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Luxemburg — ein Zufallsprodukt der Geschichte | APuZ 5/1984 | bpb.de

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APuZ 5/1984 Artikel 1 Belgien — der schwierige Weg zur politischen und wirtschaftlichen Stabilität Die Niederlande — zwischen Integration und Polarisierung Luxemburg — ein Zufallsprodukt der Geschichte

Luxemburg — ein Zufallsprodukt der Geschichte

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Zusammenfassung

Unter Europas Mininationen ist das Großherzogtum Luxemburg die größte. Dennoch reicht es flächenmäßig gerade noch zum Vergleich mit dem Saarland und bevölkerungsmäßig mit einer deutschen Mittelstadt wie Wuppertal. Der Unterschied besteht lediglich darin, daß das Saarland nicht Vollmitglied der Vereinten Nationen und Wuppertal nicht ein international bekannter Finanzplatz und auch nicht Sitz der höchsten europäischen Gerichtsbarkeit ist. