Internationale Politik und Friedenssicherung als Probleme politischer Bildung
Bernhard Sutor
/ 46 Minuten zu lesen
Link kopieren
Zusammenfassung
Ausgehend von der Tatsache, daß Fragen der internationalen Politik für die didaktische Analyse zum Zweck politischer Bildung immer noch besondere Schwierigkeiten enthalten, wird zunächst in Orientierung an der Geschichte und an den Theorieansätzen der Teildisziplin Internationale Politik ein Kategorienschema entwickelt. Das Schema soll einerseits die Pluralität der theoretischen Ansätze berücksichtigen und der Komplexität der Gegenstände gerecht werden, andererseits jedoch ihre didaktische Reduktion erleichtern. In einem zweiten Schritt wird die in dem Schema enthaltene normative Zielperspektive des Friedens in Auseinandersetzung mit Positionen der Friedensforschung und Friedenserziehung erörtert. Friede wird als Modus gewaltfreier Interaktion und Konfliktregelung aufgefaßt. Die gängige Unterscheidung von negativem und positivem Frieden erscheint von daher als fragwürdig, weil Friede als Modus von Interaktion ständige Aufgabe bleibt, auch wenn strukturelle Konfliktursachen wie soziale Ungerechtigkeiten und Verletzung von Menschenrechten vei ringert werden. In Absetzung von zu optimistischen Erwartungen der Friedenspädagogik, die die Unterschiede der sozialen und politischen Handlungsebenen zu wenig beachtete, wird das gesamte Aufgabenfeld der Friedenserziehung schematisch strukturiert und darin dem Politikunterricht eine spezifische Aufgabe in der rationalen Auseinandersetzung mit Problemen internationaler Politik zugeteilt. Die derzeitige „Friedensbewegung“ wird zum Anlaß genommen, in einer politisch-ethischen Analyse die heutige Politik der Kriegsverhütung durch Abschreckung zu verknüpfen mit der Perspektive einer langfristig anzustrebenden anderen Sicherung des Friedens, die den Krieg institutionell unmöglich macht. Soll dieses Ziel erreicht werden, dann muß der schwierige Versuch gemacht werden, die heutigen Möglichkeiten der Kriegsverhütung einerseits nicht durch einseitige Preisgabe unserer freiheitlichen Ordnung zu verspielen, andererseits aber sie politisch so zu nutzen, daß Bewußteinswandel und strukturelle Änderungen eingeleitet werden. Auf dieser Grundlage wird der Beitrag politischer Bildung zur Friedenserziehung konkretisiert erstens als Versuch der rationalen Auseinandersetzung mit heutiger Kriegsverhütungspolitik und mit denkbaren Alternativen zwecks Klärung der politisch-ethischen Problemstruktur; zweitens als Bearbeitung von Hauptproblemen heutiger internationaler Politik, in denen Friede als Modus politischer Interaktion immer, wenn auch in unterschiedlicher Weise, zum Problem wird. Im ganzen bleibt der mögliche Beitrag des Politikunterrichts sowohl zur Friedenserziehung als auch zum Verständnis komplexer politischer Probleme bescheiden, der Versuch rationaler Klärung und ethisch verantwortbarer Urteilsbildung darf jedoch nicht ersetzt werden durch emotionalisierende Wehrerziehung oder durch Propaganda für Wehrdienstverweigerung.
Einleitung
Das Aufgabenfeld Internationale Politik stellt in mehrfacher Hinsicht ein Sonderproblem für die politische Bildung dar. Erstens unterscheidet sich das Feld rein quantitativ von anderen Aufgabenfeldern. Die Vielfalt möglicher Fragestellungen und Gegenstände scheint auf den ersten Blick nur schwer auf eine didaktisch sinnvolle Ordnung reduzierbar. Das quantitative Gewicht des Feldes kommt auch darin zum Ausdruck, daß in gängigen Einteilungen und Studienordnungen der Politikwissenschaft Internationale Politik eine der drei Teildisziplinen dieser Wissenschaft darstellt. Ein orientierender Blick in die fachwissenschaftliche Literatur lehrt darüber hinaus, daß auch die Politikwissenschaft sich mit diesem Feld bisher schwer tut. Es gibt eine Reihe sehr unterschiedlicher Einführungen, begrifflicher Annäherungen und Theoriebildungen, aber im ganzen befindet sich die Disziplin der Internationalen Politik nach Aussage eines ihrer ausgewiesenen Fachleute noch in den Anfängen Eine allgemein anerkannte Theorie ihres Gegenstandes liegt noch nicht vor.
Die politische Bildung konnte mit diesem Bereich bisher relativ wenig anfangen, worüber gerade auch die Fülle an Literatur zur Friedensproblematik und Friedenserziehung sowie zur Entwicklungspolitik nicht hinwegtäuschen kann. Das Gesamtfeld scheint ohne Konturen, es zerfließt. Internationale Politik ist am wenigsten in Form der . Kunde’ zu erfassen und zu vermitteln, weil sie am wenigsten von allen Politikfeldern durch einen normativen, institutionellen und organisatorischen Rahmen abgesteckt ist. Der Charakter des Politischen als eines situationsbedingten Handelns von Akteuren aus ihrem Selbstverständ-. Hs und aus ihrer interessenbedingten Interpretation ist hier am deutlichsten ausgeprägt: ^Sowohl die spezifische'Modalität als auch die spezifischen Inhalte der Politik kommen in der Außenpolitik stärker zur Auswirkung als in der Innenpolitik" Gerade dies aber — zusammen mit der Bedrängnis der Probleme, um die es in diesem Feld geht — müßte Internationale Politik für die politische Bildung zu einem ebenso notwendigen wie interessanten Arbeitsfeld machen.
Seine Vernachlässigung in der politischen Bildung, sieht man einmal von der Friedens-und der Entwicklungsthematik ab, hat auch politisch-psychologische Gründe. Als in den fünfziger Jahren in der Bundesrepublik Deutschland die außenpolitischen Grundentscheidungen gefallen waren, gerieten wir außenpolitisch scheinbar in den Windschatten. Die Wirtschaftswunder-und Wohlstandsmentalität verdrängte weithin das Interesse und die Aufmerksamkeit für unsere nach wie vor prekäre Situation in der Welt und für die unangenehmen und unlösbar scheinenden Fragen wie Krieg und Frieden, deutsche Spaltung, Rüstung und Abrüstung. Als sich die Hoffnungen auf eine rasche europäische Einigung nicht erfüllten, erlahmte das Interesse auch an diesen Fragen. Allmählich erzwang dann die Dritte-Welt-Problematik Aufmerksamkeit, nicht zuletzt infolge von Aktivitäten engagierter Gruppen und besonders der beiden Kirchen. Mit der neuen Ostpolitik seit 1969 trat dann die Deutschlandpolitik im internationalen Zusammenhang wieder in den Vordergrund der politischen Diskussion. Diese hat zeitweise auch Schule und Unterricht stark beeinflußt, jedoch mehr in Form des Parteienstreites als in wünschenswerter rationaler Auseinandersetzung mit Problemfragen. Die neue Ostpolitik hinterließ sogar für die Behandlung der Deutschlandfrage eine erhebliche Verlegenheit, die zu beseitigen die Kultusminister erst in ihrer Empfehlung von 1978 versucht haben. Unabhängig von unserer spezifischen deutschen Situation gibt es allgemeine psychologi-sehe Gründe für die Vernachlässigung der Internationalen Politik in politischer Bildung. Sie ist trotz der Allgegenwart der Weltprobleme in den heutigen Medien vom Erfahrungsraum des Kindes und auch noch des Jugendlichen weit entfernt, erscheint noch mehr als die Innere Politik eine Sache weniger Berufspolitiker und Diplomaten, ist viel weniger als innere politische Vorgänge beobachtbar und scheint deshalb auch durch den Normalbürger kaum beeinflußbar. Nach Auskunft politischer Sozialisationsforschung ist der Normalbürger innenpolitisch eher interessiert und orientiert als an internationalen Fragen Die Ausnahme von dieser Regel betrifft offenkundig kleine Gruppen vor allem der gymnasialen Schülerschaft und der Studenten, wobei hier die Aufmerksamkeit ganz stark vom jeweiligen aktuellen internationalen Geschehen abhängt, während Einstellungen und Bewertungen modischen Trends zu folgen scheinen.
Schließlich muß als besondere Schwierigkeit des Feldes registriert werden, daß es erheblich stärker als andere Politikbereiche der historischen und genetischen Erklärung bedarf. Gerade weil die Entwicklungen und Prozesse hier weniger strukturiert sind, weniger Elemente des Normativen und Regelhaften aufweisen, bietet sich für die Schule der historische Zugang immer noch als der praktikabelste an. Damit entsteht aber der Eindruck, Internationale Politik sei als Zeitgeschichte dem Geschichtsunterricht zu überlassen. Trotz zwanzigjähriger intensiver Diskussion über das Verhältnis der beiden Fächer zueinander und über Möglichkeiten von Koordination und Integration ist jedoch bisher weder in den Lehrplänen noch in den Schulbüchern eine befriedigende Zuordnung gefunden worden. Der Geschichtsunterricht spart die Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg in der Regel aus, der Politikunterricht weiß mit ihr angesichts der Unmöglichkeit, sie in Form der Sozialkunde zu strukturieren, nichts rechtes anzufangen
Wir kommen angesichts des hier skizzierten Sachverhalts nicht daran vorbei, in die fach-wissenschaftliche und in die Theoriediskussion zur Internationalen Politik zurückzufragen, ob sich nicht doch eine didaktische Struktur begründen läßt, die mehr aussagt als die offenkundige Notwendigkeit, Probleme wie die Deutschlandfrage, die Europapolitik, die Entwicklungsproblematik und die Friedenssicherung im Politikunterricht zu behandeln. Anders ausgedrückt geht es zunächst um die Frage, welche spezifische kategoriale Struktur politische Bildung im Feld der Internationalen Politik annehmen muß.
