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Aktuelle Probleme des Bildungswesens in den achtziger Jahren | APuZ 47/1982 | bpb.de

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APuZ 47/1982 Aktuelle Probleme des Bildungswesens in den achtziger Jahren Die Oberstufenreform — ein Zankapfel der Bildungspolitik Aspekte einer „arbeitnehmerorientierten Wissenschaft". Die Bildungsarbeit als Wegbereiter einer Kooperation von Arbeitnehmern und Wissenschaft

Aktuelle Probleme des Bildungswesens in den achtziger Jahren

Hans-Joachim Kornadt

/ 32 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Das Bildungswesen der Bundesrepulik hat seit den sechziger Jahren eine Reihe tiefgreifender Wandlungen erfahren. Aus den eingetretenen Veränderungen — ursprünglich eingeleitet unter Zielsetzungen wie „Abwendung der Bildungskatastrophe" und „Chancengleichheit" — sowie gewandelten Rahmenbedingungen hat sich nun eine Reihe von Problemen für die achtziger und neunziger Jahre ergeben. Sie reichen von den Lehr-und Forschungsbedingungen der Massenuniversität, den schwieriger gewordenen Beziehungen zwischen Bildungs-und Beschäftigungssystem über die Verschlechterung der Chancen des wissenschaftlichen Nachwuchses und der Forschungslage bis hin zu den Zielen von Ausbildung und Erziehung, dem hier zugrundeliegenden Menschenbild und zur Integration der Jugend in die Gesellschaft. Es wird allmählich immer deutlicher, daß Bildungspolitik um so mehr mit dem Risiko unabsehbarer Neben-und Folgewirkungen behaftet ist, je tiefer und abrupter die Änderungen sind, die die Politik in diesem komplizierten sozialen Gefüge vornimmt, aber auch je mehr das Bildungswesen zum Instrument für andere politische Ziele wird.

I. Einführung

Pas deutsche Bildungswesen galt lange Zeit als hervorragend; nicht nur nach unserer eigenen Meinung — auch im internationalen Urteil war das so, ja in vieler Hinsicht war es sogar vorbildlich für andere. Güte und Leistungsfähigkeit unseres Bildungswesens wurden lange Zeit nicht ernsthaft in Zweifel gezogen: weder die Volksschulen mit der anschließenden dualen Ausbildung in Berufsschule und Lehre, noch das Gymnasium und am allerwenigsten die Universität. Deutsche Volks-und vor allem Gewerbeschulen dienten z. B.

schon früh als Vorbild für ähnliche Einrichtungen in einer Reihe von Entwicklungsländern;

das von Humboldt geprägte Gymnasium beeinflußte die Schulen in anderen europäischen Ländern, und es war eine Zeitlang Vorbild für Japan. Und die beiden Länder, deren wissenschaftliche und technische Leistungen uns heute wohl die größte Achtung abnötigen, nämlich die USA und Japan, haben seinerzeit ihre Universitäten nach deutschem Vorbild gestaltet. Die deutsche, von Humboldt geschaffene Universität galt als vorbildlich wegen ihrer hervorragenden wissenschaftlichen Leistungen, ihrer Forschungsorientiertheit und ihrer Freiheit als der Voraussetzung für diese Leistungen. Freiheit war dabei die Freiheit des Professors, seinen Forschungsgegenstand selbst zu bestimmen, und die Freiheit des Studenten, seine Professoren, den Gegenstand des Studiums und den Studienort frei zu wählen; Freiheit war für beide auch die Freiheit von nicht-wissenschaftlichen Einengungen, d. h. von weltanschaulichen, wirtschaftlichen und praktischen Erwägungen.

Dieses Bildungswesen hat in seiner Grundstruktur bis in die sechziger Jahre bestanden, einige Deformierungen während der NS-Zeit ausgenommen. Seit etwa 15 Jahren jedoch hat es tiefgreifende Änderungen erfahren. Mit den beiden Stichworten „Bildungsnotstand“ und „Chancengleichheit" läßt sich wohl die Motivation für diese Änderungen am einfachsten beschreiben.

Unter dem Schlagwort „Bildungsnotstand" waren dabei Bemühungen zu verstehen, die auf eine Leistungssteigerung durch Expansion des bestehenden Bildungswesens gerichtet waren — nicht eigentlich auf eine grundlegende Strukturänderung, obwohl diese, wie wir später sehen werden, zumindest im Hochschulwesen eine unausweichliche Folge sein würde; von der Intention her war sie aber wohl eine nicht beabsichtigte Nebenwirkung.

Das Schlagwort „Chancengleichheit" dagegen bezeichnet Bestrebungen, die sich letztlich nicht auf das Bildungswesen selber richteten, sondern darauf, über Änderungen im Bildungswesen gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken. Hierin flossen alle möglichen Ideen zusammen, z. B. mehr Gerechtigkeit für die unteren sozialen Schichten herzustellen durch eine stärkere Bildungsbeteiligung und letztlich dann durch Einkommensangleichung und „Privilegienabbau", oder Ideen der antiautoritären Erziehung und der Emanzipation, nach denen die Rolle von Autoritäten, von Disziplin-und Leistungsforderungen als etwas Reaktionäres und Repressives gesehen wurde.

Dies alles verdichtete sich zu mannigfachen Bemühungen der Bildungsreform, die schließlich das gesamte Bildungswesen erfaßt und verändert hat, vom Kindergarten bis zur Universität, oder — wenn man so will — von der Vorschule bis zur Gesamthochschule. Zusammen mit den Rahmenbedingungen der Wirtschaft, allgemeiner Geistesströmungen und der Bevölkerungsentwicklung hat sich daraus die gegenwärtige Lage des Bildungswesens ergeben. Und aus ihr wiederum ergeben sich Probleme, denen wir uns in den achtziger Jahren und darüber hinaus gegenübersehen. Einige dieser Probleme möchte ich vorweg schlagwortartig aufzählen: — Probleme der „Überproduktion" einerseits und der „Überkapazität" andererseits, damit sind verbunden erhebliche Nachwuchsprobleme; — qualitative Probleme als Folge der quantitativen Expansion; — ein Zielkonflikt zwischen Gleichheit einerseits und Differenzierung andererseits; — Probleme der Erhaltung des Leistungsniveaus mit der Frage, ob eher Schulstreß und Prüfungsdruck oder Leistungsschwache vorherrschen; — das Problem der Akademisierung des Bildungswesens und der Bildungsinhalte; — Erziehungsprobleme — oder vielleicht sollte ich besser sagen: deren Vernachlässigung; — und als letztes, aber vielleicht wichtigstes das der Entfremdung der Jugend von der übrigen Gesellschaft.

Um diese Probleme zu verstehen, müssen wir einen Blick auf den gegenwärtigen Zustand und seine Entwicklung werfen. Da ich die Bildungsreform erwähnt habe, möchte ich betonen, daß natürlich nicht alles deren beabsichtigte Folge ist, schon gar nicht von allen beabsichtigt. Das gilt für die positiv zu beurteilenden Entwicklungen ebenso wie für die eher problematischen. Manche Veränderungen waren tatsächlich gewollt, wenngleich in ihrer Zielsetzung fast nie unumstritten; manches hat sich als unbeabsichtigte Nebenwirkung er. geben, wobei auch diese wieder von einigen vorhergesehen und befürchtet worden waren während andere die Möglichkeit ihres Eintre. tens bestritten haben. Und schließlich sind unabhängige Entwicklungen eingetreten, die mit dem Bildungswesen nichts zu tun haben, wie Bevölkerungs-und Wirtschaftsentwicklung; oder manche Entwicklungen haben sich sozusagen verselbständigt, wenngleich vielleicht beides nicht völlig unvorhersehbar gewesen sein mag und daher auch früher hätte beachtet werden können.

