„holocaust" .Impulse — Reaktionen — Konsequenzen Das Fernsehereignis aus der Sicht politischer Bildung
Tilman Ernst
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Zusammenfassung
Im August 1978 — ein halbes Jahr vor der Ausstrahlung von „Holocaust" — wurde in der Bundeszentrale für politische Bildung darüber diskutiert, ob dieser amerikanische Film aus der Sicht politischer Bildung positiv oder negativ zu beurteilen sei. Die kritischen Argumente bezogen sich dabei auf die Gestaltung, welche die nationalsozialistische Judenverfolgung und Judenvernichtung personalisiert, d. h. Hintergründe und Gesamtzusammenhänge ausspart, sowie auf die Tatsache, daß diese Serie auch kommerzielle Interessen des amerikanischen Fernsehens 'Verfolgte. Die für ein Engagement der Bundeszentrale positiven Argumente bezogen sich auf die zu vermutende große Breitenwirkung dieses Films mit einem für die politische Bildung hochbedeutsamen Thema, so daß, wenn schon nicht der Film „Holocaust“ selbst, so doch die Reaktionen in der Bevölkerung auf ihn — und damit das Thema „Vergangenheitsbewältigung" — die Aufgabe begleitender Maßnahmen von Seiten der politischen Bildung sein sollten. Die hohe Einschaltquote von zuletzt 40%, die intensiven Diskussionen in den Familien, am Arbeitsplatz oder in den Schulen gaben diesen letzteren Überlegungen recht. Eine Umfrage der Bundeszentrale gemeinsam mit dem WDR sofort nach Ausstrahlung der Serie sowie nach einem Abstand von 14 Wochen belegt im einzelnen diese Intensität wie auch insgesamt den Eindruck, daß dieses Medienereignis kein „Strohfeuer" war. Der Beitrag enthält darüber hinaus eine Auswertung der Umfrage-Ergebnisse nach weiteren Gesichtspunkten sowohl der politischen Bildung wie der politischen Kultur in der Bundesrepublik.
Vorbemerkung
Massenmedien — insbesondere das Fernsehen — haben Einfluß auf die politische Bewußtseinsbildung. So schwierig es ist, diese pauschale Aussage zu belegen, so augenfällig ist immer wieder die ungeheure Resonanz, die bestimmte Fernsehprogramme bei Zuschauern erzielen können. Ihre individuelle Wirkung ist damit noch nicht erklärt; hierzu bedarf es systematischer Analysen mit den Methoden der empirischen Sozialforschung. Viele der Untersuchungen zu den Wirkungen des Fernsehens und einzelner Fernsehbeiträge gehen von einem Erkenntnisinteresse aus, das auf die negativ zu wertenden Wirkungen des Massenmediums wie Verführung zur Passivität, Abstumpfung gegenüber Brutalität und Aggression, Beeinträchtigung der Kommunikation in der Familie, Erziehung zu Pri-
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mitiv-Klischees u. a. m. abhebt.
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Daneben aber wächst zunehmend die Erkenntnis, daß Fernsehen nicht nur als „Konkurrenz" zu den pädagogischen Bemühungen der politischen Bildung zu sehen ist, sondern zumindest für einzelne, gesellschaftlich bedeutsame Themen auch als „Verbündeter" wirkt. Die in den letzten Jahren tendentiell gestiegene Nutzung des Fernsehens als das Aeitmedium" für politische Informationen, seine von den Zuschauern unverändert hoch e>ngeschätzte Glaubwürdigkeit und Authentizität sowie die stärkere Ausrichtung auf zeitgeschichtliche und aktuelle Probleme erwei-fern die Chancen politischer Bildung, das Massenmedium Fernsehen für pädagogisch-politische Ziele zu nutzen. Damit ist nicht gesagt, daß eine überwiegende Zahl von Programm-beiträgen, durch gute Sendeplätze und an-spruchslos-unterhaltenden Charakter attraktiv gemacht, dem kritischen Blick und medien-pädagogischer Bemühungen zu entziehen wären.
Abbildung 9
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Zwei Beispiele aus letzter Zeit erlauben eine differenzierte Bewertung dieser — für viele vielleicht zu optimistischen — Sichtweise eines fruchtbaren Verhältnisses zwischen politischer Bildung und Fernsehen. Zum einen die Ausstrahlung der Serie „Holocaust", deren positiver Beitrag zum politischen Bewußtsein gerade bei jugendlichen Zuschauergruppen nicht zu übersehen ist; zum anderen die amerikanisch-russische Koproduktion „Der unvergessene Krieg" (siehe dazu den Beitrag von Bartsch/Pagels in dieser Zeitschrift). Man darf auf einen Vergleich der Wirkungen und Auswirkungen beider Fernsehserien gespannt sein — wenngleich die Serie „Der unvergessene Krieg" meiner Meinung nach geringere Aussichten auf hohe Resonanz bei Jugendlichen und jüngeren Erwachsenen haben wird als „Holocaust".
Abbildung 10
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Ein besonderer Reiz des Vergleichs beider Serien liegt auch darin, daß „Der unvergessene Krieg" mit Mitteln des Dokumentarfilms hergestellt wurde, während die Serie „Holocaust" die in Verbindung mit einem zeitgeschichtlichen Thema oft geschmähte Form des Spielfilms repräsentiert. Eine paradoxe Erwartung könnte sich hier erfüllen: Der Dokumentarfilm „Der unvergessene Krieg" wird auch von den jüngeren Altersgruppen in höherem Maße als unglaubwürdig und einseitig eingeschätzt als der Spielfilm „Holocaust", dessen erlebte Glaubwürdigkeit und Authentizität empirisch belegt ist.
I. Zur Vorgeschichte
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Basis Ja, bestimmt Ja, wahrscheinlich Nein, wahrscheinlich nicht Nein, bestimmt nicht Total 1 014 28% 32 % 22 % 17 % 14— 19 20— 29 30— 39 40 Jahre Jahre Jahre Jahre und älter 122 39 % 41 % 10 % 10% 150 38% 34 % 20 % 9 % 202 29% 37 % 17 % 16% 540 22 % 27 % 27 % 21 %
Basis Ja, bestimmt Ja, wahrscheinlich Nein, wahrscheinlich nicht Nein, bestimmt nicht Total 1 014 28% 32 % 22 % 17 % 14— 19 20— 29 30— 39 40 Jahre Jahre Jahre Jahre und älter 122 39 % 41 % 10 % 10% 150 38% 34 % 20 % 9 % 202 29% 37 % 17 % 16% 540 22 % 27 % 27 % 21 %
Im August 1978 — ein halbes Jahr vor Ausstrahlung von „Holocaust" — wurde in der Bundeszentrale für politische Bildung darüber diskutiert, ob dieser amerikanische Film aus der Sicht politischer Bildung positiv oder negativ zu beruteilen sei. Die kritischen Argumente bezogen sich dabei auf die Machart, die die Ereignisse der nationalsozialistischen Judenverfolgung und Judenvernichtung personalisiert, d. h. Hintergründe und Gesamtzusammenhänge ausspart, und auf die Tatsache, daß diese Fernsehserie nicht in erster Linie Ziele politischer Bildung verfolgt, sondern kommerzielle Interessen des amerikanischen Fernsehens. Die für Engagement der Bundeszentrale positiven Argumente bezogen sich auf die zu vermutende große Breitenwirkung dieses Films mit einem für politische Bildung hoch bedeutsamen Thema, daß, wenn so schon nicht der Film „Holocaust" selbst, doch die Reaktionen breiter Teile der Bevölkerung auf ihn und damit auch das Thema „Vergangenheitsbewältigung" die Aufgabe begleitender Maßnahmen von Seiten politischer Bildung sein könnten. Die inhaltliche Begründung für diese positiven Argumente wurde in der „Tribüne" ausführlich dargestellt. Sie lassen sich in drei Gesichtspunkte zusammenfassen:
Abbildung 11
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a) Die Ausstrahlung von „Holocaust" gibt allen pädagogisch Verantwortlichen Gelegenheit, Themen im Zusammenhang mit der Entstehung, den Untaten und den Konsequenzen des Nationalsozialismus aufzugreifen. Für diese Themenbereiche muß politische Bildung nicht mehr erst mühsam Interesse schaffen, vielmehr kann sie für millionenfach ablaufende Diskussionen rationale Argumente anbieten, Hintergründe und Gesamtzusammenhänge thematisieren und auf Konsequenzen für heute hinweisen.
Abbildung 12
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b) Der Film „Holocaust" deckt Defizite auf und zeigt Ansatzpunkte für politische Bildungsarbeit, die sowohl im Bereich des zeitgeschichtlichen Wissens als auch im Bereich der sozialen (demokratischen und antidemokratischen) Einstellungen liegen. Nachdem die „HitlerWelle“ einen Markt für den Nationalsozialismus durch zum Teil heroisierende und verharmlosende Publikationen, Filme und „Dokumente" erschlossen hat, der gerade auch auf Jugendliche zielt, ist es an der Zeit, einige der schlimmsten Ereignisse der Naziherrschaft sinnlich erfahrbar zu machen und als Gegengewicht zu verankern.
