahmen auch solche Beschränkungen des Rüstungsaufwands angestrebt werden, die zwar rein militärisch an der Verteilung verfügbarer Einsatzoptionen nichts ändern, aber unter politischen oder ökonomischen Gesichtspunkten wünschenswert erscheinen. Die logische Grenze solcher Schritte stellt allein die Notwendigkeit dar, ein für die Glaubwürdigkeit der nuklearen Eskalation und für die gesicherte Vergeltung ausreichendes Potential beizubehalten.
Eine solche auf der Stabilität des Abschrekkungssystems aufbauende politische oder ökonomische Instrumentalisierung der Rüstungskontrolle, die auf einfache und spektakuläre quantitative Aufwandsbeschränkungen abzielen würde, liegt für Verfechter der Eskalationsstrategie im Bereich des Möglichen und wird von Westeuropäern immer wieder gefordert Sie muß aber auf erbitterten Widerstand der Anhänger des entgegengesetzten strategischen Credos stoßen, die darin, wenn nicht gar eine Gefährdung der westlichen Sicherheit, so doch zumindest eine illusionäre Ablenkung von ihren Grundproblemen sehen Der rüstungskontrollpolitische Kompromißbereich beider Strategieinterpretationen wird somit allein durch die vertrauensbildenden Maßnahmen definiert, durch welche die Nutzung besonders bedrohlicher militärischer Einsatzoptionen an Vertragsbruch gekoppelt werden soll,, wodurch politische Warnzeiten entstehen. Der Haupt-einwand gegen diese Verkürzung von Rüstungskontrolle auf vertrauensbildende Maßnahmen lautet, daß sie prinzipiell rasch um-kehrbar sind, weil Rüstungspotentiale nicht abgebaut, sondern lediglich bestimmte Nut-zungen verboten werden. Trotzdem sind sie die wichtigste Chance der Rüstungskontrolle in Europa, solange vom Fortbestand der beiden gegensätzlichen Strategieinterpretationen innerhalb der NATO ausgegangen werden muß.
VII. Aussichten der Rüstungskontrolle in Europa
Unterschiedliche Auffassungen über Möglichkeiten und Grenzen der Rüstungskontrolle in Europa werden oft auf Optimismus oder Pessimismus bezüglich der außenpolitischen Absichten der Sowjetunion zurückgeführt Wir haben gesehen, daß in Wirklichkeit divergierende Abschreckungsbegriffe und Strategieinterpretationen dahinterstehen: Werden Aggressionen des Warschauer Pakts im nuklearen Zeitalter eher abgeschreckt durch die Gewißheit des Mißerfolgs oder durch die hohe Wahrscheinlichkeit großer Zerstörung? Beide Deutungen werden im Westen mit durch die jeweiligen Interessenlagen bedingten unterschiedlichen Schwerpunkten diesseits und jenseits des Atlantiks vertreten. Beide sind vereinbar mit der Doktrin der flexiblen Reaktion, die ihrem Adjektiv „flexibel" also auch durch weite Auslegungsfähigkeit Ehre macht. Beide kommen nicht nur in der hier vorgeführten analytischen Trennung vor, mit der die Extrempositionen der sicherheitspolitischen Debatte herausgearbeitet werden sollten, sondern auch in beliebigen Kombinationen. Das Verteidigungsweißbuch 1979 ist in dieser Hinsicht ein Meisterwerk. Bestandteile beider Interpretationen stehen unvermittelt nebeneinander, und jede Festlegung wird vermieden, wenn es sich in einem einzigen Abschnitt zunächst eindeutig auf die Kriegführungs-und danach sofort ebenso eindeutig auf die Eskalationsstrategie beruft: . Abschreckung ist dann glaubwürdig, wenn die Bündnisstaaten fähig und willens sind, sich gemeinsam zu verteidigen, und wenn diese Fähigkeit und Bereitschaft zur Verteidigung für einen Angreifer evident ist. Für jeden Aggressor muß das Risiko seines Angriffs unkalkulierbar sein. Mögliche Erfolge des Angreifers dürfen in keinem tragbaren Verhältnis zu seinen Verlusten und Schäden stehen.“
