Die Niederlande — zwischen Integration und Polarisierung
Oskar Meggeneder
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Zusammenfassung
Die vor Beginn des Zweiten Weltkrieges bestehende Gesellschaftsstruktur der Niederlande hatte ihren Ursprung in den religiösen und sozialen Gegensätzen des vorigen Jahrhunderts. Die Fragmentierung der Gesellschaft in eine katholische, eine protestantische und eine sozialistische „Säule" war zunächst auch nach 1945 das besondere Merkmal der niederländischen Gesellschaft. In den sechziger Jahren zeichnete sich jedoch ein Wandel ab: Die überkommenen verhärteten Strukturen begannen sich aufzulösen und die bisher von den politischen Eliten geübte Politik des Konsenses begann Krisenanfälligkeiten zu zeigen. Dieser als Entsäulung bezeichnete Prozeß manifestierte sich in einer Reihe von Veränderungen in gesellschaftlichen Teilbereichen. Die in den siebziger Jahren einsetzende Weltwirtschaftskrise hat die Niederlande mit besonderer Härte getroffen und den sich vollziehenden gesellschaftlichen Wandel noch beschleunigt. Der Beitrag stellt die Grundlinien dieser Entwicklung und ihre (soweit erfolgt) wissenschaftliche Aufarbeitung dar.
I. Einleitung
Die Niederlande und die Bundesrepublik Deutschland stehen in einer vielfältigen wechselseitigen Beziehung. Mit einem Anteil von einem Viertel am gesamten Außenhandelsvolumen ist die Bundesrepublik der mit Abstand wichtigste Handelspartner der Niederlande. Verbindende Interessen ergeben sich aus der Mitgliedschaft beider Länder in der NATO und in der Europäischen Gemeinschaft. Zudem gibt es durch die gemeinsame Grenze und die Verwandtschaft der niederländischen und deutschen Sprache vielfältige kulturelle Überschneidungen sowie zahlreiche gemeinsame, darunter auch schmerzhafte historische . Erfahrungen. Trotz dieser zahlreichen Berührungspunkte erfahren die Niederlande im gesellschaftswissenschaftlichen Bereich des deutschen Sprachraums relativ wenig Beachtung.
Die Gesellschaft der Niederlande ist eine pluralistische, in des Wortes wahrster Bedeutung. Die große Zahl der im Parlament vertretenen Parteien, die Vielfalt der gesellschaftlichen Gruppierungen und der rasche soziale Wandel machen eine Beschäftigung mit diesem Land gerade für einen Sozialwissenschaftler besonders reizvoll. Andererseits erschwert diese breitgefächerte Vielfalt des gesellschaftlichen und politischen Systems und die rasche Veränderung in diesen Bereichen und vermutlich auch die bestehende Sprach-barriere eine Einarbeitung in dieses Gebiet.
Der vorliegende Aufsatz soll den Wandel im politischen und sozioökonomischen Bereich der niederländischen Gesellschaft seit 1945 darstellen. Ein Schwerpunkt wird dabei auf die durch die ökonomische Krise bedingten Entwicklungstendenzen gelegt.
im Vergleich zum Vorjahr in % Quelle: Centraal bureau voor de statistiek, OECD, eigene Berechnungen Preissteigerungsrate in %
Der Begriff Versäulung (engl.: pillarization, niederl.: verzuiling) hat rasch Eingang in die politikwissenschaftliche Literatur gefunden. Das Phänomen der Versäulung wurde auch im deutschen Sprachraum wissenschaftlich aufgearbeitet „Im Unterschied zu einer Klassengesellschaft oder einer horizontal geschichteten Gesellschaft sind in einer versäulten Gesellschaft, wie in den Niederlanden, die sozialen Gebilde (hier Säulen) nicht nur schichtspezifisch horizontal formiert, sondern die einzelnen sozialen Gruppen sind vertikal integriert. So wird ein Mitglied einer vertikal integrierten Gruppe (Säule) sich ungeachtet seiner hierarchischen Stellung, im Sinne eines horizontalen Schichtmodells, einer bestimmten Säule oder einem bestimmten Block zurechnen."
Im Sinne dieser Definition kann man für die Niederlande von drei Säulen sprechen: einer katholischen, einer protestantischen und einer sozialistischen. Zur Erklärung dieses doch spezifisch niederländischen Phänomens wurde eine Reihe von Hypothesen entwikkelt. Die Emanzipationshypothese geht davon aus, daß Minderheiten wie Katholiken, orthodoxe Calvinisten und Sozialisten aufgrund ihrer religiösen Anschauung bzw. ihrer politischen Einstellung Repressionen und Diskriminierungen durch die übrige Bevölkerung erlitten. Dies führte zu einem hohen Zusammengehörigkeitsgefühl dieser Minderheiten, die sich politisch zu organisieren begannen und im Laufe der Zeit ein Netzwerk von Organisationen und Verbänden schufen, welche in sich geschlossene Säulenkomplexe bildeten
Die Bewahrungshypothese geht davon aus, daß die religiösen Gruppierungen zur Bewah-rung der Integrität ihres Glaubens und der Autonomie ihrer Kirche geschlossene Blöcke (Säulen) bildeten, um sich gegen die konfessionellen Einflüsse Andersdenkender abzuschirmen. Die Bewahrungshypothese ist schon per definitionem nicht geeignet, die Bildung der sozialistischen Säule zu begründen. Zweifellos ist sie aber in der Lage, die Formierung der konfessionellen Säulen zu erklären
Die Mobilisierungshypothese, welcher ein weitreichenderer Erklärungswert zukommt, geht davon aus, daß die dominierenden gesellschaftlichen Konflikte (Schulstreit, Einführung des allgemeinen Wahlrechts) zur Gründung von politischen Parteien führten, welche ihren Rückhalt in klar definierten Bevölkerungsgruppen fanden (Katholiken, Protestanten und Arbeiterschicht Zwar ist keine der nur kursorisch beschriebenen Hypothesen in der Lage, die Versäulung umfassend zu erklären, doch ist jede einzelne geeignet, zumindest Teilaspekte des Versäulungsprozesses zu erhellen.