Abbildung 13
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c) Medien-und programmpolitisch ist die Sendereihe „Holocaust" als exemplarischer Fall eines intensiven thematischen Angebotes des Fernsehens zu werten, das gesellschaftliche Interessen verfolgt. Wenn das Zusammenwirken von Massenmedien und politischer Bildung die Chancen politischer Bildungsarbeit vervielfacht und verbessert, dann bildet dieser exemplarische Fall mit „Holocaust" auch eine Basis, mit anderen gesellschaftlich relevanten Themen vergleichbare Möglichkeiten zu eröffnen. Die Annahmen über die Wirkung von „Holocaust" wurden in einer kleinen Pilotstudie (Gruppendiskussion mit Bundeswehrangehörigen) etwa drei Monate vor der Ausstrahlung überprüft. Die Ergebnisse begründeten die Annahme, daß neben aller „technischer" Detailkritik an den vorgeführten Teilen der amerikanischen Fassung von „Holocaust" eine besondere Durchschlagskraft der Inhalte zu verzeichnen war. Es wurde heftig und kontrovers über die Untaten des Nationalsozialismus und über Neonazismus diskutiert — nicht in erster Linie über den Film selbst.
Abbildung 14
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Nach diesen Erfahrungen erschien der Bundeszentrale das Risiko gering, sich intensiv mit Begleitmaßnahmen und Begleituntersuchungen zu den Wirkungen von „Holocaust vorzubereiten. Mit dem ausstrahlenden Sender, dem Westdeutschen Rundfunk, ergaben sich hervorragende Möglichkeiten der Kooperation, die sich zum einen darin verwirklichten, daß die Anschrift der Bundeszentrale und ein Hinweis auf das dort erhältliche Begleitmaterial nach der Ausstrahlung mehrfach eingeblendet wurde, und zum anderen dadurch, daß der Westdeutsche Rundfunk und die Bundeszentrale für politische Bildung eine gemeinsam geplante, repräsentative empirische Begleituntersuchung zur Rezeption und zu den Wirkungen der Fernsehserie in Auftrag geben konnten. Das inhaltliche Konzept dieser Untersuchung wurde vom WDR und der Bundeszentrale gemeinsam erarbeitet und von einem Team beratender Experten weiter differenziert.
Abbildung 15
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Für die Bundeszentrale kam es vor allem darauf an, herauszufinden, wie „Holocaust" — auch im Vergleich zu anderen Beiträgen zu diesem Thema, etwa Dokumentarfilmen — rezipiert wird, und welche Wirkungen in den Bereichen des Wissens, der Meinungen und Einstellungen und auch des Verhaltens nachweisbar werden. Das praktische Ziel dieser Fragestellungen war es, den Beitrag des Fernsehfilms „Holocaust“ auf politisches Bewußtsein abzuschätzen und Ansatzpunkte für weitergehende politische Bildungsarbeit sichtbar zu machen. Darüber hinaus bestand die Hoffnung, durch diese Untersuchung mit dazu beizutragen, daß die vor der Ausstrahlung so heftige Diskussion über die Machart des Films („Personalisierung", „Trivialisierung" etc.) abgelöst wird durch eine Auseinandersetzung über die Wirkungen dieses Films bei unterschiedlichen Zielgruppen — insbesondere Jugendli-eben —, die durch „klassische" politische Bildungsarbeit innerhalb und außerhalb der Schule nicht oder nur schwer zu erreichen sind
Abbildung 16
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Neben den Wirkungen auf das Bewußtsein einzelner Zielgruppen, also Fragestellungen auf der „subjektiven Ebene", ergab sich nach dem Erfolg von „Holocaust" auch das Interesse, die Reaktionen von öffentlichen Institutionen und Organisationen, die mit politischer Bildungsarbeit vertraut sind, auf das Ereignis „Holocaust" abzuschätzen.
Abbildung 17
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Diese „strukturelle Ebene" der Betrachtungsweise umschließt etwa schulische und außerschulische politische Bildung, Fachzeitschriften, aber auch die Massenmedien selbst.
Abbildung 18
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Die im folgenden dargestellten Ergebnisse sind unter dem Gesichtspunkt ihrer besonderen Bedeutung für politische Bildungsarbeit ausgewählt. Ihre Brauchbarkeit für die Didaktik der Zeitgeschichte ist nur zum Teil ausführlicher herausgearbeitet, da sich ihre Rezeption in der Praxis noch nicht in sehr vielen Erfahrungsberichten niedergeschlagen hat.
II. Wen hat „Holocaust" erreicht?
Abbildung 3
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Die Einschaltquoten für die Fernsehspiel-Serie stiegen von 31 % für die erste Sendung über 35 % und 37 % auf 40 % für die letzte der ausgestrahlten Folgen. Insgesamt haben mehr als 20 Millionen Bundesbürger ab 14 Jahren die Sendung gesehen; dies ist fast die Hälfte der erwachsenen Gesamtbevölkerung. „Holocaust" hatte damit eine Gesamtreichweite, wie noch keine andere Sendung des deutschen Fernsehens zu einem zeitgeschichtlichen The-ma. Die Sendung erreichte Männer und Frauen in gleichem Maß, sie erreichte in besonderem Ausmaß jüngere Altersgruppen — selbst noch 15 % der acht-bis dreizehnjährigen Kinder bei der vierten Folge. Wenngleich die unteren Bildungsschichten „Holocaust" tendenziell weniger genutzt haben als die oberen Bildungsschichten, waren doch 56 % der Seher Personen mit ausschließlich Volksschulbildung. Für politische Bildung ist die Frage am wichtigsten, in welchem Ausmaß „Holocaust" die Bürger erreicht hat, die mit den üblichen Mitteln politischer Bildungsarbeit nicht oder nur schwer anzusprechen sind. Hier ist zu erkennen, daß die Serie eine erhebliche Anzahl von Bürgern erreicht hat, die durch eine überdurchschnittlich hohe Ausprägung an politischer Entfremdung, d. h. „Ein-sich-Zurückziehen" von Politik, von politischen Problemen, gekennzeichnet sind und die eine überdurchschnittliche Ausprägung des Merkmals „Unpolitische Haltung", d. h. eine autoritäre, nach hierachischen, nicht-demokratischen Prinzipien geordnete Sichtweise des sozialen Le-bens erkennen lassen. Der Anteil dieser Personengruppen in der Gesamtseherschaft von „Holocaust" betrug ca. 45 % und war damit zwar geringer als in der Gesamtbevölkerung; dennoch aber — von der absoluten Menge her gesehen — beachtlich, zumal „Holocaust" auch vom überwiegenden Anteil dieser Seher emotional akzeptiert und als authentisch und glaubwürdig eingeschätzt wurde.
Abbildung 19
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Die Gründe dafür, daß „Holocaust" — und damit ein zeitgeschichtliches Thema hoher gesellschaftlicher Relevanz — von einer großen und wichtigen Zielgruppe politischer Bildungsarbeit (soziodemografisch gesehen Jugendliche; von den sozialen Einstellungen her gesehen politisch Entfremdete und Autoritäre) überhaupt zur Kenntnis genommen wurde, daß Wahrnehmungsbarrieren überwunden wurden und weitergehendes Interesse geschaffen wurde, liegen nicht allein in der Machart des Films selbst: Es fand eine umfangreiche Voraus-Publizistik über „Holocaust" statt (die ARD strahlte zwei hinführende und für „Holocaust“ werbende Sendungen aus), und bereits nach der ersten Folge waren heftige Diskussionen im Bekannten-und Freundeskreis über den Film im Gange.
III. Die Wirkungen von „Holocaust" in den Bereichen Aktivierung, Wissen, Einstellungen, Generalisierung
Abbildung 4
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1. „Holocaust" hat aktiviert Das Einblenden der Adresse der Bundeszentrale mit dem Hinweis, daß sie Begleitmaterial zu „Holocaust" auf Anfrage versendet, löste eine Flut von telefonischen und schriftlichen Bestellungen aus. Noch Wochen nach der Ausstrahlung gingen täglich mehr als 200 Bestellungen ein. Insgesamt machten von der Möglichkeit, das Begleitmaterial zu erhalten, etwa 110000 Bürger Gebrauch. (Rechnet man alle Anfragen an die Bundes-und die Landes-zentralen für politische Bildung — insbesondere in Nordrhein-Westfalen — zusammen, ergeben sich ca. 450 000 Anfragen.)
Abbildung 20
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Hervorzuheben ist, daß von diesen 110 000 Anfragen ca. 70 000 von Lehrern bzw. Ausbildern gekommen sind — davon 83 % aus dem Bereich der Schulen, 11 % aus der außerschulischen Jugendarbeit, 3 % aus der Bundeswehr und 3 % von anderen Institutionen. Viele Schüler bestellten das Material mit dem Hinweis „für unsere Lehrer", Eltern mit dem Hinweis „für unsere Kinder“. Etwa 15 000 der Bestellungen enthielten ausführlichere Stellungnahmen zu „Holocaust“, die näher analysiert wurden. Die wichtigsten Gesichtspunkte werden im folgenden tabellarisch dargestellt; die nicht-repräsentative Vielfalt der einzelnen Aspekte soll zugleich auch verdeutlichen, daß „Holocaust" für viele nur Anlaß und Motivierung war, tiefergreifende Fragen zu stellen.
Abbildung 21
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Folgende Gesichtspunkte wurden angesprochen: a) Grundsatzprobleme — Wie konnte es soweit kommen?
Abbildung 22
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— Was hat die Juden so verhaßt gemacht? — Verhalten des Auslandes;
— Befehlsnotstand;
— Anthropologisches Problem, d. h. jeder Mensch ist in der Lage, zu töten;
— Menschen verfolgen immer Minderheiten;
— Fühle mich verpflichtet, Toleranz zu vermitteln. b) Konsequenzen für die Gegenwart Gegenwärtige Zustände — Mehrheit ist nicht informiert über die Zeit des Nationalsozialismus;
— Eltern wollen nicht darüber reden;
— Defizite in Schulen und Schulbüchern; — auch heute gibt es wenig Toleranz, Mit-menschlichkeit, mangelhafte Verwirklichung der Menschenrechte;
— Probleme mit Ausländern und sozialen Randgruppen gibt es auch heute;
— auch wir haben zu viel Staat, jeder beruft sich auf Paragraphen; — auch heute noch gibt es in der ganzen Welt unberechtigte Kriege.
Wie kann man heutige Zustände verbessern? — Gut informiert sein über die Zeit des Nationalsozialismus; — die damaligen Geschehnisse ausreichend darstellen;
— Aufklärung schaffen und Geschichtsbewußtsein vermehren;
— Ereignisse wie den Holocaust stets vor Augen halten und darüber sprechen-, — Ausländer und soziale Minderheiten in die Gesellschaft integrieren;
— Verhältnis zwischen junger und alter Generation bereinigen;
— mehr Toleranz üben, christlich sein, glauben und human sein;
— sich gegen Gehorsamsdenken wehren;
— ethische Selbstentwicklung und sittliche Werte ausbauen;
— sich aktiver zur Wehr setzen gegen neonazistische Umtriebe.
Von größerer Bedeutung als die Brauchbarkeit, Originalität oder Relevanz der einzelnen Aspekte ist sicher die Tatsache, daß von „Holocaust" ausgehend Generalisierungsmöglichkeiten gesehen wurden.
Mit den Ergebnissen der empirischen Begleituntersuchungen mit repräsentativen Stichproben läßt sich der hohe Grad der Aktivierung — insbesondere bei jüngeren Zuschauern — belegen.
Frage: „Hat . Holocaust'Sie angeregt, mehr über die Themen Nationalsozialismus und Judenverfolgung erfahren zu wollen?" Diese Zahlenverhältnisse korrespondieren mit den Erfahrungen der Bundeszentrale, die aus Briefen deutlich wurden. Viele Lehrer schrieben, daß ihre Schüler das Thema „Holocaust" im Unterricht geradezu forderten; viele Eltern schrieben, daß sie für ihre Kinder das Begleitmaterial haben wollen, weil diese danach fragten.
Als weiteres Indiz für Aktivierung kann die Bereitschaft angesehen werden, den Film „Holocaust" noch einmal anzuschauen, wenn er wiederholt wird.
Frage: „Wenn die Sendung in zwei bis drei Jahren wiederholt würde, würden Sie sich dann . Holocaust noch einmal ansehen?"
Unter dem Blickwinkel politischer Bildung erhält eine andere Form der Aktivierung durch den Film „Holocaust“ ein besonderes Gewicht: die millionenfach in Familien, im Freundeskreis und am Arbeitsplatz abgelaufenen Diskussion über den Film, über die Zeit des Nationalsozialismus und auch über heutige damit in Zusammenhang zu bringende Probleme. Hier ist aufgrund einer Fernsehsendung eine Situation geschaffen worden, die politische Bildung nur inszenieren kann. Das Gespräch mit Menschen des unmittelbaren sozialen Umfeldes, die (auch heftige) Auseinandersetzung über ein gesellschaftlich bedeutsames Problem (der man ausweichen kann, wenn sie von außen an ein einzelnes Individuum herangetragen wird) zwingt zu einem eigenen Standpunkt, wenn sie innerhalb der sozialen Gruppe, der man angehört, stattfindet. In pädagogischen Lernsituationen wird großer Wert darauf gelegt, daß sich die einzelnen Individuen „beteiligen". „Gute Schüler", „aktive Teilnehmer" an Bildungsveranstaltungen zeichnen sich dadurch aus, daß sie spontan mitarbeiten bzw. mitdiskutieren und Fragen stellen. Diese aktiven Schüler und Teilnehmer sind aber meist schon vorher sehr gut orientiert und engagiert. Die jeweils sehr viel größere Gruppe derjenigen, die auch in der Schule oder in Bildungsveranstaltungen passiv konsumieren, kann nur mit besonderen Bemühungen interessiert und aktiviert werden.
Die Frage der Aktivierung ist auch unter theoretischen Aspekten der Entstehung politischen Bewußtseins von herausragender Bedeutung: Politisches Bewußtsein reift nicht von selbst heran; es entsteht vielmehr aus den persönlichen Erfahrungen eines Individuums, aus seinen Lebensumständen, aus der Auseinandersetzung mit den Erfahrungen, Einstellungen und Meinungen anderer Personen und sicher auch zu einem erheblichen Teil aus den von Medien vermittelten Bildern, Meinungen und Wertungen. Zwar werden diese Informationen ausgewählt, subjektiv interpretiert und bewertet, sie erhalten jedoch ein über subjektive Vorlieben hinausgehendes Gewicht, wenn sie gleichzeitig, auf ein Thema bezogen und in möglichst vielen Kommunikationszusammenhängen — personal wie medial — auftreten. Die angebotenen Detail-Informationen bzw. Argumente haben dabei eine um so höhere Chance, von einem Individuum aufgenommen und verwertet zu werden, je erfolgreicher es selbst in der für ihn relevanten Sozialgruppe damit argumentieren kann.
Aus der Sicht dieses sehr grob skizzierten Modells ergibt sich für politische Bildung so etwas wie eine „Konkurrenz-Situation" mit allen anderen Medien. Sie hat nur begrenzte Möglichkeiten, ein Thema in eine breite öffentliche Diskussion zu bringen, so daß ihre eigentliche Stärke in der Intensität der Vermittlung und im geplanten Dialog liegt. Dies führt zu größerem Erfolg nur dann, wenn eine hohe Eigenmotivation der Beteiligten besteht oder geschaffen werden kann.
Diese Überlegungen hatten für die Begleituntersuchungen zu „Holocaust" eine zentrale Bedeutung. Ein großer Teil der Fragen war bezogen auf Gespräche und Diskussionen, die „Holocaust" ausgelöst hat. Untersucht wurde nicht nur der Umfang dieser Gespräche, sondern auch die Art und Weise dieser Diskussion, ihre Inhalte und das „Repertoire" schon gehörter Argumente und ihre Bewertung.
Die Ergebnisse im einzelnen:
Frage: „Haben Sie während oder nach der Sendung mit Familienangehörigen, Diese Ergebnisse beziehen sich auf die Situation unmittelbar nach Ausstrahlung von „Holocaust". Bei der Wiederholungsbefragung 14 Wochen nach Ausstrahlung zeigt sich, daß nach Angabe der Befragten die Gesprächshäufigkeit mit Familienangehörigen zunächst gleich geblieben ist; die Gesprächshäufigkeit mit Freunden und Bekannten oder Arbeitskollegen steigt jedoch noch um 10 % gegenüber dem Wert unmittelbar nach Ausstrahlung an. Die Gesamtzahl der Befragten, die überhaupt Gespräche führen, nimmt im Verlauf von 14 Wochen von 80 % auf einen durchschnittlichen Wert von 14 % ab. Es zeigen sich dabei folgende Zusammenhänge: Insbesondere die jüngeren Altersgruppen haben über und aus Anlaß von „Holocaust“ mit Personen ihres unmittelbaren sozialen Umfeldes gesprochen. Es handelt sich dabei zum überwiegenden Teil um Gespräche mit den Eltern, die zu rd. 60 % von den Jugendlichen selbst ausgegangen sind. Diese Gespräche verliefen nicht unbedingt harmonisch. Zwar überwiegt das Urteil, daß man mit der eigenen Meinung mehr Zustimmung als Ablehnung erfahren hat, doch hat es im erheblichen Umfang Kontroversen gegeben.
Die Inhalte dieser Gespräche bezogen sich bereits kurz nach Ausstrahlung nicht nur auf ganz spezifische, den Film selbst betreffende Themen, sondern auch in erheblichem Umfang auf darüber hinausweisende Probleme, wie etwa Lehren, die aus dem Film gezogen werden können, oder die Frage nach den Ursachen und nach der Schuld.
Die folgende Tabelle gibt hierzu einen Über-blick: Frage: „Und worum ging es bei diesen Gesprächen mit Familienangehörigen?" bzw.