Was folgt aus dieser Koexistenz gegensätzlicher Abschreckungs-und Strategiekonzeptionen der NATO für die Aussichten der Rüstungskontrolle in Europa? Die Kompromißmöglichkeiten wurden bereits kurz angesprochen: Flexible Reaktion als Strategie der Kriegführung erlaubt gegenwärtig keine politische oder ökonomische Instrumentalisierung der Rüstungskontrolle, sondern fordert ihre Nutzung zur Verbesserung der militärischen Ausgangslage der westlichen Allianz. Umgekehrt schließt aber flexible Reaktion als Eskalationsstrategie eine solche militärische Instrumentalisierung der Rüstungskontrolle nicht aus, sondern ist rein logisch gesehen gegenüber diversen Zweckbestimmungen indifferent, auch wenn viele Vertreter dieser Auffassung vielleicht einen nichtmilitärischen Einsatz der Rüstungskontrolle vorziehen würden. Beide Denkschulen können sich also, wenn überhaupt, nur darauf einigen, die Rüstungskontrolle unter militärischen Stabilitätskriterien als Ergänzung westlicher Rüstungsprogramme zur Veränderung des militärischen Kräfteverhältnisses zu betreiben. Damit besitzen die Anhänger der Kriegführungsstrategie zwar keine logische, wohl aber eine faktische Veto-Position, solange ihre Strategieinterpretation in der NATO breite Unterstützung findet. Rüstungskontrolle muß entweder dem militärisch relevanten Zweck des Abbaus als bedrohlich empfundener eigener Unterlegenheit dienen, oder sie paßt nicht in eine der beiden zentralen Auffassungen westlicher Militär-strategie und findet deshalb nicht statt. Weil eine solche wirkungsvolle militärische Stabilisierung mittels numerischer Potentialbeschränkungen mangels Verhandelbarkeit ausscheidet, wird militärische Stabilisierung durch vertrauensbildende Maßnahmen den kleinsten gemeinsamen Nenner der künftigen westlichen Rüstungskontrollpolitik in Europa darstellen.
Konkret heißt das für konventionelle und nukleare Rüstungskontrolle in Europa folgendes: Der westliche Ansatz in den Wiener MBFR-Verhandlungen, eigene zahlenmäßige Unterlegenheit — und sei sie militärisch auch noch so wenig bedeutungsvoll wie z. B. bei den Personalstärken — durch Verhandlungen in Pari-tät umzuwandeln, entspringt dem Stabilisierungsstreben der Kriegführungsstrategie. Er hat sich als unpraktikabel erwiesen, um nicht zu sagen als gescheitert. Daß die Sowjetunion ihre konventionellen militärischen Vorteile nicht würde aufgeben wollen, war schon vor Verhandlungsbeginn klar vorherzusehen. Deshalb muß es in der Zukunft verstärkt darum gehen, ihr die Ausnutzung dieser Vorteile mittels vertrauensbildender Maßnahmen zu erschweren. Je radikaler solche Maßnahmen sind, desto rascher gesellt sich zum militärischen Zweck der eminent politische Nebeneffekt, die Intentionen der Gegenseite offenzulegen. Man stelle sich etwa eine westliche Verhandlungsoffensive mit dem Ziel vor, die Stationierung von Panzerverbänden in einer breiten Zone beiderseits der Demarkationslinien zu verbieten! Wer dazu bereit wäre, könnte offensichtlich nur geringes Interesse am blitzkriegartigen Überfall auf die NATO haben. Eingefahrene Geleise institutionalisierter Rüstungskontrolle behindern jedoch solche Initiativen. MBFR ist an der „Datendiskussion" festgefahren, und ohne ihre Lösung wird sich in Wien nichts bewegen. Da eine Lösung nicht in Sicht ist, interessiert MBFR im Westen vor allem nur noch als institutionalisiertes Forum sicherheitspolitischer Ost-West-Kontakte. Für die Einbringung weitgehender Vorschläge zu vertrauensbildenden Maßnahmen kommen diese Verhandlungen also kaum noch in Frage. Außerdem müßte ihnen eine grundsätzliche Überprüfung vorangehen, in welcher Absicht die NATO Rüstungskontrolle in Europa noch betreiben will. Eine solche konzeptionelle Neubestimmung der westlichen Rüstungskontrollpolitik ist dringend angezeigt.