Eine derartig deutliche Segregation in weltanschaulich-religiöse Blöcke bedeutet zugleich eine ideologische und soziale Fragmentierung der Gesellschaft. Die logische Folge wäre eigentlich das Auftreten zahlreicher gesellschaftlicher und politischer Konflikte. „Such a socially and ideologically fragmented System would appear to be highly conductive to dissension and antagonism instead of consensus and Cooperation, to ideological tension and extremism instead öf pragmatism and moderation, and to governmental immobilism alternating with revolutionary upsets rather than evolutionary change."
In den Niederlanden hingegen gelang es den am politischen Prozeß beteiligten Institutionen, Parteien und Verbänden, ihre Beziehungen weitgehend konfliktfrei zu gestalten. In der wissenschaftlichen Literatur wurde diese spezifische Ausformung des parlamentarischen Systems der Niederlande unter der Überschrift „consociational democracy" (deutsch: Konkordanzdemokratie) abgehandelt
II. Das politische System auf dem Wege zur Polarisierung?
Abbildung 5
Tabelle 1: Wählerverhalten in Abhängigkeit vom Alter (Anteil in Prozent) bis 24 25 bis 34 35 bis 49 50 bis 64 65 und älter alle Altersgruppen 37 41 30 34 38 36 28 25 23 24 30 25 30 25 41 39 46 36 19 27 37 41 46 34 14 15 16 13 11 14 15 16 18 15 14 16 Alter 1977 PvdA 1981 1977 CDA 1981 1977 Quelle: für 1977: Irwin u. a. (Hrsg.), De Nederlandse Kiezer 77, 1978 für 1981: Meggeneder, Wahlen und Wählerverhalten in den Niederlanden, 1983. WD 1981
Tabelle 1: Wählerverhalten in Abhängigkeit vom Alter (Anteil in Prozent) bis 24 25 bis 34 35 bis 49 50 bis 64 65 und älter alle Altersgruppen 37 41 30 34 38 36 28 25 23 24 30 25 30 25 41 39 46 36 19 27 37 41 46 34 14 15 16 13 11 14 15 16 18 15 14 16 Alter 1977 PvdA 1981 1977 CDA 1981 1977 Quelle: für 1977: Irwin u. a. (Hrsg.), De Nederlandse Kiezer 77, 1978 für 1981: Meggeneder, Wahlen und Wählerverhalten in den Niederlanden, 1983. WD 1981
Die Mitte der sechziger Jahre einsetzenden Entsäulungstendenzen lassen sich deutlich anhand der Veränderungen des Parteiensystems nachvollziehen.
1966 kam es zur Gründung der politischen Partei der Demokraten '66. Der Anstoß dazu ging von ehemaligen Mitgliedern der Partei der Arbeit, der Liberalen Partei, der Christlich-Historischen Union (eine konfessionelle, der protestantischen Säule zuzurechnende Partei) und der Pazifistisch-Sozialistischen Partei (PSP) aus. Die D'66 kann allerdings nicht als eine Abspaltung einer der vorher genannten Parteien betrachtet werden. Sie ist vielmehr als eine Reaktion auf die erstarrte Struktur der versäulten Gesellschaft zu verstehen. Heftige Kritik wurde an der Bürger-ferne des parlamentarischen Systems geübt. Gemäß ihrem Selbstverständnis ist die D'66 als eine staatsrechtliche Reformpartei zu bezeichnen, die z. B. für die Abschaffung der Ersten Kammer und die direkte Wahl des Ministerpräsidenten votierte.
Als eine echte Splitterpartei ist hingegen die Radikale Partei (PPR) zu bezeichnen. Diese spaltete sich vom linken Flügel der Katholischen Volkspartei ab, der sich einer Zusammenarbeit mit der Liberalen Partei widersetzte. Die Radikale Partei gab allmählich ihre Bindung an den Katholizismus auf. Ihre progressiv-radikale politische Ausrichtung brachte ihr vor allem Wähler aus dem Kreis der Jugendlichen und Studenten.
Von den Großparteien hatte die 1946 gegründete Partei der Arbeit schon früh bewußt versucht, die versäulte Struktur zu durchbrechen und ein Sammelpunkt von Angehörigen aller Konfessionen zu sein. Die Bereitschaft zur Öffnung hat sicher dazu beigetragen, daß sich innerhalb der Partei eine linke Strömung (Nieuw Links) bilden konnte, die zwar keine eigene Organisation innerhalb der Partei bildete, aber doch beträchtlich an Einfluß gewann. Das Wirken der „Neuen Linken" führte dazu, daß sich die Kräfte des rechten Flügels der Partei der Arbeit formierten, was schließlich 1970 zur Gründung der Partei Demokratische Sozialisten 70 (DS'70) führte.
Die beachtlichen Erfolge der neuen Parteien während der Parlamentswahlen 1971 und 1972 ließen eine spürbare Unzufriedenheit der Wähler mit dem bestehenden Parteiensystem erkennen. Allerdings begünstigt das niederländische Verhältniswahlsystem ohne jegliche Einschränkungsklauseln den Einzug von Kleinparteien ins Parlament. Mehr als fünf Prozent der Wählerstimmen konnten von den Kleinparteien lediglich die Demokraten '66 (1971, 1977 und 1981) und die Demokratischen Sozialisten '70 (1971) erreichen. Sieht man von dem spektakulären Erfolg der D'66 im Jahre 1981 (11, 1 % der Stimmen, das waren 17 von 150 Mandaten) ab, so fristen die Kleinparteien eher ein Schattendasein. Weniger augenfällig, aber doch um so bedeutender ist die Veränderung des Elektorats der etablierten Parteien. 1. Das konfessionelle Zentrum Von den großen konfessionellen Parteien mußte die Katholische Volkspartei und die Christlich-Historische Union (CHU) besonders ab Mitte der sechziger Jahre beträchtliche Stimmeneinbußen hinnehmen. Auch die dritte große konfessionelle Partei, die Anti-Revolutionäre Partei (ARP), verzeichnete einen ständigen Stimmenschwund, der allerdings nicht so bedeutend war wie bei der KVP und CHU. Dies war auch der wesentliche Grund dafür, daß die drei konfessionellen Parteien ab 1967 begannen, enger zusammenzuarbeiten. Im Frühjahr 1970 kamen die drei Parteien mit einem gemeinsamen „Dringlichkeitsprogramm" für die Jahre 1971 bis 1975 heraus. Bei der Bildung des Kabinetts Den Uyl (1973— 1977) wurden die KVP und ARP in die Regierung aufgenommen, während die CHU in Opposition ging. Trotz dieser internen Unstimmigkeiten beschlossen die drei Parteien im Jahre 1973 weiter zusammenzuarbeiten und gründeten die Christlich-Demokratische Allianz (CDA). Die 1973 abgesprochene und 1975 statutarisch niedergelegte Übereinkunft, eine einzige überkonfessionelle Partei zu gründen, wurde schließlich 1980 verwirklicht.
Die Neuformation der konfessionellen Parteien in einem monolithischen Block konnte vorerst allerdings den beträchtlichen Wähler-schwund nicht verhindern. Erst ab den Wahlen im Jahre 1972 trat eine gewisse Stabilisierung des Wählerpotentials der CDA ein.
Auch wenn der Stimmenanteil der CDA seit den Parlamentswahlen im Jahre 1977 nur mehr leicht gesunken ist, so läßt sich doch ein weiteres Abnehmen des Stimmenanteils mit Sicherheit voraussagen. Einer der Gründe dafür ist die allmähliche Vergreisung des Wählerpotentials der CDA. Auswertungen der Nationalen Wähleruntersuchungen anläßlich der Parlamentswahlen 1977 und 1981 zeigen, daß bei der CDA die Jungwähler unter-und die Altersgruppen ab 50 Lebensjahren über-repräsentiert sind.
Weitere Ursache für den sinkenden Stimmen-anteil des christlichen Zentrums ist die bereits erwähnte Entkonfessionalisierung. 1947 betrug der Anteil jener, die keiner Religionsgemeinschaft angehören, an der Gesamtbevölkerung 17, 1 %. Bis zum Jahre 1971 (letzte Volkszählung) erhöhte sich der Anteil auf 23, 6 %. Aus den nationalen Wähleruntersuchungen läßt sich jedoch entnehmen, daß der Anteil derjenigen, die sich einer Religionsgemeinschaft zurechnen, weiter abgenommen hat. Dabei ist besonders die Verminderung der praktizierenden Gläubigen (mindestens einmal wöchentlicher Kirchenbesuch) augenfällig.
Religiosität und Wählerverhalten korrelieren in auffälliger Weise. Lediglich zwischen 3 und 6 % der Wähler, die keiner Religionsgemeinschaft angehören, geben ihre Stimme einer konfessionellen Partei, hingegen stimmen im Durchschnitt 75 % der praktizierenden Gläubigen für eine der konfessionellen Parteien Es ist anzunehmen, daß die beobachtbare allmähliche Entkonfessionalisierung langfristig zu einer Polarisierung des Parteiensystems beitragen wird. Nutznießer der Entkonfessionalisierung ist die Liberale Partei. Bereits 1977, als die Liberalen ihren Mandatsstand von 22 auf 28 erhöhen konnten, ging ihr Stimmengewinn zu Lasten der Christlich-Demokratischen Allianz (CDA) Aber auch der spektakuläre Gewinn von zehn Mandaten bei den Parlamentswahlen 1982 ging zum beträchtlichen Teil zu Lasten der CDA. Eine Wählerstromanalyse zeigte, daß sich der Stimmengewinn der Liberalen zu 37 % aus ehemaligen CDA-Wählern rekrutierte
Daß die CDA trotz der zunehmenden Entkonfessionalisierung während der letzten zehn Jahre ihren Stimmenanteil einigermaßen stabil halten konnte, wird durch das zunehmend konfessionelle Stimmverhalten der praktizierenden Gläubigen erklärt, zumal die Wahlbeteiligung dieser Bevölkerungsgruppe überdurchschnittlich hoch ist 2. Links und rechts vom konfessionellen Zentrum Konnte in den fünfziger und zu Beginn der sechziger Jahre das Parteiensystem als ein Abbild der deutlich aufgespaltenen Subkulturen betrachtet werden, so ist..... in den achtziger Jahren eine derartige Charakterisierung nicht mehr adäquat, vielmehr ist ein ... entlang der Links-Rechts Dimension strukturiertes Parteiensystem vorherrschend"
Die zunehmende Polarisierung des Parteien-systems manifestiert sich in der Entwicklung der Liberalen Partei und der Partei der Arbeit sowie in deren Verhältnis zueinander. Sowohl die WD als auch die PvdA sind, was die Wählerstruktur betrifft, als stabile Parteien zu bezeichnen. Während bei der Christlich-Demokratischen Allianz die älteren Jahrgänge und bei den Kleinparteien die Jungwähler deutlich überrepräsentiert sind, weisen sowohl WD als auch PvdA einen ziemlich gleichmäßigen Wähleranteil in den einzelnen Altersgruppen auf (vgl. Tab. 1).
Die ideologischen Gegensätze zwischen beiden Parteien liegen auf der Hand. Die Pro-grammatik der WD geht auf das liberale Grundsatzprogramm von 1948 zurück, das die Unabhängigkeit und die Eigenverantwortlichkeit des Staatsbürgers innerhalb der auf der Grundlage des Christentums beruhenden niederländischen Gesellschaft herausstellt. „Wirtschafts-und Sozialpolitik soll bei weitgehender Zurückhaltung des Staates im Sinne eines Ordo-Liberalismus geführt werden. Schwerpunkte sind die Beschränkung der Lohn-und Einkommensteuer und der Verzicht auf einen Ausbau des Sozial-staats." Die Partei der Arbeit (PvdA) vertrat bereits in ihrem Grundsatzprogramm von 1947 das Prinzip der Öffnung nach außen und war somit ihrem Selbstverständnis nach eine Volkspartei. Die Bereitschaft zur Öffnung, insbesondere gegenüber den Mittelgruppen, war übrigens politisch wenig erfolgreich, denn bei den Parlamentswahlen 1981 rekrutierten sich immer noch 65 % .der Wählerschaft der PvdA aus der Arbeiterschicht.
Das Grundsatzprogramm der PvdA aus dem Jahre 1977 verurteilt zwar den Kapitalismus nicht ausdrücklich, sondern macht, das Monopolkapital für die ökonomischen, sozialen und ökologischen Krisenerscheinungen verantwortlich. Die Überführung von Banken, Versicherungsgesellschaften, der Grundstoff-, pharmazeutischen und Rüstungsindustrie in Gemeinschaftsbesitz wird gefordert; desgleichen eine Einkommensnivellierung, eine Veröffentlichung aller Einkommen und die Festlegung einer Obergrenze für privates Vermögen. Im Vergleich zum Grundsatzprogramm der PvdA aus dem Jahre 1959 stellt das von 1977 eine ideologische Radikalisierung dar. Dieses rekurriert in seinem Ansatz jedoch nicht auf marxistische Theorien, sondern ist deutlich von den neuen sozialen Bewegungen (insbesondere Frauen-und Ökologiebewegungen) beeinflußt. Insgesamt haben sich die ideologischen Gegensätze-zwischen PvdA und WD noch mehr verschärft, und beide Parteien haben während der letzten Parlamentswahlen wiederholt erklärt, daß eine Mitwirkung in einer Regierungskoalition, in welcher der jeweilige Kontrahent vertreten ist, nicht in Frage kommt.
Das Parteiensystem ist nicht der einzige Bereich, in dem Polarisierungstendenzen zu verzeichnen sind. Diese zeigen sich auch bei den wichtigen „political issues", vor allem aber im ökonomischen Bereich. Die Polarisierung der niederländischen Gesellschaft bei wichtigen gesellschaftspolitischen Streitfragen wird anhand der Auseinandersetzung um die Kernwaffen exemplarisch dargestellt.
III. Polarisierungstendenzen innerhalb der Gesamtgesellschaft
Abbildung 6
Tabelle 2: Wähleraufkommen nach Religiosität (Anteil in Prozent) 1967 1971 1972 1977 1981 1982 44 40 32 26 24 20 22 19 24 27 25 27 14 12 14 12 16 16 20 30 31 34 34 37 100 100 100 100 100 100 -------------------------------------------------------------------------------------------------------------— Anhänger einer Religionsgemeinschaft nach Kirchenbesuch mind. 1 x pro Woche manchmal Quelle: Eijk und Niemöller, Stemmen op godsdienstige partijen sinds 1967, 1983. (fast) nie Religionslose Summe
Tabelle 2: Wähleraufkommen nach Religiosität (Anteil in Prozent) 1967 1971 1972 1977 1981 1982 44 40 32 26 24 20 22 19 24 27 25 27 14 12 14 12 16 16 20 30 31 34 34 37 100 100 100 100 100 100 -------------------------------------------------------------------------------------------------------------— Anhänger einer Religionsgemeinschaft nach Kirchenbesuch mind. 1 x pro Woche manchmal Quelle: Eijk und Niemöller, Stemmen op godsdienstige partijen sinds 1967, 1983. (fast) nie Religionslose Summe
Eine Verschärfung der Diskussion um die Atombewaffnung erfolgt in den Niederlanden seit der zweiten Hälfte des Jahres 1977, wobei der Anstoß zunächst von zwei Basisbewegungen erfolgte. Durch einen Aufruf in „De Waarheid", der Tageszeitung der Kommunistischen Partei (CPN), im August 1977 wurde die Basis für eine breite Massenbewegung gegen die Pläne der USA zur Einführung der Neutronenbombe geschaffen. Bald war erkennbar, daß die niederländische Bewegung, die unter dem Motto „Stoppt die Neutronenbombe" stand, nur Teil einer umfassenden internationalen Bewegung war, in der sich auch die kommunistischen Parteien sozialistischer Länder stark machten. Dies, zusammen mit der Tatsache, daß die organisatorische Leitung der Initiative bei der CPN lag, trug dazu bei, die Bewegung „Stoppt die Neutronenbombe" als Vertreter sowjetischer Interessen pauschal zu diskreditieren. Trotz des unverkennbaren Einflusses der CPN waren in der Bewegung „... viele Niederländer aus sehr unterschiedlichen politischen, gesellschaftlichen, kirchlichen und wissenschaftlichen Kreisen (zu finden), die über die mögliche Einführung dieser Waffe aufrichtig besorgt waren" Daß die Bewegung „Stoppt die Neutronenbombe" breite Bevölkerungskreise erfaßte, geht schon aus der Tatsache hervor, daß innerhalb weniger Monate mehr als eine Million Unterschriften (Stimmenabgabe bei den Parlamentswahlen für die CPN im Jahre 1977:
143 481) gegen die Einführung der Neutronenbombe gesammelt wurden.
Im gleichen Jahr veranstaltete die Interkirchliche Friedensinitiative (Interkerkelijk Vredesberaad) eine Friedenswoche unter dem Motto „Helft die Kernwaffen aus der Welt zu schaffen -— beginnend in den Niederlanden". Die Interkirchliche Friedensinitiative legte für ihre zukünftige Arbeit drei Schwerpunkte fest
— Abgehend von allgemein gefaßten Friedensforderungen soll die konkrete Situation der Niederlande Gegenstand der Friedenspolitik der „Initiative" sein.
— Schaffung einer breiten Basis innerhalb der Bevölkerung. — Einflußnahme auf die politischen Parteien. Erklärtes friedenspolitisches Ziel der Interkirchlichen Friedensinitiative war es nunmehr, die geplante Aufstellung von 48 Marschflugkörpern auf niederländischem Territorium zu verhindern.
Eine Verbreiterung der Basis der Interkirchlichen Friedensinitiative erfolgte durch eine Zusammenarbeit mit der Bewegung „Stoppt die Neutronenbombe". Dies führte 1978 zur Gründung des Kooperationsverbandes „Stoppt die Neutronenbombe! — Stoppt den Kernwaffenwettlauf".
In Anbetracht der breit angelegten Diskussion um die Kernwaffen in den Niederlanden wurden zahlreiche Meinungsumfragen durchgeführt Eine Umfrage im November 1981 zeigte, daß sich die Bevölkerung in der Einstellung zur Atombewaffung in zwei Lager aufspalten ließ.
