Zur Soziologie der Friedensbewegung und des Jugendprotestes Strukturmerkmale — Inhalte — Folgewirkungen
Günther Schmid
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Zusammenfassung
Die Entstehung und rasche Ausbreitung einer sogenannten „Friedensbewegung" wird vor dem Hintergrund dreier durchaus parallel laufender Entwicklungen bzw. Ereignisse verständlicher: Das allgemeine Protestverhalten der Jugend (insbesondere ausgelöst durch tiefgreifende Veränderungen in der erfahrenen Lebenswelt der jungen Generation und deren Auswirkungen auf die subjektive Situation der Jugendlichen und jungen Erwachsenen), der plötzliche Wandel von einer Phase der politischen und militärischen Entspannung zu einer Situation der sich krisenhaft zuspitzenden Ost-West-Spannung und Aufrüstung (Afghanistan, amerikanische Aufrüstungspolitik, Polen) sowie der umstrittene NATO-Doppelbeschluß vom 12. Dezember 1979 haben nicht nur in der jungen Generation das Bewußtsein kaum mehr beeinflußbarer politischer Entscheidungen, militärtechnischer Zwangsläufigkeiten und gemeinsamer Betroffenheit geschärft und bilden den wohl wichtigsten Impuls für das Anwachsen einer sehr heterogenen „Friedensbewegung". Diese echte Basisbewegung zeichnet sich organisatorisch-strukturell wie programmatisch durch ein vielfältiges Spektrum von Strömungen und alternativen konzeptionellen Vorstellungen aus (kleinster gemeinsamer Nenner: zunächst Ablehnung der „Nachrüstung" mit allen gewaltlosen Mitteln und der Tendenz, eine atomwaffenfreie Zone in Europa anzustreben). Demoskopische Erhebungen vermitteln ein aufschlußreiches und differenziertes Bild von einem typischen Anhänger der Friedensbewegung, der in der Regel unter 36 Jahre alt ist (bei den bis 25jährigen Jugendlichen ist generell die Politikverdrossenheit am größten, das Interessengebiet „Abrüstung und Frieden" aber das wichtigste politische Thema), eine höhere Schulbildung aufweist, über eine eher „postmaterialistische Einstellung verfügt, zu Formen unkonventionellen sozialen Verhaltens neigt und — so 74 % aller Befragten — jede Form von Gewalt ablehnt. Allerdings bilden lediglich 9 % der Bundesbürger das aktive Handlungspotential der Bewegung, 39 % qualifizieren sich als passive Befürworter. Drei große Gruppierungen lassen sich in der Zusammensetzung der Friedensbewegung identifizieren: Linke, Christen und Alternative, wobei der linke Zweig (dem nicht nur orthodoxe Kommunisten angehören) politisch unmittelbar in die Bonner Regierungsparteien hineinwirkt. Wesentliche Erscheinungsmerkmale der Friedensbewegung betreffen vor allem das offene Bekenntnis zu Formen der „Angst“, den Einsatz der Emotionen gleichsam als Waffe gegen die „Sicherheitstechnokratie'', die Spontanität ihrer Aktivitäten, die tiefe Skepsis ihrer Anhänger, erneut wie 1968 in die etablierten politischen Willensbildungsstrukturen eingebunden zu werden, sowie den vermutlich längerfristigen Einfluß der Bewegung auf die offizielle Politik und die öffentliche Meinungsbildung. Zweifel scheinen allerdings angebracht, ob die politischen Entscheidungsträger in Regierung und Parteien diese Herausforderung bisher voll erkannt und. angemessen darauf reagiert haben. Dem nicht wegzudiskutierenden „Sicherheitsdilemma des atomaren Zeitalters und seinen Paradoxien können und müssen sich beide Seiten, Friedensbewegung und praktische Friedenspolitik, mit durchaus unterschiedlichen Schwerpunkten stellen.
Ausgangspunkt jeder ernsthaften Diskussion über jene friedens-und sicherheitspolitischen Fragestellungen, die seit Ende der siebziger Jahre verstärkt ins öffentliche Bewußtsein gerückt sind, muß die Erkenntnis sein, daß weder moralisch motivierte Friedenssehnsucht ohne Problemkenntnis noch die üblichen Rechtfertigungsformeln für die praktizierte Sicherheitspolitik die erforderlichen Einsichten in die wirkliche und vielschichtige Problematik vermitteln. In einer derart schwierigen und umfassenden Sache wie der Friedenssicherung und Verteidigung mit militärischen oder nichtmilitärischen Mitteln gibt es keine einfachen Lösungen — schon deshalb nicht, weil sich die Auffassungen von Staaten, Gruppen oder einzelnen Bürgern über Frieden und Sicherheit meist nicht zur Deckung bringen lassen. Ost und West haben aufgrund ihrer kontroversen politischen und ideologischen Interessenlagen, ihrer historischen Erfahrungen sowie ihrer geostrategischen Lage unterschiedliche, ja teilweise einander ausschließende Vorstellungen, wie sich Sicherheit und Frieden erreichen lassen. Dem menschlichen Grundbedürfnis nach bzw.der durchaus konkreten Wunschvorstellung von einer „Welt ohne Waffen" steht zunächst der zweifellos problematische, aber sicherlich nicht zu bestreitende Grundtatbestand gegenüber, daß im politischen Alltag keine Einigkeit über Mittel, Wege und Ziele von Friedens-und Sicherheitspolitik besteht.
Es kann kaum bestritten werden, daß es in der Bundesrepublik Deutschland seit den fünfziger Jahren keine derart breite, nahezu alle Teile der Bevölkerung umfassende und die veröffentlichte Meinung miteinbeziehende Diskussion über die grundlegenden Fragestellungen westlicher Friedens-und Sicherheitspolitik mehr gegeben hat wie in den letzten beiden Jahren. Die dadurch „erzwungene" stärkere Enttabuisierung und Öffnung der offiziellen Sicherheitspolitik scheint zu einer wesentlich größeren Sensibilisierung der Öffentlichkeit gegenüber existentiellen Themen wie Frieden, Rüstung und Sicherheit geführt zu haben. Wurden bisher Fragen nach Inhalt, Sinn und praktischen Auswirkungen einer Verteidigung mit militärischen Mitteln, vor allem mit Atomwaffen, von der offiziellen Sicherheitspolitik und ihren Bürokratien häufig abgeblockt und von der breiten Öffentlichkeit entweder kaum zur Kenntnis genommen oder aber weitgehend verdrängt, so wirkt das vom einzelnen persönlich empfundene Informa-tionsdefizit auf diesem Gebiet nun in wachsendem Umfang als Antriebsmoment für eine intensivere Beschäftigung mit dieser Thematik. Darin allein schon liegt ein eindeutig positiv zu bewertender Effekt, veranlaßt er doch die politisch und militärisch Verantwortlichen, anhand von differenzierten, überzeugenden und annehmbaren Sachargumenten mehr als bisher eine breit angelegte Diskussion zu führen.
Das Aufkommen einer sogenannten „Friedensbewegung", welche die sicherheits-und friedenspolitische Debatte in den vergangenen zwei Jahren maßgeblich entfacht hat, wird vor dem Hintergrund dreier, durchaus parallel laufender Entwicklungen bzw. Ereignisse verständlich: Einmal spielt offenbar das allgemeine Protest-verhalten der Jugend — d. h. die zunehmende Kluft, ja tiefgreifende Entfremdung zwischen offizieller Politik und größeren Teilen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen — eine wichtige Rolle; ein Protestverhalten, das in engem Zusammenhang mit erfahrbaren Veränderungen in der Lebenswelt der jungen Generation, die ein Teil der gesamtgesellschaftlichen Wirklichkeit ist, und'den Auswirkungen dieser Veränderungen auf deren subjektive Situation steht.
Zweitens kam der Wandel von einer Phase der politischen und militärischen Entspannung, in der die heute 15-bis 25jährigen herangewachsen sind, zu einem Zeitabschnitt wachsender Spannung, Aufrüstung und Unsicherheit für zahlreiche junge Menschen so plötzlich, daß von einer Art „Schock" gesprochen werden kann. Das instinktive Gefühl einer bedrohlichen Verschlechterung der internationalen Situation im Vergleich zu den Jahren vorher wurde in Form einer Rückkoppelung von der Medienberichterstattung, aber auch durch Äußerungen von Politikern selbst bestätigt und noch verstärkt.
Drittens hat der NATO-Doppelbeschluß vom 12. Dezember 1979 (insbesondere dessen Nachrüstungsteil) diesen Eindruck symbolisch wie praktisch-politisch noch unterstrichen. Die Brüsseler Entscheidung löste nicht nur eine der heftigsten innenpolitischen Kontroversen seit Bestehen der Bundesrepublik aus, sondern verdeutlichte weit über die Grenzen unseres Landes hinaus das Ausmaß des lebensbedrohenden Risikos einer fortschreitenden atomaren Rüstung und die damit verbundene Betroffenheit jedes einzelnen.
Das allen drei Entwicklungen zugrundeliegende Bewußtsein kleiner gewordener und kaum mehr beeinflußbarer Handlungsspielräume für die Politik, militärpolitischer Zwangsläufigkeiten und gemeinsamer Betroffenheit ist mit hoher Wahrscheinlichkeit der wichtigste Impuls für die Herausbildung und Entfaltung einer inzwischen stark angewachsenen „Friedensbewegung".
Die Schwierigkeiten einer ersten Untersuchung dieser „Bewegung“ ergeben sich schon beim Versuch zu bestimmen, wie sie sich zusammensetzt, wer oder was für sie repräsentativ ist, welche einzelnen oder gemeinsamen Zielsetzungen sie verfolgt und was die ausschlaggebenden Beweggründe für ihr Engagement sind. Kann man überhaupt von einer einheitlichen und überschaubaren Bewegung mit deutlich identifizierbaren Vorstellungen und Absichten sprechen? Unterstellt der Begriff „Friedensbewegung" — der sich übrigens bereits im Jahre 1952 nachweisen läßt — nicht schon ein erkennbares Subjekt?
