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Die Oberstufenreform — ein Zankapfel der Bildungspolitik | APuZ 47/1982 | bpb.de

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APuZ 47/1982 Aktuelle Probleme des Bildungswesens in den achtziger Jahren Die Oberstufenreform — ein Zankapfel der Bildungspolitik Aspekte einer „arbeitnehmerorientierten Wissenschaft". Die Bildungsarbeit als Wegbereiter einer Kooperation von Arbeitnehmern und Wissenschaft

Die Oberstufenreform — ein Zankapfel der Bildungspolitik

Felix von Cube

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die 1972 von der KMK beschlossene und seit einigen Jahren praktizierte reformierte Oberstufe stößt auf eine geradezu chaotische Vielfalt an Kritik. Dies ist darauf zurückzuführen, daß zum einen die Ziele kritisiert werden, zum anderen die Strategie oder die Organisation, und daß die Kritik von unterschiedlichen politischen Standpunkten aus geübt wird. Versucht man, in die Reform selbst und in die vielfältige Kritik Ordnung und System zu bringen, so ergibt sich folgender Zusammenhang: Geht man vom Ziel des produktiven und (selbst) kritischen Menschen aus, so erweist sich die Oberstufenreform in ihren strategischen Schritten: Stoffbeschränkung, Wahlmöglichkeit, philosophische Vertiefung, strukturelle Allgemeinbildung und Didaktik des wissenschaftlichen Denkens als unbedingt notwendig. Zugleich lassen sich an diesem System die Fehler erkennen, die bei der Realisation der Reform gemacht wurden und werden. Auch die kritischen Einwände lassen sich ordnen — und zwar danach, ob sich die Kritik gegen die Ziele richtet oder gegen die Verwirklichung und danach, von welchem politischen Raster aus beurteilt wird. Dabei zeigt sich, daß christlich-konservative Politiker eher die Grundsätze der Reform kritisieren, sozialdemokratische mit der praktizierten Reform im wesentlichen einverstanden sind und liberale Politiker tatsächliche Abweichungen von der Reform kritisieren. Die systematische Darstellung der Reform und deren Kritik zeigt somit auf, wie die Oberstufenreform zu realisieren ist, wenn man die Ziele dieser Reform bejaht und sie zeigt auf, wie sie zu realisieren wäre, wenn man andere Ziele verfolgt.

Die Reform der Oberstufe im Sinne der Auf-gliederung in Leistungskurse und Grundkurse und weitgehenden Konzentrationsmöglichkeiten der Schüler wurde im Jahre 1972 von der Kultusministerkonferenz (KMK) vereinbart. Seit einigen Jahren wird sie mit geringfügigen Variationen in den einzelnen Bundesländern praktiziert. Die bisher gewonnenen Erfahrungen und Ergebnisse entsprechen jedoch in wichtigen Bereichen nicht den Erwartungen, die in die Reform gesetzt wurden: Die kritischen Einwände reichen von einem allgemeinen '„Niveauverlust" bis zur „Studierunfähigkeit" der Abiturienten, von der Abwahl „harter" Fächer bis zur Desintegration der Schüler durch die Auflösung des Klassenverbandes. Parteien und Länderregierungen reagieren unterschiedlich auf diese Situation: sozialdemokratische Bildungspolitiker fassen eher punktuelle Verbesserungen ins Auge, christlich-demokratische wollen wesentliche Bestandteile der Reform rückgängig machen, liberale wollen die Reform beibehalten, aber grundsätzliche Fehler korrigieren.

Im folgenden möchte ich zunächst Ziel, Strategie und Tradition der Oberstufenreform erörtern; anschließend werde ich die Kritik an dieser Reform zusammenstellen und die Reaktionen der politischen Gruppierungen auf diese Kritik skizzieren. Ich gehe also in folgenden sieben Schritten vor: 1. Ziel der Oberstufenreform 2. Strategie der Oberstufenreform 3. Tradition der Oberstufenreform 4. Kritik an der reformierten Oberstufe 5. Reform und Kritik aus „linker" Sicht 6. Reform und Kritik aus „rechter" Sicht 7. Reform und Kritik aus der Sicht der „Mitte". Gewiß sind die Bezeichnungen „links" und „rechts" äußerst problematisch — nichtsdestoweniger dienen sie in der politischen Praxis einer gewissen Orientierung. Ich werde versuchen, in den betreffenden Abschnitten die jeweiligen Positionen zu umreißen.

Ziel der Oberstufenreform

Der Grundgedanke der Oberstufenreform besteht in der Erkenntnis, daß immer größer werdende Wissensanforderungen in immer mehr Fächern zum passiv-rezeptiven Absolvieren eines „Pensums" führen, zu Interesselosigkeit und „Frust". Die Reproduktionvon Wissen in 14 oder 15 Fächern ermöglicht keine Vertiefung, kein eigenes produktives, geschweige denn wissenschaftliches Arbeiten. Gerade auch geistig profilierte Schüler empfinden die Oberflächlichkeit und Zusammenhanglosigkeit eines solchen „allgemeinen Wissens". Dazu kommt die Aussichtslosigkeit, den Wettkampf mit den immer größer werdenden Wissensmassen jemals gewinnen zu können. Eine solche Situation entspricht aber weder dem Ideal des Humboldtschen Bildungsbegriffes noch den Erfordernissen einer wissenschaftlich-technischen Zivilisation.

Aus diesen Erkenntnissen heraus forderten die Kultusminister schon 1960 in der Saarbrückener Rahmenvereinbarung, „durch eine Verminderung der Zahl der Pflichtfächer und die Konzentration der Bildungsstoffe ... eine Vertiefung des Unterrichtes zu ermöglichen und die Erziehung des Schülers zu geistiger Selbständigkeit und Verantwortung zu fördern". Kultusminister Gerhard Storz prägte das Wort von der „produktiven Einseitigkeit"; er meinte damit, daß produktives (und kritisches) Denken nur durch eine (zeitweise) Beschränkung des Gegenstandsbereiches erreicht werden kann. In den „Stuttgarter Empfehlungen" war dann auch die Rede von „wissenschaftlicher Arbeitsweise" durch eine „Herabsetzung der Zahl der Fächer" und eine „Beschränkung der Lehrgegenstände". Auch die Westdeutsche Rektorenkonferenz war der Meinung, daß die allgemeine Hochschulreife durch „Grundanforderungen" einerseits und „gehobene Anforderungen fakultativer und spezialisierter Art" in zwei bis drei wissenschaftlichen Fächern andererseits zu erreichen sei.

Die Allgemeinheit der Hochschulreife wurde also durch die Beschränkung der Leistungsanforderungen auf wenige Fächer nicht in Frage gestellt. Im Gegenteil: Man ging davon aus, daß der „wissenschaftspropädeutische Unterricht" einen hohen Transfereffekt erziele, d. h.

daß wissenschaftliches Denken grundsätzlich in jedem Fach erlernt und dann auch wieder in jedem Fache angewandt werden könne. Wie wichtig der KMK die Schulung des wissenschaftlichen Denkens in der Oberstufe war, läßt sich u. a. daran erkennen, daß auf den sieben Seiten des „einführenden Berichtes" insgesamt achtmal die Forderung nach „wissenschaftlichem Arbeiten" erhoben wird!

Die Oberstufenreform sollte aber nicht nur das wissenschaftliche Denken schulen, sie sollte auch die bisher weitgehend isolierten Fächer durch einen gemeinsamen Kern verbinden. So ist die Rede von „grundlegenden wissenschaftlichen Verfahren und Erkenntnisweisen", von „allgemeiner Kommunikationsfähigkeit", von „staatsbürgerlichem Handeln" usw.

Auch die Auflösung des Klassenverbandes wurde bedacht und keineswegs negativ gesehen. Wörtlich heißt es hierzu: „Der Schüler der Oberstufe wird lernen, in wechselnden Gruppen zu arbeiten, wie er das auch nach Abschluß der Schulzeit tun wird."

Merkwürdig ist eines: Die KMK spricht zwar häufig vom wissenschaftlichen Arbeiten, vom selbständigen Lernen, vom problembezogenen Denken u. ä. — sie spricht aber nicht ausdrücklich vom kritischen Denken. Das Wort Kritik scheint tabu; es taucht nicht ein einziges Mal auf. Dabei ist wissenschaftliches Denken immer auch ein kritisches. Das kritische Denken ist sogar entscheidend für das wissenschaftliche Arbeiten: Die Lösungsansätze . müssen ja immer wieder — wie Popper sagt — „aufs härteste" geprüft werden. Gliedert man das wissenschaftliche Arbeiten in die Teilpro-zesse produktives und kritisches Denken, so kommt dem kritischen Denken sogar eine höhere ethische Bedeutung zu: Es geht ja nicht nur um die Überprüfung möglicher Lösungsansätze, es geht um die Einstellung, sich selbst in Frage zu stellen, seine eigenen geistigen Produkte anzuzweifeln. Die Produktion von Ideen ist die Voraussetzung für die Selbstkritik — wo nichts produziert wird, kann auch nichts kritisiert werden —, aber eben nur die Voraussetzung. Die kritische Einstellung muß (mühsam ) erworben werden: Es ist ja nicht leicht, sich immer wieder aufs neue zu verunsichern, sich gegebenenfalls, wie Popper sagt, zu falsifizieren.

Kerschensteiner hat diesen Sachverhalt in seinem Buch „Wesen und Wert des naturwissenschaftlichen Unterrichts" (1914, S. 58) so formuliert: „Darin unterscheidet sich der geistig disziplinierte Schüler von dem undisziplinierten Schüler, daß er sich seinen eigenen Einfällen gegenüber sehr reserviert, zweifelnd verhält, während der letztere sich sofort auf jeden Einfall stürzt und ihn, glücklich darüber, daß ihm überhaupt etwas eingefallen ist, ruhig hinnimmt. Hätten alle Menschen die Gewohnheit, mit ihren Urteilen vorsichtiger zu sein, so hätten Sophisten und Demagogen eine verflucht harte Arbeit. Diese Gewohnheit ist aber so sehr ein Produkt der intellektuellen Erziehung, daß sie ohne diese nicht einmal durch die bittersten Erfahrungen sich in genügendem Maße einstellt." Einige Formulierungen der KMK deuten auf solche Überlegungen hin. So ist von „Reflexions-und Urteilsfähigkeit" die Rede, vom „disziplinierten (konvergierenden) Denken" etc.

Ziel der Oberstufenreform ist also der produktive und (selbst) kritische Mensch, der Mensch, der weiß, wie schwierig es ist, Probleme zu lösen und wie leicht man sich irren kann, der Mensch, der nach Wahrheit strebt und sich nicht einbildet, sie zu haben, der tolerante Mensch also, dem nur eines verhaßt ist: Dogmatismus jeder Art. Dieses hohe Ziel der Oberstufenreform sollten sich insbesondere diejenigen vor Augen führen, die abfällig von „Verwissenschaftlichung" reden oder von einem „Mangel des Erzieherischen".

Strategie der Oberstufenreform

Es erhebt sich nun die Frage, mit welcher didaktischen und organisatorischen Strategie man zu diesem hohen Ziel gelangen kann. Dabei muß man folgendes klar sehen: Das Ziel der Oberstufenreform, der wissenschaftlich denkende Mensch, ist eine politische und ethiB sche Entscheidung — das Problem, wie man dieses Ziel erreichen kann, ist ein wissenschaftlich-technisches. Die Gestaltung der Oberstufe ist also nicht eine Frage der politischen oder juristischen Entscheidung, sondern der Lehrstrategien und der zur Durchführung erforderlichen Organisation. Der Hessische Staatsgerichtshof hat also (im Dezember 1981) nicht nur, wie manche Kritiker sagen, seine Kompetenz überschritten, er hat ganz schlicht ein „falsches“ Urteil gefällt — „falsch" deswegen, weil er sich auf wissenschaftliches Gebiet begeben hat, und da geht es nicht um Entscheidungen, sondern um „richtig" oder „falsch". Die Aussage aber, das Ziel der „leiblichen , geistigen und seelischen Tüchtigkeit" sei durch die Konzeption der reformierten Oberstufe nicht erreichbar, ist nachweisbar falsch.

Tatsächlich ergibt sich aus den Zielen der Oberstufenreform eine Strategie, die sich in folgenden vier Schritten darstellen läßt:

1. Stoffbeschränkung 2. Wahlmöglichkeit 3. Philosophische Vertiefung 4. Strukturelle Allgemeinbildung Sämtliche vier Schritte müssen von einer Didaktik des wissenschaftlichen Denkens unterstützt werden. 1. Stoffbeschränkung Wissenschaftliches Arbeiten, auch wenn es sich nur um dessen Training handelt, erfordert Konzentration auf einen bestimmten Gegenstandsbereich. Niemand kann in 14 oder noch mehr Fächern zugleich aktive und produktive Arbeit leisten. Das — wie man im Schwäbischen sagt — „Brettle bohren", das ständige Bemühen um Erkenntnisse und Einsicht ist nun einmal nur durch eine Beschränkung des Stoffgebietes möglich. Wieder ist es Kerschensteiner, der dies überzeugend so ausdrückt: „Wir dürfen unsere Erziehungsarbeit preisen, wenn es uns gelingt, auf beschränktem Wissensgebiet das Bedürfnis und den Drang nach innerer Klarheit und Ordnung der Begriffe im Schüler zu erzeugen." (Wesen und Wert des naturwissenschaftlichen Unterrichts.) Es ist somit nur folgerichtig, wenn die Befürworter des wissenschaftlichen Arbeitens an der Oberstufe zugleich auch die Beschränkung der Arbeitsgebiete auf zwei oder drei Schwerpunkte verlangen. 2. Wahlmöglichkeit Eine Beschränkung auf wenige Fächer ist also in jedem Falle erforderlich. Es erhebt sich jetzt die zusätzliche Frage, welche Fächer dies sein sollen. Hier liegt die Antwort auf der Hand: Die Beschränkung der Stoffgebiete sollte sich auf diejenigen Fächer beziehen, in denen der einzelne die größte Chance hat, produktive (und kritische) geistige Arbeit leisten zu können, auf diejenigen Fächer also, die seiner Begabung und seinen Interessen entsprechen.

Kerschensteiner drückte dies sinngemäß so aus: Der Mensch kann nur durch diejenigen Kulturgüter gebildet werden, deren Struktur mit der geistigen Struktur des Betreffenden übereinstimmen. Für Kerschensteiner war dieses „Grundaxiom des Bildungsprozesses" noch ausdrücklich hypothetisch gewesen; inzwischen hat die Psychologie nachgewiesen, daß tatsächlich jeder Mensch (nach Abschluß der Pubertät) eine mehr oder weniger ausgeprägte Intelligenzstruktur aufweist. Ich verweise hier u. a. auf den seit langem erprobten Intelligenzstrukturtest von R. Amthauer.

Theoretisch könnte man also die geistige Struktur der Schüler feststellen und ihnen die entsprechenden Schwerpunkte zuweisen. In der Praxis verbietet sich ein solches Vorgehen aus Gründen der Achtung vor der Entscheidungsfreiheit und Verantwortungsfähigkeit des Menschen (hier wäre ein Verbot der Oberstufenreform durch den Hessischen Staatsgerichtshof angebracht); die Tatsache bleibt jedoch bestehen, daß die Wahl der Schwerpunkte nach Begabung und Interesse die besten Chancen für wissenschaftliches Arbeiten eröffnet. Die Oberstufenschüler sollten dies — bei allem Respekt für andere Wahlmotive — sorgfältig bedenken. 3. Philosophische Vertiefung Das Ziel der Oberstufenreform ist nicht nur der wissenschaftlich arbeitende Mensch, sondern auch derjenige, der über sein Fach insgesamt nachdenkt, nach Querverbindungen sucht, nach allgemeinen Strukturen und Methoden sowie nach einer Basis für soziale und politische Kommunikation. Erreicht werden kann diese, wie ich sagen möchte, „philosophische Vertiefung" nur dadurch, daß der Schüler dem gewählten Schwerpunkt „auf den Grund geht". Nur so kann er zu den allgemeinen Fundamenten von Wissenschaft, Mensch und Gesellschaft vorstoßen. Man denke etwa an Logik und Wissenschaftstheorie, an sprachliche und politische Kommunikation, an philosophisches und vernetztes Denken etc.

Ich kann hier nicht im einzelnen auf diese philosophische Vertiefung eingehen, folgendes steht jedoch außer Zweifel: Ohne diese gemeinsame wissenschaftliche und kommunikative Basis besteht tatsächlich die Gefahr des Spezialistentums, ohne diese Basis würde eine zentrale Aufgabe der Oberstufenreform, die Integration der Fächer und die Allgemeinbildung im Sinne übergreifender Strukturen, nicht erfüllt werden. 4. Strukturelle Allgemeinbildung Der Begriff der Allgemeinbildung kann also sehr wohl aufrechterhalten werden — allerdings nicht im Sinne eines Kratzens an der Oberfläche zahlreicher Fächer, sondern im Sinne eines strukturellen Denkens und eines Transfers allgemeiner Methoden und Denkformen in verschiedene Fachbereiche hinein. Beispielhaft wären hier etwa kybernetische Modelle (Regelung, Rückkopplung, Homöostase), die der Technik entnommen und auf biologische oder psychologische Bereiche übertragen werden können. Vester spricht von einem „vernetzten" Denken, von einem Denken in gegenseitigen Abhängigkeiten und Konsequenzen. Zweifellos sind viele gravierende Fehler auf einen Mangel an vernetztem Denken zurückzuführen — man denke etwa an die Auswirkungen unserer technischen Zivilisation auf die Umwelt oder auf das Verhalten des Menschen.

Gewiß kann die Schule auch eine so verstandene Allgemeinbildung nicht abschließend vermitteln, aber sie kann das Interesse fördern, die Welt (und das eigene Leben) in immer umfassenderen Denkansätzen erkennen zu wollen.

Didaktik des wissenschaftlichen Denkens Mit den organisatorischen Maßnahmen der Beschränkung der Stoffgebiete und der Möglichkeit der Schwerpunktwahl einerseits sowie der inhaltlichen Ausgestaltung der philo. sophischen Vertiefung andererseits kann die Oberstufe ihr Ziel noch immer nicht erreichen. Auch die Formen des Lernens und Lehrens müssen auf dieses Ziel gerichtet sein: Das Lernen muß problemorientiert sein, es muß die Aufstellung von Hypothesen einschließen und die Überprüfung dieser Ansätze, es muß die Möglichkeit des Irrtums gegeben sein sowie der ständigen und strengen Korrektur; der Lehrer muß diesen Prozeß unterstützen, er muß Anregungen geben, Lösungshilfen, Anleitungen zur eigenen Kontrolle usw. Die zentrale Lehrstrategie muß also — zumindest in den Leistungskursen — eine „genetische" (oder problemorientierte) sein.

Gewiß erfordert diese Art des Lernens und Lehrens mehr Zeit als Nachvollzug und Darstellung; das Ziel des wissenschaftlichen Arbeitens kann jedoch nur durch eine entsprechende, nämlich genetische Didaktik erreicht werden.

Selbstverständlich kann man in den Grundkursen, die ja nicht unbedingt den Interessen und der Leistungsfähigkeit des Schülers entsprechen, nicht in gleichem Umfang genetisch vorgehen; hier bietet sich eher die darstellende Erkenntnisstrategie an, die den Schüler rasch und sicher auf den notwendigen Informationsstand bringt. Weitere didaktische Aufgaben liegen im Bereich der philosophischen Vertiefung und der strukturellen Allgemeinbildung. Hier geht es um die Vermittlung komplexer Zusammenhänge und einer positiven Einstellung zur eigenen Weiterbildung.

Diesen Aufgaben und der Aufteilung in Grund-und Leistungskurse ensprechend ist also eine didaktische Differenzierung vorzunehmen — ein Sachverhalt, auf den in der Vereinbarung der Kultusministerkonferenz (1972) und in den „Empfehlungen" ausdrücklich hingewiesen wird.

Tradition der Oberstufenreform

Die Konzeption der Oberstufenreform, oder besser gesagt, der Widerstand gegen eine . Allgemeinbildung", ist keineswegs neu; er hat vielmehr eine lange Tradition. Einer der engagiertesten Gegner der Allgemeinbildung war kein Geringerer als Goethe: „Eines recht tun gibt mehr Bildung als Halbheit im Hundertfäl-tigen ... Narrenpossen sind euere allgemeine Bildung und alle Anstalten dazu.. Aber nicht nur Goethe hat vor der . Allgemeinbildung“ eindringlich gewarnt, auch Schleiermacher („Ihr seid müde, das fruchtlose enzyklopädische Herumfahren mitanzusehen ...“) und Nietzsche („Mit fünfzig Klecksen bemalt an Gesicht und Gliedern ...") haben sie mit spitzer Feder attackiert.

Unter den Pädagogen ist vor allem Kerschensteiner als Kritiker zu nennen: „Universalismus ist zu allen Zeiten ein Phantom der Bildung gewesen." Kerschensteiner kommt insofern eine besondere Bedeutung zu, als er seine Ablehnung der Allgemeinbildung genau begründet: Es kann deswegen keine Allgemeinbildung geben, weil wissenschaftliches Denken eine Beschränkung des Stoffgebietes erfordert, und weil der Mensch eine geistige Struktur besitzt, die nicht jedes Kulturgut zu einem Bildungsgut werden läßt. So ist auch sein berühmter Satz zu verstehen: „Die Berufsbildung ist die Pforte der Menschenbildung." Zusammenfassend drückt Kerschensteiner die Aufgabe der Schule in folgendem Passus aus: „Wenn es so etwas gibt wie allgemeine Bildung, dann steht sie nicht am Anfang des Lebens, sondern an seinem Ende, und das Beste, was die Schule tun kann, ist, durch möglichst tiefes Einführen der Schüler in den Sinngehalt einzelner Bildungsgüter, deren Struktur der Struktur der Schüler möglichst adäquat ist, die Kräfte zu entwickeln, die den Zögling von selbst dazu treiben, nach Maßgabe seiner Individualität und der Lebensverhältnisse, in die er geworfen wird, den Umkreis seiner Bildung im Rahmen seiner Lebensaufgabe zu jener Universalität auszudehnen , die einst Wilhelm von Humboldt als das Ziel seiner eigenen universellen Natur sich in seinem Humanitätsideal gesteckt hat."

Nun wird von Befürwortern der allgemeinen Bildung häufig auf das alte humanistische Gymnasium verwiesen. Dieses sei nicht nur eine Stätte allgemeiner Bildung (gewesen), es habe sich auch in unserer technischen Zivilisation bewährt. Tatsächlich gibt es zahlreiche namhafte Naturwissenschaftler und Techniker, die aus dem humanistischen Gymnasium hervorgegangen sind.

Bei näherer Betrachtung erweist sich jedoch der Einwand „humanistisches Gymnasium" als Argument gegen die allgemeine Bildung und fürdie produktive Einseitigkeit. Das alte Gymnasium war nämlich durchaus einseitig: Beherrschende Schwerpunkte waren Griechisch und Latein; andere Fächer spielten dagegen nur die Rolle von „Grundkursen". Der Bildungserfolg des humanistischen Gymnasiums war dessen Einseitigkeit zu danken: Die Schüler lernten in einem beschränkten Stoffgebiet Denken und konnten diese Fähigkeit auf andere Gebiete übertragen. Der Erfolg des humanistischen Gymnasiums beruhte also nicht auf der Allgemeinbildung; er beruhte auch nicht auf den alten Sprachen: Die vielgepriesenen Griechen waren ja selbst Mathematiker, Naturwissenschaftler und Philosophen — jedenfalls keine Altphilologen.

Kritik an der reformierten Oberstufe

Halten wir folgendes fest: Die Konzeption der Oberstufenreform im Sinne der Verlagerung von allgemeiner Bildung zu produktiver Einseitigkeit ist pädagogisch wohl begründet und hat historisch eine lange Tradition; die Verwirklichung der Reform hat jedoch manche Enttäuschung gebracht und viel Kritik hervorgerufen. So sah Lothar Späth am 15. September 1981 „nach drei Jahren Serienerfahrung mit der neugestalteten gymnasialen Oberstufe" die „von der Kultusministerkonferenz 1972 verfolgte Zielsetzung ... nur sehr unzulänglich verwirklicht". Er forderte dementsprechend eine „Tendenzwende in der Bildungspolitik". Kultusminister Gerhard Mayer-Vorfelder führte am 4. Juli 1981 eine ganze Reihe kritischer Einwände gegen die reformierte Oberstufe an: Wachsendes Ausweichen der Schüler vor den Kernfächern, Stoffülle und Verwissenschaftlichung, frühzeitige Spezialisierung, Mängel in der Rechtschreibung, Mängel im Bereich der Erziehung u. a.

Aber nicht nur in Baden-Württemberg und nicht nur von Seiten der Regierung kam massive Kritik an der reformierten Oberstufe. Kritik kommt aus allen Bundesländern, von Parteien, Verbänden, Universitäten und anderen Institutionen, von Lehrern, Eltern, Schülern usw. Man denke etwa an die Ausführungen des früheren niedersächsischen Kultusministers Remmers im „Spiegel", an das Urteil des Hessischen Staatsgerichtshofes gegen die Oberstufenreform, an die Dokumentation von Schülerurteilen usw. Die „FAZ" vom 3. Juni 1981 beklagte einen „allgemeinen Niveauverlust", die „Zeit" veröffentlichte kontroverse Auffassungen zur Reform usw. Versucht man, die zahlreichen kritischen Einwände (von wem sie auch im einzelnen kommen mögen) zu sammeln, so ergeben sich mindestens die folgenden acht Punkte:

1. Mängel im Rechtschreiben und Rechnen, überhaupt in den allgemeinen Grundfertigkeiten. 2. Abwahl sogenannter harter Fächer, d. h. also: Ausweichen vor Leistungsanforderungen. Viele Schüler sehen die Möglichkeit, mit geringem Denkaufwand „Punkte" zu sammeln; sie gehen den Weg des geringsten Widerstandes.

3. Die Stoffülle in den Leistungsfächern hat noch mehr zugenommen; die Schüler müssen noch mehr „pauken" als vorher.

4. Der Übergang zur Universität ist erschwert — zumindest für diejenigen Schüler, die andere Fächer studieren, als sie in der Oberstufe gewählt haben; sie haben einen erheblichen Rückstand und finden den Anschluß nicht mehr. 5. Die reformierte Oberstufe führt zu einer „Verwissenschaftlichung" im Sinne kognitiver Lernziele; das Erzieherische, d. h. die Werte-vermittlung und das soziale Lernen, werden vernachlässigt. 6. Die reformierte Oberstufe vermittelt keinen geschlossenen Bildungsstoff mehr; die Schüler werden zu Spezialisten; es mangelt an „Allgemeinbildung" und „allgemeiner Studierfähigkeit". 7. Die Auflösung des Klassenverbandes führt zur sozialen Desintegration, zum Verlust sozialer Bindungen mit allen Konsequenzen. 8. Die reformierte Oberstufe erfordert einen hohen organisatorischen Aufwand: Die ge. wählten Kurse sind nur mit erheblicher Einschränkung machbar; kleine Gymnasien sind in besonderem Maße benachteiligt.

Nun ist der erstgenannte Einwand, die mangelhafte Rechtschreibung usw., leider sehr berechtigt. Der Einwand betrifft jedoch nicht die reformierte Oberstufe. Das Übel liegt hier schon in der Grundschule, wo man sich zu wenig Zeit nimmt für das üben — vielleicht aus einer übergroßen (und unberechtigten) Sorge vor einer Überforderung der Schüler. Dazu könnte man vieles sagen, es geht jedoch hier nicht um dieses Thema.

Was die anderen Einwände betrifft, insbesondere die Abwahl „harter Fächer", so muß man sie im einzelnen analysieren, man muß sie in ihrem Zusammenhang sehen und man muß untersuchen, ob die Einwände schon in der Konzeption der Reform liegen oder erst durch die Verwirklichung entstanden sind. Leider haben sich Regierungen, Parteien, Verbände etc. diese Mühe (noch) nicht gemacht oder nicht machen wollen; sie reagierten vielmehr global auf die „Schwächen" der Reform oder sogar auf deren „Scheitern". Im folgenden möchte ich die Reaktion der drei zentralen politischen Kräfte in der Bundesrepublik aufzeigen und beurteilen.

Reform und Kritik aus „linker" Sicht

Im Hinblick auf die Oberstufenreform und deren Kritiker scheint mir in erster Linie folgende linke Position ausschlaggebend: die Priorität der Gleichheit. Ungleichheit führt nach sozialistischer Auffassung zur Herrschaft von Menschen über Menschen. Nur eine Gesellschaft von Gleichen ist also eine herrschaftsfreie Gesellschaft, eine humane, gerechte und glückliche.