Die deutliche Polarisierung der Bevölkerung in der Frage der Kernbewaffnung zeigt sich darin, daß lediglich 2 % der Befragten keine Antwort gaben oder keine Antwort wußten. Betrachtet man die Einstellungen vor dem Hintergrund der Parteipräferenz, so zeigt sich, daß die PvdA-Sympathisanten im selben Ausmaß kernwaffenfreie Niederlande befürworteten wie die WD-Sympathisanten dies ablehnten. Dieses Ergebnis findet sich im übrigen auch in der Nationalen Wähleruntersuchung vom September 1982, wie aus Tabelle 4 zu ersehen ist. Die Einstellung der Wähler zur Frage der Aufstellung von Marschflugkörpern reflektiert im übrigen die Haltung der Parteien. Als die entscheidenden Verhandlungen im NATO-Rat (12. und 13. Dezember 1979) zum sogenannten Doppelbeschluß (Modernisierung der bestehenden Atomwaffen und Stationierung von Marschflugkörpern in Europa) anstanden, führte dies im Parlament zu heftigen Diskussionen. Von den Parlamentariern der Oppositionsparteien (Partei der Arbeit und Demokraten ‘ 66) wurde ein Antrag im Parlament eingebracht, der dazu aufforderte, bei den kommenden NATO-Beratungen einem Beschluß über die Produktion und Stationierung von Pershing-II-Raketen und Marschflugkörpern nicht zuzustimmen. Das bedeutet, daß die Niederlande mit der Stationierung solcher Waffen auf ihrem Gebiet nicht einverstanden sein können. Bei der parlamentarischen Abstimmung wurde der Antrag mit 76 gegen 69 Stimmen angenommen, weil zehn Mitglieder der CDA-Parlamentsfraktion mit der Opposition stimmten. Das Kabinett Van Agt (CDA und WD) hielt zwar den NATO-Doppelbeschluß für wünschenswert, wollte aber wegen dieser Frage nicht den Sturz des Kabinetts riskieren.
Zudem befand sich die CDA in der abschließenden Phase der Fusion (die endgültige Fusion der konfessionellen Parteien: Katholische Volkspartei [KVP], Anti-Revolutionäre Partei [ARP] und Christlich-Historische Union [CHU] erfolgte im Oktober 1980). Da die von der ARP kommenden CDA-Parlamentarier gegen die sicherheitspolitischen Vorstellungen der WD (welche bedingungslos den NATO-Doppelbeschluß befürwortete) opponierten, hätte eine vorbehaltslose Unterstützung des NATO-Doppelbeschlusses das Zustandekommen der Fusion gefährdet. „Während der NATO-Beratungen am 12. und 13. Dezember 1979 machten die Niederlande folglich einen Vorbehalt, der darauf hinauslief, daß die Regierung zwar die Gründe für die Modernisierung von Mittelstrecken-Kernwaffen anerkannte, sich jedoch außerstande erklärte, über die Stationierung von Marschflugkörpern auf niederländischem Hoheitsgebiet sofort zu beschließen."
Im Mai 1981 wurden Parlamentswahlen durchgeführt, an die sich langwierige Koalitionsverhandlungen anschlossen. Auch in der am 2. September 1981 vereidigten Regierung (CDA, PvdA und D ’ 66) herrschte hinsichtlich des NATO-Doppelbeschlusses Uneinigkeit. Der Ministerpräsident Van Agt (CDA) votierte für dessen Erfüllung, während die PvdA klar zu erkennen gab, eher aus der Regierung austreten zu wollen, als einer Stationierung der Cruise missiles zuzustimmen. Aber auch innerhalb der Christlich-Demokratischen Allianz (CDA) gab es erklärte Gegner des NATO-Doppelbeschlusses. In der Zwischenzeit gelang es der niederländischen Friedensbewegung, immer mehr Anhänger zu mobilisieren. Als es am 21. November 1981 in Amsterdam zu einer eindrucksvollen Friedensdemonstration kam, an der sich zwischen 350 000 bis 400 000 Menschen beteiligten, vollzog Van Agt (CDA) eine taktische Kehrtwendung. Er kündigte neue Schritte der Regierung an, um die Nuklearwaffen abzuschaffen. Allerdings blieb es dann bei dieser verbalen Zusage. Einziger konkreter Schritt war die Regierungserklärung vom 16. November 1981, in der Van Agt mitteilte, daß die Regierung vorerst keinen Beschluß zur Stationierung der Cruise missiles fassen würde.
Das Kabinett Van Agt kam bereits nach neun Monaten zu Fall. Die für den 8. September 1982 ausgeschriebenen Neuwahlen brachten zum Teil überraschende Ergebnisse. Die Liberale Partei (WD) konnte einen beachtenswerten Gewinn von zehn Mandaten buchen; großer Verlierer war die linksliberale D '66, die elf von ihren 17 Mandaten verlor. Die PvdA rückte wieder zur stärksten Parlamentsfraktion auf. Aber auch in dem nach kurzen Koalitionsverhandlungen vereidigten Kabinett Lubbers (CDA und WD) schwelt der Konflikt um die Erfüllung der NATO-Verpflichtungen weiter. Die WD beharrt unverändert auf der Erfüllung des NATO-Doppelbeschlusses durch die Niederlande. Aber ironischerweise treten ausgerechnet der Verteidigungsminister und der Staatssekretär für Verteidigung (beide CDA) für einen Abbau der bereits in den Niederlanden stationierten Nuklearwaffen ein.
IV. Die ökonomische Entwicklung
Abbildung 7
Tabelle 3: Einstellung zur Atombewaffnung (Anteil in Prozent)
„Die Niederlande sollten, ungeachtet dessen, was andere westeuropäische Länder tun, ein gutes Beispiel geben und keine Kernwaffen auf ihrem Territorium erlauben; eine Garantie, daß Osteuropa diesem Beispiel folgt, ist nicht notwendig. Stimmen Sie diesem Vorschlag zu oder lehnen Sie ihn ab?“ ich stimme zu ich lehne ab weiß nicht/keine Antwort 76 24 0 47 46 7 24 75 1 56 41 2 PvdA Quelle: Everts, The mood of the country, 1982. CDA WD alle Befra抈ࠥ?
Tabelle 3: Einstellung zur Atombewaffnung (Anteil in Prozent)
„Die Niederlande sollten, ungeachtet dessen, was andere westeuropäische Länder tun, ein gutes Beispiel geben und keine Kernwaffen auf ihrem Territorium erlauben; eine Garantie, daß Osteuropa diesem Beispiel folgt, ist nicht notwendig. Stimmen Sie diesem Vorschlag zu oder lehnen Sie ihn ab?“ ich stimme zu ich lehne ab weiß nicht/keine Antwort 76 24 0 47 46 7 24 75 1 56 41 2 PvdA Quelle: Everts, The mood of the country, 1982. CDA WD alle Befra抈ࠥ?