Eine Hypothese soll bereits an dieser Stelle gewagt werden:
Wie die öffentliche Diskussion der verschiedenen, teilweise extrem voneinander abweichenden alternativen Sicherheitsmodelle zeigt, besteht der kleinste gemeinsame Nenner, das einzige gemeinsame Band der vielfältigen „Friedensbewegung" im Kampf gegen die Realisierung des Nachrüstungsbeschlusses, d. h. in der Verhinderung und Ablehnung der damit zusammenhängenden Maßnahmen. Zwischen den verschiedenen Positionen der einzelnen Gruppierungen sind kaum weitere grundsätzliche konzeptionelle Berührungspunkte auszumachen. Die bekanntgewordenen Alternativvorschläge unterscheiden sich weit stärker voneinander, als dies gemeinsame Kundgebungen und Meinungsäußerungen ahnen lassen. Die moralisch, ja radikal ethisch motivierte Forderung „zunächst" nach einer Verhinderung neuer Atomraketen auf deutschem Boden, grundsätzlich aber nach einer anderen Sicherheitspolitik, läßt sich in fast allen Äußerungen der Bewegung dokumentieren. Von den vier von der Friedensbewegung am häufigsten diskutierten und vorgetragenen sicherheitspolitischen Alternativkonzepten— Auseinanderrücken der Blöcke bzw. atomwaffenfreies Europa, militärische Verteidigung nur mit Defensivwaffen, soziale Verteidigung und einseitige Abrüstung — bildet die Forderung nach einer „atomwaffenfreien Zone in Europa" den wichtigsten konzeptionellen Berührungspunkt der einzelnen Flügel und Gruppen. Für dieses (Fern-) Ziel, dem sich auch einzelne Politiker von SPD und FDP zumindest verbal angeschlossen haben, wollen die meisten Aktivisten der Bewegung die Öffentlichkeit mobilisieren und um Unterstützung für eine Art „Nuklearpazifismus" werben. Deutlich erkennbar ist die etwa im sogenannten „Friedensmanifest ’ 82" (formuliert um die Jahreswende 1981/82 in West-Berlin unter der Federführung von Heinrich Albertz, Erhard Eppler, Helmut Gollwitzer, Horst-Eberhard Richter u. a.) zum Ausdruck kommende Absicht der geistigen Köpfe der Friedensbewegung, über die Verhinderung der „Nachrüstung" hinaus auf den ersten Blick utopisch erscheinende Fernziele, „konkrete Utopien” anzusteuern, d. h. von der bloßen Verweigerung und Blockierung wegzukommen, hin zu einer humaneren Politik und Gesellschaft. Die Vision einer „Welt ohne Waffen" ins Blickfeld Da Mitte 1980 von einer „Friedensbewegung" noch nicht die Rede war, spricht vieles dafür, daß es sich bei diesem rasch angewachsenen Protestpotential um eine außerparlamentarische Volksbewegung, um eine echte Basisbewegung handelt, die weniger von der Einheit als von der Vielfalt lebt und Impulse von den verschiedensten Gruppierungen (politische, soziale, konfessionelle) und Fraktionen erhält Einzelpersonen und Gruppen unterschiedlicher Herkunft, fast aller Altersklassen und mit teilweise völlig gegensätzlichen Zielen und Programmen haben sich zusammengefunden, um eine nach ihrer Meinung neue gefährliche Dimension atomarer Gefahr von deutschem Territorium fernzuhalten. Die Stärke und das Hauptmerkmal der „Friedensbewegung", ihre Vielfältigkeit, ist gleichzeitig auch ihre Schwäche: Regionalisierung und Aufsplitterung in einzelne Gruppen und Grüppchen bedeuten in der Praxis Minderung ihrer öffentlichen Breitenwirkung, Orientierungslosigkeit und mangelhafte Durchsetzungsfähigkeit Dennoch, so scheint es, ist sie auf dem Wege, politischen und sozialen Strömungen zum Durchbruch zu verhelfen, die sich im Parlament und innerhalb der Parteien nicht entfalten können. Damit läßt sich erneut ein Eindringen gesellschaftlicher Bewegungen auch in die internationale Politik und Diplomatie beobachten. der praktischen Friedenspolitik zu rücken, sie zur Leitlinie jeder konkreten Sicherheitspolitik zu machen — dies scheint der größte Teil der Friedensbewegung auf seine Fahnen geschrieben zu haben.
Die Unabhängigkeit der „Friedensbewegung" insgesamt dokumentierte sich wiederholt in der erfolgreichen Abwehr von Versuchen einzelner Gruppen (Grüne, DKP), die Bewegung in bestimmte politische Richtungen zu lenken.
Bereits an diesem Punkt taucht fast zwangsläufig die Frage nach einer möglichen Steuerung der „Friedensbewegung" auf, die immer dann in den Vordergrund rückt, wenn sich eine schnell angeschwollene Massenbewegung den allgemeinen öffentlichen Erklärungsmustern entzieht. Gerade weil die Frage einer Beeinflussung von außen in der öffentlichen Diskussion insbesondere parteipolitisch kontrovers beantwortet wird — und dies mit zum Teil sehr fragwürdigem Beweismaterial —. soll im folgenden auf einige Aussagen kompetenter Stellen zurückgegriffen werden.
Zwei parlamentarische Anfragen zu diesem Thema von CDU/CSU-Bundestagsabgeordneten beantwortete der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, von Schoeler, am September und 13. November 1981 mit dem Hinweis, daß der Bundesregierung bzw.dem Bundesamt für Verfassungsschutz keine Erkenntnisse vorlägen, wonach Friedensbewegungen in der Bundesrepublik Deutschland durch den sowjetischen (Geheimdienst) KGB gesteuert würden bzw. eine finanzielle Förderung der Friedensbewegung aus Moskau erfolge 1) -
Anfang Dezember 1981 meldete die Deutsche Presseagentur (dpa), die Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern seien aufgrund langer Beobachtungen und Ermittlungen zu der Schlußfolgerung gelangt, orthodoxe Kommunisten (DKP und ihre Nebenorganisationen) bildeten zwar eine zahlenmäßige Minderheit, stellten aber die „größte geschlossene und aktivste Gruppierung" in der Bewegung dar. Allerdings sei zweifelhaft, ob es der DKP gelingen werde, die Friedensbewegung für andere kommunistische Nahziele zu gewinnen
Der Präsident des Kölner Bundesamtes für Verfassungsschutz, Richard Meier, erklärte Mitte Januar 1982, entgegen anderslautender Meldungen steuere der sowjetische Geheimdienst KGB die Friedensbewegng nicht (um das Gewicht seiner Aussage offenbar noch zu unterstreichen, verwies Meier darauf, kein Nachrichtendienst der westlichen Welt habe so viele Spionagefälle aufgedeckt wie der westdeutsche Verfassungsschutz)
Bundesinnenminister Baum hat in seiner schriftlichen Antwort vom 19. Januar 1982 namens der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage von CDU/CSU-Bundestagsabgeordneten zu dieser Thematik betont, daß es bei Aktionen gegen den NATO-Doppelbeschluß „zu unterschiedlichen Formen des Zusammenwirkens von orthodoxen Kommunisten und Nichtkommunisten gekommen“ sei. „Die weitaus überwiegende Mehrheit der Teilnehmer der Demonstration vom 10. Oktober 1981 lehnt kommunistische Zielsetzungen ab. Unsere freiheitliche Demokratie muß das friedliche Engagement von Bürgern auch dann ernst nehmen, wenn Kommunisten mitmarschieren oder mitorganisieren."
Es spricht angesichts dieser Einschätzungen vieles dafür, daß die inzwischen auf schätzungsweise weit über 2 Millionen „Mitglieder" und Aktivisten angewachsene Bewegung längst zu groß und (auch politisch) zu vielschichtig geworden ist, als daß sie überhaupt noch von einer Seite „fernzusteuern“ wäre. Auch die Anerkennung der kommunistischen Gruppierungen, die bisher Randgruppen geblieben sind, als gleichberechtigte Partner durch andere beteiligte Kräfte der Friedensbewegung muß den moskautreuen Kommunisten nicht automatisch und unbedingt die Chance einräumen, ihre politische Isolierung auch in anderen Bereichen zu durchbrechen. Alle bekanntgewordenen Versuche der DKP (vor allem ihrer jüngeren Mitglieder), „Friedensgruppen" zu dominieren, sind — soweit erkennbar — bisher fehlgeschlagen. Kommunisten, so lassen sich die vorliegenden Daten und Beobachtungen zusammenfassen, sind dabei, marschieren und organisieren mit, aber weder prägen sie das Gesamtbild der Friedensbewegung noch haben sie ihr den Anstoß gegeben.
Unbestreitbar stellt sich für die Atomwaffen-gegner grundsätzlich die Frage der „Bündnispolitik", d. h.der Abgrenzung gegenüber jenen Teilen der Friedensbewegung, die der offiziellen sowjetischen Position in .der Nachrüstungsdiskussion einseitig Gehör und Geltung verschaffen wollen und mittels Schwarzweiß-deutungen nur die Rüstung des östlichen Bündnisses als „objektiv friedenserhaltend" darstellen. Auch von Friedensforschern, die der „Friedensbewegung" durchaus zustimmend gegenüberstehen, ist die illusionäre Einschätzung der sowjetischen Rüstungsdynamik und Rüstungspolitik durch große Teile der Bewegung Die völlige worden teilweise Ausblendung des Machtfaktors Sowjetunion, ihres Kräftepotentials, ihrer Interessen-ausrichtung und ihrer Herrschaftsordnung kennzeichnet die reduzierte Wahrnehmung der Realität durch nicht wenige Anhänger der Bewegung.