Noch undeutlicher sind die zukünftigen Konturen der Rüstungskontrolle im Bereich der Kernwaffen in Europa. Die Entwicklung von vertrauensbildenden Maßnahmen für diese Problematik steht noch aus und dürfte auf große Schwierigkeiten stoßen. Wegen der hohen Reichweiten der fraglichen Waffen wären Ankündigungen ihrer Bewegungen nicht sehr wichtig, Ankündigungen der Bewegungen nuklearer Sprengköpfe aus ihren speziellen Lagerstätten wären nicht verifizierbar. überdies ist die Rüstungskontrollkomponente des NATO-Doppelbeschlusses vom Dezember 1979 noch unklar. Die NATO hat noch nicht entschieden, in welchem Forum und mit welchem Teilnehmerkreis sie verhandeln will, ob in SALT III, einer getrennten Konferenz über eurostrategische Waffen oder in Verhandlungen über sämtliche nuklearen Potentiale in und für Europa. Da der SALT-Prozeß stagniert, ist ein umfassender Ansatz zur Verbindung der interkontinentalen und der europäischen nuklearen Rüstungskontrolle in SALT III derzeit nicht in Sicht. Dies ist bedauerlich, weil man argumentieren kann, daß Vereinbarungen über eurostrategische Waffen durch die willkürliche Isolation landgestützter Mittelstreckenraketen erschwert würden und im Rahmen einer Gesamtbeurteilung aller Kernwaffen, die auf Westeuropa, den Warschauer Pakt und auf die USA gerichtet sind, durch die gegenseitige Kompensation verschiedener Bestandteile der beiderseitigen nuklearen Streitkräfte leichter zustande kommen könnten. Auch mögliche westliche Verhandlungsziele sind gegenwärtig noch Gegenstand von Spekulationen und Kontroversen, wobei aber über Verhandlungsziele erst entschieden werden kann, wenn das Verhandlungsforum feststeht. Wie auch immer die Abgrenzung des Verhandlungsgegenstandes aussehen mag, die Versuchung wird groß sein, den anfänglichen Fehler der Wiener Verhandlungen zu wiederholen und die militärische Stabilisierung durch asymmetrische numerische Vereinbarungen betreiben zu wollen. Verzicht auf Nachrüstung gegen Reduktion des sowjetischen SS-20-Arsenals erscheint aber kaum erfolgreich verhandelbar. Folgt man der Auffassung, daß die Sowjetunion sich eine eurostrategische Überlegenheit angeeignet habe und sie ständig ausbaue, ist es schwer vorstellbar, daß sie auf einen Teil dieses Potentials verzichten wird, ohne daß der Westen ebenfalls nukleare Waffensysteme abbaut. Damit wird aber die zumindest teilweise „Nachrüstung“ zur Voraussetzung anschließender beiderseitiger Reduktionen. Die historische Erfahrung läßt diese Vorstellung, westliche Mittelstrekkenraketen erst als Verhandlungsobjekte („bargaining Chips") einzuführen, um sie dann wieder wegzuverhandeln, als unwahrscheinlich erscheinen. Sind sie erst einmal aufgestellt geht die Rüstungskontrolle unter die erreichten Niveaus nicht mehr zurück.