In den ersten zwei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg war die wirtschaftliche Entwicklung äußerst günstig verlaufen: geringe Arbeitslosigkeit, ununterbrochenes Wirtschaftswachstum, umfangreiche Investitionen, jedoch ein im Vergleich zu den übrigen europäischen Ländern niedriges Lohnni-B veau. Mitte der sechziger Jahre hatten die Niederlande eine auch im internationalen Maßstab gesehene starke wirtschaftliche Position erreicht; die Folge war ein gehobener Lebensstandard breiter Bevölkerungsschichten. Eine grundlegende Änderung der wirtschaftlichen Situation trat in den siebziger Jahren ein. Teils war dies die Folge der allgemeinen weltweiten wirtschaftlichen Rezession, aber auch die Folge autonomer binnen-wirtschaftlicher Entwicklungen.
Im Jahr 1976 erreichten die Niederlande ein beachtliches Wirtschaftswachstum von 5, 3%. Dieses nahm in den Folgejahren jedoch beträchtlich ab und verzeichnet seit 1981 nur mehr negative Werte (vgl. Tabelle 8). Die Preisentwicklung folgte keinem eindeutigen Trend. Der krisenhafte Konjunkturverlauf zeigte sich jedoch deutlich in einem Rückgang der Investitionen. Zwar verzeichnete der private Sektor während der kurzen internationalen Erholungsphase 1978 eine leichte Zunahme der Investitionen. In den Folgejahren ging jedoch die Investitionstätigkeit im privatwirtschaftlichen Sektor stark zurück. Rückläufig waren im übrigen auch die Investitionen der öffentlichen Hand: 1980 und 1981 war die Abschwächung jedoch geringer als im privaten Sektor. Der Rückgang der Investitionen war in den sinkenden Absatzmöglichkeiten und der geringen Aussicht auf steigende Gewinne begründet, war aber sicher auch die Folge von Überkapazitäten in verschiedenen, während der Hochkonjunktur besonders begünstigten Industriezweigen.
Verschärft hat sich die Situation vor allem auf dem Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosenrate erreichte 1975 das erste Mal die Fünf-Prozent-Marke und blieb in den folgenden fünf Jahren relativ konstant.
Mit und ab dem Jahr 1981 begann die Zahl der Arbeitslosen jedoch besorgniserregende Ausmaße anzunehmen. Sie stieg von rund 250 000 im Jahr 1980 auf 810 000 im Jahr 1983, während gleichzeitig die Zahl der offenen Stellen kontinuierlich abnahm. Besonders au-25 genfällig ist der Anteil der jungen Arbeitslosen. 41% der männlichen und 44% der weiblichen Arbeitslosen sind jünger als 25 Jahre, während der entsprechende Anteil bei den unselbständig Beschäftigten 17% bei den Männern und 34% bei den Frauen beträgt.
Die Ursachen der Arbeitslosigkeit sind vielfältig. In manchen Industriebereichen, wie zum Beispiel der Bauindustrie, sind kaum noch Produktionsausweitungen möglich, da der Markt weitgehend gesättigt ist. Eine weitere Ursache liegt in der allgemeinen Erwartung eines geringeren Wirtschaftswachstums, welche einen Rückgang der Investitionen und damit verbunden auch eine verminderte Nachfrage an Arbeitskräften zur Folge hat.
Die niederländische Volkswirtschaft ist in hohem Maße exportabhängig. Daher hat sich die restriktive Importpolitik einiger wichtiger Handelspartner, verbunden mit den Schwankungen auf den internationalen Geldmärkten, besonders negativ auf den Arbeitsmarkt aus-gewirkt. Außerdem sind die Rationalisierungsmaßnahmen in den Niederlanden auch im tertiären Sektor bereits weit fortgeschritten; sie haben zu einer hohen Arbeitslosigkeit besonders unter den Frauen, den Handels-und Büroangestellten sowie den Beschäftigten im öffentlichen Dienst geführt.
Die sich seit 1980 drastisch verschärfende Wirtschaftslage zeigt sich auch deutlich in der Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts und der Produktionsindizes der Industrie, die eine rückläufige Tendenz aufweisen. Besonders bedenklich ist die Entwicklung des öffentlichen Sektors. Zwischen 1978 und 1981 hat sich die Zahl der Personen, für deren Einkommen der Staat aufkommt, um durchschnittlich drei Prozent jährlich erhöht, während die Beschäftigung im privaten Sektor annähernd gleich geblieben ist. Eine quantitative und qualitative Ausweitung der Sozialleistungen hat ebenfalls dazu beigetragen, die Staatsausgaben zu erhöhen. Aufgrund der realen Einkommensminderung breiter Bevölkerungsschichten mußten beträchtliche finanzielle Ressourcen (3% des BNP) zur Subventionierung des Wohnungsbaus bereitgestellt werden. Insgesamt haben sich die öffentlichen Ausgaben im Verhältnis zum BSP um durchschnittlich mehr als 2% pro Jahr erhöht. Dieser Trend ist bemerkenswert stabil, und zwar ungeachtet der jeweiligen wirtschaftspolitischen Maßnahmen. Es scheint, daß die endogenen Komponenten der öffentlichen Ausgabenstruktur die budgetpolitischen Maßnahmen unwirksam machen
Insgesamt läßt sich wohl feststellen, daß die Niederlande zu jenen westlichen Industriestaaten zählen, die von der ökonomischen Krise in besonderem Ausmaß betroffen sind. Dies bedeutet zugleich auch eine Verschärfung des Verteilungskampfes zwischen Arbeit und Kapital, so daß die Polarisierungstendenzen innerhalb der niederländischen Gesellschaft um eine neue Dimension erweitert werden.