I. Zum Begriff und zur kategorialen Struktur Internationaler Politik
Abbildung 2
»Menschheit“ Staatengemeinschaft Regionale Staatengruppen Einzelstaaten Großgruppen Kleingruppen Individuen Mangel/Not Psychisch-mentale und kommunikative Bedingungen Sozial-strukturelle Bedingungen Konstitutionell-politisc Bedingungen Innergesellschaftliche/Zwischenstaatliche Friedenssicherung N Aufgabenfelder Ebenen N (Handlungs-, einheiten) Solidarität Mißtrauen/Angst Egoismus Aggressivität + -> Gerechtigkeit Ungerechtigkeit + -Freiheit t Unterdrückung Abhängigkeit Eo --Friede Krieg Bürgerkrieg
»Menschheit“ Staatengemeinschaft Regionale Staatengruppen Einzelstaaten Großgruppen Kleingruppen Individuen Mangel/Not Psychisch-mentale und kommunikative Bedingungen Sozial-strukturelle Bedingungen Konstitutionell-politisc Bedingungen Innergesellschaftliche/Zwischenstaatliche Friedenssicherung N Aufgabenfelder Ebenen N (Handlungs-, einheiten) Solidarität Mißtrauen/Angst Egoismus Aggressivität + -> Gerechtigkeit Ungerechtigkeit + -Freiheit t Unterdrückung Abhängigkeit Eo --Friede Krieg Bürgerkrieg
1. Von der Außenpolitik zur Internationalen Politik Wenn wir vom Begriff ausgehen, dann geht es um Politik inter nationes, zwischen Nationalstaaten als den handelnden Subjekten. In der am europäischen „Konzert der Mächte" orientierten Modellvorstellung war dies die Gestaltung der Beziehungen zwischen gleichberechtigten souveränen Staaten durch deren Kabinette und Diplomaten. Wenn man an Bismarcks „Spiel mit fünf Kugeln" denkt, könnte man das Modell zeichnerisch darstellen, in•dem man zwischen mehreren in sich geschlossenen Kreisen wenige Verbindungslinien zieht. Man nannte und nennt bis heute diese Art von Politik Außenpolitik, weil sie, wiederum in der Modellvorstellung, vom einen Kreisrand zum anderen geht, lediglich die Außenbeziehungen von je zwei Staaten betrifft, in die dritte allenfalls durch Bündnisse oder Absprachen einbezogen werden. Diese Modellvorstellung ist heute durch zwei Entwicklungen überholt:
Erstens hat besonders die binnenstaatliche Demokratisierung die vertikale Kommunikation in den Staaten erheblich verstärkt und auch die Außenpolitik erfaßt. Die Regierungen gestalten nicht mehr allein und souverän die Außenbeziehungen, sondern gesellschaftliche Kräfte (Parteien und Verbände, wirtschaftliche und kulturelle Organisationen) wirken zunehmend mit und entwickeln zum Teil politisch relevante Außenbeziehungen an den Regierungen vorbei (transnationale Beziehungen von Parteien, multinationale Konzerne). John Herz sprach davon, die „harte Schale“ des Nationalstaates sei aufgebrochen
Zweitens haben die zwischenstaatlichen Beziehungen erheblich zugenommen, auch in Form wirtschaftlicher, sozialer, kultureller Kommunikation, was die politisch zu regelnden Fragen zwischen den Regierungen ebenfalls vermehrt hat. Aus der Welt einzelner souveräner Staaten ist ein Beziehungsgeflecht zahlreicher Akteure geworden, und aus der politischen Gestaltung dieses Geflechts sind internationale, in Anfängen auch supranationale Institutionen und Organisationen hervorgegangen, Staatenbünde mit eigenen Organen. Dieses Geflecht, ein unregelmäßiges, aber dichtes Netz nicht nur von Beziehungen, sondern auch von Institutionen, gewinnt immer mehr Eigengewicht. Die strukturell-funktionale Richtung der Politikwissenschaft spricht deshalb vom internationalen System. Die mit ihm gegebene hochgradige Interdependenz läßt Außenpolitik des einzelnen Staates nur noch als Internationale Politik zu. Auch wo es, was ohnedies seltener geworden ist, unmittelbar nur um die Beziehungen zweier Staaten geht, zwingt die Situation dazu, diese zu gestalten in Rücksicht auf viele andere Gegebenheiten, weil der einzelne Staat zwar noch rechtlich souverän ist, aber faktisch seine Funktionen im eigenen Bereich nur noch erfüllen kann durch Einordnung in das internationale Beziehungsgeflecht.
Wir haben es allerdings noch nicht mit Welt-innenpolitik zu tun, weil es keine über den Staaten angesiedelte Instanz mit Souveränitätsbefugnissen gibt; wir erleben zur Zeit allenfalls die langwierigen Anfänge einer westeuropäischen Innenpolitik. Daß sich tendenziell eine Weltinnenpolitik entwickele, ist eine normative Annahme bzw. Forderung, die uns in Verbindung mit der Friedensproblematik noch beschäftigen wird. Allenfalls kann man von Weltpolitik sprechen, aber dies wäre ein reiner Summenbegriff für die Gesamtheit der internationalen Beziehungen und Bestrebungen, während Internationale Politik die Gestaltung der Beziehungen zwischen den Staaten und ihren gesellschaftlichen Kräften mit Rücksicht auf das schon bestehende Beziehungsgeflecht meint. 2. Geschichtliche und gegenwärtige Erklärungsansätze Zur wissenschaftlichen Erklärung Internationaler Politik gibt es eine Reihe heterogener Ansätze, die nach Czempiel allesamt noch nicht das Niveau von Theorien erreicht haben. Schon die geschichtliche Genese der Disziplin läßt die Pluralität der Zugänge erkennen. Ein erster Zugang ist der des Völkerrechts, beginnend mit der Herausbildung souveräner Staaten in der frühen Neuzeit. Da die Souveränität das Recht zur Kriegsführung impliziert (jus ad bellum), stellten sich die spanischen Scholastiker (Vittoria, Suarez) und Hugo Grotius (1583 bis 1645) die Frage, ob nicht die Völkergemeinschaft doch als Rechtsgemeinschaft verstanden und der Krieg rechtlich eingegrenzt werden könne (jus in bello). Bis in die Gegenwart blieb das Völkerrecht, aufbauend auf wenigen allgemeinen Rechtsgrundsätzen, ein Völkervertragsrecht und ein Recht der Staaten. Erst in unserer Zeit beobachten wir einerseits die Bemühungen um völkerrechtliche Einschränkungen des Kriegsrechts, andererseits den Versuch, die Rechte der Einzelperson (Menschenrechte) völkerrechtlich wirksam zu machen. Zu letzterem haben wir die völkerrechtlich verbindlichen Menschenrechtspakete der UNO, aber nur ganz geringe Ansätze ihrer Durchsetzbarkeit durch moralische Sanktionen, während rechtliche am Prinzip der Nichteinmischung haltmachen müssen. Menschenrechte können daher auch heute noch prinzipiell nur über den Staat geltend gemacht werden.
Was das Kriegsrecht betrifft, so ist es seit dem Kellog-Pakt (1928) und dann durch die UNO-Charta auf ein Recht zur Verteidigung gegen eine Aggression zurückgenommen. Die schwierige Frage, wann eine Aggression vorliege, beschäftigt heute die völkerrechtliche Diskussion. Der Sicherheitsrat der UNO kann bekanntlich Sanktionen gegen einen Aggressor nur verhängen, wenn die fünf Vetomächte'
sich einig sind — ein rechtlicher Ausdruck der Nachkriegs-Mächtekonstellation. Der Haager Gerichtshof kann nur tätig werden, wenn in einem Konfliktfall beide streitenden Parteien ihn anrufen. Im ganzen wird man sagen müssen, daß Internationale Politik nicht vom Recht allein her hinlänglich begriffen werden kann, weil das Recht der Politik folgt, nur durch sie geltend gemacht werden kann. Immerhin können, zumal auch in politischer Bildung, an Entwicklung, Stand und Eigenart des Völkerrechts wichtige Einsichten in Internationale Politik im Unterschied zur Inneren Politik gewonnen werden
Ein zweiter Zugang zum Verständnis Internationaler Politik ist der philosophische. Es gibt, ebenfalls seit Beginn der Neuzeit, immer wieder normative Entwürfe einer Weltfriedensordnung, von Dante und Pierre Dubois um 1300 über Kant und Abb Pierre bis zu den Päpsten des zwanzigsten Jahrhunderts und etwa zu Gedanken von Karl Jaspers. Die bekannteste und wohl auch tiefgründigste dieser Schriften ist Kants „Zum ewigen Frieden“, der Versuch, Weltfrieden zu begreifen als freie Ordnung (Föderalismus) freier Staaten von „republikanischer Regierungsart''. Das Interessante daran ist die Verknüpfung der Fragen innerstaatlicher Ordnung und internationaler Friedensordnung. Man sollte solche Entwürfe nicht einfach als Utopien abtun. Sie bezeichnen prägnant die Grundfragen, um die es geht, und bieten so ein Reservoir an Gedanken und Impulsen, um die Probleme Internationaler Politik in einer allgemeinen Struktur und doch konkret zu erfassen.
Ein dritter Zugang ist der der Kriegs-und Militärwissenschaft. Das hier zu nennende bekannteste Werk ist das von Carl yon Clausewitz (1780 bis 1831). Die daraus immer wieder zitierte Formel, der Krieg sei eine Fortsetzung des politischen Verkehrs mit Einmischung anderer Mittel, wird oberflächlich häufig verstanden als Rechtfertigung des Krieges. Nun gibt es gewiß eine Konkurrenz von Clausewitz-Deutungen aber soviel ist unumstritten und auch aus dem Zitat erkennbar, daß Krieg hier gerade nicht als Politik angesehen wird, sondern als anderes Mittel, das, sofern Politik weiterhin sein soll, politisch beherrscht werden muß. Das ist das Gegenteil von Militarismus. Nach wir vor ist aber die politische Bändigung des Krieges, genauer heute seine Verhinderung, das Hauptproblem Internationaler Politik.
Ferner kann man selbstverständlich in der Geschichtswissenschaft vielfältige Ansätze auch zur Erklärung Internationaler Politik finden, jedenfalls immer dann, wenn die historische Beschreibung und Deutung einzelner Ereignisse und Entwicklungen von generellen Annahmen ausgeht oder in generalisierende Aussagen mündet. Das gilt z. B. für machtstaatsorientierte Geschichtsschreibung ebenso wie für Untersuchungen zu Gleichgewicht und Hegemonie im europäischen Mächtekonzert, für Forschungen über gemeinsame und unterschiedliche Strukturen der Mächte im Zeitalter des Imperialismus, über Kriegs-ursachen und Friedensschlüsse. Letztere bezeichnen schließlich den entscheidenden Anstoß zur Entwicklung der Disziplin Internationale Politik selbst, insofern sie aus Ansätzen zur Friedensforschung entstanden ist, die nach beiden Weltkriegen vor allem in den angelsächsischen Ländern und in Deutschland gemacht wurden. Friedensforschung geht zwar inhaltlich und methodisch heute weit über Internationale Politik hinaus, stellt überhaupt keine einheitliche Fachdisziplin dar, aber historisch ist die Teildisziplin Internationale Politik ein Entwicklungsprodukt von Forschungsansätzen zur Friedensproblematik
Erheblich vielfältiger sind in der Disziplin selbst, wie sie sich inzwischen entfaltet hat, die Zugänge (approaches) und Theorieansätze Unterhalb der gängigen Einteilung in normative, empirisch-analytische und dialektisch-kritische Theorie unterscheidet Haften-dorn 18 theoretische Konzepte in der gegenwärtigen Forschung, Frei kommt auf elf, die aber bei ihm noch einmal unterteilt werden. Es ist völlig unmöglich, in der Didaktik politischer Bildung oder gar in der Bildungspraxis diese Theorieansätze alle angemessen zu berücksichtigen. Wenn man zudem bei einem Fachmann wie Czempiel liest, die bisher vorgelegten Theorien verdienten eigentlich diese Bezeichnung nicht dann wird man skeptisch hinsichtlich der Bedeutung und Reichweite mancher theoretisch-methodologischer Konstruktionen, die mehr um ihrer selbst willen als zur Erklärung politischer Realität ent-wickelt zu sein scheinen. Wir reduzieren daher den Überblick über die Ansätze im folgenden in idealtypischer Weise und in didaktischer Absicht so, daß die für politische Bildung wichtigsten Fragestellungen deutlich werden.
Eine erste Gruppe von Ansätzen nennen wir empirisch im weiteren Sinn des Wortes, d. h. nicht im strengen Sinn der empirisch-analytischen Sozialwissenschaft, sondern den Erfahrungsbegriff benachbarter Disziplinen mitumfassend. Es geht in allen diesen Ansätzen um Beschreibung, Erklärung und Deutung, weniger um Prognose und Wertung. In diesem Verständnis scheinen mir folgende Ansätze für politische Bildung wichtig:
— Die Sozialpsychologie fragt einerseits nach Vorurteilen, nach nationalen Stereotypen, nach Selbst-und Fremdbildern, nach unterschiedlicher Perzeption von Gegebenheiten und Handlungen bei Völkern und ihren Politikern, andererseits nach Ursachen und Auswirkungen psychischer Aggressionen, wobei wiederum unterschiedliche Aggressionstheorien zu berücksichtigen sind.