So notwendig eine solche Lagebestimmung und Vorausschau auch ist, beides könnte hier jedoch nur unvollkommen erfolgen. Um ein vollständiges Bild vom Bildungswesen und seinen Problemen zu geben, müßte man nicht nur weit ausholen, sondern es fehlt mir auch die Kompetenz dazu; denn das hieße auch näher auf die Verflechtung mit den anderen Bereichen der Gesellschaft einzugehen. Ich werde mich hier daher nur auf einige der genannten Bereiche beschränken.

II. Die quantitative Entwicklung und die daraus erwachsenden Probleme

Als Picht 1964 den Bildungsnotstand proklamierte, handelte er unter dem Eindruck eines fast hoffnungslosen quantitativen Leistungsdefizits unseres Bildungswesens. Dieses würde bei weitem zu wenig qualifizierten Nachwuchs hervorbringen, ohne den im technischen Zeitalter keine Gesellschaft überdauern könne. Er fürchtete, Deutschland würde „hinter der internationalen Entwicklung der wissenschaftlichen Zivilisation" in verheerender Weise Zurückbleiben -Indikator dafür und zugleich Angelpunkt seiner Argumentation war für ihn die Abiturientenzahl, die er viel zu niedrig fand.

Um diese Zahl zu erhöhen, seien auch viel mehr Lehrer nötig, und um das zu ermöglichen und um darüber hinaus den sonstigen Bedarf an Akademikern zu decken, forderte Picht, die Abiturientenzahlen müßten mindestens verdoppelt werden. Er hielt das zwar kaum für möglich und sagte daher wörtlich: „Wenn (dazu) alle Kräfte sich zusammenschließen, so kann unser vom Ruin bedrohtes Bildungswe-sen vielleicht in letzter Stunde noch gerettet werden." Seinem mit solchem Nachdruck und mit dem Schlagwort der Bildungskatastrophe in die Öffentlichkeit getragenen Appell war es nun tatsächlich zu verdanken, daß die Bildungspolitik Ende der sechziger Jahre Aktualität und hohe Priorität erhielt. Das führte zur Bildungswerbung, zur Steigerung der Investitionsmittel und zu Gesetzen zur Hochschulbau-und Ausbildungsförderung, für die z. T. sogar Grundgesetzänderungen vorgenommen wurden.

Sehr schnell erhöhten sich dann die Schüler-, Abiturienten-und Studentenzahlen. Sehr bald aber wurde diese Welle, einmal in Bewegung gekommen, noch einmal überhöht durch die erwähnte gesellschaftliche Schubkraft der mit dem Schlagwort „Chancengleichheit" verbundenen Ideen. Viele Eltern, die vorher nie daran gedacht hatten, veranlaßten nun ihre Kinder, den Weg zu Abitur und Studium einzuschlagen, ja, sie fühlten sich, wenn es nur halbwegs aussichtsreich schien, dazu . geradezu moralisch verpflichtet. Es war eine Zeit des Aufbruchs und großer Hoffnungen für viele.

Der Erfolg war unerwartet: Die von Picht kaum für möglich gehaltene Verdoppelung der Abiturientenzahlen war bereits sechs Jahre später, nämlich 1971, erreicht, und bis heute hat sich ihre Zahl noch einmal verdoppelt: Die Zahl der Studenten ist von 1960, wo sie rund 300 000 betrug, auf rund 500 000 im Jahre 1970 und bis heute auf etwa 1 Million angestiegen, und sie steigt noch immer weiter. Bezieht man diese Entwicklung auf die Altersgruppe, so hat sich der Prozentsatz von Stu-, dienanfängern an wissenschaftlichen Hochschulen von vier auf 15% erhöht. Ein noch realistischeres Bild ergibt sich, wenn man auch die Fachhochschulen mit einbezieht, deren Absolventen ja nun auch das Diplom erwerben. Dann lauten die Prozentzahlen 1952 6% und heute 20% der Altersgruppe.

Ich habe absichtlich mit Pichts Bildungskatastrophe begonnen und mit den Forderungen, die er nur unter alleräußerster Anstrengung für vielleicht realisierbar hielt, um deutlich zu machen, welche gewaltigen Leistungen unserer Gesellschaft aus diesen Zahlen sprechen. Ihre ganze Aussagekraft werden diese Zahlen freilich nur dem erschließen, der sich im einzelnen vorzustellen vermag, was alles diese Expansion ermöglicht hat: welche Stellen, Gebäude und Einrichtungen geschaffen werden mußten, welche finanziellen und vor allem auch persönlichen Leistungen dazu erforderlich waren; aber auch welche überlast Professoren und Studenten gegenwärtig gemeinsam ertragen müssen, obwohl seit 1964 18 neue Universitäten, sechs Gesamthochschulen und zwei medizinische Hochschulen hinzugekommen sind.

Bevor wir uns mit den Konsequenzen befassen, die sich aus dieser Entwicklung für die achtziger Jahre ergeben, möchte ich den Blick noch auf drei Sachverhalte lenken, die als problematischeFaktoren in diese Entwicklung eingingen:

Das erste Problem sind Unzulänglichkeiten der Ausgangsbasis, von der Picht bei der Proklamierung des Bildungsnotstandes ausging. Picht hatte offensichtlich übersehen, daß bereits seit etwa 1952 die prozentualen Abiturienten-und Studentenzahlen ständig und kräftig angestiegen waren — bis 1960 bereits um 76 Prozentpunkte — und daß zwischen 1960 und 1965 nur eine scheinbare Stagnation eingetreten war, nämlich nur der absoluten Zahlen, nicht aber des Prozentsatzes des Jahr-ganges,weil die Geburtenrate in den Kriegsjahren zurückgegangen war. Und wenn schon sechs Jahre später die Abiturientenzahlen verdoppelt waren, mußten — bei neunjähriger Gymnasialzeit — die Schüler ja auch schon in den unteren Klassen der Gymnasien gewesen sein. Das bedeutet, daß die Zunahme der Bildungsbeteiligung nicht erst durch Pichts dramatischen Appell hervorgerufen, sondern daß ein ohnehin schon vorhandener Trend verstärkt wurde.

Das zweite Problem ist die schon erwähnte gesellschaftspolitische Motivation: Es besteht m. E. darin, daß Veränderungen im Bildungssystem vorgenommen wurden nicht primär oder jedenfalls nicht allein aufgrund einer Analyse mangelnder Leistungsfähigkeit des Bildungssystems selber, sondern daß das Bildungssystem als ein Instrument zur Erreichung anderer, gesellschaftspolitischer Ziele diente. Natürlich ist das nicht völlig unberechtigt, weil ja tatsächlich bis zu einem gewissen Grade durch die Schulbildung auch die spätere soziale und berufliche Position des einzelnen bestimmt wird. Sie wird aber niemals nur allein durch sie bestimmt. Es hat immer auch den Bewährungsaufstieg im Beruf gegeben.