Zahlreiche Maßnahmen sozialdemokratischer Bildungspolitik sind an der Richtschnur vermehrter Gleichheit orientiert. Beispielhaft ist folgender Satz der Bundeskonferenz der Arbeitsgemeinschaft für Sozialdemokraten im Bildungsbereich vom März 1979: „Die Gesamtschulen haben gezeigt, daß mehr Gleichheit möglich ist" — wohlgemerkt: „mehr Gleichheit", nicht etwa „mehr Chancengleichheit".

Wie gesagt, dienen die Bezeichnungen „links" und „rechts" nur einer sehr groben Einteilung der politischen Landschaft. Bekanntlich haben auch Parteien und Verbände jeweils ihre „linken" und „rechten" Flügel. Im folgenden werden daher in etwas pointierter Form bestimmte Grundeinstellungen zur Oberstufenreform skizziert. Selbstverständlich gibt es in den einzelnen Gruppierungen auch differenziertere Stellungnahmen zu Detailfragen. Linke Politiker haben klar erkannt, was der Gleichheit im Wege steht: individuelle Leistung und hohe Leistungsbewertung. Deswegen werden leistungsfähige Schüler in der Gesamtschule gebremst, deswegen wird die Zahl der Abiturienten hochgeschraubt (was bedeutet das Abitur, wenn jeder zweite es hat?), deswegen werden sogenannte Privilegien gekappt (jeder Fachhochschullehrer wird zum Professor gemacht — sollte es zufällig ein Abgeordneter sein, kann er den Titel auch gleich aufs Wahlplakat schreiben).

Sieht man die Realität der reformierten Oberstufe durch die Brille der Gleichheit, speziell der Maximierung der Abiturientenzahl, so kann man recht zufrieden sein: Mit Leistungs-B kurskombinationen wie Englisch und Sport, Biologie und Kunst, Erdkunde und Musik etc. kann man die Anzahl der Abiturienten zweifellos erhöhen. Wer Gleichheit will, ist (logischerweise) gegen Auslese. So sagt die oben genannte Arbeitsgemeinschaft folgerichtig: „Der entscheidende Abbau aller direkten und indirekten Formen der Auslese wird die wesentliche Rahmenbedingung für die Entwicklung einer menschlichen Schule sein." Auch in der Oberstufe soll nicht ausgelesen werden: „In der Sekundarstufe II wird die materielle Gleichstellung und Integration von beruflicher und allgemeiner Bildung mit gleichberechtigenden Abschlüssen angestrebt." Damit wäre dann das Ziel erreicht: Jeder Schüler absolviert die Oberstufe, jeder Schüler macht das Abitur.

Zusammenfassend kann man sagen: Linke Politiker greifen zwar einige Kritikpunkte der Oberstufenreform auf und streben Verbesserungen in ihrem Sinne an, z. B. erleichterte Übergänge in die Hochschule, weniger Differenzierung zugunsten sozialer Integration, organisatorische Vereinfachungen und dergleichen; sie geben jedoch die Existenz „harter" und „weicher" Fächer nicht zu oder wollen zumindest diese Seite der Oberstufenreform nicht ändern.

Reform und Kritik aus „rechter" Sicht

Um christlich-konservative Bildungspolitik verstehen zu können, muß man folgenden Zusammenhang sehen: Die Erziehungsvorstellungen im christlich-konservativen Lager stehen in der Tradition der Verkündigung. So stellte die Fraktionsvorsitzendenkonferenz der CDU in Baden-Württemberg im Oktober 1979 fest, daß die Schule „einen verbindlichen Bildungs-und Erziehungsauftrag" habe, wobei dieser Auftrag ein christlicher ist: Oberstes Bildungsziel ist „Verantwortung vor Gott". Es liegt auf der Hand, daß die Vermittlung verbindlicher religiöser Erziehungsziele mit freiheitlichen, also religiöse Freiheit einschließenden Vorstellungen in Konflikt gerät. Konservativ-christliche Bildungspolitiker setzen die von ihnen für verbindlich gehaltenen religiösen Erziehungsziele neben die Forderungen nach der Fähigkeit, „selbständig urteilen und entscheiden" zu können, nach „Toleranz" und „freiheitlicher Gesinnung".

Aus der Tradition der Verkündigung ergibt sich auf Seiten des Schülers ein passiv-rezeptives Verhalten. Die Werte werden vom Schüler „übernommen", seine Leistung besteht in erster Linie im Auswendiglernen und Reproduzieren. Damit ist klar, daß die ursprüngliche Konzeption der Oberstufenreform, das wissenschaftliche Denken im Sinne von produktivem und kritischem Denken, von konservativen Politikern nicht mit vollem Herzen unterstützt werden konnte. Nach Mayer-Vorfelder wurde die CDU sogar in die reformierte Oberstufe „hineingehetzt". Folgerichtig fordert der Minister eine Wiederherstellung der (reproduzierenden) Allgemeinbildung, „breitere Kenntnisse", „größeres Gewicht dec Grundkurse", die „Beseitigung der Verwissenschaftlichung", die „Wiedergewinnung des Erzieherischen" (im Sinne christlicher Erziehung), das Auswendig-lernen von Gedichten etc.

Der eben skizzierte Zusammenhang zwischen religiöser Grundüberzeugung und bildungspolitischen Konsequenzen ist zweifellos zentral, aber er ist nicht der einzige. Die Tatsache, daß im Rahmen konservativer Bildungspolitik sehr unterschiedliche, zum Teil widersprüchliche Bildungsziele zusammengestellt werden, führt gelegentlich zu verwirrenden Forderungen. So schreibt Mayer-Vorfelder: „Es wird auch um die Beseitigung der Verwissenschaftlichung gehen, um den Abbau der Stoffülle ..."; tatsächlich ist aber der Abbau der Stoffülle die Voraussetzung für Wissenschaftlichkeit — oder wird Verwissenschaftlichung mit Stoff-fülle gleichgesetzt?

In der Vielzahl unterschiedlicher Forderungen gibt es auch solche, denen ich durchaus zustimme, z. B.der Forderung, der Leistung nicht auszuweichen oder der nach Abbau der Stoffülle. Auch die Wiedergewinnung des Erzieherischen im Sinne einer Werteerziehung möchte ich ausdrücklich begrüßen — ich denke dabei allerdings eher an die im Grundgesetz verankerten Werte (die Bezugnahme auf Gott beschränkt sich im Grundgesetz auf die Präambel) und an die selbstkritische Einstellung im Sinne Poppers oder Sokrates'.

Reform und Kritik aus der Sicht der „Mitte"

Ich habe zu Beginn meiner Ausführungen die Ziele und Strategien der Oberstufenreform, wie sie vor zehn Jahren von der Kultusministerkonferenz beschlossen wurde, dargestellt und erläutert Die damals getroffene Vereinbarung, die von allen Parteien mitgetragen wurde, und die insbesondere auch vom CDU-Kultusminister Storz vorbereitet worden war, halte ich für eine im Grundsatz liberale: Sie entspricht dem Menschenbild unserer freiheitlichen Demokratie, den Anforderungen unserer technischen Zivilisation und den Erkenntnissen der Erziehungswissenschaft.

Daß sich bei der Verwirklichung dieser Konzeption bestimmte Fehler und Mängel herausgestellt haben, ist nichts anderes als selbstverständlich. Man muß sie korrigieren; aber es besteht überhaupt keine Veranlassung dazu, von der wohlüberlegten politischen und-pädagogischen Grundkonzeption abzugehen. Es geht also um die Korrektur bestimmter Mängel. Zu diesem Zwecke möchte ich die wichtigsten Einwände gegen die reformierte Oberstufe im einzelnen untersuchen: Abwahl harter Fächer, Stoffülle, Mangel an Geschlossenheit, Mangel an sozialer Bindung, Verwissenschaftlichung statt Erziehung.

Abwahl harter Fächer Die Kultusministerkonferenz ging in ihrer Konzeption davon aus, „daß die Fächer unter dem Gesichtspunkt der Wissenschaftspropä-deutik prinzipiell gleichwertig" seien („Empfehlungen" S. 5). Diese Annahme hat sich (nach übereinstimmender Auffassung) in der Praxis als unrichtig erwiesen. Es gibt Fächer, in denen bereits auf Schulniveau abstraktes Denken unumgänglich ist, wie z. B. Mathematik und Physik, und es gibt Fächer, in denen konkretes Wissen dominiert, wie z. B. Biologie oder Erdkunde. Es zeigte sich nun eindeutig, daß die „weichen" Fächer verhältnismäßig häufig gewählt wurden — ein Phänomen, das gewiß nicht allein durch das entsprechende Fach-Interesse der Schüler erklärt werden kann.

Da es aber das erklärte Ziel der Oberstufenreform ist, die Schüler zum produktiven (und kritischen) Denken zu veranlassen, muß in diesem Punkt eine Korrektur erfolgen. Die Korrektur kömnte entweder darin bestehen, daß der Schüler mindestens ein hartes Fach wählen muß, oder darin, daß die Fächer tatsächlich wissenschaftspropädeutisch gleichwertig ge. macht werden. Unter liberalem Aspekt wäre die letztgenannte Lösung sicher die bessere (und auch die ursprünglich vorgesehene); zum gegenwärtigen Zeitpunkt erscheint sie jedoch (noch) nicht realisierbar. So bleibt zunächst nur die pädagogische Korrektur, den Schüler „in die Pflicht zu nehmen" — eine Korrektur, die auch von einigen konservativen Politikern verlangt (und durchgesetzt) wird.

Nun darf man aber das Ausweichen der Schüler vor harten Fächern nicht so pessimistisch sehen, wie es vielleicht der Statistik nach gesehen werden könnte: Tatsächlich ist die Oberstufenreform unglücklicherweise in die Zeit des Numerus Clausus gefallen. In dieser Situation hat so mancher Schüler den sichereren Weg gewählt, d. h.den Weg, auf dem er mit Fleiß und ohne großes Risiko zu einer möglichst hohen Punktzahl gelangt. Zieht man den erheblichen Druck, unter dem die Schüler standen (und stehen), in Betracht, so ist das Wahlverhalten der Schüler — ungefähr ebenso viel „Punktesammler" wie Interessen-wähler — sogar recht erfreulich. Ich halte es durchaus für denkbar, daß mit nachlassendem NC-Druck und mit fortschreitender „Verwissenschaftlichung" der „weichen" Fächer die im Augenblick noch notwendige Korrektur in einigen Jahren wieder entfallen kann.

Stoffülle Sieht man sich die Lehrpläne für die Leistungskurse an, so muß man feststellen, daß deren Verfasser Ziel und Strategie der Oberstufenreform offenbar nicht verstanden haben. Statt dem Lehrer die Chance zu geben, in begrenzten Stoffbereichen problemorientierte, genetische Lehrstrategien durchführen zu können, wird der Lehrstoff einfach in den universitären Bereich hinein erweitert. Es ist doch klar, daß die „reformierte Oberstufe“ nicht die von der Kultusministerkonferenz (und anderen) erwarteten Ergebnisse erbringen konnte, wenn eine zentrale Bedingung hierfür, das wissenschaftliche Arbeiten der Schüler, nicht erfüllt wurde. Hier ist eine dreifache Korrektur erforderlich: Abbau der Stoffülle, Entwicklung genetischer Lehrstrategien für die Leistungskurse der einzelnen Fächer, Fortbildung der Lehrer im Hinblick auf die praktische Durchführung problemorientierter Lehrstrategien. Mängel an Geschlossenheit Der Vorwurf des Nebeneinanders der Fächer oder gar des Durcheinanders ist durchaus berechtigt. Der Mangel an Geschlossenheit, an Überblick, an Systematik, an „Vernetzung" etc. bestand jedoch schon vor der Oberstufenreform — er war ja einer der Gründe für diese Reform! Wenn also immer noch über diesen Mangel geklagt wird, so wurde die Oberstufenreform (auch) in diesem Punkte nicht richtig durchgeführt.

Die Geschlossenheit der Bildung (wenn man dieses anspruchsvolle Wort gebrauchen möchte) ist weder durch eine Vielzahl von Fächern zu erreichen noch durch „Spezialisierung" — Geschlossenheit kann nur durch die „philosophische Vertiefung" erreicht werden, durch allgemeine Methoden und Strukturen. Ich sagte schon, daß hier neben Logik und Wissenschäftstheorie auch Politik, Recht und Philosophie eine zentrale Rolle spielen. Meines Erachtens wird das Problem der philosophischen Vertiefung (noch) nicht richtig gesehen: Es geht nicht einfach um das Fach Philosophie oder um ein neues Fach „Wissenschaftstheorie" oder dergleichen, es geht um die Entwicklung eines Curriculums, das grundlegende allgemeine Strukturen umfaßt und gleichzeitig als Kommunikationsbasis aller „Spezialisten" dient. Eine solche Kommunikationsbasis ist für das Funktionieren einer freiheitlichen Demokratie lebenswichtig.

Mangel an sozialer Bindung Der Vorwurf mangelnder sozialer Bindung durch die Auflösung des Klassenverbandes ist sehr ernst zu nehmen. Meines Wissens sind sich alle Pädagogen (und Politiker) darin einig, daß eine zu frühzeitige Auflösung des Klassenverbandes zu unerwünschten und gefährlichen „Mangelerscheinungen" führen kann. Es erhebt sich allerdings die Frage, was hier „frühzeitig" bedeutet Daß die Kinder in der Grundschule im wesentlichen zusammenbleiben sollen, wird nicht bestritten. In der Mittelstufe scheint eine zeitweilige Auflockerung zugunsten einer Interessen-und Leistungsdifferenzierung zumindest nicht zu schaden. In der Oberstufe aber ist die Aufrechterhaltung des Klassenverbandes weder erforderlich noch wünschenswert: Die Schüler müssen ja irgendwann einmal lernen, ihre sozialen Beziehungen selber zu suchen und zu pflegen; eine dauerhafte „Verwöhnung" in dieser Hinsicht verhindert geradezu soziale Mündigkeit. Der erwachsene Bürger muß sich seine Bezugsgruppen (Parteien, Vereine, Freunde etc.) selber wählen, er übt soziale und kommunikative „Selbstbestimmung". Die reformierte Oberstufe scheint mir hier einen vernünftigen Übergang zu dieser Selbstbestimmung zu ermöglichen. Dies hat nicht nur die KMK so gesehen, das sehen auch (einer Umfrage zufolge) die meisten Schüler so. Wenn einzelne Schüler hier Probleme haben, so sollten sie sich an Vertrauenspersonen wenden können, die ihnen helfen, aber sie müssen die Probleme letztlich selbt lösen — spätestens als Erwachsener ist jeder „auf sich selbst gestellt".

Verwissenschaftlichung statt Erziehung Dieser Punkt hat sich, wie ich meine, weitgehend erledigt: Das wissenschaftliche Denken als produktives und (selbst) kritisches Denken wirkt in hohem Maße erzieherisch. Wissenschaftliches Denken erzieht zu Bescheidenheit und Toleranz, zur Ablehnung jeder Art von Dogmatismus. Eine bessere Form politischer Bildung als hartes wissenschaftliches Arbeiten mit allen Konsequenzen kann man sich in einer Demokratie gar nicht wünschen. Der Vorwurf, die Oberstufenreform vernachlässige das Erzieherische, ist daher unverständlich — es sei denn, man will gar nicht den produktiven und kritischen Bürger, sondern den rezeptiven und indoktrinierten. Freilich: Das Erzieherische im Sinne wissenschaftlichen Arbeitens ist nur dann realisierbar, wenn die Oberstufe wirklich so aufgebaut ist, wie dies Kerschensteiner seinerzeit schon gefordert hat

Man müßte im Sinne einer Verbesserung der Oberstufenreform noch über viele Einzelheiten reden (z. B. über eine bessere Verzahnung der Oberstufe mit der Mittelstufe, über die Frage der Ganztagsschule, über einen eventuellen Abbau des 13. Schuljahres usw.). An dieser Stelle möchte ich nur folgendes festhalten: In ihren Zielen entspricht die Oberstufenreform unserer freiheitlichen Demokratie; ihre Organisation ist im Grundsatz pädagogisch richtig; die Fehler im Entwurf und in der Durchführung der Reform können ohne großen Aufwand korrigiert werden.

Fussnoten

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Felix von Cube, Dr. rer nat, geb. 1927; Lehrer für Mathematik und Naturwissenschaften am Gymnasium; 1963 Lehrstuhl für Allgemeine Didaktik an der PH Berlin; 1970 Lehrstuhl für Schulpädagogik an der PH Bonn; seit 1974 o. Professor für Erziehungswissenschaft und Direktor des Erziehungswissenschaftlichen Seminars an der Universität Heidelberg. Veröffentlichungen u. a.: Allgemeinbildung oder produktive Einseitigkeit?, 1960; Kybernetische Grundlagen des Lernens und Lehrens, 1965, 4. Aufl. 1982; Was ist Kybernetik?, 1967, 3. Aufl. 1976; Technik des Lebendigen, 1970; Gesamtschule — aber wie?, 1972; Erziehungswissenschaft — Möglichkeiten, Grenzen, politischer Mißbrauch, 1977; (zus. mit W. Hadding) Recht in unserer Gesellschaft, 1978, 2. Aufl. 1982.