— Die Kommunikationswissenschaft fragt nach Informations-und Interaktionsprozessen zwischen Staaten und Völkern, versucht durch Transaktionsanalysen quantifizierender Art deren Bedeutung für Politik zu erfassen.
— Die Geopolitik fragt nach den räumlichen Bedingungen staatlicher Interessendefinition und zwischenstaatlicher Beziehungen.
— In der Politikwissenschaft sind unter den empirischen Analysen wiederum mehrere Ansätze zu unterscheiden:
die „Realistische Schule", die sich auf Macht-und Interessenanalysen konzentriert
die Systemtheorie, die nach Strukturen und funktionalen Prozessen im internationalen System fragt
die dialektisch-kritische Theorie, die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Staaten und Staatengruppen untersucht (Dependenztheorie)
Eine zweite Gruppe von Ansätzen läßt sich charakterisieren als handlungsorientiert-prognostisch. Zur Beschreibung und Erklärung kommt die Absicht hinzu, generalisierende Aussagen über den Verlauf politischer Interaktionen und Prozesse zu machen, die für die handelnden Politiker eine Hilfe sein könnten in Planungen und in Entscheidungssituationen. Dazu gehören:
— Der Decision-making-Ansatz, der außen-politische Entscheidungsprozesse analysiert, um Gesetzmäßigkeiten ihres Verlaufs zu erfassen. — Simulations-und Spieltheorien, nach denen konflikthafte Konstellationen und Situationen simuliert und durchgespielt werden, um Erkenntnisse für vergleichbare künftige Situationen zu gewinnen.
— Konflikttheorien, nach denen Ursachenforschung und Prozeßanalyse als Hilfe zur Regelung von Konflikten angesetzt werden.
— Funktionalistische Theorien, die, ausgehend vom funktionalen Ungenügen des Einzelstaates, Bedingungen und Faktoren zunehmender Kooperation und Integration zwischen den Staaten herauspräparieren wollen. Drittens kann man normative Theorien unterscheiden, also solche, die erklärtermaßen unter einem Wertaspekt, unter einer normativen Zielsetzung für Politik an die Untersuchung herangehen. Nun können freilich alle bisher genannten Ansätze normativ in diesem Sinne werden insofern, als ihnen ein werthaftes erkenntnisleitendes Interesse zugrundeliegt — etwa die Absicht, der Politik Hilfen zu geben zur friedlichen Konfliktregelung oder zur Durchsetzung bestimmter Interessen. In diesem Sinn ist selbstverständlich alle Friedens-forschung normativ, wenngleich sie im übrigen mit den unterschiedlichsten Ansätzen betrieben wird. In diesem Sinne ist auch Czempiels neuer Versuch normativ, zum Zweck der Analyse Internationaler Politik ein empirisch handhabbares Modell vorzulegen. Was die Analyse betrifft, so will sich Czempiel ausdrücklich empirisch-analytischer Verfahren der Hypothesenprüfung bedienen, während er als erkenntnisleitendes Interesse den Frieden bezeichnet und diesen Begriff für Analyse-zwecke zu operationalisieren versucht Darüber hinaus gibt es dann aber prinzipiell auf normativer Ebene sich bewegende Auseinandersetzungen mit Internationaler Politik ei-nerseits als völkerrechtliche, andererseits als philosophisch-ethische Erörterung von Problemen, vor allem von Krjeg und Frieden. Je nachdem, wie man Wissenschaft definiert, mag man diese Ansätze als vor-oder außer-wissenschaftlich bezeichnen. Für unser Verständnis von Praktischer Politikwissenschaft gehören sie zu den. Grundlagen der Disziplin weil diese auf die methodisch geleitete Erörterung ihrer Grundbegriffe, ihrer normativen Grundlagen und Ziele nicht verzichten kann. Daß sie für politische Bildung unentbehrlich sind, liegt ohnedies auf der Hand. Auch die marxistische Theorie darf in diesem Zusammenhang nicht vernachlässigt werden, weil viele Forscher mit von ihr hergeleiteten Prämissen arbeiten, vor allem aber, weil die Theorie als Erklärung internationaler Zusammenhänge politisch wirksam ist. 3. Ein kategoriales Schema Unser mit Hilfe gängiger Einführungen und Handbücher gewonnener Überblick über Theorieansätze hat didaktische Funktion. Er will jedoch nicht Theorien zu Unterrichtsgegenständen machen, sondern dem Unterricht die unentbehrlichen Fragestellungen liefern, um ihn vor kategorialer Einäugigkeit und monokausalen Erklärungen zu bewahren
Das Ergebnis unseres Durchblicks fassen wir im gegenüberstehenden Schema zusammen. Zu seiner Bedeutung und Verwendung folgende Hinweise: Grundsätzlich sind die Über-gänge in der Vertikalen wie in der Horizontalen fließend zu denken. Die vertikale Stufung entspricht der unseres an anderer Stelle entwickelten Ensembles politikdidaktischer Kategorien: Situations-, hier Konstellationsanalyse. Möglichkeitsanalyse, Urteilsbildung In der Horizontalen ist dann der Versuch gemacht, unsere Kategoriensammlung so zu erweitern und zu verändern, daß sie entsprechend der eben vorgenommenen Sichtung der theoretischen Ansätze dem Feld und den Problemen Internationaler Politik angemessen ist. Die Faktoren sind von links nach rechts nach dem Prinzip zunehmender „Verflüssigung" angeordnet. „Objektive Faktoren" sind zunächst einmal gegeben, man kann sie nicht weginterpretieren; Politik kann sie allenfalls, in der Regel langsam und mühsam, verändern. Unter der Rubrik „Mittel" stehen ebenfalls objektivvorfindbare Gegebenheiten, aber solche, die unmittelbar als Instrumente der Gestaltung politischer Beziehungen dienen und auch leichter und rascher veränderbar sind. In der Spalte „Modi" sind die wichtigsten handlungsleitenden Einstellungen und Verhaltensweisen angeordnet, die im internationalen politischen Umgang beobachtbar sind, während in der letzten Spalte die Ziele und darunter die für die Zielinterpretation relevanten Komplexe wie Meinungen und Interessen vermerkt sind. Von unten nach oben sind die Faktoren von der mittleren Ebene ab insgesamt und insbesondere in den Spalten Mittel und Modi nach dem Prinzip zunehmender Wünschbarkeit im Sinne der politischen Hauptziele geordnet. Über diese politisch-ethische Orientierung wird im nächsten Abschnitt noch zu sprechen sein.
Das Schema soll helfen, Probleme/Themen der Internationalen Politik für den Unterricht didaktisch zu analysieren mit dem Ziel, ihre Komplexität ohne falsche Vereinfachung zu reduzieren und dabei die dargestellte Theorienpluralität zu berücksichtigen. Wie für Politikunterricht allgemein ist hier erst recht zu betonen, daß nicht gedacht ist, jede Kategorie bei jedem Thema zu berücksichtigen. Das Schema will festhalten, was möglicherweise alles zu fragen und zu beobachten wäre, auch wenn man manches dann, aus Gründen der Unterrichtsökonomie beiseite lassen muß.
Es ist didaktisch und pädagogisch legitim, bei einem Thema etwa die geschichtliche Genese in den Vordergrund zu rücken, bei einem anderen die Eigenarten von Diplomatie und Völkerrecht, bei einem dritten die Frage nach der Bedeutung von Selbst-und Fremdbild, von Perzeptionen, oder nach Konfliktverhalten. Kategoriale Bildung besteht nicht im schematischen Gebrauch von Formeln und Modellen, sondern in der Analyse von Gegenständen mit Hilfe leitender Fragestellungen und in der Überprüfung und Klärung unserer Begriffe/Instrumente an den Gegenständen. In diesem Sinne ist die Übersicht gemeint.
II. Friede als Zielperspektive
Unser Kategorienschema nennt Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit als die obersten Ziele. Dies ist, wie alle Aussagen des Schemas in den oberen Feldern, nicht empirisch, sondern normativ gemeint Friede steht hier zuoberst, weil es in der Internationalen Politik um ihn vornehmlich geht, so wie Innere Politik in erster Linie auf Freiheit, Gesellschaftspolitik auf Gerechtigkeit hinzuordnen ist. Aber alle drei Ziele spielen in allen Politikbereichen eine Rolle, woraus sich ständige Zielkonflikte ergeben. Dies gilt auch hier, wie noch zu zeigen sein wird. Zuvor soll Friede als die spezifische Zielperspektive Internationaler Politik interpretiert werden.
Es gibt heute in der gesamten Disziplin der Internationalen Politik keinen Forschungsansatz, der nicht wenigstens implizit — viele tun es explizit — Friede zu seinem erkenntnisleitenden Interesse erklärt. Für die Friedensforschung ist schon die Bezeichnung Programm. Das soll nicht heißen, alle verstünden . unter Frieden das gleiche, vielmehr ergeben sich aus den feststellbaren Divergenzen erhebliche Kontroversen, die mit politischen Konflikten und ihren Kontrahenten in der heutigen Welt mehr oder weniger deutlich Zusammenhängen. Aber immerhin ist das verbale Bekenntnis zum Frieden allgemein.
Man kann aber in der heutigen Weltsituation über die normative Setzung und philosophisch-ethische, humanitäre oder religiöse Begründung des Ziels Frieden hinaus auch funktional argumentieren, zumindest der globale Krieg zwischen den Supermächten und ihren Blocksystemen müsse vermieden werden und die unterhalb die Bipolarität geführten und diese tangierenden regionalen Kriege müßten zunehmend unmöglich gemacht werden; der Friede in diesem minimalen Sinn der Vermeidung eines dritten Weltkriegs sei Bedingung des überlebens der Menschheit und der Fort-existenz menschlicher Zivilisation. Carl Friedrich von Weizsäcker faßte diese Erkenntnis in die Formel: „Der Weltfriede ist notwendig" Was aber ist Friede? 1. Friede — Zustand oder Modus?