Mit der Wahl des Bildungswesens, und das heißt de facto des Gymnasiums und der Hochschule, als Instrument der Gesellschaftspolitik ist gegenüber der Bewährung und dem Aufstieg im Beruf der Wert der formalen und insbesondere akademischen Bildung im öffentlichen Bewußtsein besonders und, wie ich finde, übermäßig verstärkt worden, übermäßig vor allem deshalb, weil die überwiegend theoretische Bildung durchaus nicht in allen Bereichen der lebenspraktischen überlegen ist und weil die Leistungen und Möglichkeiten anderer Einrichtungen — wie z. B.der Berufs-und Berufsaufbauschulen oder der Volkshochschulen — darüber vernachlässigt wurden (und werden). Die Besonderheiten und Möglichkeiten, die gerade das deutsche Bildungswesen auszeichnen, sind damit nicht genutzt, vielleicht auch verkannt und sicher inzwischen in ihrer Bedeutung gemindert worden, übermäßig besonders auch deswegen, weil das zentrale Konzept der Chancengleichheit höchst vieldeutig ist und auf unterschiedliche Wertprinzipien gegründet werden kann, die widersprüchlich sind: Denn je nachdem, ob man Gerechtigkeit nach dem Prinzip „Für alle das Gleiche" oder nach individueller Bedürftigkeit oder nach individueller Anstrengung und Verantwortung herrschen lassen will, kommt man zu verschiedenen und unvereinbaren Schlußfolgerungen. Die plakative Verwendung des Schlagwortes „Chancengleichheit" zur Begründung bestimmter Forderungen hat dieses Sachproblem eher verdunkelt und dadurch dem Meinungsstreit um die Bildungsreform eine unnötige und unsachliche Schärfe gegeben.

Das Dritte ist schließlich, daß die Veränderungen im Bildungswesen kompliziertes soziales Eingriffe in ein höchst System darstellen, das weit davon entfernt ist, in seinen Wechselwirkungen völlig übersehbar und lenkbar zu sein. Dennoch wurden viele tiefe Eingriffe gleichzeitig vorgenommen, quantitative, qualitative und organisatorische Veränderungen und solche der Randbedingungen, und zwar aus meist recht unzureichender Begründung. Bei derartigen Voraussetzungen sind unvorhersehbare Folgen und Nebenwirkungen geradezu sicher zu erwarten. Wäre unter diesen Umständen aber nicht ein behutsameres Vorgehen das einzige gewesen, das man wirklich hätte verantworten können?

Welches sind nun die Probleme, die aus dieser Entwicklung für die achtziger Jahre resultieren?

1. Das erste Problem ergibt sich daraus, daß fast gleichzeitig mit dem Proklamieren des Bildungsnotstandes eine dramatische bevölkerungspolitische Entwicklung eingetreten ist, nämlich der ungeheure Geburtenrückgang auf weniger als die Hälfte der Geburten von 1967. Dies ist eine Veränderung, die auf die Dauer einen Substanzverlust des gesamten Volkes bedeutet, dessen Ausmaß wir uns heute kaum vorstellen können.

Der erste Bereich der Gesellschaft, in dem sich diese Entwicklung auswirkt, ist natürlich das Bildungswesen. Es läßt sich leicht ein Mißverhältnis voraussehen zwischen dem jetzt erreichten Ausbaustand und dem Bedarf für Jahrgänge, die nur noch halb so stark sind. In den Grundschulen ist das längst spürbar.

Für die Universitäten ergibt sich das Problem, daß in den nächsten Jahren noch immer steigende Studentenzahlen zu erwarten sind, aber eine Kapazitätserweiterung trotzdem nicht mehr zu verantworten ist, weil schon jetzt ein massiver Rückgang der Studienanfänger für Ende der achtziger Jahre absehbar ist. Wir werden dann einen Überhang an wissenschaftlichem Personal und an Studienplätzen haben, wie vorher schon eine Überkapazität in Gymnasien und anderen Schulen.

Zwar wäre es sicher kein Unglück, wenn überfüllte Universitäten mit heute mehr als 40 000 Studenten wieder auf ein überschaubares Maß schrumpfen würden. Aber es ist schon jetzt eine spannende Frage, ob dann auch noch alle neu gegründeten Universitäten, die z. Zt. noch nicht einmal voll ausgebaut und vor allem noch nicht voll im öffentlichen Bewußtsein verankert sind, weiter existieren können, und wenn ja, wie. Aber auch für ältere Universitäten kann die Entwicklung schnell zu einer Existenzfrage werden. Die Entscheidung darüber wird bereits in diesem Jahrzehnt fallen. Die spätere Attraktivität einer Hochschule wird davon abhängen, ob sie trotz der gegenwärtigen Überlast ihr Ansehen in Forschung und Lehre erhalten und welche besonderen Schwerpunkte sie zusätzlich aufbauen kann. 2. Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Altersverteilungder Lehrkörper an Schulen und Hochschulen. Die forcierte Expansion, mit der der Anstieg der Schüler-und Studentenzahlen aufgefangen wurde, bediente sich herkömmlieher Kategorien von Lebenszeitstellen. Die Folge davon ist, daß z. Zt. fast die Hälfte aller Inhaber von Lehrerstellen jünger als 35 Jahre ist, während sich die andere Hälfte auf die übrigen Dreiviertel des Altersbereiches verteilt In den achtziger und neunziger Jahren wird daher nur ein relativ kleiner Teil an Stellen frei werden; und da mit sinkenden Schülerzahlen auch der Bedarf an Lehrpersonal sinkt, ist es kaum erforderlich, Neueinstellungen vorzunehmen. Das damit gegebene Problem verschärft sich noch dramatisch, weil allein im Augenblick eine Zahl von Lehramtsanwärtern in den Hochschulen studiert, die mehr als ein Drittel aller überhaupt im Beruf befindlichen Lehrer ausmacht. Und es kommen laufend neue Studienanfänger hinzu. Sie alle werden noch in diesem Jahrzehnt auf den Arbeitsmarkt drängen, aber kaum Aussicht auf eine Anstellung haben. Bei der genannten Größenordnung dürfte jedem klar sein, daß das Problem nicht durch simple Maßnahmen wie etwa Senkung der Klassenfrequenz gelöst werden kann. Selbst ohne Neueinstellungen werden z. B. in Saarländischen Gymnasien 1989 im Durchschnitt auf einen Lehrer nur noch elf Schüler kommen

Ein Nebeneffekt dieser schlechten Beschäftigungsaussichten für Studenten der Lehramtsfächer ist der, daß sie sich nach anderen Stu-dienfächern umsehen, was an sich nur vernünftig ist. Dies führt aber gegenwärtig in einigen anderen Studienfächern zu einer schon [ast unerträglichen Überfüllung, wie beispielsweise in der Jurisprudenz.

Für den Lehrkörper der Hochschulen ergibt sich die gleiche Lage. Hier hat das Problem aber noch den zusätzlichen ernsten Aspekt, daß mit dem wissenschaftlichen Nachwuchs gleich auch die Innovation der Forschung betroffen ist, wenn über 20 Jahre hinweg junge Wissenschaftler kaum eine Chance haben, sich zu qualifizieren und in der Universität zu arbeiten. Zugleich läßt sich absehen, daß unter diesen Umständen erneut eine Nachwuchs-lücke klaffen wird, wenn nämlich die große Zahl der in den Expansionsjahren besetzten Lehrstühle auf einmal frei wird und dann der Nachwuchs fehlt, der so lange keine Beschäftigungs-und Qualifikationsmöglichkeit in der Hochschule hatte. Hier muß dringend eine Lösung gefunden werden. Ob die eingeleiteten Notprogramme schon eine fühlbare Hilfe bieten, sei vorläufig dahingestellt.

3. Eine weitere und im Grunde viel schwerer wiegende problematische Folge der Expansion ist die nicht nur vorübergehende, sondern grundsätzliche Veränderung des Verhältnisses von akademischer Bildung und Beschäftigungssystem.Die Zahl der Hochschulabsolventen ist ja nicht nur vorübergehend absolut angestiegen, sondern es sind, wie erwähnt, heute nicht mehr sechs, sondern 20% eines Jahrgangs, die einen Hochschulabschluß erwerben. Es ist ganz selbstverständlich, daß 20% der Bevölkerung nicht die gleichen herausragenden, gut dotierten und verantwortungsvollen Positionen in Beruf und Gesellschaft bekommen können wie die kleine Gruppe von Akademikern früher.

Die Konsequenzen sind vielfältig: Zunächst wäre zu wünschen, daß ein großer Teil der Hochschulabsolventen Positionen erhält und akzeptiert, die zwar unter der bisherigen Akademikerschwelle liegen, deren Aufgabenfeld von den neuen Inhabern aber aufgrund ihrer besseren Qualifikation besser bewältigt wird. Weiterhin wären Änderungen der Eingangs-stufe für alle Hochschulabsolventen denkbar, von der aus dann der weitere Aufstieg von der Bewährung im Beruf abhängt.

Dies sind jedoch Probleme des Beschäftigungssystems — freilich erzeugt durch die Änderungen im Bildungswesen —, auf die ich hier aber nicht weiter eingehen kann. Daß sie bisher noch nicht so deutlich wurden, liegt daran, daß bisher der Staat 60% der Hochschulabsolventen aufgenommen hat, vorwiegend wegen der Expansion des Bildungswesens selbst. Es ist klar, daß hier drastische Änderungen eintreten werden und daß die „Überproduktion" von Akademikern, gemessen an bisherigen Positionen, auch nicht einfach von der Wirtschaft aufgenommen werden kann.

Von einer „Überproduktion von Akademikern" würde man freilich nicht reden können, wenn auch bei uns Bildungs-und Beschäftigungssystem soweit entkoppelt wären wie etwa in den USA oder Japan. Dem ebenfalls mit der Bildungswerbung verbundenen Schlagwort „Recht auf Bildung" würde das auch entsprechen, besagte es doch, daß es ein allgemeines Bürgerrecht ist, so viel Bildung wie möglich zu erwerben, und zwar zur persönlichen Bereicherung und Vervollkommnung, ohne daß daraus gleichzeitig ein Anspruch auf entsprechend bezahlte Arbeit abzuleiten wäre.

Sicher ist aber dies gerade nicht die Triebfeder der Eltern und Jugendlichen gewesen, die der Bildungswerbung folgten. Sie haben wohl jeder für sich gehofft, in Zukunft auch zu jener kleinen Elite zu gehören, die die Akademiker in der. Vergangenheit darstellten. Klarzumachen, daß sich, wenn das viele zugleich wollen, diese Elitestellung aufhebt, hätte vielleicht zu den erzieherischen Aufgaben der Schule gehört, um falsche Hoffnungen und Ansprüche zu vermeiden. Wenigstens für die Zukunft ist das eine dringende Aufgabe.

III. Strukturelle und qualitative Änderungen und die sich daraus ergebenden Probleme

Ich möchte eine kurze Auflistung solcher Veränderungen an den Anfang stellen und dann einige von ihnen herausgreifen. Zu diesen strukturellen und qualitativen Änderungen gehören:

— die Einführung der Oberstufenreform, — die Einführung von Gesamtschulen und Gesamthochschulen, — die Umwandlung der Ingenieurschulen und vergleichbarer Einrichtungen in Fachhochschulen, — die Auflösung der Pädagogischen Hochschulen und ihre Integration in die Universitäten,

— die Umwandlung der Universitäten von einer „Elite" -Ausbildungsstätte in eine Massen-universität — und schließlich die Umstrukturierung der Universitätsverfassung in Richtung auf die Gruppenuniversität. 1. Die Oberstufenreform Die ihr zugrundeliegende Idee war einfach: Die Reform sollte zu einer verbesserten Studierfähigkeit führen, und zwar dadurch, daß nicht mehr jeder alles und nicht alle das gleiche machen sollten, sondern daß sich die Schüler — bei einem gemeinsamen Grundkanon — auf einige Fächer konzentrieren sollten, um hier vertiefte und propädeutische Kenntnisse aufzubauen, die bereits zu den Methoden des Studiums und der Wissenschaft hinführen. Durch die Wahl sollte auch ermöglicht werden, daß sich jeder auf sein Interessengebiet konzentriert in der Annahme, daß dies zu einer Steigerung der Lernmotivation und zu besseren Leistungen führen würde als in Fächern, die ihm nicht liegen. Ferner wurde auch eine Erhöhung der Verantwortlichkeit erwartet, wenn eine selbständige Entscheidung mit langfristigen Konsequenzen getroffen werden muß.

Inzwischen ist — wie bekannt — an dieser Entwicklung immer mehr Kritik geübt worden. Die Kritik geht in zwei Richtungen: Einerseits klagen Schüler und wohl z. T. auch Eltern über einen erhöhten Leistungsdruck und andererseits — und paradoxerweise — beklagen die Universitäten einen Leistungsabfall der Studienanfänger.

Auch wenn wir uns hier nicht auf gesichertem Boden statistischer Daten bewegen können, so überzeugt zunächst der zweite Kritikpunkt doch unmittelbar: Es ist selbstverständlich möglich, daß ein Medizinstudent keine Chemie-oder keine Physik-Kenntnisse mitbringt oder auch beides nicht. Sie sind für das Abitur und die Medizinzulassung nicht erforderlich, und da der Abiturnotendurchschnitt entscheidend ist für die Zulassung, besteht natürlich eine Tendenz, möglichst leichte Fächer zu wählen. Ich möchte betonen: „eine Tendenz", und nicht behaupten, daß das die allgemeine Regel ist. Aber immer wieder berichten Professoren, daß sie in den Anfängerveranstaltungen Oberstufenstoff bringen müssen, damit wenigstens im Laufe der Zeit alle Studenten das Niveau haben, auf dem dann das eigentli. ehe universitäre Studium beginnen kann. Die ohnehin knappen Kapazitäten der Universität werden auf diese Weise zusätzlich mit Aufga. ben belastet, die eigentlich vom Gymnasium hätten geleistet werden müssen.

Meines Erachtens ist hier eine Inkonsequenz der Oberstufenreform erkennbar: Wenn man schon eine solche Wahlmöglichkeit und damit Konzentration und Spezialisierung für sinnvoll gehalten hat, dann hätte man im Abitur dieser Schwerpunktbildung Rechnung tragen müssen. Das heißt: Man hätte eigentlich die allgemeine und damit undifferenzierte Hochschulreife durch irgendeine Form der spezifischeren Hochschulreife ablösen oder durch sie ergänzen müssen.

In den USA, in Japan oder England ist es selbstverständlich, daß man für die Zulassung zum Studium eines bestimmten Faches auch bestimmte fachspezifische Voraussetzungen nachweisen muß. Erst bei einer solchen Regelung würde die Fächerwahl in der Oberstufe sinnvoll, und erst dann ist auch zu erwarten, daß das Einräumen von Wahlmöglichkeiten zur Erhöhung der Verantwortlichkeit beiträgt, weil die Entscheidung sorgfältig abgewogen werden muß und Folgen hat, die später selbst getragen werden müssen. Die gegenwärtige Regelung, bei der die Wahl weitgehend folgenlos bleibt, muß m. E. neben der Senkung des Eingangsniveau? an der Universität auch eine Denaturierung der Lernhaltung zur Folge haben.

Obwohl es also möglich ist, sich das Abitur sozusagen leichter zu machen, scheint auch der erste Kritikpunkt nicht unberechtigt zu sein. In einer Reihe von Fächern hat offensichtlich der geforderte Wissensumfang enorm zugenommen. Ich habe bei meinen eigenen Kindern gesehen, wie sehr der Stoff des einen, der in der Oberstufe war, mit dem des anderen übereinstimmte, der gerade das Physikum an der Universität ablegte. Und das war sicher kein Ausnahmefall. Für mich und eine Reihe anderer Kritiker bedeutet das, daß hinsichtlich der Wissensvermittlung in der Oberstufe z. T. eine Überfrachtung herrscht, die ich für unnötig und unpädagogisch halte Unpädagogisch, weil zu viele Einzelheiten eher die Erkenntnis des Wesentlichen erschweren; man lernt sie auch vornehmlich nur für die Prüfung, um sie dann wieder zu vergessen. Unnötig, weil sie selbst dem, der sie fürs Studium braucht, wenig nützen, denn dort fängt er wieder von vorne an, weil er mit anderen zusammen ist, die nie etwas von dem Stoff gehört haben.