V. Die Arbeitsbeziehungen zwischen Konsens und Konflikt
Abbildung 8
Tabelle 4: Meinungen zur Aufstellung von Raketen mit Atomsprengköpfen (Anteil in Prozent) für eine jetzige Aufstellung Verhandlungsergebnis abwarten überhaupt gegen eine Aufstellung weiß nicht/keine Antwort 7 15 52 — 29 39 17 — • VVD 55 35 9 — 9 11 22 — 100 100 100 — 15 31 49 5 PvdA CDA Quelle: van Giessen u. a., Tien jaar politieke strijdpunten, 1983. übrige Summe insgesamt in Prozent d. Stichprobe
Tabelle 4: Meinungen zur Aufstellung von Raketen mit Atomsprengköpfen (Anteil in Prozent) für eine jetzige Aufstellung Verhandlungsergebnis abwarten überhaupt gegen eine Aufstellung weiß nicht/keine Antwort 7 15 52 — 29 39 17 — • VVD 55 35 9 — 9 11 22 — 100 100 100 — 15 31 49 5 PvdA CDA Quelle: van Giessen u. a., Tien jaar politieke strijdpunten, 1983. übrige Summe insgesamt in Prozent d. Stichprobe
Die erste Phase der Nachkriegszeit (1945 bis Ende der fünfziger Jahre) war durch die beherrschende Rolle des Staates in der Gestaltung und Regelung der Arbeitsbeziehungen bestimmt. Von der Regierung wurde ein eigenes Kollegium eingesetzt, welches die Auf-gäbe hatte, die von den Arbeitgebervertretern und den Vertretern der Gewerkschaften ausgehandelten Vereinbarungen entweder zu genehmigen oder — wenn diese ihrer Meinung nach der staatlichen Sozial-und Wirtschaftspolitik (welche in jener Zeit einen äußerst restriktiven Kurs verfolgte) widersprachen — zurückzuweisen. Dabei handelte das Kollegium im Sinne der Richtlinien des Sozialministeriums. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, daß das Kollegium nur dem Sozialminister, nicht aber dem Parlament verantwortlich war. Das Wirken des Kollegiums stellte also nicht nur einen schweren Eingriff in die Privatautonomie der kollektiven Arbeitsbeziehungen dar, sondern entzog sich überdies der parlamentarischen Kontrolle.
Die sozioökonomischen Weichenstellungen fanden in zentralistischer Form auf höchster Ebene im Sociaal-Economische Raad (SER) in institutionalisierten Verhandlungen statt. Bei dieser Einrichtung handelt es sich um ein öf-fentlich-rechtliches Gremium, das drittelparitätisch aus 15 Mitgliedern der Gewerkschaften, 15 Mitgliedern der Arbeitgeberverbände und 15 von der Krone (auf Vorschlag der Regierung) ernannten Mitgliedern zusammengesetzt ist.
Die Hauptaufgabe des SER besteht in einer umfangreichen Gutachtertätigkeit auf dem Gebiet der Sozial-und Wirtschaftspolitik. Diese Gutachtertätigkeit erfolgte jedoch nicht abgehoben von der gesellschaftlichen Realität, sondern bestimmte zunächst weitgehend die tatsächliche Wirtschafts-und Sozialpolitik, so daß zu Recht die politische Macht des SER derjenigen von Regierung und Parlament gleichgestellt wurde
Die Gewerkschaften entwickelten sich zu einem allgemein anerkannten gesellschaftspolitischen Faktor und partizipierten am politischen Willensbildungs-und Entscheidungsprozeß. Auf der Betriebsebene war der Einfluß der Gewerkschaften jedoch gering Die Arbeitsbeziehungen gestalteten sich in den ersten zwei Nachkriegsjahrzehnten relativ konfliktfrei, so daß der Eindruck entstand, für jegliches ökonomische Problem könnte eine Kompromißformel gefunden werden Anfänglich beruhte das kooperative System der Arbeitsbeziehungen auf der Notwendigkeit, den durch den Zweiten Weltkrieg schwer in Mitleidenschaft gezogenen Produktionsapparat möglichst rasch wiederaufzubauen.
Der bereits mehrfach angesprochene gesellschaftliche Wandel seit Mitte der sechziger Jahre, und zwar im besonderen die Demokratisierungsbewegung, erfaßte auch die Gewerkschaften. Die Zentralgewerkschaften bemühten sich, die offen erkennbare Kluft zwischen der betrieblichen Basis und den Gewerkschaften zu überbrücken. Das mit großem Elan gestartete Projekt der „Betriebsarbeit" zeigte jedoch wenig Erfolg. Der wesentlichste Grund, daß sich trotz des Werbens der Gewerkschaften die über Jahrzehnte hinweg entstandene Kluft nicht geschlossen hat, lag darin, daß sich in der Struktur der Verhandlungen, welche nach wie vor auf höchster Ebene stattfanden, nichts geändert hatte
Trotzdem waren auch in dieser Phase die Arbeitsbeziehungen weitgehend durch Konsens gekennzeichnet, da im anhaltenden konjunkturellen Aufschwung die Gewerkschaften auch einen entsprechenden Anteil der Wohlstandsmehrung für ihre Mitglieder sichern konnten.
Im Laufe der 1974 einsetzenden Wirtschaftskrise hat sich die Situation jedoch beträchtlich gewandelt. Unleugbar haben Rezession, Einkommensminderung und Arbeitsplatzunsicherheit eine gewisse Perspektivlosigkeit in breiten Schichten der Bevölkerung ausgelöst. „In der Gesellschaft ist ein zunehmendes Krisenverständnis und eine wachsende Bereitschaft festzustellen, für sichere Arbeitsplätze einen Lohnverlust in Kauf zu nehmen ... dies ist Basis für eine Politik, die sich der Mäßigung als Hauptinstrument bedient."
Eine derartige Entwicklung macht es für die Gewerkschaften doppelt schwer, Mitglieder zu integrieren, nachdem Politik jahrzehntelang ohne deren Beteiligung gemacht wurde. Die Wirtschaftskrise hat auch die Gewerkschaften in eine Krise gebracht, die einerseits in einem ständigen Mitgliederschwund zum Ausdruck kommt und sich andererseits in einer zunehmenden Einflußlosigkeit auf der Ebene der tradierten institutionalisierten Arbeitsbeziehungen zeigt. Zumindest haben die durchaus konstruktiven Pläne der bedeutendsten und größten Zentralgewerkschaft (Federatie Nederlandse Vakbeweging) zur Bekämpfung der ökonomischen Krise bislang kaum Berücksichtigung in der Sozial-und Wirtschaftspolitik der Regierung gefunden.