Obwohl die empirische Sozialforschung die studentische Protestbewegung Ende der sechziger Jahre nicht rechtzeitig erkannte und herkömmliche repräsentative Befragungen häufig nicht auf die Lebenspraxis der jugendlichen Zielgruppen zugeschnitten sind (was allerdings für die letzte der beiden umfangreichen Shell-Studien von 1979 und 1981 nicht zutrifft), bieten sich für eine Untersuchung des Potentials der Friedensbewegung zahlreiche empirische Erhebungen aus der letzten Zeit an. Vor allem aus der breit angelegten demoskopischen Umfrage des Bielefelder EMNID-Instituts, die in der ersten Oktoberhälfte 1981 durchgeführt wurde, läßt sich ein erstes aufschlußreiches Bild ermitteln
Als „potentiell Aktiver" der Bewegung läßt sich demnach jemand bezeichnen, der in der Regel das folgende Profil aufweist:
— unter 36 Jahre alt — höhere Schulbildung (Abitur)
— kein fester CDU/CSU-Wähler — „postmaterialistische“ (d. h. nicht-materielle) Einstellung — Tendenz zu Formen „unkonventionellen Verhaltens" (Demonstrationen, Bürgerinitiativen etc.).
Lediglich 9 Prozent der insgesamt befragten Bundesbürger bilden das aktive Handlungspotential der Friedensbewegung; die passiven Befürworter der Bewegung stellen mit 39 Prozent die größte Gruppe. 74 Prozent aller Befragten lehnen jede Form von Gewalt ab; die Gewaltbereitschaft wird offensichtlich häufig überschätzt (dieses Ergebnis haben übrigens auch Untersuchungen der Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen allgemein erbracht) Nachdem die EMNID-Daten neben anderen Erhebungen außerdem belegen, daß die allgemeine Politikverdrossenheit in der Alters-gruppe bis 25 Jahre am größten ist und der von der Friedensbewegung aufgegriffene Interessenbereich „Frieden — Sicherheit — Abrüstung" anderen Untersuchungen zufolge das bedeutendste politische Thema der jungen Generation verkörpert, soll zunächst nach Ur-sachen und Wirkungen des allgemeinen jugendlichen Verweigerungsverhaltens in der Bundesrepublik gefragt werden. Nur vor diesem Hintergrund lassen sich Motive, Strukturen und Denkweisen der Friedensbewegung besser verstehen
I. Antriebsmomente, Zielrichtung und Auswirkungen des jugendlichen Protestverhaltens
1. Die „äußeren" Ursachen Die vorliegenden Daten und Erfahrungen deuten auf einen engen Zusammenhang zwischen dem Protestverhalten der jungen Generation, ihrem Pendeln zwischen . Aufbruch und Verweigerung" und den Auswirkungen der Veränderungen in der Lebenswelt von Jugendlichen auf deren individuelle Situation. Die wichtigsten und folgenreichsten Veränderungen betreffen die Themen-und Erfahrungsbereiche — Lebensqualität — Bildung, Ausbildung, Berufsperspektive — Familie — Freizeit — Entwicklung in den Städten — Wertesystem (Einstellungen zum Lebensstandard etc.)
— Politik.
Die Mehrheit der jungen Generation sieht die Zukunft der Gesellschaft pessimistisch und düster. Bei über drei Vierteln der Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 15 und 25 Jahren — in dieser Phase vollzieht sich für die Mehrheit der Jugend der Umschwung vom Schülerstatus zum Nicht-mehr-Schüler — ist der Glaube, mit der Technologie auch menschlichen Fortschritt weiterzuentwickeln, stark erschüttert worden: 95 Prozent rechnen nicht damit, daß Kriege abgeschafft werden und es eine sorgenfreie Gesellschaft geben wird; 78 Prozent erwarten zukünftig nicht mehr Gleichheit unter den Menschen; 80 Prozent halten Rohstoffknappheit, Wirtschaftskrisen und Hungersnöte für wahrscheinlich; 76 Prozent erachten Technik und Chemie als umweltzerstörend Die industrielle Zivilisation hat für sie deutlich an Attraktivität verloren. Der enorme Pessimismus der jungen Generation spiegelt nicht nur spezifische Zukunftsvorstellungen und eher abstrakt-theoretische Einstellungen wider, sondern wirkt tief in die heutige Lebenspraxis der Jugendlichen hinein, prägt und steuert ihre Grundhaltungen in der Gegenwart. Aus allen empirischen Untersuchungen läßt sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen düsteren Zukunftserwartungen und der Bereitschaft zu Kritik und Widerstand herstellen. Mit zunehmendem Bildungsstand steigen nicht nur Skepsis und Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen, sondern auch die Neigung zu „unkonventionellen" Protestformen; je pessimistischer die Zukunftsvorstellungen, desto häufiger und engagierter die Unterstützung oder Teilnahme an neuen politischen Protestbewegungen wie Hausbesetzer, Kernkraft-und Startbahngegner etc.
Das Mißtrauen junger Leute stützt sich insbesondere auf die Vermutung, die Erwachsenen beuteten Lebensraum und Ressourcen ohne Rücksicht auf die Zukunft aus. Ein Teil der Jugend erlebt die Älteren als Übermächtige und Fremde, mißtraut ihnen und schließt sich von der Erwachsenenwelt ab (Jugendzentrismus"). Obwohl das Bildungswesen in den sechziger und vor allem siebziger Jahren großzügig ausgebaut wurde und niemals zuvor mehr Jugendliche eine so qualifizierte Schul-und Berufsausbildung wie heute genossen haben, ist die Berufsperspektive durch die rasch ansteigende Jugendarbeitslosigkeit (bei unter 20-jährigen betrug sie im Januar 1982 7, 6 Prozent; im Juni 1981 lag sie noch bei 3, 9 Prozent) schlechter geworden. Die Prognosen klingen wegen der geburtenstarken Jahrgänge besonders düster. Trotz wesentlich geringerer Berufschancen streben Eltern und Schüler immer höhere Schulabschlüsse an; der „Schock" des Eintritts in das Arbeitsleben zögert sich dadurch erheblich hinaus; eine seit den siebziger Jahren feststellbare „Nach-Jugendphase" (Post-Adoleszenz) tritt zwischen Jugend und soziales Erwachsensein — mit allen Folgewirkungen für die individuelle Persönlichkeitsentwicklung. Die politisch Verantwortlichen haben offenbar verkannt, daß der Verdrängungsprozeß der weniger Qualifizierten durch Gleichaltrige mit höherer Bildung das Selbstwertgefühl des einzelnen massiv beeinträchtigt und ein arbeitsloser Jugendlicher von der wichtigsten Form der Teilnahme am Leben der Gemeinschaft, der Mitarbeit, ausgeschlossen ist. Aufgrund von Arbeit werden Lebenschancen verteilt Der Arbeitsplatzbesitzer schottet sich gegenüber dem Arbeitslosen ab, der Gutverdienende gegenüber dem Schlechtverdienenden; die Gesellschaft insgesamt scheint in „Segmente“ zu zerfallen. Eine in ihren Auswirkungen nicht abzuschätzende Belastung des Verhältnisses von jungen Menschen zur übrigen Gesellschaft liegt hier begründet. Jeder seines Glückes Schmied — so wird auch von Jugendlichen gefragt —, ist das wirklich soziale Gerechtigkeit? Die Sicherheit des eigenen Arbeitsplatzes nimmt in der Prioritätenliste von Jugendlichen und in deren Wertesystem nach dem Schutz der Umwelt bzw.der Erhaltung der Lebensqualität den zweiten Platz ein
Auch im Bereich der Familie haben sich erhebliche Veränderungen vollzogen, die sich vorwiegend aus der Zunahme der Ein-Kind-Familien, der unvollständigen Familien und der berufstätigen Familien ergeben. Die auch dadurch bedingte Ausklammerung der Großelterngeneration aus dem täglichen Lebenszusammenhang vermindert die Erfahrung des Aufeinanderangewiesenseins der Generationen Berufstätige Eltern oder Elternteile sehen sich in einer sich rasch wandelnden Gesellschaft in der Aufgabe überfordert, ihren Kindern eine inhaltliche Orientierung zu vermitteln. Dieses Defizit wird immer häufiger durch materielle Versorgung und Verwöhnung ausgeglichen. Jugendliche stellen heute die elterliche Autorität stärker in Frage als früher; ein eigener Standpunkt wird früher artikuliert; der Zugang zu den „Privilegien" der Erwachsenen (Statussymbole, „Vergnügungen" etc) hat sich vorverlagert Im Bereich der Freizeitgestaltungist eine Verdoppelung des Medienkonsums von Jugendlichen seit Mitte der sechziger Jahre zu verzeichnen, was zu einem größeren Einfluß der sogenannten „Bewußtseinsindustrie" auf den einzelnen geführt hat Der Freizeittrend verläuft zuungunsten von aktiver geistiger Beschäftigung („Musikhören" wird von den befragten 12-bis 23jährigen als wichtigste Freizeitbeschäftigung angegeben) und fördert eher passive Zerstreuung und Unterhaltung. Gerade beim passiven Medienkonsum machen junge Menschen die für ihre späteren Einstellungen und Aktivitäten wesentliche Erfahrung, daß ungewöhnliches, „unnormales" Verhalten von den Massenmedien mit erhöhter Aufmerksamkeit belohnt wird und in der Regel nur die Abweichung von der gesellschaftlichen Norm Nachrichtenwert hat. Auch die Entwicklung in den städtischen Ballungszentren, der heute . natürlichen'physischen Umwelt für heranwachsende Jugendliche, stellt vor allem junge Menschen vor erhebliche Probleme:
Der preiswerte Wohnungsbestand hat abgenommen, flächendeckende Sanierungen machen die Entwicklung von neuen Wohn-und Lebensformen fast unmöglich, die Schwachen am Markt (dazu gehören gerade auch junge Wohnungssuchende) werden durch hohe Mieten zunehmend verdrängt. Es ist daher nur verständlich, wenn junge Erwachsene zwischen 18 und 24 Jahren Reformen bei Mietund Grundstückspreisen sowie beim sozialen Wohnungsbau für wesentlich dringlicher halten als die Gesamtbevölkerung.
Eine entscheidende Veränderung vollzog sich im Wertesystem, in der Einstellung zum mate-riellen wie nicht-materiellen Lebensstandard (Sozialwissenschaftler haben für den Begriff der „Lebensqualität“ folgende Kriterien gefunden: ausreichende und ausgewogene Versorgung, größere Verteilungsgerechtigkeit, wachsende Beteiligungschancen, persönliche Zufriedenheit Seit Ende der sechziger bzw. Anfang der siebziger Jahre hat eine deutliche Verschiebung in der Werterangfolge insbesondere der 15-bis 24jährigen stattgefunden. Sozialwissenschaftler und Demoskopen diagnostizieren eine „stille Revolution“ der Bedürfnisse, Erwartungen und Wertorientierungen in Richtung auf eine steigende Bedeutung von „postmateriellen", d. h. immateriellen, eher geistig-ideellen Werten: Persönliche Selbstverwirklichung, Solidarität und Mitwirkung an politischen und sozialen Entscheidungsprozessen spielen eine erheblich größere Rolle als materieller Wohlstand, Sicherheit und Konsumorientierung und nehmen in der persönlichen Wunschskala Vorrang ein Dies erscheint um so bemerkenswerter, als die heute 20jährigen, die „Kinder des Wachstums", in Stabilität und Wohlstand, die selbstverständlich waren, aufgewachsen sind und ihre Vorstellungen von einem verbreiteten Anspruchsdenken geprägt wurden. Eher abstrakte Begriffe wie „Frieden” und „Freiheit" sind von dieser Generation nicht als Summe von Erfahrungen ihrer Verneinung erlebt worden und haben deshalb an Ausstrahlungskraft verloren. Detaillierte Forschungen lassen im Prozeß der Umschichtung der Werte ein Generationengefälle erkennen:
Während die Älteren noch fast ausschließlich auf materielle Werte fixiert sind, zeichnet sich ein beinahe radikaler Bewußtseinswandel bei den jüngeren Altersgruppen ab, der als aufschlußreiches Signal für die künftige Politik gewertet werden muß. Für einen Teil der Jugendlichen wie auch für immer mehr Hochschulabsolventen bedeutet „Karriere", d. h. ein „normaler“ Werdegang oder herkömmlicher Lebensentwurf, nicht mehr das wichtigste, sondern eher freie, private Lebensgestaltung ohne die üblichen Zwänge und Anpassungsprozesse. Eine „Durchschnittsbiographie“ erscheint nicht mehr besonders attraktiv.
Auch in Verhaltensmustern Jugendlicher gegenüber der Politik verdienen einige interessante Beobachtungen Aufmerksamkeit: Eine relativ breite Zustimmung zum demokratischen System der Bundesrepublik Deutschland ergibt sich aus einer positiven Grundeinstellung von ca. 60 bis 70 Prozent (manche Untersuchungen sprechen sogar von 87 bis 90 Prozent), bei deutlich erkennbarer Kritik im einzelnen. Die Zustimmungsquote liegt damit höher als in anderen westlichen Demokratien Die politisch motivierte und fordernde Generation der Studentenbewegung von 1968/69 ist offenkundig von einer Generation abgelöst worden, die zum „Marsch aus den Institutionen“ neigt. 80 Prozent der befragten Jugendlichen waren 1979 mit dem Wirtschaftssystem der Bundesrepublik „im großen und ganzen zufrieden“, 1973 waren es nur 70 Prozent
Auch bei der Einordnung junger Menschen in die bestehende Parteienlandschaft ergeben sich bemerkenswerte Resultate. Auf die Frage, welche politische Gruppierung ihnen alles in allem am nächsten stehe (gefragt wurde also nicht nach einer potentiellen Wahlentscheidung), entschieden sich 24 Prozent der Befragten für die SPD, 20 Prozent für die „Grünen“, 18 Prozent für die CDU/CSU und 6 Prozent für die FDP; auf alle anderen Gruppierungen (DKP, KBW, NPD und Freie Wählervereinigungen) entfielen jeweils weniger als 0, 5 Prozent Zwei Schlüsse lassen sich aus diesen Erhebungen ziehen: „Die Grünen“ verfügen bei den Jugendlichen über große Sympathien, während extrem linke und rechte Gruppen auf keinerlei Resonanz stoßen.
Unmittelbar mit dieser Aussage verknüpft ist die für die Rekrutierung von Reserven für die Friedensbewegung wichtige Frage nach der Bedeutung von Protestbewegungen für die junge Generation. Engagierte Protestbewegungen (und damit sicherlich auch die vielschichtige „Friedensbewegung") stoßen bei den Jugendlichen allgemein, die in ihrer Mehrheit kaum von der offiziellen Politik Notiz nehmen (eine wachsende Zahl geht nicht mehr zur Wahl), auf viel Sympathie. 50 bis 80 Prozent stehen Umweltschützern, Alternativen, Hausbesetzern und Kernkraftgegnern positiv gegenüber Je mehr sich große Teile der jungen Generation von der offiziellen Politik und den sie tragenden Parteien abwenden, desto eindringlicher wird die Suche nach einer anderen Identität.
Vor allem drei Kritikpunkte werden von Jugendlichen gegen „die Politik" immer wieder vorgebracht: Die Unüberschaubarkeit von Politik, Staat und Bürokratie mache es schwierig, verantwortliche Gesprächspartner zu finden; zweitens die Handhabung des Rechts als Mittel zur Durchsetzung der Interessen von politisch und wirtschaftlich mächtigen Einzelpersonen und Gruppen; drittens schließlich die Tatsache, daß die Erwachsenen grundsätzlich die vorhandenen gesellschaftlichen Widersprüche passiv, d. h. als gegeben hinnehmen. Das insbesondere in Protestgruppen verbreitete Gefühl der moralischen Überlegenheit hat hier seine Wurzeln: Nur die nicht angepaßten Jugendlichen seien noch fähig dazu, diese Widersprüche wahrzunehmen und eine besondere Sensibilität für die notwendige Problemlösung zu entwickeln.
Als Hauptwidersprüche werden genannt:
— Steigende Rüstungsausgaben und wachsende Lebensmittelberge einerseits, Hunger und Massenelend in den Entwicklungsländern andererseits;
— radikale Ahndung von Straftaten Jugendlicher (Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung etc.) einerseits, zunehmende „Gesellschaftsfähigkeit" von Wirtschaftsverbrechen andererseits; — Gerechtigkeit und Solidarität sind nur abstrakte Floskeln, während in der Praxis häufig Entscheidungen zugunsten mächtiger Interessengruppen gefällt werden. Miteinzubeziehen in das Spannungsverhältnis zwischen offizieller Politik und größeren Teilen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist das oft diskutierte, aber häufig überschätzte Problem der (auch politisch motivierten) Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen. Auf die durch den Medienkonsum offen zu Tage tretenden Auswahlmechanismen der Massenmedien, ungewöhnliches, der Norm widersprechendes Verhalten gerade von Jugendlichen mit erhöhter Aufmerksamkeit zu „belohnen", wurde bereits hingewiesen. Es ist hinreichend belegt, daß die Medienberichterstattung tatsächliche Vorfälle, bei denen Gewalt praktiziert wird, verzerrt wiedergibt. Gewaltanwendung bei Demonstrationen (Brokdorf, Gorleben, Startbahn West, Hausbesetzungen), in rechtsradikalen Gruppierungen (Wehrsportgruppe Hoffmann, Junge National-demokraten), in der Drogenszene oder in Fußballstadien ist nicht repräsentativ für eine generelle Gewaltbereitschaft. Bei Zusammenstößen mit den Sicherheitsorganen wird das Gesamtbild von jenen kleinen Demonstrationsgruppen bestimmt, die Konflikt und Krawall um fast jeden Preis suchen und dadurch besondere Aufmerksamkeit der begleitenden Medien genießen. Insgesamt kann ein Zusammenhang zwischen dem Ausbleiben von Reaktionen der politischen Institutionen auf gesellschaftliche Fehlentwicklungen, auf die zunächst mit üblichen Mitteln von den Jugendlichen aufmerksam gemacht wurde, und einem Ansteigen der Gewaltbereitschaft hergestellt werden. Jugendliche mit Abitur, Studium oder Hochschulabschluß weisen eine deutlich größere Bereitschaft zu unkonventionellen, ungewohnten Protestformen auf: 20 bis 30 Prozent der besser ausgebildeten sprechen sich — gegenüber 13 bis 17 Prozent der übrigen Jugendlichen — für derartige Aktionen aus; allerdings gilt dies nicht für Aktivitäten, die von Anfang an eine gewaltsame Konfrontation einschließen. Die Notwendigkeit von Gewaltanwendung bejahen nur 3 Prozent der Jugendlichen und 4 Prozent der Studierenden. 92 Prozent der Studenten und 93 Prozent ihrer übrigen Altersgenossen lehnen Gewalt als letztes Mittel der Politik ab (Daten aus der Ursachen-forschung „Terrorismus" des Bundesinnenministeriums
Das Interessengebiet „Frieden, Sicherheit und Abrüstung" stellt für die junge Generation das wichtigste Thema dar (im Gegensatz zur Gesamtbevölkerung, für die Ende 1981 Arbeitslosigkeit und steigende Energiekosten noch bedeutender waren Allerdings nannten in einer INFAS-Umfrage vom Januar 1982 80 Prozent der Bundesbürger die Friedenssicherung als eines der wichtigsten politischen Anliegen; für 67 Prozent hatte die soziale Sicherung Priorität, 58 Prozent hielten die wirtschaftliche Sicherung für wichtiger). In Argumentation und praktischen Verhaltensweisen der Generation unter 25 Jahren lassen sich einige typische Tendenzen erkennen:
— Die aktuelle sicherheitspolitische Auseinandersetzung wird relativ wissensarm geführt (ein Indiz dafür, wie sehr die Themen Frieden und Sicherheit in der Schul-und Ausbildung, aber auch in der öffentlichen Diskussion seit langer Zeit vernachlässigt worden sind).
— Viele jugendliche Diskussionspartner überschätzen, mangels eigener Sachkenntnis, den eigenstaatlichen Handlungsspielraum der Bundesrepublik Deutschland (Folgen des verlorenen Krieges, Bündnisverpflichtungen, wirtschaftliche Abhängigkeit, handels-und währungspolitische Verflechtungen).
— Ablauf und Muster der Debatten mit Jugendlichen lassen deutlich werden, daß militärstrategische Begründungen und Sachinformationen über die westliche und östliche Rüstungspolitik nur sehr schwer vermittelbar sind (interessant ist daher das INFAS-Umfrageergebnis, wonach immerhin 77 Prozent der 17-bis 19jährigen bereit sind, Wehrdienst zu leisten). 2. Der (sozial-) psychologische Hintergrund In der veröffentlichten Meinung sind drei große Motivstränge des gegenwärtigen Protestverhaltens und — als Teil von ihm — der „Friedensbewegung" genannt worden
— Anti-Modernismus (d. h. die Ablehnung der Wachstums-und Wegwerfgesellschaft) — Anti-Nuklearismus (d. h. die Kernkraftgegnerschaft) — Pazifismus (die Ablehnung des Krieges aus religiösen oder ethischen Gründen).
Ob diese ziemlich pauschale Unterteilung der Antriebskräfte von Protest und Verweigerung den Kern trifft oder eine eher willkürliche Etikettierung darstellt, soll zunächst offenbleiben. Hilfreicher erscheint vielmehr eine Aufteilung des jugendlichen Protestverhaltens in Anlässe, Gründe, Zielrichtung und Hintergrundmotive. Zu den Anlässen: Sie können von einer Mittelkürzung für oder Schließung von Jugend-zentren (Zürich, Freiburg, Nürnberg) über Räumungen besetzter Häuser bis hin zu Todesfällen von Gleichgesinnten (Berlin) reichen. Auch Gründe lassen sich fast immer finden: Vietnamkrieg, Notstandsgesetze, Kernkraftwerke, Wohnungspolitik, atomare Rüstung etc.
Ebenso können über die Zielrichtung des aktuellen Protests vor dem Hintergrund bisheriger Beobachtungen recht genaue Aussagen formuliert werden:
Auflehnung und Verweigerung richten sich nicht in erster Linie gegen politische Institutionen und staatliche Organe, gegen das „System" schlechthin (wie zur Zeit der antiautoritären Studentenbewegung von 1968/69, die sich eine umwälzende gesellschaftliche Erneuerung zum Ziel gesetzt hatte). Sie wendet sich auch nicht gegen politische und soziale Grundwertevorstellungen, wie die breite Zustimmung zum politischen und wirtschaftlichen System der Bundesrepublik klar belegt hat, eher gegen die Nichtverwirklichung dieser Grundrechte und Ausgestaltungsgrundsätze. Zielrichtung des Jugendprotestes ist das für den einzelnen jeweils im Alltag unmittelbar Erfahrbare, Erlebte, Nachvollziehbare wie beispielsweise die ständig steigende Umweltbelastung, das Fehlen ausreichender Ausbildungsplätze, die Kürzung von Ausbildungsbeihilfen, die sich in Großstädten ausbreitende Wohnungsnot, der Bau von Kernkraftwerken und Startbahnen, die häufig nicht einsehbare Rodung von Wäldern etc.
Für das Gesamtbild des Protestverhaltens kommt der Frage nach dessen „inneren" Antriebsmomenten, nach dem psychologischen Hintergrund ausschlaggebende Bedeutung zu. Eine erste Analyse des bisher gewonnenen Datenmaterials ergibt ein aufschlußreiches Ergebnis:
Die heranwachsende Generation zeichnet sich heute durch ein früheres körperliches Erwachsenwerden aus, während sich das soziale Erwachsenwerden immer länger hinauszögert. Schulausbildung, Berufsausbildung und Studium dauern immer länger. Die Struktur der Arbeitsplätze legt langjährige Ausbildungsgänge nahe, der Eintritt in eine Erwerbsposition schiebt sich hinaus. Feststellbar ist grundsätzlich eine deutliche Verlängerung des Aufenthalts von Heranwachsenden in pädagogischen Einrichtungen, die auch den Arbeitsmarkt entlastet. Trotz schlechter Berufschancen und Perspektiven streben Schüler und Eltern immer höhere Schulabschlüsse an. Das Motiv hierfür liegt in der Absicht der Betroffenen, einmal generell die Risiken einer Arbeitslosigkeit so weit wie möglich zu vermindern und zweitens angesichts des harten Verdrängungswettbewerbs in sozial herausgehobene Positionen zu gelangen. Logische Konsequenz dieser Entwicklung ist, daß sich der „Schock" des Eintritts ins Arbeitsleben hinausschiebt, dadurch aber nichts von seiner Heftigkeit einbüßt. Im Gegenteil: Zwischen Reife und Erwachsenenleben, zwischen Jugend und Erwachsensein öffnet sich ein immer breiteres Niemandsland. In diese Lücke tritt eine neue, gesellschaftlich geregelte Altersstufe. Immer mehr Menschen treten nach ihrer Jugendzeit als Schüler nicht ins Erwachsensein, sondern in eine Nach-Phase des Jung-seins über. Diesen neuartigen Zeitabschnitt, der das Leben etwa im dritten Lebensjahr-zehnt bestimmt, haben Sozialwissenschaftler als sogenannte „Nach-Jugendphase" (PostAdoleszenz) bezeichnet. Sie umschreibt eine Entwicklung, die sich durch eine soziale, moralische, geistige und kulturelle Verselbständigung der Jugendlichen auszeichnet, ohne jedoch wirtschaftlich schon auf eigenen Beinen zu stehen. Mit anderen Worten: Der junge Mensch von heute ist früher mündig, als selbständige Person an Konsum und Lebensweise der Gesellschaft aktiv teilzunehmen, während er relativ spät durch eigene Arbeit seinen Unterhalt verdient. Damit schrumpft die Zeit des im Elternhaus wohlbehüteten Heranwachsens erheblich zusammen. Die Lösung und Abnabelung vom Elternhaus, die mit dem Eintritt in die „Nach-Jugendphase" verbunden ist, bedeutet für den einzelnen zunächst ein Fallen aus allen sinnvollen, vertrauten Bezügen; Anonymität und Unverbundenheit werden zum erstenmal physisch erfahren und müssen bewältigt werden. Es fehlt das Gefühl der Bestätigung und der verantwortlichen Betätigung.
All diese Gefühle finden sich dann eher zufällig in einer gemeinsamen Aktion gegen etwas wieder (gegen die Kürzung von Ausbildungsbeihilfen, gegen eine Erhöhung der Fahrpreise für öffentliche Verkehrsmittel, gegen eine Erhöhung der Mensa-Preise, gegen die als ungerecht empfundenen Bestimmungen eines Hochschulgesetzes etc.). In einer solchen, von zunächst nur formaler Übereinstimmung gekennzeichneten Gemeinschaft werden jene Gefühle der Zusammengehörigkeit, der Kameradschaft, ja: der „verschworenen Gemeinschaft" und der Soliarität wieder erlebt. Erst in einem derartigen, vielleicht nur äußerlichen Auflehnungsprozeß entstehen Gemeinschaftsgefühle; erst die gemeinsame Betroffenheit erzeugt Solidarität. Hier können Engagement und Kreativität freigesetzt, all jene „Sehnsüchte" artikuliert werden, für die im bürokratisch durchrationalisierten modernen Staat mit seinen Sachzwängen oder an der Massenuniversität mit ihren Verschulungstendenzen und ihrem Normdenken kein Platz mehr ist. Hier lassen sich Kontaktarmut, Vertrauensbarrieren und Namenlosigkeit abbauen. Vor diesem Hintergrund gewinnen die Antriebsmomente für Gewaltanwendung schärfere Konturen. Gewalt — so formulierte die nach den Jugendunruhen in Zürich 1980 vom Schweizer Parlament eingesetzte „Eidgenössische Kommission für Jugendfragen" in ihren „Thesen zu den Jugendunruhen 1980" — gegen außen sei auch „eine irgendwie noch auf Kommunikation ausgerichtete Folge der ... Isolation"
Hinzu tritt für den einzelnen Jugendlichen eine weitere subjektive Erfahrung: Der angebliche Pluralismus unserer Gesellschaft mit seinem Leitwert „Toleranz" ist weitgehend ausgehöhlt. In den meisten für jeden konkret erfahrbaren Lebensbereichen (Rechtsordnung, Wirtschaft, Sozialordnung) wird der Spielraum für individuelle Entfaltung kleiner, das Netz staatlicher Kontrolle dichter. Alles ist zunehmend enger und kleinmaschiger, das „Korsett des Alltags" spürbar geworden. Fazit für die jüngeren Mitbürger: Die Toleranz ist Schein, der Druck echt. Aus dem pluralistischen Gewährenlassen wurde und wird ein Vernachlässigen — in der Familie, zwischen den Generationen, innerhalb der Gesellschaft allgemein. Eng mit diesen Beobachtungen und Erfahrungen verknüpft ist das Phänomen der . Angst“, das nicht nur in den Schlagzeilen von Nachrichtenmagazinen, in Funk und Fernsehen einen herausgehobenen Aufmerksamkeitswert gewonnen hat Demoskopische Klimamessungen vom Juni 1981 erbrachten einen aufschlußreichen Befund
Nur 28 Prozent der befragten Bundesbürger haben Vertrauen zu ihren Mitmenschen (1976 waren es 39 Prozent, 1978 34 Prozent). Eine deutliche Angst vor einer nicht mehr beherrschbaren Technik sowie das Gefühl einer zunehmend fremder werdenden Welt stellen weitere Indizien für eine zunehmende „Ohn-machtserfahrung" dar. Die Folge: Man rückt dichter zusammen; was nicht zum unmittelbaren Erfahrungsbereich gehört, wirkt bedrohlich (Atom-und Neutronenwaffen, Kernkraftwerke etc.). Der Rückzug in den privaten, vertrauten, überschaubaren Bereich erscheint als logische Konsequenz dieser „Fremdheitserfahrung". Sie erzeugt jene verschwommene Angst, die permanent auf Stichworte lauert, welche dann meist von den Medien geliefert werden. . Angst zu haben“ ist für viele Jugendliche und für große Teile der Friedensbewegung zum Erkennungszeichen, zum Ausweis einer besonderen Sensibilität, ja menschlichen Qualität geworden. Der Kirchentag in Hamburg vom Juni 1981 und die Bonner Massendemonstration gegen neue Atomraketen auf deutschem Boden vom 10. Oktober 1981 haben diese Beobachtung eindringlich vermittelt.