„worum ging es bei diesen Gesprächen mit Freunden, Bekannten oder Arbeitskollegen?“ (Vorgabe: Liste) Mit größerem zeitlichen Abstand zur Ausstrahlung ergeben sich leichte Verschiebungen hinsichtlich der Gesprächsinhalte: 14 Wochen nach der Ausstrahlung werden die Fragen der wahrheitsgetreuen Wiedergabe, Probleme der Judenverfolgung, des Antisemitismus, die Fragen, ob man ein Thema wie Juden-vernichtung heute noch bringen soll und welche Wirkung der Film auf andere wohl gehabt haben könnte, stärker thematisiert als unmittelbar nach Ausstrahlung.
Eswurde schon angedeutet, daß politische Bildungsarbeit die bei ihren Zielgruppen vorhandenen Informationen bzw. Argumente zu politischen Sachverhalten oder Ereignissen in ihrer Didaktik berücksichtigen muß. Für die inhaltliche Gestaltung von Begleitmaßnahmen zu „Holocaust" sind daher Argumente, Meinungen und Einstellungen, die etwa ein Jugendlicher in seinem unmittelbaren sozialen Kontext antrifft, von besonderem Interesse. Im Vorgriff auf das folgende Kapitel über die Wirkungen von „Holocaust“ im Bereich des Wissens soll ein Überblick über die Verbreitung und Einschätzung von „Argumenten" gegeben werden, mit denen sich ein Gesprächsteilnehmer oder Mediennutzer zum Thema „Nationalsozialismus" und . Judenvernichtung" konfrontiert sehen kann. Diese Ergebnisse, die in der zweiten Untersuchungswelle 14 Wochen nach Ausstrahlung ermittelt wurden, verdeutlichen, daß Begleitmaßnahmen zum Thema „Nationalsozialismus“ mit harten Gegenpositionen rechnen müssen, die mit logischen und rationalen Argumenten sicher nicht zu erschüttern sind. Zugleich aber wird deutlich, wo diese Gegenargumente und Gegeninformationen anzusetzen haben, wenn man erreichen will, daß sich Jugendliche in Diskussionen fundierter „zur Wehr setzen“ können.
Frage: „Wir haben hier eine Reihe von Ansichten aufgeführt, die wir im Zusammenhang mit „Holocaust" gehört haben. Können Sie uns sagen, welche dieser Ansichten Sie selbst schon einmal gehört oder gelesen haben?“
(Vorgabe: Liste)
Diese Tabelle (auf S. 10) enthält nicht die noch weitergehende Frage, ob es schwierig oder leicht ist, die vorgegebenen . Argumente" zu widerlegen.
Nach den Ergebnissen der Begleituntersuchungen (und nicht nur nach diesen) kann gesagt werden, daß der Film „Holocaust" und die durch ihn ausgelösten Impulse zu einer breit-greifenden Aktivierung und Motivierung, sich mit einem zeitgeschichtlichen Thema intensiv auseinanderzusetzen, geführt haben. Dies ist um so höher zu bewerten, als diese Impulse nicht zu einem kurzfristigen „Strohfeuer“ geführt haben, sondern zu ernsthaft geführten, intensiven und keineswegs harmonisierenden Auseinandersetzungen. Selbstverständlich blieb auch davon eine große Gruppe von Bürgern unberührt, die ihre Vergangenheit ein für allemal bewältigt haben. Gerade aber bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen, jungen Familien mit Kindern in einem Alter, in dem (kritische) Fragen gestellt werden können, ist „Holocaust" auf breiteste Resonanz gestoßen. Ein Geschichtslehrer während eines Seminars zur Didaktik des Nationalsozialismus: „Durch die Fernsehsendung Holocaust und die Reaktionen der Schüler darauf wurden wir, die Lehrer, praktisch dazu gezwungen, uns damit auseinanderzusetzen. Schon bei den kleinen Schülern in der Orientierungsstufe mußten wir darauf eingehen, weil es die Schüler ganz schön beschäftigte; man merkte das am nächsten Tag, die unterhielten sich darüber, waren sehr betroffen, und man merkte auch, daß es für die meisten Schüler der erste Kontakt überhaupt mit diesem Thema war.“
Ein Gemeinschaftskundelehrer: „Ich habe gemerkt, daß ich das erste Mal in einer Situation war, wo ein mächtiger Schub — ein Interessenschub — bei den Schülern da war, ohne daß ich was dafür tun mußte; das war für mich eine unheimlich erleichternde Sache. Unabhängig von der Qualität des Films war es endlich mal so, daß man nicht erst Interesse produzieren mußte, um dann weiter reden zu können, sondern da war was da, da waren Fragen, es waren gemeinsame Bezugspunkte da. Endlich war eine Situation geschaffen, die für politischen Unterricht günstig ist, weil ein großes Stück Arbeit wegfällt, nämlich Motivation zu schaffen, um ein Thema einzuführen." 2. Wirkungen im Bereich des Wissens Wie tief muß der Wissensstand über die Zeit des Nationalsozialismus eigentlich sein, wenn sogar ein Film wie „Holocaust" positive Änderungen bewirkt? Nach den Ergebnissen der Begleituntersuchungen hat „Holocaust“ (und natürlich auch die ihn begleitenden Informationen) zumindest subjektiv, aber nicht nur kurzfristig, einen Wissenszuwachs bewirkt Neben Aktivierung, Motivierung und einer tiefgehenden emotionalen Betroffenheit entstand durch die Serie und die durch sie aktivierten zusätzlichen Informationsquellen ein neues Bild über die Zeit des Nationalsozialismus.
Diese Behauptung trifft selbstverständlich nicht auf alle „Holocaust" -Seher zu, wohl aber auf die für politische Bildung wichtige Zielgruppe der Jugendlichen und jüngeren Erwachsenen und auf die politisch Nicht-Interessierten. Die folgenden Tabellen sollen dies verdeutlichen und die bemerkenswerte Zeit-stabilität dieser Tendenzen im Bereich des Wissens belegen. Die zweite Tabelle zeigt, daß sogar ein Anstieg der „Ja" -Antworten bei allen Altersgruppen zu beobachten ist. Dies ist sicherlich auch auf die Fülle von Gesprächen zurückzuführen, in denen die Teilnehmer neue Ansichten, Argumente, Informationen kennengelernt haben, die nicht aus „Holocaust“ stammen. Für politische Bildungsarbeit von besonderer Bedeutung ist ein Anstieg dieser Tendenzen auch bei den Personen, die eine überdurchschnittliche Ausprägung der Merkmale autoritäre, unpolitische Haltung („Ruhe ist die erste Bürgerpflicht") und politische Entfremdung („In der Politik geschieht selten etwas, das dem kleinen Mann nützt“) erkennen lassen.
Das subjektive Urteil über den eigenen Wissensstand wird aussagekräftiger, wenn man feststellt, was „Holocaust“ an neuem Wissen gebracht hat. An erster Stelle steht hier das Ausmaß der Grausamkeiten, der Systematik, mit der die Vernichtung angelegt war, was insbesondere den Frauen, den jüngeren und mittleren Altersgruppen sowie den formal weniger Gebildeten nicht bekannt war. Diese Tendenzen spiegeln sich in den Ergebnissen zu vielen anderen Fragen, die sowohl unmittelbar nach Ausstrahlung als auch 14 Wochen später in den Begleituntersuchungen gestellt wurden, wider, von denen hier nur einige herausgegriffen werden sollen; „. Holocaust" macht bestimmte Vorgänge während der Zeit des Nationalsozialismus begreiflich." „. Holocaust" ist ein guter Geschichtsunterricht für diejenigen, die die Zeit damals nicht miterlebt haben.“ „. Holocaust" sollte in allen Schulen der Bundesrepublik gezeigt werden.“ Die sich aus diesen Ergebnissen ergebende auch emotionale Akzeptanz der Sendereihe zeigt sich zusätzlich in der von der überwiegenden Mehrheit der Zuschauer erlebten Glaubwürdigkeit und Authenzität des Fernsehfilms „Holocaust".
Die Glaubwürdigkeit einer Quelle ist für die positive Bewertung ihrer Inhalte von aus-schlaggebener Bedeutung; gerade bei dem Film „Holocaust“ haben Kritiker darauf hingewiesen, daß durch die Machart des Films, Insgesamt gesehen berechtigen diese Ergebnisse dazu, den Film „Holocaust" auch als einen glaubwürdigen, als authentisch erlebten Informationsträger zu bezeichnen, der Aufklärung zu leisten vermag. Daß man sich damit aus der Sicht politischer Bildung nicht zufrieden geben darf, zeigt der durch „Holocaust" zusätzlich geschaffene Informationsbedarf. Generell würde man für politische Aufklärung fordern, daß nicht nur das persönliche Einzelschicksal im Vordergrund steht, sondern auch Gesamtzusammenhänge und Hintergründe, die die politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und ökonomischen Bedingungen mit-umfassen, thematisiert werden. Welche zusätzlichen Informationen in einer repräsentativen Stichprobe von Bürgern für wesentlich gehalten werden, zeigt die Tabelle auf S. 13 mit Ergebnissen aus der zweiten Begleituntersuchung 14 Wochen nach Ausstrahlung.
Frage: „Wir haben hier eine Liste zusammengestellt. Bitte lesen Sie sie einmal in Ruhe durch und sagen uns, über welche Punkte Sie gern mehr erfahren würden?"
Vorgabe: Liste; Mehrfachnennungen möglich Hinsichtlich Alter und Bildung der Befragten ergeben sich eindeutige Zusammenhänge der-durchdie Darstellung in Form eines Spielfilms, die Ereignisse im subjektiven Erleben verfälscht werden und so — auch subjektiv— ein nur geringer Informationswert vorhanden sei. Die folgenden Ergebnisse zeichnen ein anderes Bild:
Frage: „Sind Sie der Meinung, daß die Sendung die damaligen Verhältnisse richtig weitergegeben hat?"
Nach Ausstrahlung: A; 14 Wochen später: B art, daß das Interesse an weitergehender Information vor allem bei den jüngeren Altersgruppen und den höher gebildeten Gruppen vorhanden ist. Die Detailanalyse der Zusammenhänge hinsichtlich des zusätzlichen Informationsbedarfs nach sozialen Einstellungen zeigt, daß aber auch dort Interesse am Thema geweckt wurde, wo die persönlichen Dispositionen in Richtung politischer Entfremdung, sozialer Isolierung und der Einstellung: „Vergangenheit endlich ruhen lassen" gehen.
Für die Didaktik politischer Bildungsarbeit gibt diese Tabelle brauchbare Hinweise für die inhaltliche Schwerpunktsetzung von Begleitmaßnahmen oder die inhaltliche Vorbereitung auf Diskussionen über die Zeit des Nationalsozialismus. Dies nicht in der Weise, daß man ausschließlich die am häufigsten genannten Inhalte intensiv behandelt, sondern so, daß eine Verknüpfung hoch und niedrig besetzter Ansichten vorgenommen wird. Die inhaltliche Verknüpfung der Frage, warum das Ausland den Juden nicht geholfen hat, mit der Frage, was wir heute aus „Holocaust" lernen können, eröffnet zusätzliche Perspektiven, die mit heute aktuellen Beispielen dargestellt werden können.
Mit diesen Ergebnissen ergibt sich auch die Verpflichtung, den geäußerten zusätzlichen Informationsbedarf ernst zu nehmen und in »Holocaust“ den Anlaß für politische Bildungsarbeit und nicht die Vollendung zu sehen. (Der zweite Teil dieser Ausführungen gibt einen Überblick über die Aktivitäten von Bildungseinrichtungen und öffentlichen Institutionen, die mit dafür sorgen, daß „Holocaust" kein Strohfeuer — wenn es überhaupt eins war — blieb.)
Ein Lehrer: „Ich finde, die Betroffenheit, die kann man ziemlich ausnutzen, wenn ich die irgendwie umsetzen kann in ein echtes Informationsbedürfnis, auch hinsichtlich der Fragen warum, wieso, wie ist es heute, dann stelle ich mir vor, daß das läuft. Diese Betroffenheit muß man einfach funktionalisieren." 3. Wirkungen im Bereich der Meinungen und Einstellungen In welchem Umfang dies möglich ist, die Betroffenheit, neues Wissen und zusätzliche Informationsbedürfnisse zu funktionalisieren für ein ausgeprägteres demokratisches Bewußtsein, hängt auch von den Meinungen und Einstellungen ab, die sich auf die Zeit des Nationalsozialismus bzw. auf Formen politischer Kultur beziehen, die undemokratisch oder antidemokratisch sind. Auch in der heutigen politischen Kultur, sowohl auf der Ebene der alltäglich erfahrbaren Politik als auch der des individuellen Bewußtseins, finden sich genügend Gründe für Besorgnis. Gemeint ist hier nicht nur die generelle Einschätzung der Zeit des Nationalsozialismus, spektakuläre neonazistische Tendenzen und Aktivitäten, latenter oder offener Antisemitismus bzw. Fremdenhaß; gemeint sind auch die ganz sublimen und alltäglichen Formen politischer Entfremdung, politischer Radikalisierung, autoritärer Unterdrückung, undemokratischer Manipulation und nicht-legitimierter Machtausübung. Ohne ein Schreckensbild hinsichtlich der Ausprägung dieser Tendenzen zeichnen zu wollen: Politische Bildungsarbeit muß diese Tendenzen mit höchster Sensibilität beobachten und kontinuierlich berücksichtigen.
Der Nutzen des Fernsehereignisses „Holocaust" in diesem Zusammenhang besteht sicher nicht darin, diese Tendenzen abzubauen oder drastisch zu verringern. Es war aber zu prüfen, ob „Holocaust“ den Blick für diese Tendenzen schärft, ein Stück dazu beiträgt, daß die Maßnahmen gegen sie intensiviert werden und vielleich auch Betroffene hinsichtlich dieser Einstellungen sensibilisiert bzw. verunsichert werden.
Diese gegenläufigen Tendenzen werden um so wirksamer sein, eine Relativierung negativer Meinungen und Einstellungen um so wahrscheinlicher, je höher die Dichte an Information und Kommunikation in Familie, Schule und Arbeitsplatz wie auch in Massenmedien ist und die beteiligten Individuen zu einer offenen Stellungnahme (wie auch immer) herausgefordert sind. In diesem Verbund aus mehreren Instanzen, der sich durch die Anstöße der Serie „Holocaust" tatsächlich in erheblichem Umfang ergeben hat, hat der Film selbst einen entscheidenden weiteren Beitrag geleistet: Er hat die emotionale Betroffenheit bewirkt, die eine notwendige Voraussetzung für Verunsicherung und Auflockerung von Meinungen und Einstellungen ist. Daß dies ein längerfristiger Prozeß ist, bei denen keine sofortigen Erfolge erwartet werden dürfen, belegt nur die Verpflichtung zu einer kontinuierlichen politischen Bildungsarbeit.
Die Begleituntersuchungen haben zur Profilierung des Bereiches Meinungen und Einstellungen folgende Indikatoren verwendet: — Einschätzung des Nationalsozialismus als gute oder schlechte Zeit;
— Charakterisierung des Nationalsozialismus als gute Idee;
— Befürwortung der Verjährung von nationalsozialistischen Verbrechen;
— Rechtfertigung des Attentats auf Hitler; — Meinungen über den Nationalsozialismus und den Widerstand gegen ihn;
— Antisemitismus;
— Akzeptanz der moralischen Verpflichtung für Wiedergutmachung u. a. m.
Das Untersuchungskonzept hat hier keine geschlossene Theorie, etwa eine bestimmte Faschismustheorie, verwendet, vielmehr hat es zum überwiegenden Teil auf bereits erprobte Einzelindikatoren und Skalen aus anderen Untersuchungen, die markante Punkte im politischen Bewußtsein unterschiedlicher Zielgruppen politischer Bildung widerspiegeln, zurückgegriffen.
Bei der Interpretation der im folgenden dargestellten Ergebnisse ist zu beachten, daß ein Vergleich der vor der Ausstrahlung ermittelten Ergebnisse mit denen nach der Ausstrahlung auf einer individuellen Ebene nicht möglich ist. Das Untersuchungs-Design sah zwar repräsentative, aber unabhängige Stichproben vor. Auch ein Vergleich zwischen Sehern und Nicht-Sehern von „Holocaust" darf nicht ohne Einschränkung zum Beleg für Wirkungen herangezogen werden, weil sich die Gruppe der Nicht-Seher — wie eingangs ausgeführt — von der Gruppe der Seher in wichtigen Merkmalen (höherer Grad politischer Entfremdung, ausgeprägtere unpolitische Haltung, größere Isolation vom sozialen Leben, höheres Lebensalter und anderes mehr) unterscheidet. Zudem ist zu berücksichtigen, daß auch die Gruppe der Nicht-Seher durch die Voraussendungen des WDR, durch die Kontroversen in der Presse und durch Inhaltsschilderungen in Boulevard-und Tageszeitungen (die „Bild-Zeitung" berichtete ausführlich über das Schicksal der Familie Weiß) gut informiert und hinsichtlich der in der Untersuchung verwendeten Kriterien beeinflußt war. Dennoch ergeben sich Tendenzen — durchgängiger und stärker wiederum bei jüngeren Altersgruppen —, die als Auflockerung und Verunsicherung von Meinungen und Einstellungen gewertet werden können.
Vielleicht ist es aber auch mit Blick auf die Ergebnisse für politische Bildungsarbeit wichtiger, nicht so sehr die Veränderungen bzw. Unterschiede zu beachten, sondern vielmehr die besorgniserregenden Ausprägungen negativ zu wertender Einstellungen bei beachtlichen Teilen der Bevölkerung.
Die Ergebnisse im einzelnen:
Frage: „In letzter Zeit wird häufig über die Aufhebung der Verjährungsfrist für Verbrechen aus der Zeit des National-B Sozialismus gesprochen. Was meinen Sie: Sollten solche Verbrechen auch nach 1979 noch verfolgt werden, oder sollten sie nicht mehr verfolgt werden, oder haben Sie sich mit dieser Frage noch nicht befaßt?"
