Die Wahlen vom 6. März 1983 bestätigten die erstaunliche Stabilität des Wählerverhaltens und zeigten auf den ersten Blick Parallelen zur Wählerlandschaft der fünfziger Jahre: O Die Union verfügt über ein seit Mitte der fünfziger Jahre festgefügtes Anhängerpotential, das sie am 6. März 1983 wie bereits 1957 und 1976 voll in Stimmen umsetzen konnte. O Die SPD setzt ihren auf kommunaler Ebene begonnenen Negativtrend auch auf Bundesebene fort; sie bewegt sich in Richtung ihres Wählerpotentials der fünfziger Jahre. O Die FDP rettete ihre bundespolitische Rolle als Mehrheitsbeschaffer und Korrektiv zwischen den beiden großen Blöcken. Andererseits brachte die Wahl am 6. März den ersten qualitativen Sprung des politischen Systems seit den fünfziger Jahren: Zum ersten Male gelang mit den Grünen einer neuen politischen Gruppierung der Einzug ins Bonner Parlament. Stabilität und Wandel des politischen Systems zu Beginn der achtziger Jahre reflektieren die strukturellen Wandlungen des Wirtschafts-und Sozialsystems, den damit zusammenhängenden Wertewandel und die unterschiedlichen Reaktionen der Parteien auf den gewandelten Wählermarkt. Anhänger neuer Wertsysteme („Postmaterialisten") stellen das Anhängerpotential der Grünen. Die am 6. März 1983 geschaffenen neuen Strukturen erschweren in den nächsten Jahren einen Machtwechsel durch Wahlen in der Bundesrepublik, weil die strukturellen Benachteiligungen der SPD heute wieder so groß wie in den fünfziger Jahren und neue Koalitionskonstellationen noch nicht in Sicht sind. Der Union ist es gelungen, eine optimale Balance von Mitglieder-und Wählerstrukturen sowie ideologischer Wertsysteme herzustellen. Die SPD hingegen tat sich schwer, ihre unterschiedlichen Mitglieder-und Wählergruppen und deren kontroverse Wertsysteme zu integrieren.
Das politische System nach dem 6. März 1983
Gewinnerin der Bundestagswahl vom 6. März 1983 war nicht nur die Union, sondern nach ihren eigenen Verlautbarungen auch die Demoskopie. Allen voran bezeichnete Elisabeth Noelle-Neumann in einem Spiegel-Gespräch (Nr. 11/83 vom 14. März 1983) ihre Prognose als „gut gelungen" und ließ sich als „Siegerin" in diesem Wettkampf der Demoskopen feiern.
Abbildung 11
FDP-Verluste 1983 — 1980
FDP-Verluste 1983 — 1980
Dabei war bei keiner Wahl vorher das Verwirrspiel der offerierten Zahlen und Daten größer und für den Bürger undurchschaubarer. Dieses Verwirrspiel führt zu Irreführungen des Wählers, wenn man bis auf Bruchteile hinter dem Komma Umfragewerte publiziert und damit beim Wähler den Anspruch von Absolutheit erweckt. Daß dies dann im Unterschied zur am Wahlsonntag wiedergegebenen „Prognose" im Kleingedruckten als „Momentaufnahme" bezeichnet wird, mag zwar das methodische Gewissen der Demoskopen beruhigen, dürfte jedoch nicht zu einer Klarheit beim Bürger beitragen. Und bei der Flut veröffentlichter Umfragezahlen hätte der Bürger dann auch vor dem Wahlsonntag und nicht erst nach Schließung der Wahllokale ein Anrecht auf die Werte der letzten Umfrage.
Abbildung 12
Tabelle 4: Anteil der FDP-Erststimmen an Zweitstimmen (%)
Tabelle 4: Anteil der FDP-Erststimmen an Zweitstimmen (%)
Nach der Wahl nun so zu tun, als ob das Instrument Demoskopie zuverlässige Wahl-prognosen liefern könne, ist wohl nicht ganz angemessen. Die vor den Wahlen in Hessen und Hamburg verbreiteten Zahlen zeigen eher die Grenzen der Demoskopie auf — ebenso wie die Tatsache, daß die entscheidende Frage der Wahl vom 6. März nicht von der Demoskopie beantwortet werden konnte, nämlich ob die Bundesrepublik auf dem Weg zu einem Zwei-, Drei-oder Vierparteiensystem war.
Abbildung 13
Gewinne der Grünen am 6. März gegenüber den letzten Kommunalwahlen
Gewinne der Grünen am 6. März gegenüber den letzten Kommunalwahlen
Zu fragen ist vielmehr, ob die Flut von Umfragedaten eine bewußte Beeinflussung des Wahlgeschehens leisten sollte, oder ob das Instrumentarium der Demoskopen überfordert war und ist. Damit soll nicht das Instrument Umfrage in Frage gestellt werden, denn ohne seriöse und methodisch einwandfrei durchgeführte Umfragen kann keine Wahl-forschung arbeiten - Für die Analyse und Bewertung des Wahlausgangs sind die demoskopischen Daten in der publizierten Einseitigkeit von Wahlprojektionen wenig hilfreich. Sie suggerieren nämlich eine Instabilität des Wahlverhaltens, die mit der Wahlwirklichkeit nicht übereinstimmt. Und für den kleinen Teil der nicht festgelegten Wähler ist das Umfrageinstrumentarium zu grobmaschig, als daß es sichere Aussagen über Verhalten liefern könnte.
I. Wählerstrukturen am 6. März: Bekannte Muster aus den fünfziger Jahren
Abbildung 7
Tabelle 2: Vorsprung CDU/CSU vor SPD (Prozentdifferenz)
Tabelle 2: Vorsprung CDU/CSU vor SPD (Prozentdifferenz)
Der 6. März hat die Stabilität des Wählerverhaltens in der Bundesrepublik unterstrichen: — Noch nie gab es in der Bundesrepublik einen Regierungswechsel durch Wahlen; der durch den Koalitionswechsel im Herbst 1982 in Bonn herbeigeführte Rollentausch zwischen Regierung und Opposition erhielt nur eine nachträgliche Bestätigung durch den Wähler.
Abbildung 14
Tabelle 5; Sozialstruktur in der Bundesrepublik
Tabelle 5; Sozialstruktur in der Bundesrepublik
— Die Union erreichte aufgrund ihrer festgefügten Anhängerstruktur ein Ergebnis, das fast an ihr bisheriges Stimmenmaximum bei der Bundestagswahl 1957 heranreichte.
Abbildung 15
Arbeit empfinden als ... 1965 Quelle: Institut für Demoskopie Allensbach
Arbeit empfinden als ... 1965 Quelle: Institut für Demoskopie Allensbach
— Die bei der SPD auf kommunaler Ebene bereits deutlich erkennbaren negativen Trendverläufe setzten sich am 6. März auch auf Bundesebene fort.
Abbildung 16
Schüler nach Schulart
Schüler nach Schulart
— Die FDP erhielt ihre staatspolitische Korrektivrolle vom Wähler auch diesmal wieder auf Bundesebene zugewiesen.
Andererseits hat das politische System am 6. März aufgrund seiner eigenen Dynamik die langfristige Entwicklung im Nachkriegsdeutschland zu zwei gleich großen Wähler-blöcken unterbrochen. Damit ist auch die Chancengleichheit der Parteien für einen Machtwechsel durch Wahlen nicht mehr vorhanden. Die Bundesrepublik ist nach dem 6. März nicht mehr auf dem Wege zum Zwei-Parteien-System, sondern zu einem Mehr-Parteien-System. Zum ersten Male seit den fünfziger Jahren hat sich das politische System für neue Gruppierungen geöffnet Ob dies ein Vorgriff auf die Zukunft oder nur ein Rückgriff auf Muster der fünfziger Jahre ist, wird abzuwarten sein. Die Parallelen zur Situation des politischen Systems in den fünfziger Jahren sind allerdings auf den ersten Blick verblüffend:
— Der Vorsprung der Union am 6. März vor der SPD ist mit 10, 6 Prozentpunkten seit den fünfziger Jahren nie mehr so groß gewesen. — Die „flächendeckende" Überlegenheit der Union am 6. März weist ebenfalls bereits in den fünfziger Jahren zu beobachtende Züge auf: Wie 1957 hat die Union in allen Flächenstaaten die Mehrheit. In den traditionellen Hochburgen der SPD, den großen Städten, gibt es ebenfalls wieder eine deutliche Verschiebung der Parteienkonstellationen in Richtung Union. Hier setzt sich eine Entwick-lung fort, die auf der kommunalen Ebene bereits seit eineinhalb Jahrzehnten zu beobachten ist. Damit fehlt der SPD im Unterschied zu den sechziger Jahren eine wesentliche Basis für die Vertrauenswerbung beim Wähler. Die SPD findet sich in die Situation der fünfziger Jahre zurückversetzt.
Die Union hat ihre Lage gegenüber den fünfziger Jahren noch verbessert: Sie kann in den achtziger Jahren ihre zentrale Machtposition in Bonn auch auf der kommunalen Ebene abstützen und absichern.
Daß nach dem 6. März wieder Strukturen und Muster der fünfziger Jahre sichtbar geworden sind, ist nicht auf starke Schwankungen des Wähleranteils der Union zwischen 1953 und 1983 zurückzuführen: Die Spannweite zwischen dem minimalen Stimmenanteil der Union (1972) und dem maximalen (1957) beB trägt nur 5, 7 Prozentpunkte. Vielmehr dürften die Schwankungen des SPD-Wähleranteils diese Entwicklung zu Strukturen der fünfziger Jahre begünstigt haben: Die Spannweite zwischen Minimum (1953) und Maximum an Wählerstimmen (1972) beträgt bei der SPD rund drei mal so viel wie bei der Union, nämlich 17 Prozentpunkte. Die Entwicklung der Anhängerpotentiale der beiden großen Parteien (die etwas vereinfacht mit den Prozentanteilen bezogen auf die Zahl der Wahlberechtigten gleichgesetzt werden können) zeigt dies deutlich: Die Union verfügt seit 1957 über einen geradezu monolithischen Anhängerblock von mehr als zwei Fünfteln der Wahlberechtigten. Dieses Anhängerpotential konnte die Union bei den nachfolgenden Bundestagswahlen zwar nicht immer in zählbare Wählerstimmen umsetzen, weil aktuelle Ereignisse (wie der Bau der Mauer in Berlin 1961, die Auswirkungen der Großen Koalition 1969 oder der umstrittene Kanzlerkandidat Franz Josef Strauß 1980) dies verhinderten. Ohne solche Irritationen gelang der Union jedoch die vollständige Umsetzung ihres Anhängerpotentials in Stimmen: So z. B. 1976, als die Union mit 43, 7 Prozent der Wahlberechtigten alle potentiellen Anhänger zu einer Stimmabgabe für die Union bewegen konnte, bei den meisten regionalen Wahlen seit Oktober 1980 und am 6. März 1983, als die Union die Stimmen von 43, 1 Prozent der Wahlberechtigten für sich verbuchen konnte.
Das SPD-Anhängerpotential ist demgegenüber weitaus beweglicher: Die SPD konnte ihr Anhängerpotential von rund einem Fünftel bei der Bundestagswahl 1949 auf rund zwei Fünftel bei der Wahl 1972 verdoppeln. Danach sank das Potential kontinuierlich wieder ab und erreichte im März 1983 mit einem Drittel einen Tiefstand seit 1961.
Die FDP hat ihr überleben im Bonner parlamentarischen System am 6. März ebenfalls einer erstaunlichen Stabilität zu verdanken: Dies liegt allerdings weniger an einer individuellen Stabilität ihrer Anhänger; viele FDP-Wähler haben der Partei nämlich nach dem Herbst 1982 den Rücken gekehrt — verblieben sein dürften ihr bundesweit rund drei Prozent Stammwähler.
Für die FDP gilt vielmehr eine Art staatspolitischer Stabilität: Von vielen nicht fest an die großen Anhängerblöcke gebundenen Wahlberechtigten werden der FDP zwei Rollen zugewiesen: 1, Da der Wähler in Deutschland durch seine persönliche Entscheidung politische Verhältnisse nicht ändern möchte und von daher auch noch kein Regierungswechsel durch Wahlentscheid herbeigeführt wurde, muß die FDP demokratische „Machtwechsel" vollstrekken. Abgesehen von den Kräfteverschiebungen in den Städten hat immer ein Koalitions-
wechsel der FDP zum Rollentausch zwischen Regierung und Opposition geführt. Selbst wenn der Wähler (wie im Herbst 1982) moralische Bedenken gegen die Art und Weise des Wechsels hat, scheint er die staatspolitisch funktionale Rolle der FDP im politischen System bei den nachfolgenden Wahlen zu honorieren. 2. Daneben scheint der Wähler als weitere staatspolitische Funktion auf Bundesebene der FDP eine „Korrektiv" rolle zuzuweisen: Sie soll zwischen den beiden großen Parteiblökken als politikneutraler Ausgleich wirken.
Beide Rollen werden der FDP jedoch offenbar nur auf Bundesebene zugestanden. Die Wahlergebnisse in Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein zeigen, daß diese Rolle als Mehrheitsbeschaffer, als Vollstrecker eines demokratischen Regierungswechsels und als Korrektiv zwischen den großen politischen Fronten auf Länderebene weniger deutlich geB wünscht bzw. für nicht notwendig gehalten wird.
Wie wenig die FDP 1983 im Gegensatz zu früheren Wahlen auf individuelle Stabilität ihrer Wähler rechnen konnte, zeigt ein Vergleich des Anteils der Erststimmen der FDP an ihren Zweitstimmen. Deutlich wird, daß die FDP am 6. März nur ein Drittel ihrer Zweit-stimmen-Wähler auch als feste Anhänger einstufen kann. Wiederum liefern die LandtagsWahlen in Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein den Beleg: Bei beiden Wahlen errang die FDP unabhängig von ihrer jeweiligen Koalitionsaussage nur den Erststimmenanteil der Bundestagswahl.
Das neue, nicht mit der bisherigen Stabilität des Wahlverhaltens übereinstimmende Element der Wahl vom 6. März war, daß sich die Grünen als vierte Partei in das Parteienspektrum eingefügt haben. Dieser „qualitative Sprung" des politischen Systems war von der Demoskopie nur schwer einzufangen. Während die Grünen sich bisher nur auf der kommunalen Ebene als fester politischer Faktor etabliert hatten, setzten sie bei der Bundestagswahl offenbar ihr vollständiges Anhängerpotential in Stimmen um. Sie erreichten in den Städten, wo sie bisher in kommunalen bzw. Landesparlamenten vertreten waren, mehr Stimmen als bei der jeweils vorausgegangenen Kommunal-oder Landtagswahl.
II. Strukturelle Rahmenbedingungen des politischen Systems
Abbildung 8
Tabelle 3: Länder bzw. Großstädte mit Mehrheiten der Union bzw.der SPD
Tabelle 3: Länder bzw. Großstädte mit Mehrheiten der Union bzw.der SPD
Unter welchen strukturellen Rahmenbedingungen entwickelte sich die dargestellte Stabilität des Wählerverhaltens bzw. bildeten sich Bedingungen für neue Entwicklungen des politischen Systems heraus?
Nach dem Zweiten Weltkrieg knüpften die Parteien zunächst an die klassische Konflikt-linie an, an der sich die deutsche Politik fast ein Jahrhundert lang orientiert hatte. Beherrscht wurde die Politik vom Gegensatz zwischen dem „Proletariat" und der „bürgerlichen Gesellschaft". Anknüpfungspunkte für die Politik waren die objektiven Indikatoren bestehender ökonomischer Ungleichheiten, aber auch die subjektiven Empfindungen der den einzelnen Gruppen zugehörigen Bürger. Diese nach dem Einschnitt des Nazi-Regimes wieder an die alten Traditionen anknüpfende deutsche Politik brachte der SPD ein „strukturelles Defizit", da die „bürgerliche Gesellschaft" mit konservativen Wertsystemen zahlenmäßig in der Bundesrepublik stärker verankert war. Dieses strukturelle Defizit der SPD hat sich objektiv durch die Entwicklung der Produktivkräfte, des technologisch wirt-schaftlichen Wandels vergrößert. Immer weniger Wähler sind im produzierenden Bereich der Wirtschaft beschäftigt, immer mehr im tertiären Bereich. Damit schrumpfte der Anteil des klassischen Industrie-Facharbeiters, der Kernschicht der SPD-Wähler.
Entstanden sind demgegenüber immer neue, bis dahin unbekannte Berufe. Veränderungen des ökonomischen Unterbaus, Modernisierungsbestrebungen und technologische Entwicklungen bis hin zur Roboter-und Mikroelektronik brachten diese sogenannten neuen Mittelschichten hervor. Rekrutiert wurden diese neuen Mittelschichten zum überwiegenden Teil aus Familien breiterer Bevölkerungsschichten; Arbeiter erhielten die Chance, innerhalb ihres eigenen Lebens aufzusteigen, häufiger aber erfolgte der soziale Aufstieg zwischen zwei Arbeitergenerationen: Aufsteiger aus Arbeiterhaushalten bildeten das klassische Rückgrat der neuen Mittel-schichten. Dieser wirtschaftliche und soziale Wandel in der Bundesrepublik führte auch zu einer Einebnung der klassischen gesellschaftlichen und politischen Konfliktlinien: Zwischen dem Proletariat und der bürgerlichen Gesellschaft gibt es unabhängig von allen objektiven Indikatoren noch immer bestehender ökonomischer Ungleichheiten nach den subjektivenEmpfindungen der Bürger keinen allzu großen Gegensatz mehr. Bereits Mitte der siebziger Jahre rechneten sich mehr als ein Drittel der Arbeiter selbst nicht mehr zur Arbeiterschaft, sondern stuften sich als Mittelschicht ein. Damit führten die objektiven Veränderungen auch zu anderen subjektiven Einstellungen, einem anderen Bewußtsein. Für die aufgestiegenen Arbeiter war das Etikett Angestellter nicht eine bloße Frage der Rentenversicherung, sondern bedeutete auch eine Änderung des Lebensstiles
Dieser bisher beschriebene Wandlungsprozeß führte jedoch nicht zu einer grundsätzlichen Abkehr vom traditionellen gesellschaftlichen Wertsystem. Die Sicherung der Arbeitsplätze und des materiellen Fortschritts sowie die
Orientierung an Leistung und Aufstiegsmöglichkeiten sind für Arbeiter und neue Mittel-schichten gleichermaßen wichtig. Geschlossen steht man hinter Wohlfahrtsstaat, Sozial-partnerschaft und Demokratie. Im Gegensatz zu den Arbeitern neigen die neuen Mittel-schichten jedoch dazu, individuellen Zielen den Vorrang zu geben und in der Politik eher opportunistisch zu reagieren und sich von Moden und Massenmedien leichter beeinflussen zu lassen.
Dies zeigt sich z. B. auch an einer stärkeren Freizeitorientierung: Zugenommen hat nicht nur die objektiv zur Verfügung stehende freie Zeit, sondern auch die subjektive Bedeutung der Freizeit gerade für Angehörige neuerer Mittelschichten.
III. Wertewandel: Der sogenannte Postmaterialismus
Abbildung 9
CDU/CSU-und SPD-Anteile bei Bundestagswahlen seit 1949
CDU/CSU-und SPD-Anteile bei Bundestagswahlen seit 1949
Neben der durch den technologischen Wandel bedingten Entstehung der neuen Mittel-schichten zeigen sich jedoch neue Entwicklungstendenzen in der heutigen Gesellschaft, die einen radikaleren Wertewandel zur Folge haben. Gerade in den großen Städten, die Vorreiter der gesellschaftlichen Entwicklung von morgen sind, wuchs auch als Folge der völligen Absicherung der ökonomischen Existenz und der massiven Expansion der Bildung neben den neuen Mittelschichten eine weitere Bildungsschicht heran, der es nicht um Herrschaft oder Besitz, das heißt, um gesellschaftliche Macht geht.
Diese neuen Bildungsschichten lehnen den Wohlstandsmaterialismus der Industriegesellschaft ab und stellen dem eine neue Lebensauffassung gegenüber — den sogenannten Postmaterialismus. Postmaterialistische Werte entstehen wie folgt: Je besser die elementaren materiellen Bedürfnisse des Menschen befriedigt sind, je besser die Versorgung mit Gütern wie Einkommen, Wohnung, Essen, Trinken und einem Minimum an Kultur gelöst ist, desto eher wird die materielle Versorgung als unproblematisch angesehen. Der Sättigungseffekt durch eine Überversorgung mit materiellen Gütern führt so zur Ausbildung nicht-materieller Bedürfnisse. Der Kampf um die elementare Versorgung mit Grundbedürfnissen für den Menschen wurde gerade bei vielen Jüngeren, der Not, die Zeiten der Knappheit und des Krieges nicht mehr aus eigenem Erleben kennen, in den Hintergrund gedrängt. Begünstigt wurde dies durch die in modernen Wohlfahrtsstaaten größer gewordene materielle Sicherheit, die Freiheit von krasser Not und die abnehmende individuelle Bedrohung durch Krieg, Wirtschaftskrisen und Verarmung. Diese strukturellen Veränderungen im gesellschaftlichen Unterbau waren die Voraussetzung für Bewußtseinsänderungen im sozialen überbau. Man konnte sich in stärkerem Maße den höheren Ansprüchen der Lebensgestaltung zuwenden.
Der Anteil dieser sogenannten Postmaterialisten liegt in der Bundesrepublik insgesamt bei 6 bis 7 Prozent aller Wahlberechtigten; in den großen Städten erreichen die Anteile heute bereits 12 bis 15 Prozent. Das Wähler-potential der Grünen ist damit weitgehend identisch. Der Anteil dürfte — wie Werte aus anderen westlichen Gesellschaften, insbesondere den USA oder den Niederlanden, zeigen — in der Zukunft noch ansteigen. Daß eine ansteigende Tendenz durch ökonomische Krisensituationen und drohende Arbeitslosigkeit langfristig unterbrochen wird, ist eher unWahrscheinlich. Allenfalls verlangsamt sich die Ausbreitung dieser Werte etwas. Im übrigen sind Anhänger des postmaterialistischen Wertsystems vor materiellen Existenzkrisen Wegen ihrer besseren beruflichen Ausbildung auch besser geschützt.
Verbreitet sind postmaterialistische Werthaltungen nämlich vor allem unter den besser gebildeten, überwiegend aus bürgerlichen und wohlhabenden Elternhäusern stammenden Jüngeren, die die Gegebenheiten einer hochtechnisierten Zivilisation als selbstverständlich hinnehmen. In diesen jüngeren Bildungsschichten wurde die Entwicklung von nachindustriellen Wertsystemen nicht durch eigene Erlebnisse von Not und Unsicherheit behindert. So konnten sich als Hauptforderung der neuen Wertehaltung die Abschaffung von Arbeits-und Leistungsstreß, von sozialem Druck und ein ausgeprägtes Mißtrauen gegen große Organisationen und Systeme der Technik und der Administration herausbilden.
Diese neuen postmaterialistischen Werthaltungen lassen sich jedoch relativ bruchlos mit den materialistischen Vorteilen dieser Gesellschaft vereinen; beide Wertsysteme können auf der individuellen Ebene miteinander verknüpft werden. Dem entspricht, daß der Anteil von . Aussteigern" aus der Gesellschaft unter den Anhängern postmaterialistischer Werte gering ist. Im Gegenteil: Bürger mit postmaterialistischen Werthaltungen finden sich immer häufiger in höheren sozialen und beruflichen Positionen, da ihre bessere schulische und berufliche Ausbildung sie gerade für höhere Funktionen in Verwaltung und vor allem in den Medien prädestiniert. Trotz ihrer zahlenmäßig noch geringen Bedeutung können die Postmaterialisten und damit Grüne oder alternative politische Gruppierungen über ihre sozialen und beruflichen Positionen und vor allem ihren Einfluß in den Medien ihre Wertsysteme und Bedürfnisse lautstark artikulieren und verbreiten. Für ihren Protest können sie überdies viel Zeit und großes Engagement aufwenden. Ihre Aktionen werden von Begeisterung, mitunter auch durch gut gespielte Entrüstung getragen. Gezielte Aggressionen werden dann eingesetzt, wenn es ihrer politischen Arbeit nutzt. Da ihre eigene Werthaltung wirtschaftliche Güter gering einschätzt, brauchen sie bei ihren Aktionen auch keine Rücksicht auf solche Werte zu nehmen: Verkehrsbehinderungen, Sachzerstörungen, Gefährdung von Arbeitsplätzen •sind logische Folgen dieses Wertsystems. Der Wählermarkt der achtziger Jahre ist insofern sehr viel differenzierter als der der fünfziger. Nach dem 6. März sich zeigende politische Parallelen zu den fünfziger Jahren sind von daher eher vordergründig als strukturell.
IV. Wie haben die Parteien auf den differenzierteren Wählermarkt reagiert?
Abbildung 10
Entwicklung der Anhängerpotentiale von CDU/CSU und SPD 1949 — 1983
Entwicklung der Anhängerpotentiale von CDU/CSU und SPD 1949 — 1983
Der stabile Erfolg der Union in den siebziger Jahren auf allen politischen Ebenen legt den Schluß nahe, daß die Union sich auf die Struktur und Bedürfnisse ihrer Anhänger besser eingestellt hat. In der Tat scheint der Wandel von Sozialstruktur und Werten das Anhängerpotential der Union noch am wenigsten tangiert zu haben. Sie kann zurückgreifen auf die Gruppe der Bevölkerung, in deren wohlverstandenen Interesse eine konservative Politik mit der Erhaltung von Inegalität und Vorrechten liegt. Grenzen werden nur dort gesetzt, wo das Funktionieren der Industriegesellschaft in Frage gestellt würde. Zu diesen Gruppen gehören vor allem Selbständige, Unternehmer und Manager, die besser bezahlten Bildungseliten der Freiberufler, manche Gruppen im öffentlichen Dienst (der traditionelle Beamte), aber auch andere Nutznießer einer bürgerlichen Sozial-und Werteordnung, von Luxusgeschäften bis zu halbkriminellen Randerscheinungen im Vergnügungsbetrieb.
Der konservative Anteil am Wählermarkt ist trotz aller gesellschaftlichen Wandlungsprozesse keinesfalls geschrumpft. Allerdings ist der Kern des konservativen Wählerpotentials auch nicht größer geworden: Die Stabilität des Anhängerpotentials der Union seit 1957 beruht hierauf. Obwohl es insofern keinen häufig zur Erklärung des Wahlverhaltens behaupteten „konservativen Trend" gibt, bleiben konservative Werthaltungen auch für Rand-gruppen in anderen Wählerbereichen attraktiv. Für die Union ist es deshalb wichtig, die Wertmuster dieser Wählerschicht in Einklang zu halten mit der politischen Ideologie der Union. Nicht von ungefähr knüpfte der Regierungs-und Wahlkampfstil der Union bruchlos an Sprache, Slogans und Symbole der fünfziger Jahre an. Der Erfolg am 6. März stellte sich fast automatisch ein; unterstützt wurde er vom desolaten Zustand des politischen Gegners.
Denn die SPD tat sich mit ihren Reaktionen . auf die Wandlungsprozesse der Gesellschaft offenbar sehr viel schwerer. Für die Situation der SPD ist kennzeichnend, daß die Arbeiter aus der Partei herausgedrängt, die neuen Mittelschichten verprellt und die Postmaterialisten nicht an die Partei gebunden wurden.
Die Arbeiter, die das klassische Rückgrat der Mitglieder-und Wählerstruktur der SPD bildeten, spielen innerhalb der Partei eine immer geringere Rolle. Dies gilt z. B. für ihren Anteil am Funktionärskörper: So konnte bereits 1974 in Nordrhein-Westfalen festgestellt werden, daß bei einem Anteil von 44 Prozent Arbeitern unter allen Mitgliedern nur 23 Prozent der Ortsvereinsvorsitzenden und nur 11 Prozent der Unterbezirksvorsitzenden Arbeiter waren; lediglich unter den Ortsvereinskassierern waren die Arbeiter entsprechend ihrem Mitgliederanteil zu 44 Prozent vertreten. Neuere Zahlen zeigen, daß sich dieser Trend selbst in einer noch stark von der Arbeiterkultur geprägten Region wie Nordrhein-Westfalen dramatisch fortgesetzt hat.
Die Arbeiter wurden aber auch in der „normalen" Mitgliedschaft als tragendes Element herausgedrängt, weil der Mitgliederzustrom nach 1969 aus anderen Bevölkerungsquellen gespeist wurde: Zwischen 1969 und 1974 strömten in die SPD „überbildete" „Bourgeoissöhnchen" (wie Robert Michels es bereits 1906 formulierte), das heißt Kinder aus bürgerlichen Lehrer-, Beamten-und Pfarrerhaushalten mit überdurchschnittlicher Bildung, aber keinerlei Bindung an die Arbeiterbewegung bzw. die Gewerkschaften und einem großen Nachholbedarf an Sozialismus.
Diese Umschichtung der Mitgliederstruktur der SPD konterkarierte den historischen Erfolg der Sozialdemokraten: die gesellschaftliche Integration der Arbeiter. Indem die Arbeiter innerhalb der Partei zu einer Marginal-gruppe wurden, nahm auch ihre politische Bedeutung ab. Da die Arbeiter in der heutigen SPD ihre Interessen nur noch sehr selten vertreten können, nimmt auch ihr Einfluß in Gesellschaft und Politik ab. Mit der mangelnden Artikulations-und Partizipationsmöglichkeit der klassischen Wählerklientel in der SPD änderten sich zwangsläufig auch die Ziele und die politische Programmatik der Parten Aus der Sicht des Arbeiters entsteht so ein Teufelskreis: Die Gefahr der Benachteiligung seiner Interessen in der Gesellschaft sieht er immer deutlicher.
Dies führte bei den bisherigen Wahlen noch nicht zu massenhaften Abwanderungen von Arbeiterwählern in das konservative Wähler-lager: Auch am 6. März 1983 war die Stabilität der SPD in den Arbeitervierteln noch am höchsten. Aber große Wahlenthaltungen gerade bei Wahlen auf kommunaler Ebene deuten an, daß hier für die SPD weitere potentielle Abwanderer vorhanden sind.
Die SPD hat jedoch nicht nur ihre klassischen Wähler im Stich gelassen, sondern auch die neuen Mittelschichten, die ihr in den sechziger Jahren nicht nur zum Erfolg, sondern 1969 auch zur Regierungsverantwortung in Bonn („Schiller-Wähler") verhülfen haben.
Obwohl sozialdemokratische Grundwerte, die Einstellung zum technischen Fortschritt und zum sozialen Wandel die Entstehung der neuen Mittelschichten begünstigte, verteufelte die SPD in den siebziger Jahren alle in den fünfziger und sechziger Jahren mitgetragenen Werte dieser Wählerschichten. Das gilt für Werte wie: individuelle Konsumorientierung, individuelle Wohnformen, leistungsorientiertes Denken, Aufstiegs-und Karriereerwartungen, etc. Alle Werte, die den Mittelschichten wichtig waren, hat die SPD in den siebziger Jahren durch ihre Öffentlichkeitsarbeit systematisch verächtlich gemacht. Folgerichtig gab es in dieser Schicht, die ohnehin im Konflikt zwischen kollektiven öffentlichen Tugenden und ihrer privaten Orientierung stand, massive Abwanderungen zur Union. Die Abwanderungstendenzen waren bereits in den siebziger Jahren deutlich zu erkennen, sie sind offenbar zu Beginn der achtziger Jahre noch nicht gestoppt.
Schließlich konnte die SPD unter den Postmaterialisten keine nennenswerten Wählergrup-Pen erschließen, obwohl unter ihren Mitgliedern und Funktionären Anhänger dieses Wertsystems überproportional vertreten sind. Bereits 1977 konnte der SPD-Vorstand an den Ergebnissen einer von ihm in Auftrag gegebenen Organisationsstudie sehen, daß rund ein Viertel aller damaligen Ortsvereinsvorsitzenden postmaterialistische Werthaltungen aufwiesen. Diese Zahl dürfte sich bis 1983 erheblich verstärkt haben.
Im Bundestagswahlkampf 1983 hatte dies fatale Folgen: Bei den Kompetenzzuweisungen an die Parteien lag die Union weit vor der SPD, vor allem auf den Feldern klassischer sozialdemokratischer Politik. Lediglich bei der Kompetenzzuweisung für die Lösung nichtmaterieller Zielsetzungen lag die SPD vor der Union. Die Hauptinteressen der Wähler lagen jedoch in diesem Wahlkampf auf anderen Feldern.
Während der Erfolg der Union in einer nahtlosen Übereinstimmung ihrer Funktionäre und Aktivisten, ihrer Mitglieder und ihrer Anhänger besteht, kann die SPD mit einer ähnlichen Stromlinienförmigkeit nicht aufwarten. Ihre von der Struktur her differenzierteren potentiellen Anhänger vermögen sich in der Parteimitgliedschaft und vor allem im Funktionärskörper kaum wiederzuerkennen, weil hier einseitig postmaterialistische Werte dominieren.
Damit ist auch die Ausgangslage der Parteien in den achtziger Jahren beschrieben: Während die Union auf ein festgefügtes Anhängerlager zurückgreifen kann, kann die SPD nur noch auf ein Rumpfpotential zählen. Allenfalls kann der SPD dabei ein Mechanismus helfen, der seit 1949 im Wahlverhalten der Bundesbürger verankert ist: Danach fällt es der jeweiligen Bonner Regierungspartei schwerer, bei regionalen Wahlen auf Landes-und kommunaler Ebene ihre Anhänger zu mobilisieren. Allerdings haben die Wahlen in Schleswig-Holstein, aber davor auch die Landtagswahl in Bayern keine Fingerzeige dafür gebracht, daß dieser Mechanismus so simpel unverändert fortgelten wird.
Die SPD muß, um Mehrheiten auf allen Ebenen der Politik zu erhalten bzw. zurückzugewinnen, in der politischen Arbeit, der Ansprache der Bürger und der Werbung im Wahlkampf auf die Bedürfnisse, die unterschiedliche Sprache und den Ausdrucksstil ihrer ver29 schiedenen Anhängergruppen Rücksicht nehmen. Dabei darf diese Ansprache auch im Wahlkampf nicht wie 1983 zu einem Sammelsurium von Einzelaussagen werden, die nebeneinander angeboten werden. Alle Detail-aktivitäten oder Aussagen müssen sich in ein für den Wähler nachvollziehbares Gesamtgefüge von Grundwerten einfügen.
Für die FDP gilt, daß ihr Erfolg am 6. März noch keine Garantie für das Überleben auf Landes-und kommunaler Ebene darstellt. Leichter haben es von den beiden kleinen Parteien hingegen die Grünen, die ebenso wie die Union auf ein durch eine bestimmte Werthaltung geprägtes Wählerpotential zurückgreifen können.
Manfred Güllner, Dipl. -Kfm., geb. 1941; Studium der Wirtschafts-und Sozial-wissenschaften in Köln; von 1970 bis 1978 in leitender Position bei infas, Institut für angewandte Sozialwissenschaft, Bonn-Bad Godesberg; seit August 1978 Leiter des Statistischen Amtes der Stadt Köln.
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