Beides zusammen — Steigerung der Anforderungen in einzelnen Fächern und Abiturerleichterung im ganzen — ist daher kein Widerspruch. Der Schule kann man daraus keinen Vorwurf machen. Vielmehr wird hier eine zentrale Schwäche der inhaltlichen Bildungsreform deutlich: Ihr Erfolg setzte in wichtigen Teilen eine wissenschaftlich begründete Curriculumrevision und eine entsprechende Didaktik voraus. Diese Voraussetzungen aber konnten nicht hinreichend erfüllt werden. Man hat den Entwicklungsstand und die Leistungsfähigkeit der dafür zuständigen Wissenschaften überschätzt, die auch heute noch mehr das zu erreichende Ziel beschreiben, als die zur Erreichung nötigen gesicherten Kenntnisse liefern können. Da ich selbst Vertreter einer der zuständigen Wissenschaften bin, darf ich das hier wohl sagen, auch auf die Gefahr hin, von Kollegen deshalb kritisiert zu werden.

Am Beispiel der Wissensüberfrachtung läßt sich verdeutlichen, worum es unter anderem geht: Es kann doch nicht darum gehen, alle und auch die neuesten Detailkenntnisse eines Faches dem Abiturienten zu vermitteln. Das sollte Sache des Fachstudiums bleiben, und auch da nur in den Grenzen des Nötigen. Das Gymnasium hat einen allgemeinen Bildungsauftragzu erfüllen, und dafür ist die Vermittlung dauerhafter und grundlegender Einsichten in die besondere Sichtweise, die Fragestellungen eines Faches, in die methodischen Prinzipien und mehr in die wesentliche Grundstruktur der Erkenntnisse als ihre Einzelheiten nötig. Das ist kein leichteres, wohl aber ein anderes als das herkömmliche Ziel, und es wäre Aufgabe der didaktischen Forschung, im einzelnen darzulegen, worin es in jedem Fach besteht, welchen Bildungswert dies hat und wie die entsprechenden Kenntnisse und Einsichten zu vermitteln sind Eine solche Didaktik und didaktische Forschung zu entwickeln ist ein Ziel, das seit den sechziger Jahren fast wieder in Vergessenheit geraten ist.

Neben der Verbesserung der Studierfähigkeit hatte der Oberstufenreform ursprünglich auch noch die Idee zugrunde gelegen, der Oberstufe den Charakter der Einbahnstraße zur Universität zu nehmen; das heißt, neben die klassischen Schulfächer und andere wissenschaftliche Fächer sollten weitere treten können, die nicht Studienvoraussetzungen vermitteln Auf diese Weise wäre die Oberstufe in Richtung auf eine Collegestufe weiterentwickelt worden, vergleichbar amerikanischen Colleges, in denen ja ebenfalls sehr viele Fächer angeboten werden, die nicht wissenschaftliche Fächer sind. Diese Möglichkeit ist, soweit ich sehe, nirgendwo verwirklicht worden. Das zum Studium führende Abitur blieb das einzige Ziel. Daß unter diesen Umständen Tendenzen bestehen, die Oberstufenreform schlicht rückgängig zu machen, ist verständlich. Eine akzeptable Lösung wäre das aber nicht. Da vor allem Versäumnisse diese Reform so unzulänglich bleiben ließen, sollte man eher Versäumtes nachholen, als Schüler und Lehrer durch erneutes „Reformieren" zu verunsichern.

Selbst in den Gesamtschulen, wo es nun wirklich nahegelegen hätte, ist die Ergänzung durch mehr praktisch orientierte Fächer nicht erfolgt. Die Gesamtschulen waren ja ein Alternativkonzept zum dreigliedrigen Schulsystem. Sie sollten in besonderem Maße die Chancengleichheit gewährleisten, indem durch ein breites Angebot verschiedener Fächer und Niveaus und flexible Wahlen oder Gruppierungen gerade die Kinder aus unteren sozialen Schichten optimal gefördert werden sollten. Ich kann hier nicht auf die Voraussetzungen eingehen, die dem Modell zugrunde lagen, insbesondere nicht auf die problematische Deutung des Zustandekommens von Leistungsunterschieden zwischen Kindern und die pädagogischen Schlußfolgerungen daraus. Nach etwa 15jähriger Erfahrung mit Gesamtschulen muß man wohl feststellen, daß sich die Hoffnungen, die man auf sie gesetzt hatte, nicht erfüllt haben.

Vermutlich sind Gesamtschulen in ihrer Leistung nicht schlechter als herkömmliche Gymnasien. Sie sind aber — insgesamt gesehen — auch nicht besser; und ein Ergebnis scheint sich immer wieder zu bestätigen: Gerade das besondere bildungspolitische Ziel, zur „Chancengleichheit" beizutragen, konnten sie nicht erfüllen; gerade Mädchen und Kinder unterer sozialer Schichten haben in ihr meistens besondere Schwierigkeiten. Dies ist — leider — keine private Meinung, sondern geht eindeutig aus der sehr sorgfältigen zu-sammenfassenden Analyse von Wottawa hervor

So gesehen ist der ohnehin ideologisch aufgeladene Streit um die Gesamtschule jetzt sicher nicht mehr vernünftig, und er sollte endlich ad acta gelegt werden. Das pädagogische Problem, daß Kinder verschiedene Fähigkeiten haben und daher verschieden gefördert werden müssen, ist in der Gesamtschule dasselbe wie in jeder anderen Schulform. Die eigentliche Aufgabe besteht also darin, Arten und Ursachen dieser Unterschiede und die Förderungsmöglichkeiten sachlich zu analysieren, bevor man erneut zu schlecht fundierten Reformen dieser oder jener Schulform greift. 2. Die Fachhochschulen Vor ungefähr zehn Jahren wurden die damaligen Ingenieurschulen und vergleichbare Einrichtungen in der Form der Fachhochschule zu Einrichtungen des tertiären Systems. Eine Zeitlang wurde dies als ein Übergangsstadium angesehen, an dessen Ende die Einrichtung alles umfassender integrierter Gesamthochschulen stehen sollte, die sowohl Universitäten wie Fachhochschulen in einem System zusammenschließen sollten. Es wurde dann auch eine Reihe von integrierten Gesamthochschulen gebildet. Bei ihnen stellten sich aber bald Probleme ein, die oft nur schwer zu lösen waren und bestimmte Schwächen dieses Konzeptes deutlich machten: Es waren einmal Probleme der Abstimmung und Aufgabenverteilung zwischen den Mitgliedern des Lehrkörpers, die ja recht verschiedene Qualifikationen hatten, zum anderen waren es Probleme bei den Studenten, die u. a. in zu großer Zahl von den Fachhochschulstudiengängen in universitäre Studiengänge überwechselten, was zu einem Auslaugen der Fachhochschulstudiengänge, zur Abwertung des Fachhochschulabschlusses und zu einer massenhaften Umgehung des Abiturs führte Neben Sachinteressen spielten dabei auch leidige Statusprobleme eine Rolle.

Es entwickelte sich dann ein Streit darüber, ob trotzdem letzten Endes alles in Gesamthochschulen aufgehen sollte, ob also nicht die Unterschiede zwischen Fachhochschul-und universitären Studiengängen aufgehoben werden sollten, weil sie doch nur künstlich Privilegien aufrechterhalten würden, oder ob vielmehr di, Fachhochschule eine eigene Ausbildungsauf, gäbe wahrzunehmen hat und daher selbständig bleiben sollte. Hinter diesem Problem steht letztlich eine Unklarheit über das Bi], dungsziel und die Wertung unterschiedlicher Formen der Qualifikation. Das Universitätsstudium soll ein wissenschaftliches Studium sein, d. h. ein Studium der Wissenschaft mit Betonung der Erkenntnismethoden und mit dem Ziel, den Studenten an die Forschung heranzuführen. Es zielt in der Regel also nicht so sehr auf die unmittelbare praktische Anwendung der Kenntnisse.