Beachtenswert sind nicht nur die Unterschiede zugunsten der weiteren strafrechtlichen Verfolgung von NS-Verbrechen, die sicher nicht absolut zu werten sind, sondern auch die erhebliche Verringerung des Anteils derjenigen, die sich mit dieser Frage noch nicht beschäftigt haben.
Ein weiterer Indikator, der sensibel auf die Wirkungen von „Holocaust“ reagiert hat, ist die generelle Einschätzung der Zeit Nationalsozialismus:
Frage: „Manche Leute sagen, die Zeit des Nationalsozialismus war eine gute Zeit, andere sagen, die Zeit war eine schlechte Zeit. (...) Wie würden Sie persönlich mit Hilfe dieser Liste die Zeit des Nationalsozialismus einschätzen?" (Vorgabe Liste von + 5 bis — 5)
In der Tendenz zeigt diese Tabelle, daß die generelle Einschätzung der Zeit des Nationalsozialismus bei den Sehern von „Holocaust“ erheblich schlechter ist. Zudem gibt es hier deutliche altersspezifische Unterschiede derart, daß in jüngeren Altersgruppen eine negativere Einschätzung der Zeit des Nationalsozialismus gegeben ist Ähnliche Tendenzen ließen sich auch über folgende Indikatoren nachweisen: Vorgabe: Der Nationalsozialismus war im Grunde eine gute Idee, die nur schlecht ausgeführt wurde.
Manchen mag das generell hohe Niveau der Zustimmung zu diesem Statement erschrek-ken. Diese Ergebnisse korrespondieren jedoch mit denen aus anderen Untersuchungen in früheren Jahren.
„Holocaust" Wie in Amerika scheint auch in der Bundesrepublik auf der moralischen Dimension das Gefühl der Schuld bzw. Verpflichtung gesteigert zu haben:
Vorgabe: Deutschland ist moralischverpflichtet, Wiedergutmachung zu leisten.
Vorgabe: Alle Deutschen, die während der Zeit des Nationalsozialismus erwachsen waren, tragen Mitschuld an dem, was damals geschah. Deutliche Veränderungen vor und nach „Holocaust" läßt die Frage nach der Rechtfertigung des Attentats auf Hitler erkennen. Nach Ausstrahlung halten 63 % der Befragten das Attentat für gerechtfertigt (14 % mehr als vor Ausstrahlung); und was auch hier wieder entschei-dender ist: die Gruppe derer, die keine Stellung zu beziehen vermag, schrumpft von 43 % auf 30%.
Ein Kernstück auch des heutigen Neonazismus sind antisemitische Tendenzen. Man schätzt, daß bei rund einem Viertel der Gesamtbevölkerung antisemitische Tendenzen noch oder schon wieder vorhanden sind, und es ist in der Tat erstaunlich, daß sich diese Tendenzen in mehreren unabhängigen Untersuchungen zu verschiedenen Zeitpunkten immer wieder nachweisen lassen.
Vorgabe: Mit ihren Ideen stiften die Juden nur Unfrieden.
Vorgabe: Die Juden arbeiten mehr als andere mit Tricks, um das zu erreichen, was sie wollen.
Und als Gegengewicht:
Vorgabe: Die Juden in Deutschland sind genauso gute Staatsbürger wie andere auch.
Zu Vorgaben dieser Art gibt es altersspezifische Unterschiede in der Beantwortung. Es wird deutlich, daß die jüngeren Altersgruppen zwar in geringerem Umfang antisemitische Tendenzen erkennen lassen, daß sie aber, ob-wohl sie selbst keine Juden kennen, dennoch Vorurteile der oben skizzierten Art in erschreckendem Ausmaß übernommen haben. Dabei scheint es so zu sein, daß das Objekt dieser Vorurteile . Jude“ gegen andere ethnische Minderheiten oder Fremdgruppen austauschbar ist. Eine Lehrerin, die im Religionsunterricht das Thema Antisemitismus und Judenverfolgung bearbeitete, berichtete von ihren Unterrichtserfahrungen. Danach war es ihr unmöglich, direkt von „Holocaust“ und Antisemitismus ausgehend, das Problem der Gastarbeiter zu behandeln. Erst in einem zweiten Anlauf, als sie das Thema Arbeitslosigkeit als Einstieg verwendete, wurden Vorurteile gegenüber türkischen Gastarbeitern zum Teil kraß artikuliert. Man kann daraus folgern, daß auch bei jüngeren Altersgruppen eine generelle Bereitschaft, Vorurteile gegenüber Minderheiten zu entwickeln, vorhanden ist; politische Bildungsarbeit sollte daher das Problem des Antisemitismus in einem sehr breiten Rahmen angehen und die Bereitschaft, Vorurteile aufzubauen und für das Verhalten wirksam werden zu lassen, thematisieren.
Für diese Betrachtungsweise sprechen auch Ergebnisse der Begleituntersuchung, die sich aus einem Vergleich zwischen dem Autoste-
reotyp . Bundesrepublik Deutschland'mit dem Stereotyp . Israel'ergeben. (V erwendet wurden u. a. die Eigenschaften friedliebend, schlau, habgierig, tapfer, intelligent, grausam, geschäftstüchtig u. a. m.) Hier zeigt sich tendenziell, daß die jüngeren Altersgruppen die Bewohner Israels ebenso positiv einschätzen wie die Bewohner der Bundesrepublik Deutschland. Nur bei den älteren Altersgruppen finden sich deutliche Unterschiede, die ein negatives Bild der Bewohner Israels zeichnen. Während also ein größerer Teil der jüngeren Altersgruppen bei dem Begriff . Jude" Vorurteile artikuliert, werden die „Bewohner des Landes Israel" ausgeprägt positiv eingeschätzt Für die pädagogische Arbeit, die Aufklärung über Vorurteile zum Ziel hat, ist diese „paradoxe" Gegebenheit eine hervorragende Chance, die psychologischen Mechanismen bei der Entstehung von Vorurteilen und deren Funktion bloßzulegen.
Die oben dargestellten Ergebnisse beziehen sich auf die Situation unmittelbar nach Ausstrahlung. In einer weiteren Begleituntersuchung 14 Wochen später wurden dieselben Fragen erneut vorgelegt, um den zeitlichen Bestand der Tendenzen abschätzen zu können. Die in den Diskussionen über die Wirkungen von „Holocaust" immer wieder geäußerte Befürchtung, daß die Effekte von „Holocaust" in kurzer Zeit wieder verschwunden wären, wird durch die Ergebnisse der Wiederholungsbefragung nicht belegt. Vielmehr sind die Tendenzen unmittelbar nach Ausstrahlung von „Holocaust" in erheblichem Umfang zeitstabil.
Es gibt zwar — wie nicht anders zu erwarten — eine Abschwächung und ein Verblassen der positiven Effekte im Bereich der Meinungen und Einstellungen; gegenläufige Tendenzen sind jedoch nur bei wenigen Fragen und Befragten zu beobachten. Hierzu gehören die Ergebnisse zur Verjährungsfrage. Während unmittelbar nach der Ausstrahlung von „Holocaust“ die Verjährungsgegner bei den Zuschauern zahlreicher waren, gibt es 14 Wochen nach der Ausstrahlung ein tendenzielles Übergewicht der Verjährungsbefürworter.
Über dieses Ergebnis kann man nur spekulieren: Fernsehund Presseberichte zur Verjährungsdebatte im Bundestag haben mit dem Argument der verfahrenstechnischen Schwierigkeiten bei NS-Prozessen die Möglichkeit einer „neutralen" Position geschaffen.
Bei allen übrigen Einstellungsindikatoren, wie etwa der „moralischen Verpflichtung, Wiedergutmachung zu leisten", oder der „Mitschuld der zur Zeit des Nationalsozialismus erwachsenen Deutschen", „Einschätzung des oder der Nationalsozialismus als gute Idee", oder den antisemitischen Tendenzen, zeigt sich ein leichtes Abschwächen der Effekte, doch nicht s° weit, daß Niveau vor Ausstrahlung das der wieder erreicht wird. 14 Wochen sind gleichwohl kein langer Zeitraum, um zu beurteilen, ob die Verunsicherung und Auflockerung negativ zu wertender Meinungen und Einstellungen für die Betroffenen weiterhin bedeutsam blieb. Dies ist von einem Film begründet auch nicht zu erhoffen; vielmehr müssen weitergehende pädagogische Bemühungen diese Verantwortung übernehmen und mit kontinuierlichen Angeboten verwirklichen.