Friede ist nicht Konfliktlosigkeit. Auch darin stimmen Sozialphilosophen und Sozialwissenschaftler der unterschiedlichsten Herkunft und Orientierung überein. Angesichts prinzipiell begrenzter Räume und Ressourcen der Erde einerseits, angesichts der Vielfalt und Unterschiedlichkeit in Gesellschaften und in der Menschheit insgesamt ist ein Zustand schlechterdings undenkbar, in dem nicht Individuen und Gruppen in unterschiedlichen Positionen ihre Interessen unterschiedlich definieren und so ständig in Situationen geraten, in denen, wenn nicht Gewalt angewendet werden soll, rationale Konfliktregelung, Interessenabgrenzung und Kompromiß gesucht werden müssen. Einfach ausgedrückt: Politik bleibt notwendig. Wenn dies so ist, dann ist aber Friede nicht nur als ein Zustand gesicherten Zusammenlebens aufzufassen, sondern auch als ein Modus von Interaktion, als eine Art und Weise des Umgangs miteinander, nämlich als gewaltfreie, geregelte Konfliktaustragung in gegenseitiger Anerkennung. Der Friede als Zustand hängt dann davon ab, ob Friede als Modus immer wieder neu gelingt. Die Frage nach einem tragfähigen Friedens-begriff ist von entscheidender Bedeutung für die Auffassung von Friedensforschung, Friedenspolitik und Friedenserziehung. Mit anderen hohen Wertbegriffen unserer Sprache teilt der Friede das Mißgeschick, zu einem Sammelbegriff für alles Gute oder Wünschbare zu werden, weil er ja in der Tat ein Uranliegen der Menschen ausdrückt. Der vage Sprachgebrauch läßt aber die Konturen der Problematik verschwinden. Dieser Gefahr sind auch Friedensforschung und Friedenspädagogik nicht entgangen. John Galtung hat die Unterscheidung von negativem und positivem Frieden in die Sozialwissenschaften eingeführt, entsprechend der anderen von personaler und struktureller Gewalt. Negativer Friede ist danach die Abwesenheit von Krieg, das heißt von personaler, organisierter kollektiver Gewaltanwendung; positiverFriede xsl die Abwesenheit struktureller Gewalt, die Wirklichkeit sozialer Gerechtigkeit
Zunächst sollte man um der begrifflichen Präzision willen von negativ und positiv definiertem Frieden sprechen, denn Galtung will ja die Abwesenheit von Krieg nicht als etwas Nega-tives sehen. Schon dieser Sprachgebrauch hat in der Diskussion Verwirrung gestiftet. Es gibt heute nicht wenige junge Menschen, die mit Emphase für „positiven Frieden“ streiten und dabei die seit 1945 in Europa gelungene Kriegsverhinderung als unbedeutend betrachten. Ferner ist aber bei Galtung „positiver Friede" durchaus nicht einfach als wünschbarer Endzustand, sondern als Prozeß gesehen, nämlich der Abnahme oder Überwindung struktureller Gewalt.
Dennoch bleiben, auch abgesehen von dem fragwürdigen Begriff der strukturellen Gewalt Bedenken gegen die Identifizierung anderer allgemeiner sozialer Werte (Gerechtigkeit, Wohlfahrt, Freiheit, Menschenrechte werden am häufigsten genannt) mit dem Wert des Friedens. Angesichts der unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Interpretation aller dieser Begriffe ist dann nämlich eine Ideologisierung des Friedensbegriffes unvermeidbar: Friede wird zum Gegenstand des Streites, in dem man sich gegenseitig Friedensfähigkeit und Friedenswillen abspricht. Darüber hinaus wird sogar eine neue Rechtfertigung von Gewalt möglich, nämlich als Gegengewalt gegen „strukturelle Gewalt" und als revolutionäres Mittel zur Herstellung des „wahren" Friedens. Auch diese Position fehlt konsequenterweise nicht im Umkreis der „Kritischen Friedensforschung"
Nun ist freilich in Galtungs Unterscheidung und auch in den weiteren Versuchen, Frieden positiv mit anderen Grundwerten zu verknüpfen, Richtiges gesehen. Die Denkfigur ist uralt. Sie findet sich bei Jesaja im Alten Testament (Friede ist das Werk der Gerechtigkeit); sie findet sich bei Augustinus und Thomas und durch die ganze Tradition christlich-theologischer Bemühungen um den Frieden hindurch bis zu den Friedensbotschaften der christlichen Kirchen in unserer Zeit. Die gleiche Tradition lehrt aber auch, daß diese Denkfigur immer in Gefahr ist, das Reden vom Frieden und Friedenswillen ideologisch zu manipulieren und den „gerechten Krieg" zu rechtfertigen. In der neueren Literatur hat sich am intensivsten Czempiel mit der Frage befaßt und ein Konzept entwickelt, das einen Brückenschlag versucht zwischen traditioneller und kritischer Friedensforschung sowie zwischen „ne-gativem" und „positivem Frieden" Friede wird hier verstanden als ein Prozeßmuster Internationaler Politik, durch welches abnehmende Gewalt und zunehmende soziale Gerechtigkeit miteinander verknüpft werden. Das Konzept soll mehreres leisten: Es soll erstens negativen und positiven Frieden miteinander verbinden, statt gegeneinander auszuspielen; Verzicht auf Gewaltanwendung wird zur Voraussetzung für Schritte auf mehr Gerechtigkeit hin. Es soll zweitens ein prozessuales Verständnis von Frieden ermöglichen, weil Friede nicht als Zustand der Konfliktlosigkeit verstanden werden kann. Es soll drittens den Friedensbegriff wissenschaftlich brauchbar machen, indem es ihn einschränkt auf den zwischenstaatlichen internationalen Bereich. Schließlich macht Czempiel den Versuch, den Friedensbegriff zu operationalisieren im Sinne der empirisch-analytischen Forschung; denn Existenzerhaltung aller Menschen und Existenzentfaltung im Sinne zunehmend gleicher Nutzenverteilung seien eine „verläßliche Basis für Frieden, deren Einhaltung meßbar ist“ Wir brauchen für unsere Zwecke diesen Ansatz hier nicht weiter zu verfolgen. Es ging nur darum, durch Hinweis auf die Konzept-Diskussion der Friedensforschung und der Internationalen Politik das Problem zu verdeutlichen. Ob Czempiel der versuchte Brücken-schlag gelungen ist, wird vielleicht die weitere Diskussion zeigen. Nicht eindeutig gelöst ist etwa die Frage, ob denn, wenn Existenzerhaltung den unabdingbaren Primat hat, das Riskieren menschlichen Lebens auch nur durch Verteidigungsbereitschaft noch gerechtfertigt werden kann. Die hier gegebene Paradoxie ist nur auszuhalten, wenn man mit Czempiel Frieden als Prozeß auf einen besseren Zustand hin versteht
Die Unterscheidung von negativem und positivem Frieden scheint im Ansatz fragwürdig, weil sie eine im Grunde alte Erkenntnis eher verunklärt als deutlich herauspräpariert hat, daß nämlich soziale Gerechtigkeit, zumutbare Lebensbedingungen, individuelle und soziale Entfaltungsmöglichkeiten zwar nicht Frieden bedeuten, aber wichtige Friedensbedingungen darstellen, weil ihr Fehlen in höchstem Maße konfliktträchtig ist. Es ist nicht so, daß nach dem „negativen Frieden“ und auf seiner Grundlage dann erst der „positive Friede" hergestellt werden müßte. Vielmehr haben Wir es mit einem ausgesprochenen Interdependenz-verhältnis zu tun: Wenn wir Frieden als Modus gewaltfreier Interaktion und Konflikt-regelung auffassen, dann liegt auf der Hand, daß die Beseitigung von Konfliktquellen ein Beitrag zum Frieden ist. Konflikte sind nicht harmlos. Die Wiederentdeckung des Konflikts in Sozialwissenschaften und politischer Pädagogik darf uns nicht, was stellenweise geschehen ist, zu Konflikteuphorie verführen. Konflikte können, zumal wenn sie auf allzu ungleicher Verteilung von Werten und Mitteln beruhen, Bewegungen in Gang setzen, die unkontrollierbar werden und geregelten Ausgleich, Kompromiß unmöglich machen, sie können also Frieden gefährden. Insofern ist die Mehrung sozialer Gerechtigkeit ebenso ein Beitrag zum Frieden wie die Gestaltung einer politischen Ordnung, die die Menschenrechte garantiert. Aber beides, soziale Gerechtigkeit und freiheitliche Ordnung, sind nicht identisch mit Frieden, insofern immer Konfliktmöglichkeiten bleiben und also die Aufgabe bleibt, mit Konflikten politisch rational umzugehen.
Dies war auch die Überzeugung der großen christlichen Theologen, wenn sie zwar einerseits Frieden und Gerechtigkeit eng miteinander verknüpften, aber andererseits zugleich unterschieden zwischen dem endgültigen Frieden des Reiches Gottes, einer Frucht des Heiles, und dem irdischen Frieden zwischen den Menschen und Völkern, der immer unvollkommen bleibe. Hans Buchheim geht im Anschluß an Augustinus noch einen Schritt weiter und beschreibt Frieden als gelungene menschliche Interaktion unter dem Aspekt ihrer möglichen Destruktion. Friede ist hier Bedingung des sozialen Lebens, nicht machbarer Gegenstand der Lebensführung. So wie die Medizin Gesundheit nicht eigentlich definieren und letztlich auch nicht herstellen, sondern nur ihre Störung durch Krankheiten bekämpfen kann, so sei Friede notwendige Struktur sozialen Daseins, für die man nur indirekt, durch Vermeidung von Destruktion, tätig sein könne. Jede gelungene Interaktion ist dann Ausdruck von Frieden, jede Beseitigung von Destruktionsmöglichkeiten ist Sicherung von Frieden, aber dieser ist kein herbeizuführender Zustand So gesehen ist der „negative Friede", die Abwesenheit von Gewalt in sozia-25 len Beziehungen, der eigentliche Friede, seine Erhaltung und Sicherung zwischen den Völkern die ständige Aufgabe Internationaler Politik, nicht ersetzbar, aber zu unterstützen durch sozialen Ausgleich zwischen den Staaten und durch freiheitliche Ordnungen in den Staaten.
Es scheint mir an dieser Stelle nicht überflüssig, darauf hinzuweisen, daß dieser gleichsam transzendentale Chrakter nicht nur dem Frieden, sondern auch den anderen Grundwerten, Freiheit und Gerechtigkeit, eigen ist Sie entziehen sich der direkten Machbarkeit. Wir können nicht Freiheit herstellen, sondern nur Ordnungen der Freiheit gestalten, den Rechtsstaat und die freiheitliche Demokratie als Möglichkeiten realer Freiheiten aller. Wir können auch nicht soziale Gerechtigkeit herstellen als fertigen Zustand, sondern wir können Strukturen schaffen, durch die die ständig neu sich vollziehende Verteilung der Mittel zwischen den Individuen und Gruppen unseren Vorstellungen von Gerechtigkeit näher kommt. 2. Aufgabenfelder und Grenzen der Friedenserziehung Die Friedenspädagogik der siebziger Jahre litt nicht nur an der Schwäche, die fragwürdige Unterscheidung und Gegenüberstellung von negativem und positivem Frieden übernommen zu haben. Sie war zudem belastet von allzu einfachen und optimistischen Annah•men über die Verflechtung der sozialen und politischen Handlungsebenen. Gewiß hat es einen guten moralischen Sinn zu sagen, der Friede beginne bei jedem Individuum und im eigenen Haus. Aber nur eine kurzschlüssig moralisierende Betrachtungsweise zusammen mit der entpolitisierenden Ausweitung des Friedensbegriffs kann so tun, als bestehe ein unmittelbarer Kausalzusammenhang zwischen der Einübung sozialer Tugenden in Kleingruppen und dem zwischenstaatlichen Frieden. Zwar wäre die Leugnung jeden Zusammenhangs ebenso eine Desavouierung der demokratischen Idee wie eine Bankrotterklärung politischer Pädagogik. Keine Regierung, selbst nicht in einer Diktatur, kann auf die Dauer eine Politik machen, die nicht von der zustimmenden Mentalität der Regierten mit-getragen wird. Das gilt erst recht in offenen demokratischen Gesellschaften, in denen die Macht der Regierenden von ihrer Fundierung in öffentlicher Meinung abhängt. Die Deutschlandpolitik der Regierung Brandt/Scheel wäre in den fünfziger Jahren ebensowenig möglich gewesen wie die Adenauers in den siebziger Jahren. Insofern haben Meinungen, Mentalitätsstrukturen, soziale Einstellungen und Verhaltensweisen, die in primärer und sekundärer Sozialisation erworben werden, auch politische, auch außenpolitische Wirkung, haben etwas mit dem Weltfrieden zu tun.