Eine hochtechnisierte Gesellschaft benötigt aber auch Personen, die primär für die unmittelbare Lösung praktischer Probleme qualifiziert sind, d. h. an ihnen stärker als an der grundsätzlichen wissenschaftlichen Problematik interessiert sind, die praktische Probleme unter Verwendung der wissenschaftlichen Erkenntnisse analysieren und für sie konstruktive Lösungen finden; die also beispielsweise unter Anwendung physikalischer Kenntnisse eine bestimmte Brücke konstruieren können im Unterschied zu solchen, die wissen, welche Kristallgitterstruktur im Eisenträger eine bestimmte Festigkeit bedingt und welche Erkenntnislücken noch offen sind.

Ich bin der festen Überzeugung, daß es unerläßlich ist, beide Arten von Qualifikationen zu haben. Wir brauchen Leute, die die Lücken im wissenschaftlichen Erkenntnissystem auffinden, formulieren und zu neuen Lösungen kommen können. Der in diesem Sinne wissenschaftlich Gebildete ist aber vielleicht zur Lösung praktischer Probleme weniger geeignet, weil er überall mehr die Grundsatzprobleme sieht und weniger bereit ist, sich über sie hinwegzusetzen und erst so zu einer praktischen Lösung selbst bei offen gebliebenen Grundsatzfragen zu kommen.

Diese Unterscheidung ist sicher in den einzelnen Disziplinen verschieden naheliegend. In anwendungsfernen Fächern entfällt sie praktisch, wie z. B. in der Philosophie oder der Geschichtswissenschaft (abgesehen vom Studium für ein Lehrfach). Im Bereich der Sozialwissenschaften und besonders in der Pädagogik aber besteht m. E. eine besondere Notwendigkeit, eine solche Differenzierung der Ausbildung beizubehalten. Die Kenntnisse, die uns die Wissenschaft bisher liefern kann, stehen noch auf sehr schwachen Füßen, und vieles ist noch nicht über das Stadium der Problemdefinition hinaus zur Gewinnung gesicherter und an-B wendbarer Erkenntnisse vorgedrungen. Würden wir hier auf die Ausbildung anhand praktischer Erfahrungen im Berufsfeld verzichten, würden wir sicher eine Generation von Sozialarbeitern und Sozialpädagogen heranbilden, die verlernt hätte, mit Menschen umzugehen.

Paß aus dieser Perspektive auch die Auflösung der Pädagogischen Hochschulen problematisch ist, sei in diesem Zusammenhang nur am Rande noch einmal erwähnt.

Inzwischen haben Erkenntnisse dieser Art dazu geführt, daß selbständige Fachhochschulen sich allgemein durchgesetzt haben. In allen Bundesländern sind sie inzwischen eingerichtet, und mit einer Studentenzahl von heute 160 000 beträgt ihr Anteil rund 20% an der Gesamtzahl der Studenten. Nachdem nun der Wissenschaftsrat 1981 eine eigene Empfehlung zu den Fachhochschulen verabschiedet hat, die die Eigenständigkeit ihrer Aufgaben betont und eine Reihe von Maßnahmen darlegt, mit denen ihre Selbständigkeit und Weiterentwicklung gesichert werden soll, können die Fachhochschulen vorerst als etablierter Bestandteil des Tertiären Bereichs angesehen werden. Damit ist der Wissenschaftsrat übrigens auch vom Konzept der Gesamthochschulen vorerst abgerückt.

Für die Zukunft der Fachhochschule wird es indessen von entscheidender Bedeutung sein, ob sie einerseits das Studienangebot im Sinne der von mir skizzierten Zielsetzungen weiterentwickelt, d. h. zum Beispiel Praxissemester einführt und den Lehrkörper nach Bewährung im praktischen Berufsfeld und nicht nach Qualifikationen in der Forschung auswählt, und welche Berufschancen andererseits ihre Absolventen im Verhältnis zu den Universitätsabsolventen haben. Die Verleihung des Diploms an die Fachhochschulabsolventen war ja ein Schritt, um die äußerlichen Statusdifferenzen, die zu einem Drang in die Universität führten, abzubauen. Aber noch immer besteben deutliche Unterschiede in der Eingangs-besoldung, die das Universitätsstudium trotz Überfüllung attraktiver machen können. Hier sind also wieder bildungspolitische mit Besoldungs-und Beschäftigungsproblemen verzahnt, auf die hier jedoch nicht weiter eingegangen werden kann. (. Veränderung der Universität zur Massenuniversität Massenuniversität ist die heutige Universität unächst allein schon durch das Anschwellen ler Studentenzahlen an einigen Universitäten auf das Zehnfache, z. B. in München und Münster mit jeweils über 40 000 Studenten. Das bringt viele Probleme mit sich, die sich in einem veränderten Verhältnis des Lehrkörpers zu den Studenten, einer zunehmenden Verunsicherung und Vereinzelung der Studienanfänger, der Entwicklung von Studentengruppen, die — anders als früher — von den übrigen Universitätsmitgliedern abgekoppelt sind, besonderen Kommunikationsproblemen auch unter den Professoren, Problemen der Selbstverwaltung, die bürokratische Züge annimmt, usw., äußern. Ein weiteres Problem ist die Überlastung der Universität durch Lehraufgaben.

Dies wird noch bis Ende der achtziger Jahre andauern, wenn der „Studentenberg" versorgt werden soll ohne weitere Investitionen an Personal, das später nicht mehr nötig ist. Eine solche Überlastung, die mehr als zehn Jahre andauert, wird jedoch ein erhebliches Problem für die Forschung. Ein so langes Zurückstellen der Forschung kann zu einem kaum mehr aufholbaren Rückstand führen; wir wissen alle, welche enormen Anstrengungen das Aufholen nach dem Krieg gekostet hat, und das war auch keine längere Pause. Und in mancher Hinsicht kann man den Eindruck haben, wir haben es immer noch nicht ganz geschafft. Hier muß rechtzeitig Abhilfe geschaffen werden; ich werde darauf noch einmal zurückkommen. Die eigentliche Wandlung zur Massenuniversität beruht aber nicht auf den absoluten Studentenzahlen, sondern darauf, daß jetzt statt vier nun 15 Prozent eines Geburtenjahrgangs die Universität besuchen, sich der Anteil also vervierfacht hat. Diese Studenten haben eine andere Begabungs-und vor allem auch Interessenverteilung; und die Absolventen haben, jedenfalls in ihrer Mehrheit, eine andere Berufsposition zu erwarten als die früheren vier Prozent, auf die die Universität in ihrer Zielsetzung und ihrem Selbstverständnis heute noch eingestellt ist. In der hier nötigen Änderung liegt das eigentliche Problem — eine Art Identitätskrise der Universität.

Um das ganz verstehen zu können, muß man sich vor Augen führen, daß zwei Merkmale die deutsche Universität von den Universitätssystemen derjenigen Länder unterscheiden, die einen ebenso hohen oder noch höheren Pro-zentsatz an Studenten haben. Das sind die Forschungsorientiertheit,und zwar aller Universitäten, und die hohe Gleichheit im Niveau, die auf der ausschließlichen staatlichen Trägerschaft beruht. In den USA wie in Japan kann das tertiäre Bildungswesen relativ mühelos einen viel höheren Jahrgangsanteil an Studenten aufnehmen, weil es sehr viel differenzierter ist. Es gibt viele private und in ihrem Niveau recht verschiedene Einrichtungen, und eine Forschungsorientiertheit ist bei vielen gar nicht gegeben, auch gar nicht angestrebt, selbst wenn die Einrichtung Universität heißt Nimmt man nur die Studenten, die wirklich an forschungsorientierten Einrichtungen und in forschungsorientierten Studiengängen sind, dann entspricht deren Zahl in etwa wieder unseren früheren fünf Prozent Universitätsstudenten.

Vielleicht hätten wir also gar nicht die Zahl der Abiturienten und Universitätsstudenten steigern sollen, sondern statt dessen die Oberstufe konsequent zum College erweitern und die Fachhochschulen und ähnliche Einrichtungen ausbauen sollen. Freilich ist das heute eine müßige Frage. Unser Problem ist, wie die jetzt bestehenden Universitäten zu reagieren haben.

Ganz sicher werden wir um eine Differenzierung des Studienangebots nicht herumkommen. Das könnte einmal innerhalb der Universität geschehen, indem verschiedene Studien-abschlüsse ermöglicht werden, die verschiedenen Anforderungsniveaus entsprechen. Der Wissenschaftsrat hat hierzu 1978 Empfehlungen erarbeitet, die aber von den Universitäten bisher kaum beachtet wurden. Freilich müßte man der Gefahr begegnen, daß dann die vorher betonte Verschiedenartigkeit von den Fachhochschulen womöglich wieder verwischt wird.

Eine Differenzierung könnte aber auch zwischen den Universitäten eintreten. Warum sollte es eigentlich nicht auch bei uns Schwerpunkte der Forschungsorientierung geben können? Das würde immerhin eine Konzentration der Mittel und des Personals ermöglichen und vermutlich die Effizienz des finanziellen Aufwandes steigern. Auch die Einrichtung von „Schools" in den Universitäten nach amerikanischem Muster ist m. E. nicht genügend in Betracht gezogen worden.

Eine Differenzierung erscheint mir unumgänglich, soll nicht am Ende das Gesamtniveau der Universität sinken und die Forschung auswandern oder sich von der Lehre ganz abkoppeln. In diesen Zusammenhang gehört auch die Einrichtung postgradualer Studien, die m. E. das notwendige Gegengewicht gegen die abnehmende Forschungsorientie. rung in der Massenuniversität sind. Sie könnten und sollten wenigstens in einigen Fächern sofort eingerichtet werden. Dies wäre ein Instrument, um anspruchsvollere, forschungsbezogene Ausbildung wenigstens in geringem Umfang zu sichern, und es ließen sich auch besonders brachliegende Fächer auf diese Weise fördern. 4. Forschung Ihr Stand wird ganz allgemein als wenig befriedigend angesehen. Sie hat ihre führende Stellung weitgehend verloren, sie ist auch sicher nicht so hervorragend und innovativ, wie man sich das wünscht und wie es vielleicht auch nach der Zahl der Professoren und den vorhandenen Mitteln zu erwarten wäre.

Die Ursachen dafür sind unklar und sicher vielfältig. Eine von ihnen dürfte darin liegen, daß die allgemeine Mittelzuweisung sich nicht an der Forschungsproduktivität orientiert, und daß im Zuge der Expansion in den Kreis der Berechtigten auch solche gekommen sind, die eigentlich keine Forscher sind. Auch hat sich in den Zeiten der Überlast mancherorts ein Klima ausgebreitet, in dem die Lehre den Vorrang hat und die Forschung Privatsache ist. Forschung aber — und das kann gar nicht genug betont werden — ist die eigentliche Quelle unseres geistigen Lebens, die Basis jeder Entwicklung in Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft. Sie muß gefördert werden, wollen wir nicht zur geistigen und wirtschaftlichen Kolonie anderer hinabsinken. Und die Universitäten sind im ganzen für die Forschung nach wie vor der wichtigste Ort.

Hierfür muß also trotz Überlast in den achtziger Jahren etwas getan werden. Differenzierung in der Mittelzuweisung und der Lehrbelastung ist ein Weg, wie ihn auch der Wissenschaftsrat 1975 schon empfohlen hat; Konzentrierung und Schwerpunktbildung zwischen Universitäten ist ein anderer und die oben erwähnten postgradualen Studien ein dritter.

Das alles wird nicht einfach sein. Das schwierigste Problem der Forschungsförderung ist jedoch ein ganz anderes: Es erwächst aus der Einsicht, daß wir zu klein, vielleicht auch nicht reich genug sind, um auf allen Gebieten hervorragend sein zu können. Sollen wir dann eben überall mit Forschung, die eigentlich nur das imitiert und nachbessert, was woanders schon gemacht wurde, zufrieden sein? Oder sollen wir uns auf einige Gebiete konzentrieren und dafür andere, vielleicht weniger aus-sichtsreiche, zurückstellen? Wer aber soll dann darüber entscheiden und nach welchen Gesichtspunkten?

IV. Zum Problem der Erziehung

In den letzten Jahren war viel vom Schulstreß die Rede, von Überforderung, durch die die Kinder seelisch, ja körperlich krank würden.

Auf der anderen Seite gibt es aber auch ohne Zweifel die genannten Erleichterungen beim Abitur, geringere Kenntnisse, ja es wird immer leichter, gute Noten zu bekommen.

Überforderung entsteht bei einem Mißverhältnis von Anforderungen und Fähigkeiten. Sie hat also eine objektive und auch eine subjektive Seite, und daher muß man ketzerisch fragen, ob wirklich das Anforderungsniveau gesenkt werden muß, oder ob nicht auch Schwächen der Leistungsfähigkeit und der Leistungsbereitschaft im Spiel sind.

In der Diskussion um Überforderungen in der Mittelstufe des Gymnasiums scheint mir nicht genug bedacht zu werden, daß die breite Öffnung des Gymnasiums ja auch den Preis des größeren Risikos hat. Je mehr Kinder die Chance nutzen, sich im Gymnasium zu bewähren, um so mehr werden auch darunter sein, die den Anforderungen doch nicht gerecht werden können. Daran kann nur vorbeisehen, wer leugnet, daß 12jährige Kinder unterschiedliche Fähigkeiten haben, egal, worauf sie beruhen mögen, jedoch mindestens so, daß keine normale Schule sie einfach ausgleichen kann. Daß aus einer kaum ausgelesenen Gruppe einige Kinder gegenüber den Anforderungen des Gymnasiums versagen, kann man letztlich nur vermeiden, indem man überhaupt keine besonderen Anforderungen mehr stellt.

Das Problem der Überforderung ist also nicht nur eine Frage der tatsächlichen, überhöhten oder vielleicht auch notwendigen Höhe der Anforderungen, es ist auch in der Bereitschaft zu suchen, das bestehende Risiko ernsthaft einzugehen und für den Fall des Scheiterns die Alternative zu akzeptieren, die man von vornherein hätte wählen müssen, wenn man den Versuch gar nicht erst gewagt hätte. Ein Bildungswesen, das vielen Kindern mit der Chance auch das Risiko gibt, muß also auch das Scheitern einkalkulieren, es müßte allerdings auch gewisse Hilfen bieten, dieses Scheitern nicht zum tiefgehenden Selbstwertproblem werden zu lassen. Dies ist jedoch nur eine relativ oberflächliche Betrachtungsweise, und ich lade den Leser ein, mir noch auf eine andere Ebene zu folgen.

Zur subjektiven Seite der Fähigkeiten, Anforderungen zu bewältigen, gehört auch das Selbstvertrauen, daß man es mit Anstrengung und Ausdauer schon schaffen wird, und auch, daß man bereit ist, sich anzustrengen — also die Anforderungen akzeptiert und nicht für unsinnig hält. Ist es abwegig, wenn ich mich frage, ob bei unseren Kindern und Jugendlichen nicht vielleicht in dieser Hinsicht etwas problematisch ist? Ist nicht in den letzten 20 Jahren bei uns eine psychologisch einseitige Erziehungstheorie populär gewesen, nach der Kinder keinesfalls frustriert und überfordert werden durften, nach der ihnen weniger Forderungen gestellt als Freiräume und Selbständigkeit eingeräumt werden sollten, und nach der Eltern und Lehrer nicht als Autoritäten erscheinen und nie strafen durften?

Ist nicht das Leistungsprinzip, also der Wert von Anstrengung und Leistung an sich, in Zweifel gezogen worden, so als seien Leistungen gar nicht mehr nötig und die Probleme unserer Welt alle mit Leichtigkeit zu lösen? Und sind nicht Eltern und Lehrer dadurch in ihren Zielen verunsichert worden, und außerdem noch durch eine ebenso einseitige Erziehungstheorie, die der sozialen Umwelt die ganze Verantwortung für die Entwicklung des Kindes aufbürdet, Erbfaktoren und eigene Aktivität des Kindes dagegen außer acht läßt?

Ich fürchte, daß in der Erziehung, und zwar im konkreten Handeln wie in der allgemeinen Bewertung, eine Mentalität Platz gegriffen hat, den Kindern aus Sorge, sie zu überfordern oder an ihrer Entfaltung zu hindern, Schwierigkeiten möglichst aus dem Wege zu räumen und ihnen, aus Sorge autoritär zu sein, wenig Anforderungen zu stellen und sie auch negative Folgen ihres Handelns möglichst nicht spüren zu lassen.

Wenn das stimmen sollte, was ich allerdings nicht ohne weiteres belegen kann, dann besteht die Gefahr, daß den Kindern mit den Schwierigkeiten auch die Chance aus dem Wege geräumt wurde, — Fähigkeiten zu ihrer Überwindung zu lernen, — Vertrauen in die eigene Anstrengungs- und Leistungsfähigkeit und — Freude am Können aufzubauen.

Die milieu-betonende Erziehungstheorie der Eltern dürfte wohl vielen Kindern die Einstellung vermittelt haben, daß Schwächen, Probleme und Schwierigkeiten, die sie selbst haben, vor allem Schuld der anderen, der Eltern, der Umgebung, der Gesellschaft sind, und daß sie selbst daher zu ihrer Überwindung auch nicht viel beizutragen hätten. Die Zielunsicherheit der Eltern und Lehrer dürfte auch dem Aufbau klarer Wertbindungen im Wege gestanden haben, da den Kindern gegenüber ja dann auch Werte nicht mehr mit Entschiedenheit vertreten und verteidigt wurden. Das alles hatte schließlich in einer verminderten Leistungs-und Anstrengungsbereitschaft, in vermindertem Selbstvertrauen und geringer Selbstverantwortung resultiert — Tugenden, die doch wohl in jeder Kultur Bestandteil der Erziehungsideale sind.

Dieses Problem berührt nicht nur die Eltern, sondern ebenso den Erziehungsauftrag der Schule und damit auch die Lehrerbildung. Die Schule, in der unsere Kinder einen wichtigen Teil von zehn oder dreizehn prägenden Lebensjahren verbringen, ist kein erzieherisches Vakuum. Auch wenn die Lehrer nur Wissen vermitteln und sich der Erziehung enthalten wollen, findet Erziehung im Sinne des Einflusses auf die Persönlichkeitsentwicklung statt — jedoch dann wahrscheinlich in einer unpädagogischen, nicht verantworteten und nicht verantwortbaren Weise.

Zum Abschluß möchte ich hieran noch einen weitergehenden Gedanken anfügen: Wenn schon von der erzieherischen Funktion der Schule die Rede ist, müßte uns dann nicht auch bewußt werden, daß die Institution Schule im ganzen ein problematischer Erziehungsraum geworden ist? Ist an ihr nicht problematisch, daß sie für die Kinder insofern ein vom wirklichen Leben abgegrenzter Freiraum ist, — weil das, was sie dort tun müssen, wenig mit ihren eigenen Bedürfnissen und Interessen zu tun hat;

— weil sie in der Wissensvermittlung Fragen beantwortet, die die Kinder gar nicht gestellt haben, — und weil sie über viele Jahre Handlungen verlangt, die keinen richtigen Ernstcharakter und keine zu verantwortenden Folgen für sie haben und daher auch keine echten Erfolge bringen?

Richtig deutlich wird die Künstlichkeit dieser Schul-Welt erst, wenn man sie mit dem Leben von Kindern in „primitiven" Gesellschaften vergleicht. Dort haben die Kinder Aufgaben und Verantwortung; sie erfahren sich als Teil der Gesellschaft, in der sie einen Platz mit Gestaltungs-und Bewährungsmöglichkeiten haben; Kenntnisse und Regeln werden ihnen nicht abstrakt, sondern in ihrem realen Bedeutungszusammenhang vermittelt.

Liegt nicht also eine grundsätzliche Schwäche der Institution Schule in unserer Gesellschaft darin, daß wir besonders die Jugendlichen zu lange vom Lebensbezug und von jeder Verantwortung fernhalten; daß wir ihnen sozusagen nur künstliche Lernaufgaben, nicht aber ihren Fähigkeiten angemessene Ernstaufgaben und Bewährungsmöglichkeiten in unserer Gesellschaft geben, ja, daß wir sie letztlich alleine lassen?

Es darf einen eigentlich nicht wundern, wenn sich eine eigene Jugendgesellschaft mit eigenen Formen, Werten und Zielen entwickelt, die sich von der übrigen Gesellschaft abkoppelt. Die allerwichtigsten Aufgaben für Bildungsreformen und zuerst einmal für die Forschung lägen demnach auf ganz anderen Gebieten, als sie in der Vergangenheit gesehen wurden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Georg Picht, Die deutsche Bildungskatastrophe, München 1965, S. 10.

  2. Ebenda, S. 11.

  3. Vgl. W. Lorenz, Lehrerbedarf an allgemeinbildenden Schulen im Saarland von 1975— 1995, Saarbrükken 1977.

  4. Vgl. H. -J. Kornadt, Lehrziele, Schulleistung und Leistungsbeurteilung, Düsseldorf 1975.

  5. Vgl. H. -J. Kornadt, a. a. O., S. 99 f.

  6. Vgl. dazu u. a. die Empfehlungen der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates zur Neugestaltung der Abschlüsse in der Sekundarstufe (Bonn 1969).

  7. H. Wottowa, Gesamtschule: was sie uns wirklich bringt, Düsseldorf 1982.

  8. Vgl. G. Zimmermann, Weiterstudium von Fachhochschulabsolventen an Universitäten, in: Die Neue Hochschule, 1981, H. 5, S. 12 ff.

Weitere Inhalte

Hans-Joachim Kornadt, Dr. phil., Dipl. -Psych., geb. 1927; Professor für pädagogische Psychologie und Erziehungswissenschaft an der Universität des Saarlandes. 1975 bis 1981 Mitglied des Wissenschaftsrates; Vorsitzender des Beirates für psychologische und allgemeine Fragen des Testeinsatzes bei der Kultusminister-konferenz. Forschungsgebiete: Erziehung und Persönlichkeitsentwicklung; Aggression; Kulturvergleich. Veröffentlichungen u. a.: Situation und Entwicklungsprobleme des Schulsystems in Kenia, 2 Bände, 1968 und 1970; Lehrziele, Schulleistung und Leistungsbeurteilung, 1975; Die Entwicklung der Frustrations-und der Aggressionsforschung, 1981; Aggressionsmotiv und Aggressionshemmung, 2 Bände, 1982.