Noch unrealistischer wirkt die Kompensation russischer eurostrategischer Abrüstung durch einen westlichen Verzicht auf Nachrüstung, wenn man von der sowjetischen Interpretation ausgeht, daß die SS-20 lediglich ein Modernisierungsprogramm darstelle, in dessen Verlauf die Gesamtzahl der russischen Raketenstartgeräte und Mittelstreckenbomber und die Sprengkraft der dislozierten Sprengköpfe nicht etwa zugenommen, sondern sogar leicht abgenommen habe Die Parallelen zur „Da6) tendiskussion" der MBFR-Verhandlungen sind offenkundig. In sowjetischer Sicht existiert die von der NATO behauptete eigene eurostrategische Überlegenheit nicht. Bis in die zweite Hälfte der siebziger Jahre hinein wurde sie auch im Westen nicht behauptet, weil die objektiv stets vorhandene sowjetische Überlegenheit bei landgestützten Mittelstrekkenraketen als durch andersartige westliche Waffensysteme ausgeglichen galt Diese östliche Überlegenheit in einem kleinen Teilbereich der atomaren Gesamtbalance jetzt ohne entsprechende westliche Abrüstung auf dem Verhandlungsweg beseitigen zu wollen, zwingt zur Beantwortung zweier Fragen: Kann die Sowjetunion sich erstens auf ein westlichen Vorstellungen entsprechendes Verhandlungsergebnis überhaupt einlassen? Warum gilt zweitens in der NATO die früher vorgesehene Kompensation der russischen Mittelstreckenraketen durch andere amerikanische Kernwaffensysteme nicht mehr als glaubwürdig? Weil die Verhandlungskomponente des NATO-Doppelbeschlusses so vage gehalten ist, konnten ihm westliche Gegner und Befürworter der „Nachrüstung" zustimmen. Die einen hofften, durch die der Sowjetunion angetragenen Verhandlungen die Realisierung des Nachrüstungsprogramms verhindern zu können, die anderen vertrauten auf das Scheitern dieser Hoffnungen. Die einen wären auch mit einem beiderseitigen Einfrieren der gegenwärtigen eurostrategischen Potentiale einverstanden, wenn die Sowjetunion nicht zur einseitigen Abrüstung gebracht werden kann, die anderen sehen für diesen — sehr wahrscheinlichen — Fall unbedingt die Durchführung der „Nachrüstung" vor. Folgt man der hier vorgetragenen Beurteilung, daß eine sowjetische Verminderung ihrer eurostrategischen Kräfte gegen westlichen Verzicht auf „Nachrüstung" nicht verhandelbar ist, dann könnte die einzige realistische rüstungskontrollpolitische Alternative zur „Nachrüstung" der Austausch einseitiger Initiativen sein, indem die NATO anbietet, auf die „Nachrüstung" zu verzichten, wenn die Gegenseite ihre entsprechende Aufrüstung einfriert. Dies bedeutete einseitige, miteinander verknüpfte Moratorien, da ein vertraglich vereinbartes Moratorium von der NATO ja kategorisch abgelehnt wurde. In dieser Alternative erkennt man die beiden konträren Interpretationen der NATO-Strategie eindeutig wieder. Wegen ihrer engen Verbindung zur Strategieinterpretation könnte der nuklearen Rüstungskontrolle in Europa ein ähnliches Schicksal wie MBFR beschieden sein. Auch wenn im politischen Bereich die Notwendigkeit des Austauschs von demonstrativen Rüstungskontrollsignalen mit der Sowjetunion gefordert wird, bestehen die Verfechter der Kriegführungsstrategie darauf, daß sie im Ergebnis zur militärischen Stabilisierung zugunsten des Westens führen müssen. Da sich dies wahrscheinlich als unmöglich erweisen wird, könnte wohl das vorläufige Ende der Rüstungskontrolle in Europa bevorstehen. Eine offizielle Bestattung allerdings wird wohl aus symbolischen Gründen vermieden werden. Die vor uns liegenden Auseinandersetzungen um „Nachrüstung" und Rüstungskontrolle in Europa müssen im Kern also auch Auseinandersetzungen um die Militärstrategie des westlichen Bündnisses sein. Nach über 20 Jahren der Rüstungskontrollpolitik muß die eingangs zitierte Feststellung von Schelling und Halperin modifiziert werden: Natürlich kön-nen Strategie und Rüstungskontrolle nicht-voneinander isoliert werden. Da es aber keine einheitliche Strategieinterpretation gibt, kann es auch keine unumstrittenen Zielsetzungen der Rüstungskontrolle geben.
Hans Rattinger, Dr. phil., geb. 1950 in Karlsruhe; Studium der politischen Wissenschaft, Geschichte und Anglistik; ab 1973 wissenschaftlicher Assistent am Seminar für politische Wissenschaft der Universität Freiburg; 1974/75 Kennedy-Memorial-Fellow der Harvard University, Cambridge, Massachusetts; 1978 Habilitation im Fach politische Wissenschaft; seit 1979 Vertretung eines Lehrstuhls für Politikwissenschaft an der Universität Bamberg. Buchveröffentlichungen: Rüstungsdynamik im internationalen System, München 1975; Mandatsverteilungen im Europäischen Parlament nach der Direktwahl, Berlin 1978; Wirtschaftliche Konjunktur und politische Wahlen in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1980.