Allerdings tut sich hier ein auf den ersten Blick erstaunlicher, durch persönliche Eindrücke und Umfrageergebnis untermauerter Widerspruch auf: Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen fürchten sich nicht in dem Ausmaß, wie sie sich angesichts ihrer Gefährdung durch die angehäuften Atomwaffen-lager eigentlich fürchten müßten. Das Motiv hierfür liefert ein Rückgriff auf die stammesgeschichtliche Entwicklung des Menschen: Das Individum ist von seiner Evolution her darauf eingerichtet, nur die akute, unmittelbare, konkret-persönliche Bedrohung zu fürchten, nicht hingegen die anonyme, nicht konkret erfahr-oder vorstellbare Gefährdung (beispielsweise durch Kernwaffen und die damit verbundenen militärstrategischen Vorstellungsbilder, Risikokalküle und Schadenserwartungen). 3. Antriebsmomente und Inhalte der Jugendunruhen 1980/81
Die für eine Einschätzung der Friedensbewegung wesentliche Fragestellung nach ihrer Entstehungsgeschichte und die sie auslösenden Faktoren und Ereignisse in den sechziger und siebziger Jahren gewinnt erst vor dem Hintergrund einer Untersuchung der Antriebskräfte der Jugendunruhen allgemein deutlichere Konturen.
Eine Auswertung des verfügbaren Datenmaterials läßt auf fünf offenbar ausschlaggebende Ursachen schließen:
— Das Gefühl der Bedrohung der Lebensgrundlagen ist unübersehbar und gipfelt im Empfinden, daß einem „das Wasser bis zum Halse“ stehe. Auf den engen Zusammenhang zwischen pessimistischer Zukunftserwartung einerseits und parallel dazu steigendem Engagement für Protestbewegungen andererseits wurde bereits verwiesen. Der Protest wird offenbar immer mehr zu einer Art Dauerausdrucksform des besser ausgebildeten Teils der Jugend
— Das Vertrauen in den Staat und die etablierten Parteien hat, was die ihnen zugetraute Problemlösungsfähigkeit betrifft, erheblich abgenommen
61 Prozent der bis 21jährigen, 69 Prozent der bis 25jährigen und 64 Prozent der bis 29jährigen halten die Parteien für unfähig zur Problemlösung. 79 Prozent der bis 21jährigen, 86 Prozent der bis 25jährigen und 77 Prozent der bis 29jährigen vertreten die Ansicht, Politiker wüßten nicht mehr, was die Leute denken (deutlicher läßt sich „Bürgerferne“ nicht mehr dokumentieren!). — Für den überwiegenden Teil der Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die das Scheitern der Studentenbewegung von 1968 noch miterlebt haben, ist der sogenannte Marsch durch die Institutionen und damit die angestrebte gesellschaftliche Erneuerung fehlgeschlagen. Deshalb wird der praktischen Entwicklung von alternativen Lebensformen Vorrang eingeräumt. Viele junge Menschen, die sich infolge nur mangelhafter Vertretung ihrer Interessen von Parteien und gesellschaftlichen Verbänden abgewandt haben, „steigen nicht aus“, sondern gar nicht erst ein. Der „Marsch durch die Institutionen" ist zu einem „Marsch aus den Institutionen" bzw. in selbst-geschaffene Institutionen geworden, d. h. zum Weg in eine von der übrigen Gesellschaft weitgehend abgeschlossene und unabhängige Alternativszene. Was die Jugendlichen vor-fänden — so die Shell-Studie. „Jugend ’ 81“ —, diene lediglich als Baumaterial für eine Nebengesellschaft. Diese Tendenz zur „Selbstausschließung" oder „Selbstausgrenzung" von Teilen der jungen Generation vollzieht sich nach soziologischen Erkenntnissen vor allem in vier Formen: in Apathie, in subkultureller Get-tobildung (wie in Berlin), in der Flucht in (Jugend-) Sekten sowie in der bewaffneten Form der Selbstausschließung, dem Terrorismus.
— Die zahlreichen „Mißerfolgserlebnisse“ und „Ohnmachtserfahrungen", die in der Regel jene Teile der jungen Generation hinter sich haben, die Gewalt als politisches Mittel nicht ausschließen, haben bei vielen zu der Erkenntnis geführt, man könne „mit dem Staat“ nicht mehr reden oder verhandeln. Frustration wird somit zum (vorerst inneren) Widerstand.
— Schließlich wird die . Aktion“ zum letzten Mittel gegen die erfahrene „strukturelle Gewalt“ des „Systems“, d. h. gegen die versteinerten, zur Veränderung unfähigen, übermächtig organisierten Institutionen (der von der „kritischen Friedensforschung" geprägte Begriff der „strukturellen Gewalt“ soll hier verstanden werden als die im politischen und sozialen System gleichsam eingebauten Ungerechtigkeiten wie Arbeitslosigkeit, Behandlung von sozialen Randgruppen, fehlende Chancengleichheit etc.).
Das „Nicht-kampflos-Beigeben" und „Sichdurchsetzen-Wollen“ gegenüber dem reform-unfähigen Staat hat, wie Untersuchungen gezeigt haben, einen hohen Stellenwert für die zum Widerstand Entschlossenen und bildet einen wichtigen Bezugspunkt in der Herausbildung einer eigenen Identität (biographische Studien extremistischer Karrieren scheinen dies zu bestätigen)
II. Wichtige politische und soziale Bestimmungsfaktoren für das Aufkommen der „Friedensbewegung" Ende der siebziger Jahre
Nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland wuchs erst etwa ab Mitte der siebziger Jahre langsam aber stetig das Interesse an den Grundlagen westlicher Sicherheitspolitik, die letztlich — und dies wurde nun zusehends auch einer breiteren Öffentlichkeit bewußt — auf der Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen beruht (es wird häufig übersehen, daß dieser Bewußtwerdungsprozeß vor allem die Folge einer Verdrängung und Ablenkung von der atomaren Gefahr in den sechziger Jahren war). Die Motive für diesen Bedeutungswandel sind vielfältig, weisen aber alle einen gemeinsamen Kern auf: Die grundlegende und zunächst widersprüchlich anmutende Erfahrung, daß steigende Leistungen des Wohlfahrtsstaates offenbar nicht mit zunehmender, sondern sinkender Zufriedenheit seiner Bürger einhergingen, bildete einen wesentlichen Beweggrund für immer pessimistischere Betrachtungen der Wirklichkeit, der eigenen Sicherheit und der Zukunft. Die Leistungsfähigkeit von Politik allgemein, ihre Verselbständigung und ihre Grenzen wurden zusehends offenbar
Im Westen begann sich parallel dazu eine wachsende Skepsis über die erreichten Resultate der Entspannungspolitik und Rüstungskontrollverhandlungen 'durchzusetzen. Das militärische Eingreifen der Sowjetunion mittels Hilfstruppen in Afrika 1975/76, das für die Vereinigten Staaten bestürzende Ende des Vietnamkrieges im April 1975 und die ungebremste Aufrüstung der UdSSR auf allen Gebieten ließen die Kritik an einer Fortsetzung des Ost-West-Entspannungsprozesses (vor allem in den USA) unüberhörbar werden In den westlichen Gesellschaften machten sich parallel dazu Zukunftsängste breit; Wirtschaftskrisen und Arbeitslosigkeit färbten das Bild von der Wirklichkeit düster. Ein ausgeprägteres Umweltbewußtsein breitete sich mit und durch die rasch anschwellende Antikernkraftbewegung aus: der Reaktorunfall in Harrisburg (USA) und die deutschen Orte Whyl, Gorleben und Brokdorf wurden zu Symbolen für das Gefühl des Ausgeliefertseins an eine nicht mehr beherrschbare Technik.
Ein weiterer, damit eng zusammenhängender Anlaß für Zukunftspessimismus und Skepsis gerade der jungen Generation jener Zeit lag in der fortschreitenden Schrumpfung der Glaubwürdigkeit der SPD (und FDP) in deren „klassischen" Politikbereichen Friedenssicherung, Entspannung und soziale Erneuerung. Der aus dem Blickwinkel großer Teile der sozialliberalen Wählerschaft und Sympathisanten immer unübersehbarer zu Tage tretende Zwiespalt zwischen Fortschrittsversprechen und Zukunftsperspektiven einerseits und der Wirklichkeit andererseits wurde für viele junge Menschen erstmalig im Alltag erfahrbar. Die Erfahrung, wie weit Versprechen, parteipolitische Programmatik und Realität auseinander-klafften, wie hoch die gesellschaftlichen und die Umwelt belastenden Kosten der „Wohlstandsproduktion" geworden sind, hat das Politikverständnis der jungen kritischen Generation nachhaltig geprägt.
Ebenso wichtig erscheint eine davon nicht zu trennende Beobachtung, die bisher auf nur geringe Aufmerksamkeit gestoßen ist: Alle ein bis zwei Jahrzehnte werden sich immer neue Jahrgänge von Jugendlichen und jungen Erwachsenen schlagartig des Umstandes bewußt, daß die Grundlagen der Sicherheit des eigenen Landes letztlich auf der Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen beruhen. Die „innere“ Verarbeitung dieses Erkenntnisprozesses hinterläßt fast zwangsläufig „Spuren" und wurde bisher immer noch mit Verdrängung bewältigt. Um die Jahreswende 1979/80 trugen dann vornehmlich drei Ereignisse zur Ausbreitung einer wachsenden Kriegsfurcht und zu sich verstärkenden Bedrohtheitswahrnehmungen bei. Die plötzlich gewahrwerdende Erfahrung, sich nach Jahren der Entspannung auf einmal in einer spannungsgeladenen internationalen Situation wiederzufinden, wurde durch die Revolution und Geiselnahme im Iran, die sowjetische Besetzung Afghanistans und die Ankündigung eines gewaltigen Aufrüstungsprogramms durch den neuen US-Präsidenten Reagan, das ohne den häufig ausgeblendeten inneramerikanischen psychologischen Zusammenhang unverständlich bleiben muß, ausgelöst. Die Ereignisse in und um Polen heizten ab Mitte 1980 die internationale Krisensituation noch weiter an.
Erst mit dem NATO-Doppelbeschluß vom 12. Dezember 1979 (der damals mangels zusätzlicher Informationen noch kaum auf eine breite öffentliche Resonanz stieß) und seinen auslösenden Wirkungen auf die sich etwa ab Mitte 1981 herausbildende „Friedensbewegung" wurde dann die Sicherheitspolitik seit den fünfziger Jahren wieder zum beherrschenden, alles andere in den Hintergrund drängenden Thema. Kein außen-und sicherheitspolitischer Themenbereich hat seitdem die politische Szenerie der Bundesrepublik mehr verändert, die öffentliche und veröffentlichte Meinung tiefer gespalten als der Brüsseler „Nachrüstungsbeschluß".
III. Die Grobstruktur der „Friedensbewegung"
Trotz des unübersichtlichen, häufig uneinheitlichen und aus den unterschiedlichsten Quellen gespeisten Erscheinungsbildes, das diese Protestbewegung in der Öffentlichkeit von sich vermittelt, und der schon beschriebenen Schwierigkeit bei der Ermittlung jener Gruppierungen und Einzelpersonen, die sich mit ihr identifizieren, lassen sich in ihrer Zusammensetzung drei große Gruppen erkennen, die allerdings untereinander nicht immer klar ab-grenzbar sind: — die Linken — die Christen — die Alternativen. • Innerhalb der gesamten Friedensbewegung wie innerhalb ihres linken Flügels bilden die moskautreuen Kommunisten (die DKP und ihre Nebenorganisationen wie die „Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend" — SDAJ — und der „Marxistische Studentenbund Spartakus“ — MSB —) die größte geschlossene und aktivste Gruppierung.
Politisch dürfte das Gewicht des linken Zweigs der Bewegung insgesamt erheblich sein, da er unmittelbar in die Bonner Regierungsparteien hineinwirkt. Dies betrifft vor allem Mitglieder von SPD und FDP, Jungsozialisten und Jungdemokraten, viele Gewerkschafter sowie die DGB-Jugend (mit insgesamt über 1, 4 Millionen Mitglieder die größte deutsche Jugendorganisation).
Zum linken Spektrum gehören weiterhin Kriegsdienstverweigerer (seit 1974 organisiert in der „Deutschen Friedensgesellschaft — Vereinigte Kriegsdienstgegner", DFG-VK), die der SPD nahestehende „Sozialistische Jugend Deutschlands — Die Falken“, die Naturfreundejugend Deutschlands, ferner von der DKP beeinflußte Organisationen wie die „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes — Bund der Antifaschisten (WN-BdA)", die 1960 ge27 gründete „Deutsche Friedens-Union (DFU)" und das 1974 als „wichtiges Organ zur Koordinierung der kommunistischen Abrüstungskampagne" (so der Verfassungsschutzbericht 1980 der Bundesregierung) ins Leben gerufene Kölner „Komitee für Frieden, Abrüstung und Zusammenarbeit (KFAZ)". Alle drei „beeinflußten Organisationen" unterstützten neben anderen orthodox-kommunistischen Gruppierungen die Unterschriftenaktion für den soge-nannten Krefelder Appell vom November 1980 Aufruf zur Bonner Friedensdemonstration am 10. Oktober 1981 haben sich 760 überwiegend demokratische Gruppen, daneben etwa 80 der „alten" und „neuen" Linken angeschlossen
Die konfessionelle Hauptgruppierung der Friedensbewegung, die Christen, läßt sich als die engagierteste pazifistische Fraktion charakterisieren. Ihre wichtigsten Grundsätze (Gewaltfreiheit, ziviler Ungehorsam) haben auch die beiden anderen Lager der Bewegung beeinflußt.
Auf protestantischer Seite haben sich vier Initiativen gebildet:
— „Christen für die Abrüstung“ (gegründet 1976 von Pastor Konrad Lübbert, Uetersen, dem Vorsitzenden des „Versöhnungsbundes e. V.“, eines von insgesamt 15 Mitgliedern der . Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden e. V.", AGDF).
— „Ohne Rüstung leben" (ins Leben gerufen 1978 in Stuttgart von Pfarrern und Laien vorwiegend aus dem südwestdeutschen Raum).
— „Sicherung des Friedens" (eine auf militärischer Friedenssicherung basierende Gegenbewegung zur vorstehenden Aktion, initiiert im Juli 1980 von dem Pfarrer und Journalisten Eberhard Stammler, Stuttgart, und dem gleichnamigen Arbeitskreis, dem u. a.der Strategie-forscher Wolf Graf von Baudissin und der Politikwissenschaftler Kurt Sontheimer angehören). — „Frieden schaffen ohne Waffen" (unter diesem Motto im November 1980 und 1981 durchgeführte Friedenswochen, veranstaltet von der 1958 gegründeten . Aktion Sühnezeichen/Friedensdienst e. V.“ und der aus 14 weiteren Mitgliedern bestehenden . Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden e. V.“). Katholische Christen haben sich in der 1944 in Frankreich gegründeten Weltfriedensbewegung „Pax Christi“ organisiert und beteiligen sich vor allem mit ihrer ausführlichen Plattform „Abrüstung und Sicherheit“ vom November 1980 aktiv an der Arbeit der Friedensbewegung nicht nur in der Bundesrepbulik. Auch der „Bund der Deutschen Katholischen Jugend“ (650000 Mitglieder) hat sich mit einem Positionspapier über „Frieden und Gerechtigkeit" vom Mai 1981 an die Öffentlichkeit gewandt.
Eine überkonfessionelle Arbeitsgruppe „Schritte zur Abrüstung", der zehn Friedens-forscher, Journalisten und Geistliche angehören, schaltete sich im Mai 1981 mit einem detaillierten, aus drei ausgewählten Schritten bestehenden Abrüstungsvorschlag in die Diskussion ein und griff dabei Grundgedanken der „Pax Christi'-Plattform auf. Ziel der Gruppenarbeit ist es, einen Handlungskonsens zwischen den verschiedenen kirchlichen Abrüstungsinitiativen zu ermöglichen.
Die dritte Säule der Friedensbewegung bilden die sogenannten „Alternativen". Trotz der vielfältigen Strömungen innerhalb dieser Gruppierung verstehen sie sich als Gruppierung, die sich Freiräume in bzw. „neben" der Gesellschaft erkämpft hat und aus dem Bewußtsein moralischer Überlegenheit ihre radikale Konsum-und Fortschrittskritik vorträgt sowie eigene alternative Lebensentwürfe praktiziert. Dieser Kategorie lassen sich landes-und bundesweit „Die Grünen", der „Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz" (BBU), die „Alternativen (bzw. Bunten) Listen" sowie Arbeitsgemeinschaften, Aktionskomitees und Initiativen zuordnen, die sich vor allem mit der Dritten Welt, mit der Abschaffung der Kernenergie und mit Umweltfragen beschäftigen. Hinzu kommen u. a. noch Vertreter der Frauenbewegung („Frauen für den Frieden“) und der Landkommunen-Bewegung.
IV. Einige wesentliche Charakteristika der „Friedensbewegung"
Viele Erscheinungsmerkmale der Jugendprotestwelle belegen, daß es sich bei den Problemen, die von Jugendlichen aufgegriffen und diskutiert werden, nicht um spezielle Jugendprobleme, sondern um Probleme handelt, vor die sich die gesamte Gesellschaft gestellt sieht. Die Grenzen des Wachstums, Arbeitslosigkeit, die Entwicklung in den Städten, aber auch die Existenzfragen nach Friedenserhaltung, Sicherheit und Abrüstung stellen heute nicht nur gesamtgesellschaftliche Grundinhalte der öffentlichen Diskussion dar, sondern bilden Anlässe einer konkret erfahrbaren Betroffenheit jedes einzelnen. Deshalb erscheint es auch verständlich, warum die Fülle von Aktivitäten, die unter dem Sammelbegriff „Friedensbewegung" zusammengefaßt werden, ihren Ausgang nicht an den Hochschulen (wie 1968) nahmen, sondern vorwiegend in der Alternativszene, in kirchlichen und politisch-sozialen Gruppierungen, die einen erheblichen Teil der Bevölkerung repräsentieren.