Der konfligierende Charakter der Arbeitsbeziehungen hatte seine Ursache auch in der zunehmend rigiden Haltung der Arbeitgeber-verbände. Im Prinzip lösbare Interessengegensätze wurden zu grundsätzlichen Wert-konflikten erhoben, so daß von einem „integrativen Trend des Konsens zu einem distributiven Trend der Macht" im System der kollektiven Arbeitsbeziehungen gesprochen werden kann
Die 1973 einsetzende Verhärtung der Fronten zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften läßt sich auch an der Streikentwicklung ablesen. Verändert hat sich auch der Charakter der Arbeitskonflikte.
— Es kommt häufiger zu kurzen, betriebsbezogenen und oftmals spontanen Streiks, die allerdings in der offiziellen Streikstatistik zumeist nicht aufscheinen.
— Die Konflikte verlaufen häufig ungeregelt und die Konfliktlösungen haben zumeist Adhoc-Charakter. Der Mangel an konfliktlösenden Mechanismen weist darauf hin, daß sich die Arbeitsbeziehungen in einer Umbruchsphase befinden.
— Es wird nicht mehr ausschließlich um Verbesserungen auf dem Lohnsektor gestreikt, sondern Streikziele wie die Erhaltung der Arbeitsplätze oder Forderungen, welche die allgemeinen Arbeitsbedingungen betreffen, nehmen zu.
— Im zunehmenden Maße müssen die Beschäftigten Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen abwehren, statt, wie früher üblich, für Verbesserungen zu kämpfen.
VI. Resümee
Abbildung 9
Tabelle 5: Entwicklung der Nettoinvestitionen (1977 = 100) Privater Sektor öffentlicher Sektor 100, 0 100, 0 103, 8 92, 8 97, 1 86, 9 86, 3 91, 3 61, 4 87, 4 60, 8 82, 2 1977 ’) vorläufige Ergebnisse Quelle: Centraal bureau voor de statistiek, eigene Berechnungen 1978 1979 1980 1981 1982’)
Tabelle 5: Entwicklung der Nettoinvestitionen (1977 = 100) Privater Sektor öffentlicher Sektor 100, 0 100, 0 103, 8 92, 8 97, 1 86, 9 86, 3 91, 3 61, 4 87, 4 60, 8 82, 2 1977 ’) vorläufige Ergebnisse Quelle: Centraal bureau voor de statistiek, eigene Berechnungen 1978 1979 1980 1981 1982’)
In der durch den Begriff „Versäulung" gekennzeichneten Periode nach 1945 bestimmen im wesentlichen der katholische, protestantische und sozialistische Block die politische Kultur und Sozialstruktur des Landes. Trotz ideologischer Gegensätze war jene Phase durch einen breiten Konsens gekennzeichnet. Die in den sechziger Jahren einsetzenden vielfältigen Veränderungsprozesse führten zu einer allmählichen Erstarkung des liberalen Blocks, während das katholische und protestantische Lager Auflösungserscheinungen zeigte und sich schließlich im konfessionellen Zentrum neu formierte. Sowohl die Arbeiterpartei auf der linken als auch die Liberale Partei auf der rechten Seite des parteipolitischen Spektrums zeigten in ihrer Programmatik eine stärkere Ideologisierung und schlugen in der Tagespolitik einen wechselseitigen Konfrontationskurs ein. Die Vereinigung der großen konfessionellen Parteien in der Christlich-De-29 mokratischen Allianz (CDA) konnte das langsame, aber stetige Abbröckeln der Wähler nicht aufhalten.
Im Prozeß der zunehmenden Polarisierung zwischen Sozialisten und Liberalen wird zwar die CDA immer mehr zu einer Partei der Mitte, ist aber immer weniger in der Lage, einen eigenständigen, dritten Weg einzuschlagen.
Während die CDA im wirtschaftspolitischen Bereich übereinstimmend mit der Liberalen Partei für eine Stärkung des privaten Sektors eintritt, zeigt sie doch merkliche Scheu, die zugleich von der WD geforderte restriktive Budgetpolitik insbesondere der Beschneidung der öffentlichen Sozialleislungen zu realisieren. Zahlreiche — vom im November 1982 vereidigten Kabinett Lubbers (CDA, WD) — geforderte Sparmaßnahmen wurden erst mit zeitlicher Verzögerung und in gemilderter Form verwirklicht. Die schwierige Lage der CDA zeigt sich in ihrem Verhältnis zur Friedensbewegung (vgl. Abschnitt III) und zu den Gewerkschaften.
Die von der Regierung im Spätherbst 1983 geplanten Kürzungen der Löhne, Gehälter und Sozialtransfers im öffentlichen Dienst haben zu ausgedehnten Arbeitskonflikten im öffentlichen Dienstleistungsbereich geführt. Bei der Organisation der Streikaktionen kam der CDA-nahestehenden Zentralgewerkschaft Christelijk Nationaal Vakverbond (CNV) eine Schlüsselrolle zu. Inwieweit dabei das Verhältnis des CNV zur CDA beeinflußt wurde, läßt sich schwer abschätzen. Tatsache ist jedoch, daß die Radikalisierung der öffentlich Bediensteten — einer traditionellen CDA-Wählerschicht — zunimmt. Zwar ist die Christlich-Demokratische Allianz nach wie vor ein bedeutender Faktor in der politischen Landschaft der Niederlande, doch scheint sich eine weitere Schwächung der CDA, verbunden mit einer zunehmenden Polarisierung des politischen Systems, auch für die Zukunft abzuzeichnen.
OskarMeggeneder, Dr. rer. soc. oec., geb. 1945; Studium der Sozialwirtschaft, Politologie, Publizistik und Kommunikationswissenschaften in Linz und Salzburg; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozial-und Wirtschaftswissenschaften in Linz. Veröffentlichungen zum Thema Niederlande: Streiks in den Niederlanden, Frankfurt am Main 1982; Hypothesen zur Versäulung und Entsäulung — dargestellt an den politischen Parteien der Niederlande, in: österreichische Zeitschrift für Soziologie, (1980) 4; Fünfunddreißig Jahre Streikrecht in den Niederlanden (1945— 1980), in: Demokratie und Recht, (1982) 4; Wahlen und Wählerverhalten in den Niederlanden, in: österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, (1983) 3; Regierungsbildung im niederländischen Mehrparteiensystem, in: Zeitschrift für Politik (1983) 3.
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