Es ist aber ein ungelöstes und, wie ich im Blick auf die wissenschaftstheoretische und methodologische Diskussion glaube sagen zu müssen, auch unlösbares Problem, diesen Zusammenhang kausalanalytisch zu erklären. Auch hier treffen wir auf eine Interdependenz, denn die bestehenden Institutionen, Strukturen, Machtverhältnisse und die praktizierte Politik beeinflussen die Mentalität der Bevölkerung und werden zugleich von ihr mitgetragen. Sozialwissenschaften können nur hypothetisch diese Interdependenz in Modelle fassen, um innerhalb eines Erklärungsrahmens dann einzelne Variablen zu untersuchen. Dabei haben wir es immer mit mehreren heterogenen Ansätzen zu tun, die in unserem Fall von der Verhaltensforschung und der Psychologie mit ihren verschiedenen Aggressionstheorien über sozialwissenschaftliche Konflikttheorien bis zu den oben referierten Theorien der Internationalen Politik reichen.
Es ist Vorsicht geboten, wenn in friedenspädagogischer Literatur die denkbaren und empirisch gar nicht im einzelnen erforschten Zusammenhänge in einfache Modelle gefaßt werden. Modelle bieten hier noch weniger als in einer Einzeldisziplin Erklärungen, sondern zeigen mögliche Fragestellungen Es ist weder methodisch noch forschungspraktisch ersichtlich, wie man auf diesem Feld zu einer konsistenten Gesamttheorie vom Frieden und von der Möglichkeit seiner Unterstützung durch Erziehung kommen könnte
Für die politische Pädagogik im allgemeinen und die Friedenspädagogik im besonderen heißt dies, mit Vorsicht und Skepsis von solchen Modellen Kenntnis zu nehmen, um die eigene Beobachtungsgabe zu schärfen und sich Rechenschaft zu geben von Chancen und Grenzen des eigenen Tuns. Keinesfalls darf sie sich einem bestimmten Erklärungsansatz einseitig verschreiben, die anderen unbeachtet lassen. Sie darf sich aber auch nicht von der Politik deren ungelösten Probleme zuschieben lassen oder sich selbst an die Stelle von Politik setzen wollen. In unseren Bildungseinrichtungen wird nicht über den Weltfrieden entschieden, und dennoch müssen wir Inhalte wie Umgangs-und Arbeitsformen des Unterrichts auch im Hinblick auf Frieden verantworten können.
Es würde den Rahmen politischer Didaktik sprengen, die vielfältigen Ansätze und Aufgabenfelder dessen darzustellen, was unter dem Stichwort „Friedenserziehung''in den vergangenen Jahren entwickelt und diskutiert wurde. Im gegenüberstehenden Schema ist deshalb nur der Versuch gemacht worden, mit Hilfe eines Rasters die möglichen Aufgaben und Bereiche der Friedenserziehung zu erfassen und zu ordnen und sie in Beziehung zu setzen zum engeren Feld der politischen Bildung.
Zum Verständnis des Rasters folgende Hinweise: Es handelt sich nicht um ein Instrument didaktischer Analyse, sondern um ein Ordnungsschema. In der Vertikalen sind die einzelnen Handlungseinheiten vom Individuum über die Gruppen und Staaten bis zur Menschheit angeordnet, wobei letztere in Anführungszeichen steht, weil sie heute zwar einen notwendigen Denkhorizont, aber keine politische Einheit bildet. Die zwischen der Ebene der Kleingruppen und der Großgruppen verdickte Linie soll ein Problem andeuten, das für politische Bildung allgemein und für Friedens-erziehung im besonderen unübersehbar ist:
Von der Ebene der Großgruppen an erhalten soziales und politisches Handeln den Charakter repräsentativen und stellvertretenden Handelns. Die hier agierenden Personen handeln in Auftrag und Abhängigkeit derer, die sie repräsentieren. Das schränkt ihre Handlungsmöglichkeiten ein, während zugleich der Einfluß der einzelnen Regierten bzw. Repräsentierten im notwendigen Integrations-und Vermittlöngsprozeß reduziert wird.
In der Horizontalen enthält das Raster zunächst das Feld der psychisch-mentalen Voraussetzungen für friedlichen Umgang der Menschen miteinander im weitesten Sinne, dann die Felder der Grundwerte Gerechtigkeit und Freiheit. In der oberen Spalte sind zunächst jeweils Defizite und Mängel angedeutet, die es auf die Ziele hin zu überwinden gilt. Aber die Ziele selbst bleiben ständige Aufgabe und müßten eigentlich in der dritten Dimension angeordnet werden, weil sie sich auf den unterschiedlichen Ebenen vom Individuum bis zur Menschheit in unterschiedlichen Aufgaben darstellen, wobei es zwischen den einzelnen Ebenen durchaus zu Konflikten kommen kann. Die Doppelpfeile zwischen den Zielfeldern deuten an, daß die Ziele selbst ebenfalls in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Die Abtrennung des Aufgabenfeldes Friede durch eine verdickte Linie von den übrigen Feldern entspricht unserer bisherigen Erörterung und soll ausdrücken, daß auch ein hohes Maß an Solidarität unter den Menschen, an sozialer Gerechtigkeit und an individueller und politischer Freiheit das Bemühen um Friedenssicherung nicht überflüssig macht. Dieses bleibt vielmehr eine selbständige Aufgabe. Daher sprechen wir in den drei vorhergehenden Feldern von Bedingungen des Friedens, wobei die diagonale Anordnung dieser Stichworte von links unten nach rechts oben, verdeutlicht durch die diagonal gezogene Linie, aüsdrücken soll, daß die Aufgaben in diesen Feldern zunehmend politi-scheren Charakter annehmen. Das große Feld rechts von der verstärkten Linie bezeichnet die eigentlichen Probleme der Internationalen Politik, zu deren Bearbeitung im vorausgehenden Abschnitt das Kategorienschema entwikkelt wurde.
III. Das politische Problem der Friedenssicherung
1. Die Herausforderung bisheriger Politik durch die „Friedensbewegung“
Die politische Diskussion um den richtigen Weg zur Friedenssicherung ist seit einigen Jahren neu entbrannt. Seit dem sogenannten Doppelbeschluß der NATO Ende 1979, gesteigert seit dem Regierungsantritt Reagens in den USA, erleben wir eine Fülle von Aktivitäten (Unterschriftensammlungen, Aufrufe, Demonstrationen), die man unter dem Begriff Friedensbewegung zusammenfaßt, die sich jedoch aus den unterschiedlichsten Quellen speisen, sowohl in Motiven und Überzeugungen als auch in ihrer sozialen und politischen Zusammensetzung.
Die Politiker und Parteien richten dagegen unter anderem wieder einmal ihren Blick hilfesuchend auf die Schulen und auf die politische Bildung, als hätten diese die Möglichkeit, eine solche Bewegung zu stoppen oder zu kanalisieren. Es ist jedoch nicht Aufgabe der Schulen, die offizielle Politik bei den Schülern zu propagieren, und was öffentlich umstritten ist, kann die Schule nicht einfach auf einen Konsens zurückführen. Dagegen kann uns die „Friedensbewegung" Anlaß sein, im Blick auf in ihr sichtbar werdende Einstellungen und Verhaltensweisen das Grundproblem politischer Friedenssicherung neu herauszuarbeiten und nach Aufgabe und Möglichkeiten politischer Bildung zu fragen. , Hier soll also nicht die „Friedensbewegung" in ihren heterogenen Beweggründen und Gruppierungen analysiert werden. Es sind in ihr sehr unterschiedliche Strömungen zusammengeflossen. Da gibt es Gruppen, die bei Anerkennung der Notwendigkeit von NATO und Verteidigungsbereitschaft lediglich bestimmte militär-und rüstungspolitische Entscheidungen oder Planungen kritisieren. Andere sind, wiederum aus unterschiedlichen Motiven, mehr oder weniger prinzipiell pazifistisch eingestellt, lehnen also Militär und Rüstung grundsätzlich ab. Zwischen diesen bei-B den Positionen gibt es eine dritte, die für entschiedenere, möglicherweise auch einseitige westliche Abrüstungsschritte eintritt. Schließlich haben sich der Bewegung Gruppierungen angeschlossen, denen die Friedensthematik nur Anlaß ist, ihre generelle Gegnerschaft gegen „die Gesellschaft" oder gegen das bestehende politische System zu demonstrieren. Wenn wir hier die „Friedensbewegung" ansprechen, dann geht es nicht um eine Auseinandersetzung mit diesen einzelnen Positionen, sondern um den radikalen ethischen Impuls, aus dem heraus Teile von ihr eine prinzipiell andere Politik fordern.
Nun könnte es sich zwar bei dieser Bewegung um eine vorübergehende Erscheinung handeln. Wir beobachten seit 1967/68, wie Protest-bewegungen kommen und gehen und wie sie sich an wechselnden Problemlagen entzünden. Für viele, die sich daran beteiligen, scheint das Thema — ob Notstandsgesetze oder Vietnamkrieg, Hochschulreform, Um-Weitbedrohung, Atomkraftwerke oder atomare Kriegsdrohung — nur der symbolische Ausdruck einer Verkehrtheit des Ganzen, das nicht mehr rational zu bewältigen ist, sondern aus einem kollektiven moralischen Impuls überwunden werden muß. Immerhin spricht jedoch angesichts der auf absehbare Zeit kaum veränderbaren Weltlage einiges dafür, daß uns der Streit um den Frieden und auch eine Protestbewegung gegen Militär und Rüstung noch lange erhalten bleiben wird. Deshalb ist es für politische Bildung, die auch auf diesem Feld trotz aller Schwierigkeiten rationale Klärungen versuchen muß, notwendig, sich der im Protest enthaltenen radikalen Motive und Einstellungen zu vergewissern, auch wenn es nicht die der Mehrheit, weder der Bevölkerung insgesamt noch der Jugend, sind.
Den auf ein radikales Umdenken und auf eine ganz andere Politik zielenden Protest haben Teile der Friedensbewegung'mit der Alternativbewegung gemeinsam. Die neuen politischen und militärtechnischen Diskussionen um Nachrüstung und Neutronenwaffe haben die in uns allen oder doch in fast allen lauernde Angst vor der atomaren Katastrophe bei einem Teil besonders junger Menschen so mobilisiert, daß der schiere Lebenswille durchbricht und jedes politische oder militärstrategische Kalkül beiseite fegt. Das physische überleben erscheint als absoluter Wert, vor dem kein lebensbedrohendes Risiko zu rechtfertigen ist Friede wird hier identisch mit Lebenkönnen. Formeln wie „Friede in Freiheit" oder gar Friede unter Wahrung unseres wirtschaftlich-sozialen Standards verlieren ihre Überzeugungskraft, wenn Freiheit nicht mehr als Wert an Erfahrungen ihrer Verneinung erlebt wird, wenn ökonomischer Wohlstand und Sozialleistungen so selbstverständlich werden wie die uns umgebende Luft, oder wenn sie gar als Kausalerklärungen dienen für Kälte und Inhumanität der Gesellschaft sowie für Ungerechtigkeit und Unfrieden (strukturelle Gewalt) in der Welt. Der schiere Lebenswille verbindet sich mit einem radikalen ethischen Impuls, vor dem die bisherige verteidigungspolitische Argumentation höchst fragwürdig erscheint. Es ist für die nachwachsende Generation ohnedies viel schwerer als für die Älteren, den Zusammenhang unserer wirtschaftlich-sozialen Standards und privater Freiheiten mit den politischen Institutionen und mit der Zugehörigkeit der Bundesrepublik zur westlichen Staatengemeinschaft zu erkennen. Der erstaunlichste Ausdruck des hier zu konstatierenden politischen Mentalitätsschubs in weiten Teilen der jüngeren Generation ist die Tatsache, daß viele sich offenbar eine kommunistische Unterdrückung Westeuropas für den Fall unserer Wehrlosigkeit nicht vorstellen können oder wollen; dies in einem Land, durch dessen Mitte die absurdeste und inhumanste Grenze der Welt geht Von der liberalen Demokratie der westlich-pluralistischen Gesellschaften geht kaum mehr Faszination aus. Ihr Unterschied zu den kommunistisch regierten Ländern scheint für viele nicht mehr qualitativ, sondern nur noch graduell zu sein. Ihre Wirtschaftsweise, ihr Gruppenegoismus und ihre sozialen Strukturen werden verantwortlich gemacht für Ungerechtigkeiten und Not in der Dritten Welt. Die USA als Vormacht der westlichen Welt sind zudem kompromittiert durch den Vietnamkrieg, durch Unterstützung autoritärer Regime und durch hegemoniale Politik. Amerikaner und Sowjets werden in Parallele gesetzt, die Bundesrepublik erscheint manchen nicht mehr als Bündnispartuer, sondern als Protektorat der USA.