Es ist dabei allerdings nicht zu übersehen, daß eine gewisse Ernüchterung und Übersättigung mit den Themen „Holocaust", . Judenvernichtung" und „Nationalsozialismus" artikuliert wird. Wo dies der Fall ist, sollte die pädagogische Aufarbeitung nicht direkt am Film „Holocaust" selbst ansetzen, sondern (wie oben am Beispiel der Religionslehrerin gezeigt) an aktuellen Betroffenheiten und heute relevanten Problemen. Die Aufklärungsarbeit der jüdischen Organisation Anti-Defamation-League', New York, nutzte z. B. die Breitenwirkung von „Holocaust", um auf heute stattfindende Kriege und Greueltaten aufmerksam zu machen. Sie entwickelte eine Aufklärungskampagne über das Schicksal der vietnamesischen Flüchtlinge. 4. Möglichkeiten der Generalisierung Die Frage, ob „Holocaust“ eine Generalisierung der dargestellten Ereignisse möglich gemacht hat, ob Bezüge zur heutigen Zeit, zu heute aktuellen gesellschaftlichen und individuellen Defiziten im politischen Bewußtsein ermöglicht bzw. gefördert wurden, ist entscheidend für die Bewertung des Films aus der Sicht politischer Bildungsarbeit. Auch hier ist wieder zu beachten, daß die beobachteten Aspekte nicht allein auf den Film zurückzuführen sind, sondern auch auf die ihn begleitenden Informationskampagnen und die durch ihn stimulierten Informationsquellen.
In vielen Briefen an die Bundeszentrale für politische Bildung wurde — wie eingangs dargestellt — deutlich, daß eine beträchtliche Anzahl von Zuschauern durch die Serie angeregt wurde, über die heutige politische Kultur nachzudenken. Auch die in den Begleituntersuchungen verwendeten Indikatoren belegen, daß „Holocaust" auf heute relevante Probleme und übergreifende Fragen hingeführt hat
So wird es z. B. für wichtig gehalten, daß „Holocaust" in allen Schulen der Bundesrepublik gezeigt wird (65 % aller 14— 19jährigen Befragten sind dieser Meinung). „Holocaust" wird als ein guter Geschichtsunterricht bezeichnet, gerade für diejenigen, die die Zeit damals nicht miterlebt haben (80% aller 14— 19jährigen Befragten sind dieser Meinung). Immerhin 19 % aller Befragten befürchten, daß ein Geschehen, wie es „Holocaust" darstellt, unter bestimmten Bedingungen in Deutschland erneut vorkommen könnte, und 71 % aller Befragten befürworten die Ansicht, daß man aus „Holocaust" lernen Natürlich könnten diese Ergebnisse auch ein Lippenbekenntnis darstellen, aber viele andere Indikatoren zeigen zumindest, daß Assoziationen zu heutigen Problemen der politischen Kultur gestiftet wurden, die von der politischen Bildungsarbeit aufgegriffen werden können. Die folgenden Ergebnisse, die 14 Wochen nach Ausstrahlung ermittelt wurden, zeigen im Detail, welche Voraussetzungen und Anknüpfungspunkte gegeben sind, wenn von „Holocaust" ausgehend pädagogische Ziele bearbeitet werden (s. S. 19).
Frage: Nach der Sendung von „Holocaust" hat sich in Deutschland eine Diskussion darüber entzündet, ob man aus dem damaligen Geschehen für die heutige Zeit Lehren ziehen kann. Wir haben dieser Diskussion einige Argumente entnommen.
(Vorgabe: Kastenspiel Skalenblatt:
Trifft voll und ganz zu, trifft weitgehend zu, trifft wenig zu, trifft überhaupt nicht zu)
In diesen Aussagen sind drei große Kategorien enthalten, mit denen unterschiedliche Typen von politischem Bewußtsein beschrieben werden. Sie stellen zugleich zumindest einen Teil des Rahmens dar, der bei der pädagogischen Aufarbeitung von Defiziten der heutigen politischen Kultur zu beachten ist. Eine Faktorenanalyse über diese Aussagen (die zwar methodisch auf schwachen Beinen steht, aber doch verwertbar erscheint) erbringt in der Dreier-Lösung eine plausible, interpretierkönne, daß Gehorsam nicht immer das Richtige ist.
Eine direkte Frage zur Generalisierbarkeit brachte folgende Ergebnisse:
Frage: Würden Sie sagen, daß wir Deutsche aus „Holocaust" etwas lernen können für unser heutiges Denken und Handeln in der Bundesrepublik — oder ist das nicht der Fall? bare Faktorenstruktur: Einen Faktor 1, den man „Selbstkritik" nennen könnte (er repräsentiert die Aussagen Nr. 1, 3, 4, 7 und 10); einen Faktor 2, den man „Selbstgerechtigkeit" nennen könnte (repräsentiert durch die Aussagen Nr. 2, 8, 9, 11, 13 und 14), und einen Faktor 3 „Demokratische Partizipation" (repräsentiert durch die Aussagen Nr. 6 und 15). Diese Struktur bildet die Aussagen Nr. 5 und Nr. 12 nicht ab; eine stärkere Ausdifferenzierung des Bereiches der moralischen und ethischen Wertung politischer Probleme, der in den Briefen an die Bundeszentrale einen erheblichen Stellenwert hatte, ist in den in der Untersuchung verwendeten Statements sicher auch unterrepräsentiert.
Auch unabhängig von diesen Ergebnissen lassen sich in individuellen Diskussionen über den Bezug von „Holocaust" zur heutigen Zeit diese drei bzw. vier Hauptgesichtspunkte feststellen. Die methodischen Schwächen der oben dargestellten Ergebnisse erlauben es leider nicht, bei unterschiedlichen Zielgruppen politischer Bildungsarbeit die jeweils gegebene Struktur präzise zu bestimmen. Es zeichnet sich aber ab, daß bei den jüngeren Altersgruppen eine geringere Ausprägung des Faktors „Selbstgerechtigkeit" gegeben ist und zusammen mit den mittleren Altersgruppen eine stärkere Ausprägung des Faktors „Demokratische Partizipation". Aber auch aus diesen nur schwachen Tendenzen können sich brauchbare Anhaltspunkte für politisch bildende Maßnahmen, wie etwa Begleitmaterial, erge-ben, etwa derart, daß beim überwiegen des Faktors „Selbstgerechtigkeit“ Defizite in der heutigen politischen Kultur nachgewiesen und thematisiert werden, beim überwiegen des Faktors „Selbstkritik" die Handlungsebene thematisiert wird, und bei Dominanz des Faktors „demokratische Partizipation“ die Möglichkeiten und Grenzen der in der Bundesrepublikverwirklichten Staatsform Demokratie zum Mittelpunkt gemacht wird.
IV. Indirekte Wirkungen von „Holocaust"
Abbildung 5
Abbildung 5
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Die bisher angeführten Belege für die Wirkungen von „Holocaust" spiegeln die Verhältnisse auf der „subjektiven Seite“ wider. Die mit den gewählten Untersuchungsmethoden ermittelten Ergebnisse sind mit Schwächen, z. T. mit Fehlern behaftet; die Fülle der Ergebnisse ist (noch) nicht systematisch und unter allen denkbaren Aspekten ausgewertet und einige Ergebnisse sind sicher auch überinterpretiert worden. Aber selbst unter Berücksichtigung aller methodischer und inhaltlicher Bedenken muß als gesichert angesehen werden, daß der Film „Holocaust" auf der subjektiven Ebene positiv zu wertende und für die politische Bildungsarbeit fruchtbar zu machende Impulse gegeben hat. Dies hat vor „Holocaust" keine der zahlreichen und auch intensiv genutzten Dokumentationen in demselben Maß erreicht. Wenn hervorgehoben wird, daß 10 % der „Ho-locaust" -Seher sich aufgrund des Films tatsächliche Informationen beschafft haben, so mag diese Relation zwar bescheiden wirken, aber in absoluten Zahlen ausgedrückt ist es eine Zahl von Individuen, die bei vielen anderen Filmen zu diesem Thema die Gesamtseherschaft ausgemacht hätte.
Neben dem Bewertungshintergrund der Befragungsergebnisse ist zur Beantwortung der eingangs gestellten Fragen auch die Analyse der Auswirkungen sowohl des Films selbst als auch der auf ihn erfolgten Reaktionen der Zuschauer von größtem Interesse. Die Bundeszentrale arbeitet derzeit an einer Untersuchung, die sich die Analyse der Reaktionen auf einer mehr „strukturellen" Ebene zum Ziel gesetzt hat. Gemeint ist hiermit das Verhalten der Träger und Institutionen außerschulischer politischer Bildung, die Schulen selbst, Fachzeitschriften, die sich an Lehrer, Erwachsenenbildner und „Kulturmultiplikatoren" wenden, Massenmedien und andere Institutionen des öffentlichen Lebens, die auf die Ausstrahlung von „Holocaust" reagiert haben.
Ohne hier im einzelnen Belege anzuführen, seien doch die bisher ermittelten Tendenzen kurz dargestellt.
Alle großen Träger der politischen Bildungsarbeit (Stiftungen der Parteien und insbesondere auch einzelne Volkshochschulen) sind mit ihB ren Seminarangeboten auf „Holocaust" und damit zusammenhängende Themen wie auch auf die Reaktionen der Gesamtbevölkerung eingegangen. Alle Träger betonen, daß ihre Aktivitäten zum Themenbereich Nationalsozialismus und auch Neonazismus vor „Holocaust" sowie unabhängig von diesem Film vielfältig und umfangreich waren. Dennoch läßt sich zeigen, daß nach „Holocaust" das Angebot nicht nur quantitativ ausgeweitet wurde, es wurde zu einem auch spezifischer, etwa auf die Judenvernichtung eingehend, und zum anderen generalisierender, also Bezüge zur heutigen Zeit herstellend. Auch die Bundeszentrale und die Landeszentralen für politische Bildung haben dem Thema Nationalsozialismus, Judenvernichtung, Neonazismus und Rechts-extremismus mehr Aufmerksamkeit gewidmet und auch mehr finanzielle Mittel investiert als vor der Ausstrahlung. Den Bereich der außerschulischen politischen Bildung überschauend, darf man wohl behaupten, daß „Holocaust" stimuliert und zu größeren Anstrengungen in diesem thematischen Bereich herausgefordert hat.