Als wichtige Stichwortgeber, Multiplikatoren und eher fachlich-konzeptionelle Berater spielen „kritische“ Friedens-und Strategieforscher (wie der Starnberger Friedensforscher und ehemalige Stabsoffizier der Bundeswehr, Alfred Mechtersheimer, auf den sich fast alle Teile der Bewegung berufen) eine wesentliche Rolle. Für sie ist der politische Einfluß und die Ausstrahlung der Atomwaffengegner eine Grundvoraussetzung, gleichsam ein Vehikel für die Entstehung und Fortführung einer breiten öffentlichen Diskussion alternativer Sicherheitsmodelle, die bisher nur in Universitätsseminaren und abgeschlossenen Expertenzirkeln debattiert wurden.
Welche typischen Wesensmerkmale zeichnen nun die Friedensbewegung insgesamt aus?
Vor dem Hintergrund des bereits Gesagten fallen insbesondere sechs Kennzeichen auf:
a) Einmal das offene Bekenntnis zur Angst als besonderes Privileg, als Ausdruck einer herausgehobenen menschlichen Qualitiät und Sensibilität, die Bewußtmachung und emotionale Artikulierung der eigenen Zwänge, „Angst haben“ als Symptom für ein noch funktionierendes Menschsein, als persönlicher „Selbstreinigungsprozeß“ inmitten einer den Problemen der Außenwelt stumpf und teilnahmslos gegenüberstehenden, angepaßten Gesellschaft. Daß sich der darin zum Ausdruck kommende moralische Absolutheitsanspruch in Diskussionen mit Vertretern herkömmlicher Auffassungen häufig als Intoleranz zu erkennen gibt, ist kein Widerspruch, sondern die logische Konsequenz des radikal ethischen Antriebes, der eine grundsätzlich andere Politik fordert, in welcher „Sachzwänge“ nicht akzeptiert werden und der Mensch als Subjekt im Mittelpunkt zu stehen habe.
b) Charakteristisch für die Bewegung und ihr Selbstverständnis ist auch der bewußte Einsatz der Emotion, des Gefühls, gleichsam als „Waffe" gegen die „technokratische Rationalität“ der herrschenden Militärs, Sicherheitspolitiker und deren Bürokratien. (Sicherheits-) Politik allgemein gilt als bloßgestellt, ihre rationale Logik wird abgelehnt, weil sie die Erde ruiniere (Umweltkatastrophen, Rohstoffausbeutung, Verelendung, Aufrüstung) und Kriegsverhütung zu versagen drohe. Rationale Kalküle könnten letztlich nicht funktionieren, politische Denkkategorien seien deshalb untauglich. Der Pädagoge Bernhard Sutor hat die tiefe Skepsis gegenüber verteidigungspolitischen Rechtfertigungen auf eine einprägsame Formel gebracht: „Wenn man liest, wie ein instrumentelles Denken Overkillkapazitäten berechnet, Zielplanungen zur Installation von Atomraketen vornimmt und in Denkspielen die Steigerungsstufen eines atomaren Krieges simuliert, dann packt einen das Grauen. Wer darüber nachdenkt, soll dies aushalten oder gar rational bewältigen und sich damit abfinden?" (Allerdings hat sich innerhalb der Friedensbewegung eine deutlich erkennbare „Gegenexpertokratie“ herausgebildet, die ebenfalls fast ausschließlich militärstrategisch argumentiert und sich damit auf das gleiche Feld fragwürdiger und letztlich unpolitischer „technischer Beweisführung" begibt wie die praktische Sicherheitspolitik
c) Typisch für die Bewegung ist ferner die Spontanität vieler ihrer Aktivitäten, die frei-willig und aus eigenem inneren Antrieb entstehen. Aktionen sind nicht das Ergebnis langer theoretischer und ideologischer Diskussionen, die in zentral gelenkten gemeinsamen Organen geführt werden, sondern entspringen eher subjektiven, individualistischen Antrieben und Erfahrungen. d) Ein weiteres Wesensmerkmal verdient ebenso Aufmerksamkeit: Von Politikern und Parteien erheblich unterschätzt wird die moralisch motivierte Bereitschaft und Entschlossenheit des weitaus größten Teils der Bewegung, mit allen gewaltfreien Mitteln gegen die Stationierung neuer Atomwaffen auf deutschem Boden und die entsprechenden Vorbereitungen vorzugehen. Vor allem konfessionelle Gruppen wie die „Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste" lassen an ihrer Absicht, alle friedlichen Mittel der Ver-und Behinderung, des zivilen Ungehorsams und der systematischen Verweigerung auszuschöpfen, keinen Zweifel (ein bereits in einer Auflage von über 40 000 Exemplaren erschienenes „Aktionshandbuch" dokumentiert dies anschaulich Vermutlich werden von den politisch Verantwortlichen auch Umfang und Auswirkungen des gesamten herangewachsenen Protestpotentials unterschätzt: Allein 10 bis 15 Prozent der Jugendlichen und jungen Erwachsenen zählen zur alternativen Szene, d. h. stellen ein nicht integrierbares, alternatives Spektrum dar; bei den Hochschülern liegt der Anteil der Alternativkultur-Studenten bei 11, 9 Prozent. Das Wählerpotential der „Grünen" wird sogar auf 15 bis 20 Prozent geschätzt e) Das fünfte Charakteristikum besteht in der ausgeprägten Skepsis großer Teile der Friedensbewegung vor der sogenannten „Integrationsfalle", in die die Studentenbewegung von 1968 mit ihrem „Marsch durch die Institutionen" geraten sei. Die Befürchtung, wie damals die Außerparlamentarische Opposition von den etablierten Parteien erneut in „soziale Kontrolle" genommen, d. h. in überkommene Willensbildungsstrukturen eingepaßt zu werden und damit an entscheidender Ausstrahlungswirkung und Dynamik zu verlieren, läßt sich fast beliebig oft nachweisen. Nachdem der „Marsch durch die Institutionen" gescheitert ist, hat der Marsch in selbst geschallene, überschaubare Lebensbereiche Vorrang. Der Wunsch, „unter sich“ zu bleiben, eigene Identität durch Rückgriff auf einen „begrenzten" Erfahrungsbereich zu gewinnen, ist das Leitmotiv, nicht eine Wiederbelebung der nationalen Frage!
f) Schließlich zeichnet sich die Friedensbewegung durch ein weiteres Charakteristikum aus: Sie stellt, wie gezeigt wurde, keine isolierte Minderheit dar, sie ist keine politische Eintagsfliege. Ihr Gedankengut, Selbstverständnis und Teile ihrer Lebenspraxis finden sich bei einer wachsenden Zahl von Bundesbürgern wieder. Schon der erneut aufgebrochene Ost-West-Konflikt sorgt dafür, daß der Streit um Frieden, Verteidigung und Rüstung auf der Tagesordnung bleibt und die entfachte Diskussion kaum verstummen dürfte. Das „Überlebenwollen" und „Lebenkönnen 11 als subjektiv wahrgenommene absolute Werte gerade für junge Menschen akzeptiert keine verteidigungspolitischen Begründungen und wischt jede nur militärstrategische Rechtfertigung beiseite. Widerstand gegen die traditionelle Sicherheitspolitik, Opposition gegen Atomwaffen und Zweifel an der nuklearen Abschreckung werden schon heute in weit größerem Ausmaß geteilt und selbst empfunden als noch vor einem Jahrzehnt.
Zweifel sind angebracht, ob die Parteien diese Herausforderung und ihre weitreichenden politischen wie psychologischen Auswirkungen bisher voll erkannt haben, geschweige denn die Problemsicht der jüngeren Generation, die in der „Friedensbewegung" zum Ausdruck kommt, nachvollziehen können. Eine auf Glaubwürdigkeit und Vertrauen beruhende, offen und engagiert geführte Sachdiskussion, die praktische, überzeugende Lösungsmöglichkeiten anbietet, ist zumindest im Augenblick nicht einmal in Ansätzen erkennbar. Taktische parteipolitische Manöver und Verdrängungsprozesse sind nach allen Erfahrungen keine hilfreichen Maßnahmen gegen Skepsis, Mißtrauen und tiefgreifende Entfremdung. Die gegenwärtige Situation verlangt zwingend die Entwicklung einer gemeinsamen politischen Perspektive von Friedensbewegung einerseits und praktischer Friedenspolitik andererseits.
Günther Schmid, Dr. phil., M. A, geb. 1946; Studium der Politischen Wissenschaft (Internationale Politik), Neueren Geschichte und des Staatsrechts an der Universität München; seit 1975 Wissenschaftlicher Assistent und Lehrbeauftragter für internationale Politik am Seminar für Internationale Politik des Geschwister-Scholl-Instituts für Politische Wissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München. Veröffentlichungen u. a.: Politik des Ausverkaufs? Die Deutschlandpolitik der Regierung Brandt/Scheel, München 1975 (2. Auflage 1979); Beiträge in: Gottfried-Karl Kindermann (Hrsg.), Grundelemente der Weltpolitik. Eine Einführung, München 1977 (Neuauflage 1981); Entscheidung in Bonn. Die Entstehung der Ost-und Deutschlandpolitik 1969/70, Köln 1979 (2. Auflage 1980); Some Notes on the Foreign Policy Decision-Making Process in the West German Government, in: The Shaping of West European Foreign Policies, edited by Wilfrid L. Kohl and David Detweiler (Research Institute of The John Hopkins University Bologne Center), Occasional Paper No. 25, July 1979; Henry Kissinger und die deutsche Ostpolitik. Kritische Anmerkungen zum ost-und deutschlandpolitischen Teil der Kissinger-Memoiren, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 8/80 vom 23. Februar 1980; Dtente: Entspannung oder Spannungsverminderung?, in: Europäische Wehrkunde, München, XXX. Jahrgang, Heft 7, Juli 1981.
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