Hinzu kommt das Ohnmachtsgefühl der einzelnen und der kleinen Gruppen angesichts der Komplexität, der Abstraktheit und der Unbeeinflußbarkeit weltpolitischer und militär-strategischer Entscheidungen. In kleinen geheimen Zirkeln weniger Mächtiger scheint entschieden zu werden über Leben oder Tod ganzer Völker, ja der Menschheit. Wenn man liest, wie ein instrumentelles Denken Overkillkapazitäten berechnet, Zielplanungen zur Installation von Atomraketen vornimmt und in Denkspielen die Steigerungsstufen eines atomaren Krieges simuliert, dann packt einen das Grauen. Wer darüber nachdenkt, soll dies aushalten oder gar rational bewältigen und sich damit abfinden? Es wäre unverständlich, wenn nicht gerade viele Sensible und Nachdenkliche diese Art von Politik ablehnten und nach einer neuen Politik fragten, nach einer Politik der „weichen Mittel" und der friedlichen Ziele, der Verträglichkeit und Verständigung, einer Politik des allenfalls passiven Widerstandes gegen Gewalt, wenn diese sich nicht schon durch die „weichen Mittel" besiegen läßt.
Schließlich läßt sich eine solche andere Politik „moralisch" viel einfacher rechtfertigen als die bisherige. Man braucht nur biblisch-christliche und humanitäre Forderungen unmittelbar auf Politik anzuwenden und darauf hinzuweisen, daß der Weg der alten Politik bisher immer wieder zu Krieg und Vernichtung geführt hat. Die Grundwerte unserer eigenen Tradition fällen das Urteil über unsere kriegerische Vergangenheit. So wie bisher darf es nicht weitergehen.
Es kann eigentlich nur verwundern, daß unsere Politiker von der „Friedensbewegung" offenbar überrascht wurden. Unsere offizielle Politik hat sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, im vergangenen Jahrzehnt nicht mehr die Mühe gemacht, Verteidigungsanstrengungen und Rüstung zu rechtfertigen, und zugleich hat sie durch propagandistische Verwendung des Friedensbegriffs erhebliche Friedenshoffnungen mobilisiert. Man hat sich nicht mehr entschieden genug den Paradoxien unserer Lage gestellt, wohingegen die „Friedensbewegung" diese Paradoxien nachdrücklich enthüllt: Es werden heute in der Welt 500 bis 700 Milliarden US-Dollar jährlich für Rüstung ausgegeben, nicht der zehnte Teil davon für Entwicklung. Warum eigentlich ein solcher Aufwand für etwas, was nicht angewandt werden soll? Das ferner, wenn man es anwendet, zerstört, was es schützen soll? Es ist der nachwachsenden Generation offensichtlich immer weniger leicht klarzumachen, daß dies Ausdruck einer rationalen Politik sein soll. Um so weniger dürfen sich die Politiker damit begnügen, sich auf früher getroffene Entscheidungen zu berufen. Sie müssen versuchen, die politischen Gründe für diese Entscheidungen, sofern sie weiter gelten, immer wieder neu plausibel zu machen und sich dabei, so schwierig und gefährlich es auch sein mag, auch den ethischen Problemen stellen. Man kann dies nicht den Schulen überlassen. Um Mehrheit und Zustimmung für Politik wird in der Öffentlichkeit gerungen, nicht in der Schule. 2. Die ethische Paradoxie zwischen „gerechtem Krieg" und Pazifismus Nun macht allerdings, entgegen einer oberflächlich moralisierenden Argumentationsweise, das Einbeziehen der ethischen Dimension diese Fragen nicht leichter, sondern schwerer. -Weder der Rückzug auf die traditionelle Position etwa einer Theorie vom gerechten Krieg noch die Flucht in einen radikalen Pazifismus lösen das Problem. Die Theorie vom gerechten Krieg legitimierte die Gewaltanwendung zwischen Staaten, indem sie sie an bestimmte Bedingungen knüpfte in Analogie zur innerstaatlichen und individuellen Notwehrsituation angesichts des Fehlens einer überstaatlichen Instanz. Die wesentlichen Bedingungen waren: legitime Regierung, schweres Unrecht, das auf andere Weise nicht abgewendet werden kann, begründete Aussicht, durch den Krieg den Rechtszustand wiederherstellen zu können, Begrenzung der Gewaltmittel auf dieses Ziel und ihre Kontrollierbarkeit. Diese Theorie hatte bei aller Mißbrauchsmöglichkeit den Sinn, die ethische Problematik des Krieges gegen die Verabsolutierung einer Staatsräson im Bewußtsein der Verantwortlichen wachzuhalten. Nun kann man zwar nicht sagen, nach Maßgabe dieser Theorie ließe sich heute prinzipiell kein Krieg mehr rechtfertigen. Im Blick auf manche Situationen etwa des Staates Israel in den letzten 30 Jahren, aber auch auf Unterdrückung und Fremdherrschaft in vielen Teilen der Welt wird man vorsichtig sein müssen. Aber zweifellos wäre ein mit den modernen Massenvernichtungswaffen geführter Krieg, auch wenn er zum Zwecke der Verteidigung gegen einen Angreifer geführt würde, nicht zu rechtfertigen, weil seine Mittel nicht mehr kontrollierbar wären. Sie würden zerstören, was verteidigt werden soll„oder sie würden beim Gegner unterschiedslos ganze Städte, Landstriche und Bevölkerung auslöschen. Das Notwehr-Modell ist überholt, wenn das Ziel der Notwehr durch die Mittel zunichte gemacht wird. Ob das und wann das der Fall sein würde, d. h. ob und von welchem Punkte ab Verteidigung unkontrollierbar und damit unverantwortbar wäre, läßt sich allerdings nicht prinzipiell, sondern nur in der konkreten Situation entscheiden. Ethisch unlösbar scheint die Frage, ob die Herstellung und Lagerung von Massenvernichtungswaffen und die Drohung mit ihrer Anwendung im Verteidigungsfall sittlich zu rechtfertigen ist, wenn doch ihre Anwendung selbst es nicht wäre. Die einzige Rechtfertigungsmöglichkeit liegt in der Chance, gerade dadurch den Krieg zu verhindern. Aber solche Abschreckung gelingt nur, wenn die Drohung glaubwürdig ist. Diese paradoxe Situation drückt sich auch im geltenden Völkerrecht aus. Die UN-Charta enthält sowohl das Gewaltverbot als auch das Recht auf Verteidigung. Krieg soll nicht mehr sein, aber zu seiner Verhinderung sind andere Mittel als die der militärischen Abschreckung noch kaum, jedenfalls nur in Anfängen entwickelt. Aber nicht nur das Verharren in der gegenwärtigen Situation, sondern auch der radikale pazifistische Verzicht macht das Problem unlösbar. Das einseitige Nachgeben und die damit in Kauf genommene Unterwerfung unter den skrupelloseren Gegner würde, ganz abgesehen vom Verzicht auf Rechte und Freiheiten, zwar im Augenblick vielleicht, jedoch keineswegs auf lange Sicht den Frieden sichern. Dies ist das eigentliche ethische Dilemma des Pazifismus. Es ist gewiß eine heroische Haltung, wenn ein einzelner für sich prinzipiell auf jede Gewaltanwendung und -androhung verzichtet und bereit ist, hinzunehmen, was ihm angetan wird. Ein Prinzip zur Ordnung des Zusammenlebens von Menschen und Völkern kann dies nicht sein, weil Gewalt zwischen Menschen prinzipiell immer möglich bleibt und die staatliche Ordnung ihr deshalb wehren können muß.
Pazifismus ist keine politische Alternative, sondern eine Alternative zur Politik, eine individualethisch respektable Alternative, aber keine Möglichkeit, durch Disposition, Abgrenzung und Ordnung von Interessen und Potentialen Kompromiß und Konfliktregelung zu erreichen. Wenn Politik Machtdisposition heißt dann ist an der gegenwärtigen Situation eines „Gleichgewichts des Schreckens“ nicht das Gleichgewicht das ethisch Bedenkliche, sondern der Schrecken, mit dem es notdürftig erhalten werden soll. Gleichgewicht zu erhalten ist dagegen eine hohe politische Kunst und Bedingung humanen Zusammenlebens.
Dies sehen die Anhänger der sogenannten sozialen Verteidigung klarer als die radikalen Pazifisten. Der Nachteil der Konzepte sozialer Verteidigung ist nur, daß man sie nicht erproben kann; es sei denn, die Mehrheit eines Volkes beschließt nach den dafür vorgesehenen Regeln, also durch Wahlen und Abstimmung, herkömmliche Sicherheitspolitik durch ein solches Konzept zu ersetzen. Es sind theoretisch unbeantwortbare Fragen, ob ein solches Konzept abschreckend wirken würde und ob, falls seine Abschreckungswirkung versagt, eine Bevölkerung einheitlich die Kraft und Opferbereitschaft aufbringen würde, so lange zivilen Ungehorsam und Widerstand zu leisten, bis der Angreifer es vorziehen würde, das Land wieder freizugeben.
Im Blick auf die heutige Weltsituation muß deshalb daran erinnert werden, daß selbst die Unterwerfung der westlichen Demokratien unter den Sowjetkommunismus nicht den Weltfrieden garantieren würde. Die kommunistische Ideologie kennt weiterhin den „gerechten Krieg", und auch in einer Welt kommunistischer Staaten wäre Krieg möglich, wie wir inzwischen erfahren haben. Die westlich-demokratische Ordnung um des Friedens willen preizugeben, hat einen denkbaren, wenn auch zweifelhaften Sinn allenfalls in der Vorstellung eines geschlossenen kommunistischen Weltimperiums. 3. Institutioneile Kriegsverhinderung als politische Zukunftsperspektive An dieser Stelle wird deutlich, daß die ethische Argumentation zwar nötig ist, daß es aber nicht genügt, die lähmenden Paradoxien des Status quo einander gegenüberzustellen. Sowohl in der Politik als auch in der politischen Bildung muß nach Zukunftsperspektiven gefragt werden, nach Möglichkeiten, den Status quo zu überschreiten ohne Preisgabe unserer freien Lebensordnung und zugleich ohne Krieg. Der Zielkonflikt zwischen Frieden und Freiheit muß so gelöst werden, daß beide erhalten bleiben, weil sie sich zugleich gegenseitig bedingen. In der Darstellung dieses Zusammenhangs haben Politik und politische Bildung, wie mir scheint, bisher weitgehend verSdgt, jedenfalls nicht genügend geleistet.