Im Bereich Schule sind positive wie negative Reaktionen auf „Holocaust" zu beobachten. Zum einen die Verweigerung, auf den Film mehr als nach dem Drängen der Schüler notwendig einzugehen, zum anderen das Ansehen des Films als „Hausaufgabe" und anschließend ausführliche Diskussion im Unterricht Die Verwertung der Impulse durch „Holocaust“ im Unterricht, ihre Nutzung und Funktionalisierung für damit verwandte Themen des Lehrplans, scheint die häufigste Reaktion gewesen zu sein, wenngleich zwischen Lehrern sowie zwischen Lehrern und Schulleitung Diskussionen über die Brauchbarkeit von „Holocaust" für den Unterricht stattfanden. Auch qualitativ scheint der Film „Holocaust" und die durch ihn ausgelöste Betroffenheit in den Schulen, in den Klassen etwas verändert zu haben. Wo Judenwitze häufiger oder gelegentlich die Runde machten, war plötzlich eine Gegenwehr vorhanden. Ein Lehrer: „Ja, als die da mit dem Judenwitz ankamen, die haben im Grunde erst nach . Holocaust'gemerkt, wie schäbig und fürchterlich der Witz war. Das ist oft auch altersbedingt so, daß sie eine bur20 schikose Art an den Tag legen, indem sie Judenwitze erzählen. Hauptsache, ein bißchen Rauhbein. In Wirklichkeit steckt ein weicher Kern dahinter, und wenn sie merken, daß die anderen ihre Ergriffenheit zeigen, erzählen sie keine Judenwitze mehr." Deutlicher ins Bewußtsein der Lehrer und Schulbehörden — wie auch der Kulturpolitiker — ist die bisherige Art und Weise, das Thema „Nationalsozialismus" im Unterricht zu behandeln, gerückt. Auch die Lehrer, die den Film „Holocaust" wegen seiner auf hohe Zuschauerbeteiligung ausgerichteten, klischeehaften Darstellung ablehnten, suchen nun bewußt nach besserem Material, um es einzusetzen.
Fachzeitschriften im Bereich politischer Bildung, die den Zielgruppen Lehrer, Erwachsenenbildner und im weitesten Sinne „Multiplikatoren" dienen, lassen folgende Tendenzen erkennen: Die Fachzeitschriften (z. B. betrifft: Erziehung), die auch vor der Ausstrahlung von „Holocaust" intensiv und breit über Probleme des Nationalsozialismus und Neonazismus berichteten, intensivierten ihr Angebot nur unwesentlich. Andere Fachzeitschriften griffen das Thema verstärkt auf, thematisierten in breitem Umfang den Bereich Nationalsozialismus, Judenverfolgung und auch Rechtsextremismus. Insbesondere mit Bezug auf den Religionsunterricht wird das Problem des Verhältnisses zwischen Christen und Juden und auch das Problem des Antisemitismus deutlich stärker in den Vordergrund gerückt. Es tauchen etwa ein Jahr nach Ausstrahlung vermehrt Praxis-berichte über Schulunterricht auf, in denen über Schwierigkeiten und Erfahrungen bei der Verwertung der Filminhalte und bei der pädagogischen Arbeit über Vorurteile berichtet wird.
Am deutlichsten sichtbar ist die zusätzliche Aktivität nach Ausstrahlung von „Holocaust" auf der Schülerseite. Die Mehrzahl der Schülerzeitungen geht auf das Thema ein, beschreibt Versäumnisse und Schwächen des bisherigen Geschichtsunterrichtes, macht Aufrufe zu Aktionen gegen den Neonazismus und anderes mehr.
Selbst auf dem Gebiet der Lehrerausbildung finden sich nun vermehrt Publikationen, die Unterrichtseinheiten beschreiben und Handreichungen für Lehrer zum Thema Nationalsozialismus zur Auswahl stellen. Mehrere Tagungen und Seminare, die der Fortbildung von Lehrern gewidmet sind, erscheinen als durch die Debatte über den Wert und Unwert des Geschichtsunterrichtes („schwarzer Freitag für Historiker") stimuliert.
In den Massenmedien selbst ist ein verstärkter Trend zu zeitgeschichtlichen Themen festzustellen. Es wurden hierzu Serien konzipiert, die ganz auf die Darstellungsform der Spiel-handlung abgestellt sind. Bereits gesendete Filme zum Thema werden zum Teil in Form von Zyklen neu ins Programm gebracht.
Auch der Buchmarkt hat reagiert: Eine Flut von Publikationen, zum größten Teil das Dritte Reich behandelnd, kam in die Buchläden. Eine Umfrage unter Buchhändlern in der Bundesrepublik hat ergeben, daß ein verstärkter Bedarf von Publikationen dieser Art zu verzeichnen ist.
Selbstverständlich sind diese Aktivitäten nicht auf den Film allein zurückzuführen und in vielen Fällen sicher auch nicht auf eine erhöhte Verantwortung für politisch bildende Ziele. Dennoch aber darf man behaupten, daß der Film „Holocaust“ diese Entwicklung mit-verursacht hat.
V. Schlußbemerkung
Abbildung 6
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Nach allem, was über den Entstehungsprozeß des Fernsehfilms „Holocaust" berichtet wurde — von der ursprünglichen Idee über die Ausarbeitung des Drehbuchs, der Auswahl der beratenden Experten, der Besetzung der Rollen, der Finanzierung der Produktion bis hin zur Promotion der Sendung über Institutionen des öffentlichen Lebens in den USA —, wird klar, daß der weltweite Erfolg von „Holocaust“ kein Zufallstreffer, sondern ein nach allen Regeln der . Kunst'geplantes und verwirklichtes Produkt der Massenkulturindustrie der Vereinigten Staaten ist.
Diese Serie hat in der Bundesrepublik jedoch die Alltäglichkeit des Konsums von Massen-21 medien, ihre durch Unterhaltungsbedürfnisse und Passivität gekennzeichnete Nutzung, durchbrochen. Aus deutscher Sicht ist dies um so erstaunlicher, als „Holocaust“ nach den typischen Gestaltungsregeln, die eine hohe Zuschauerbeteiligung garantieren, und nach rigoros angewendeten marktstrategischen Überlegungen des amerikanischen Fernsehens entwickelt wurde. Für viele war dieser Erfolg von „Holocaust" eben deshalb auch vorhersehbar, weil die Effizienz solcher Vermittlungsformen (Personalisierung, Trivialisie-rung, Action, Tod und Liebe) ein breites Publikum anzuziehen vermag.
Ein solches Produkt für die politische Bildung in der Bundesrepublik verwerten zu wollen, erschien vor der Ausstrahlung des Films und erscheint auch heute noch vielen als „unmöglich", als falsch, als ein Stück Gegenaufklärung. Gemessen aber an den eingeschliffenen und durch importierte Fernsehprogramme geprägten Nutzungsgewohnheiten war der Breiten-erfolg wohl nur so zu erreichen. Die Verpflichtung, über das hochwichtige Thema hinweg auch die Manipulationsformen des Films, z. B. die dem Inhalt teilweise zuwiderlaufende Betrachtungsweise der Greueltaten durch die Kameraführung, zum Gegenstand politischer Bildung zu machen, ist dadurch nicht aufgehoben. Nur die Tatsache, daß das Fernsehereignis „Holocaust" sowohl ein aus sich heraus wirkendes Mittel politischer Bildung als auch ein für politische Bildung didaktisch nutzbarer Beitrag war und heute noch ist, berechtigt, die filmästhetische Kritik und die medienpädagogischen Zielsetzungen zugunsten des Themas vorerst zu vernachlässigen.
Eugen Kogon: „Die Tendenzen, die von der , Hitler-Welle'ausgingen, sind durch das Holocaust'-Fernsehereignis gebrochen. Niemand hätte das vorher für möglich gehalten. Immer war behauptet worden, von den Greueltaten, die die Nationalsozialisten begingen..., wollte die Bevölkerung der Bundesrepublik nichts mehr hören ... Alle, die die Serie sahen und in die dargestellte Handlung unerbittlich hineingezogen wurden..., können das grausigste Stück der deutschen Zeitgeschichtevon 1933— 1945 fortan nicht mehr vergessen. Die Humanität hat durch diesen Film in der Bundesrepublik unerwartet an Boden gewonnen. Ein Bann ist gebrochen: Man kann über die schrecklichen Dinge bis in die Schuld-und Mitschuldfrage hinein endlich miteinander sprechen."
Tilman Ernst, Dipl. -Psychologe, geb. 1942, Referent in der Abteilung Planung und Entwicklung der Bundeszentrale für politische Bildung.
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