Für politische Bildung wird damit eine Position beschrieben, die, ohne die unpolitische Alternative des Pazifismus und die politisch nicht erprobte Alternative der sozialen Verteidigung zu verschweigen, den Status quo des Friedens durch atomare Abschreckung im Patt der Supermächte nicht verteufelt, aber auch nicht als unabänderlich hinnimmt, die den Status quo vielmehr betrachtet und befragt als Bedingung der Möglichkeit über ihn hinaus-führender politischer Schritte zu einem in anderer Weise gesicherten Frieden. Diese Position ist nicht die von Außenseitern. Sie kann vielmehr geteilt werden von fast allen politischen Richtungen der westlichen Demokratien, weil sie die Ratio ihrer derzeitigen Sicherheitspolitik jenseits parteipolitischer Unterschiede enthält. Sie läßt Raum für den politischen Streit über Schritte von Rüstung, Rüstungskontrolle und Abrüstung, über mögliche Vorleistungen und Verständigungsversuche, weil dies alles dem situativen politischen Kalkül überlassen bleibt.
Die Position enthält ferner das erkenntnisleitende Interesse der traditionellen wie der kritischen Friedensforschung, soweit letztere nicht aus orthodox marxistischer Position argumentiert. Sie ist schließlich in Gesamtentwürfen philosophischer und theologischer Art zur Weltpolitik enthalten, wie sie seit den fünfziger Jahren diskutiert werden, etwa in der politischen Philosophie von Karl Jaspers, in der Friedensenzyklika „Pacem in terris" von 1963, in der Pastoralkonstitution des II. Vatikanischen Konzils. Sie ist von Carl Friedrich von Weizsäcker in den siebziger Jahren am entschiedendsten weitergedacht und in politisch-ethische Teilperspektiven aufgefaltet worden
Bei Unterschieden, auch Gegensätzen im Detail ist diesen Entwürfen gemeinsam die Suche nach politischen Wegen über die derzeitige Kriegsverhütung hinaus zu vertraglich vereinbartem, durch veränderte soziale Strukturen in und zwischen den Staaten unterbautem, schließlich 'international und supranational durch Institutionen gesichertem Frieden. Begriffe wie Weltgemeinwohl, Weltinnenpolitik, Weltstaat stellen sich in diesem Vorstellungszusammenhang ein, die von „Realisten" gern als utopisch abgetan werden. Aber es könnte sein, daß die heutige absurde Situation politisch nur gemeistert werden kann, wenn man solche Perspektiven in den Versuch ihrer Be28 wältigung einbezieht. Wer hier zu schnell von Utopie redet, hat die Beweislast für realistischere Möglichkeiten, aus der heutigen Situation herauszukommen.
Jedenfalls geht es langfristig darum, ob die friedensstiftende Kraft politischen Ordnens international so wirksam gemacht werden kann, daß die Institution Krieg überwindbar wird; ob eine Weltföderation freier Staaten möglich ist, das ist die Frage. Kurzfristig kommt es allerdings darauf an, nicht im Blick auf ideale Ziele die heute gegebenen Möglichkeiten der Kriegsverhütung zu verspielen. Zwar muß, wie Weizsäcker es ausdrückt, kriegsverhütende Politik so geführt werden, daß sie den zur Überwindung des Kriegs notwendigen Bewußtseinswandel erleichtert und nicht erschwert Aber ebenso dürfen Schritte zum Bewußtseinswandel nicht heutige Kriegsverhütung unmöglich machen, darf der Blick auf das Ziel das heute Mögliche nicht verkennen, muß der Friedenswunsch seine Realisierungsbedingungen annehmen
Was in dieser Perspektive heute durch Verteidigungsbereitschaft letztlich gesichert werden soll, ist also keineswegs der Status quo, sondern es sind die Möglichkeiten, zu einem anders, besser gesicherten Frieden zu gelangen. Es geht nicht um die Erhaltung unseres Wohlstands und auch nicht nur um die freiheitlich-demokratische Ordnung, obwohl man gegenüber der orthodox-marxistisch argumentierenden Richtung der kritischen Friedensforschung den Spieß auch einmal umdrehen sollte: Wenn es stimmt, daß soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte (Abwesenheit „struktureller Gewalt") Voraussetzungen „positiven Friedens" sind, dann kann solchem Frieden nicht damit gedient sein, die Systeme zu untergraben oder preiszugeben, die den vergleichsweise höchsten Verwirklichungsgrad an Gerechtigkeit und Menschenrechten garantieren. Die Preisgabe unserer Ordnung eröffnet keine überzeugende Friedensperspektive. Aber diese Aussage ist keine Verteidigung des Status quo. Im Gegenteil erfordert der Weltfriede ein hohes Maß an Umdenken und an Strukturveränderung in allen heutigen politischen „Lagern", auch in den westlichen Industriegesellschaften. Er erfordert z. B. in weitaus stärkerem Maß als bisher bei der Wahrnehmung unserer wirtschaftlichen Interessen Rücksicht auf-die Völker der Dritten Welt, Einschränkung von Ansprüchen im Hinblick auf die begrenzten Ressourcen und auf die Grenzen des „Raumschiffs Erde". Insofern enthält die hier skizzierte Perspektive ein erhebliches Potential an Kritik auch gegenüber heute praktizierter Politik, Elemente von Kritik, die durchaus auch in der derzeitigen „Friedensbewegung" zu finden sind, soweit diese auf Verhandlungsversuche über Abrüstung, auf Abkehr von technischer Gigantomanie und militärtechnischem Perfektionismus, auf Steigerung der Entwicklungshilfe drängt, soweit sie nicht die unpolitische Alternative des Nachgebens und der Preisgabe fordert.
Mit der Skizzierung dieser Perspektive soll kein oberflächlicher Optimismus begründet werden. Ob es gelingt, die angedeutete Entwicklung politisch durchzusetzen, ist außerordentlich ungewiß. Ungewiß ist, ob das sowjet-kommunistische Lager mittelfristig auf seine weltrevolutionäre Ideologie und auf sein offensives Sicherheitskonzept verzichtet und sich der Kooperation mit anderen Staaten auch dann weiter öffnet, wenn diese zum Systemwandel führt. Ungewiß ist, ob die Konflikte in der Dritten Welt lokalisiert und durch zunehmende Interessenverflechtung und Kooperation zwischen den Völkern gemildert werden können. Ungewiß ist auch, ob die demokratisch geordneten Gesellschaften bereit sind, die Perspektive des Weltgemeinwohls in ihre Politik in genügendem Maß aufzunehmen. Ungewiß ist schließlich, ob die Völker genug Geduld, ihre Repräsentanten genügend politische Klugheit für diese Politik aufbringen. Es bedarf dafür eines langen Atems. Wer kurzfristig entscheidende Erfolge erwartet, gefährdet alles. Im vergleichenden Blick auf die Geschichte, etwa auf den langwierigen Prozeß innergesellschaftlicher Friedenssicherung durch Staatsbildung, wird man sagen müssen, daß diese Entwicklung, auch wenn sie entschieden in Gang gesetzt wird, eine Sache mehrerer Generationen sein wird.
Die Hauptlast der Verantwortung liegt auf den Politikern der westlichen Demokratien, weil die hier skizzierte Entwicklung den Prinzipien ihrer Ordnung am meisten entspricht, sie also verpflichtet sind, für sie einzutreten. Dagegen steht die ständige Versuchung zu einer Politik, die kurzfristig auf Wahltermine und auf Gefälligkeit gegenüber den Wählern angelegt ist, statt an deren Vernunft zu appellieren und Einsichten bei ihnen zu fördern. Was man in der Begründung und Vertretung heutiger Politik der Kriegsverhütung weitgehend vermißt, ist die Verknüpfung der situationsbedingten militärischen Vorkehrungen mit längerfristigen Perspektiven bei gleichzeitigem eindringlichen Appell an Vernunft und Geduld der Bürger. Es fehlt schließlich auch das deutlich wahrnehmbare Eingeständnis des Risikos, das in der heutigen Politik der Verteidigungsbereitschaft enthalten ist. Aber die Bürger in falscher Sicherheit zu wiegen, schwächt nur ihren Willen, Veränderungen mitzuvollziehen, und führt immer wieder zu Ausbrüchen kollektiver Angst.
Dagegen müßte die Einsicht gesetzt werden, daß nur die Bereitschaft der freien Gesellschaften, vorerst mit dem Risiko zu leben und sich mittelfristig auf erhebliche Wandlungen einzustellen, die Chance bietet, Frieden und Freiheit zugleich zu sichern. Der Kern unserer europäischen politisch-ethischen Tradition bleibt gültig: Das Leben ist das fundamentale Gut, aber Leben in sittlicher Freiheit ist das höhere Gut. Daher ist der Einsatz des Lebens für ein würdiges Leben legitim. Aber dieser Einsatz darf heute nicht mehr die Form des Krieges annehmen, weil dieser alles vernichten könnte, das Opfer also sinnlos würde. Deshalb muß die Menschheit aus der Situation der Kriegsdrohung herausfinden; aber dies kann nicht gelingen durch den Rückzug auf das bloße Lebenwollen.
IV. Der Beitrag politischer Bildung zur Friedenserziehung
1. Politische Rationalität statt Wehrerziehung und Verweigerungsmentalität Es ist bisher mehr von ethisch-politischen Problemen, von Aufgaben der politischen Führung und der öffentlichen Bewußtseinsbildung die Rede gewesen. Erst vor diesem Hintergrund soll jetzt gefragt. werden nach den Aufgaben politischer Bildung. Unsere obige Abgrenzung und Zuordnung zur Friedenserziehung im allgemeinen hat schon angedeutet, daß es um mehr und um anderes geht als um die Förderung von Einstellungen wie Toleranz, Verständigungsbereitschaft, Abbau von Vorurteilen, was alles zweifellos Aufgabe jeder Erziehung ist. Einigkeit besteht wohl auch in der Ablehnung von Wehrerziehung durch die Schule. Emotionalisierende und ideologische Vereinnahmung der Schüler für ein Freund-Feind-Denken, für die Verherrlichung oder auch nur die Verharmlosung kriegerischer Haltungen hat in der Schule von heute keinen Platz. Die nüchterne Reduktion heutigen Militärs und Soldatseins auf die Funktion der Kriegsverhinderung angesichts der vermutlichen Ausmaße eines mit Massenvernichtungsmitteln geführten Krieges verbietet jedes irrationale Moment in der schulischen Auseinandersetzung mit der Problematik.
Ich kann mich auch nicht dazu verstehen, der Schule unmittelbar das Ziel zuzuschreiben, in den Schülern Verteidigungsbereitschaft zu entwickeln, also etwa die Bereitschaft, die offizielle Politik zu unterstützen und den Wehrdienst zu leisten. Wenn das Ziel politischer Bildung politische Rationalität heißt, darf die Schule keine wünschbare Einstellung an Einsicht und Urteil der Schüler vorbei anstreben. Verteidigungsbereitschaft in der Gesellschaft und in der nachwachsenden Generation zu erhalten, ist Sache der Politik und ihrer öffentlichen Diskussion. Die Schule kann nicht ersetzen, was dort versäumt wird.
Noch unerträglicher allerdings ist das Gegenteil, die kollektive Hinführung zur Wehrdienstverweigerung. In beiden Fällen, im Fall der Verweigerung jedenfalls ganz ausdrücklich, geht es um Entscheidungen, die individuell verantwortet werden müssen, die die Schule also nicht aufreden darf.
Allerdings hat das Gemeinwesen Anspruch darauf, daß seine durch Verfassung und Mehr-heitswiller legitimierte Politik in ihrer Ratio im Politikunterricht dargestellt wird. Dies ist Voraussetzung begründeter Urteilsbildung des Schülers. Diese Darstellung darf weder durch die subjektive Meinung des Lehrers verzerrt noch durch gleichzeitige Propaganda für Wehrdienstverweigerung konterkariert werden. Im Unterricht muß das Für und Wider des Wehrdienstes politisch und ethisch erörtert werden. Das Recht auf Wehrdienstverweigerung ist ein Grundrecht des individuellen Gewissens und gehört als solches in den Rahmen der Grundrechtsthematik. Es ist nicht gedacht als Basis zur Propagierung einer politischen Alternative. Wer diese will, muß politisch um die entsprechenden Mehrheiten kämpfen. Es ist daher ein falscher Schluß zu sagen, wenn ein Jugendoffizier der Bundeswehr vor einer Schulklasse aufgetreten sei, habe eine Organisation der Wehrdienstverweigerer ebenfalls einen Anspruch darauf. Man kann auch mit Wehrdienstverweigerern im Unterricht diskutieren. Nur die Herleitung eines rechtlichen oder moralischen Anspruchs mit dem Hinweis darauf, daß die Bundeswehr ja auch informiere, verfängt nicht. Im übrigen läßt sich der Streit darüber methodisch entschärfen, wenn man Gäste des Unterrichts, wer immer sie seien, nicht als Autoritäten Reden halten, gar als Propagandisten Parolen verkünden läßt, sondern sie als Experten einer vorbereiteten Befragung unterzieht.
Es liegt in der Konsequenz der allgemeinen Zielsetzung politischer Bildung, politische Rationalität zu mehren, wenn wir sagen, Politik-unterricht habe die Aufgabe, durch Orientierung über Fakten und durch Erörterung von Fragen ein angemessenes Bild von der Problemlage zu vermitteln. Durch Auseinandersetzung mit dem Sinn heutiger Kriegsverhütungspolitik, durch Vergleich mit denkbaren Alternativen, durch Erörterung der politisch-ethischen Probleme kann die Schule versuchen, Einsichten in das Für und Wider einer bestimmten Politik zu vermitteln als Voraussetzung rationaler Entscheidung des einzelnen. Man kann dem entgegenhalten, angesichts der Komplexität der Problematik erzeuge dieser informierende und argumentierende Unterricht eher Unsicherheit, gar Ratlosigkeit als Entscheidungssicherheit Es kann aber prinzipiell nicht falsch sein, wenn durch gemeinsames Nachdenken und Gespräch eine Problemlage in ihrer Breite und Tiefe erfaßt wird und dadurch vorhandene fragwürdige Sicherheiten ins Wanken kommen.
Es darf aber erheblich bezweifelt werden, daß durch diese Art Unterricht etwa die schon vorhandene Bereitschaft oder Neigung, den Wehrdienst zu leisten oder zu verweigern, entscheidend verändert wird. Es gibt keine Aussagen bisheriger politischer Sozialisationsforschung, die diese hohe Einschätzung der Wirkmöglichkeiten des Politikunterrichts rechtfertigen würden. Der gegenteilige Eindruck mancher Politiker beruht auf der Verwechslung von Wirkungen des öffentlichen Klimas, insbesondere auch jugendlicher Teil-kultur mit solchen der Schule. Jedenfalls ist es der Person wie der Sache angemessen, sich in besserer Kenntnis der Zusammenhänge statt unter der Herrschaft öffentlicher Gefühle zu entscheiden 2. Didaktische Zugänge Zur Bewältigung dieser Aufgabe sind mehrere didaktische Zugänge denkbar. An der Frage nach dem Sinn von Wehrdienst und Bundeswehr heute darf selbstverständlich keine Schule vorbeigehen. Wenn bei irgendeinem Thema die vielberufene Betroffenheit der Schüler gegeben ist, dann hier. Aber angesichts der Weltlage und der Grundentscheidungen deutscher Politik, die in den fünfziger Jahren zu unserer Einbindung in das westliche Bündnissystem geführt haben, erfordert das Thema die Beachtung des zeitgeschichtlichen und internationalen Zusammenhangs. Die didaktische Reduktion stellt, zumal angesichts des engen Zeitrahmens im Unterricht, hohe Anforderungen an den Lehrer. Leicht verliert sich der Unterricht in historisch-politische oder auch in militärtechnische Details. Daher ist, zumal auf Sekundarstufe II, die Arbeit an Texten beliebt, die die politisch-ethischen Grundfragen prägnant darbieten. Dies ist zweifellos ein geeigneter Weg, aber nur dann, wenn die Textauswahl Zielkonflikte und Alternativen sichtbar macht und die Diskussion sich nicht in die Erhabenheit ethischer Prinzipien flüchtet, sondern sich der Realitätsanalyse stellt.
Das Stichwort . Alternativen'weist ferner auf die Möglichkeit hin, auch alternative Verteidigungskonzepte vergleichend zu erörtern, etwa das bei uns heute politisch praktizierte Konzept im Vergleich zu dem der sozialen Verteidigung. Aber auch dieses Verfahren hat seine Tücken. Der Vergleich von Alternativen ist zwar geeignet, die Problemstruktur erkennbar zu machen, statt sich im Detail zu verlieren. Aber denkbare Alternativen, auch wenn sie literarisch ausgearbeitet sind, sind Theorie. Ihre Bewährungsprobe in der Praxis fehlt, und es kann nicht Aufgabe der Schule sein, diese politisch zu propagieren. Ohnedies erliegen junge Menschen leicht der Faszination des Alternativen, das weniger grau, weniger ethisch körnpromißhaft erscheint, weil es seine Tragfähigkeit in der harten Realität nicht hat erweisen müssen.
Mindestens so wichtig wie diese Ansätze ist jedoch die Bearbeitung von Hauptproblemen heutiger internationaler Politik, weil an ihnen erst im Konkreten deutlich wird, was Frie-denssicherung heute bedeutet. Wenn unsere obige Begriffsbestimmung von Frieden richtig ist, dann ist ja Friede nicht unmittelbar Gegenstand von Politik neben anderen, sondern eine in allen Einzelproblemen zwischenstaatlicher und internationaler Art enthaltene ständige Aufgabe. Friede wird nicht unmittelbar hergestellt, sondern er wird ermöglicht und gesichert durch die Art und Weise, wie solche Probleme politisch gelöst oder jedenfalls behandelt werden. Dazu bedienen sich die Staaten und Staatengruppen heute zu ihrer Sicherheit noch der Verteidigungsmittel, deshalb muß über Verteidigung, Krieg, Rüstung, Militär im Unterricht gesprochen werden.
Das entsprechende Themenstichwort heißt also Verteidigungspolitik. Aber Friede muß als Perspektive von Politik im hier erörterten Sinn darüber hinaus an zentralen Konflikt-und Problemfeldern der heutigen Staatenwelt begreifbar gemacht werden. Es gibt nicht so etwas wie Friedenspolitik neben der Deutschland-, der Ost-West-, der Entwicklungspolitik. Es gibt vielmehr die weltpolitische Notwendigkeit und Aufgabe, Frieden im politischen Umgang mit diesen Einzelproblemen zu ermöglichen und sicherer zu machen.
Fragt man mit Hilfe allgemein anerkannter Auswahlaspekte nach den in diesem Sinn wichtigsten Themen, dann werden unter dem Aspekt permanenter Aktualität zeitgeschichtliche Prozesse erkennbar, die in der heutigen Internationalen Politik strukturelle Gestalt gewonnen haben: die Bipolarität der Supermächte, die regionalen Bündnissysteme und Integrationen, die Entkolonialisierung und Dritte-Welt-Problematik, schließlich die UNO als Diplomatie-und Koexistenzebene, auf der alle Entwicklungen und Probleme Zusammentreffen können. Stellt man darüber hinaus die Frage nach unserer eigenen Betroffenheit, dann lassen sich folgende Themenbereiche aus dieser Gesamtheit konkretisieren: Der Ost-West-Gegensatz und die darin eingebundene Deutschlandfrage, die Europapolitik, die Entwicklungspolitik.
Keines dieser Felder sollte im Politikunterricht fehlen, auch nicht auf Sekundarstufe I. In allen dreien geht es, wenn auch in unterschiedlichem Problemkontext, um die Frage, wie einerseits Friede als gewaltfreie Konflikt-regelung zwischen den Völkern ermöglicht, wie er andererseits durch Verminderung von Konfliktmöglichkeiten, durch Mehrung von Freiheit und Gerechtigkeit, sicherer gemacht werden kann. Dabei werden, um eine kategoriale Unterscheidung von Czempiel hier schematisch zu benutzen in den einzelnen Bereichen unterschiedliche Prozeßmuster zwischenstaatlichen Umgangs sichtbar: In Westeuropa das der Integration, im Nord-Süd-Verhältnis das der Kooperation, im Ost-West-Verhältnis das der Koexistenz. Keines von ihnen ist konfliktfrei, aber der Friede ist in unterschiedlichem Maß in ihnen gesichert oder gefährdet. Wenn der Politikunterricht in nüchterner Analyse der Machtkonstellationen und Konfliktursachen, in realistischer Erörterung des politisch jetzt Möglichen, aber zugleich in ethisch fundiertem Urteil über die Spannung zwischen dem Möglichen und Wünschbaren Beispiele und Teilfragen aus diesen Feldern bearbeitet, leistet er den ihm zukommenden Beitrag zur Friedenserziehung mindestens in dem gleichen Maß wie durch die Erörterung spezifisch verteidigungspolitischer und friedensethischer Fragen
Vielleicht kann er auf diesem Weg noch am ehesten eine freilich bescheiden bleibende Hilfe leisten zur Überwindung des weit verbreiteten doppelten Irrtums, Friede sei ein herstellbarer statischer Zustand und er sei erreichbar durch moralische Anstrengung jenseits von Politik. Der Irrtum ist verständlich, vielleicht sogar sympathisch, aber er ist in gleichem Maß friedensgefährdend wie das angeblich realistische Sich-Abfinden mit dem Status quo.
Bernhard Sutor, Dr. phil., geboren 1930; o. Professor für Didaktik der politischen Bildung und Sozialkunde an der Katholischen Universität Eichstätt seit 1978; zuvor im höheren Schuldienst des Landes Rheinland-Pfalz. Veröffentlichungen u. a.: Politik und Philosophie, Mainz 1966; Didaktik des politischen Unterrichts, Paderborn 1971, 2. Auflage 1973, Grundgesetz und politische Bildung, Hannover und Mainz 1976; Politik, Lehr-und Arbeitsbuch für Sekundarstufe II (Herausgeber und Mitautor), Paderborn 1979; Lernziel Toleranz, Bd. 158 der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1980 (Mitherausgeber). Aufsätze und Beiträge über Grenzfragen zwischen Philosophie und Politik sowie zur Geschichts-und Politikdidaktik.
Helfen Sie mit, unser Angebot zu verbessern!
Ihre Meinung zählt: Wie nutzen und beurteilen Sie die Angebote der bpb? Das Marktforschungsinstitut Info GmbH führt im Auftrag der bpb eine Umfrage zur Qualität unserer Produkte durch – natürlich vollkommen anonym (Befragungsdauer ca. 20-25 Minuten).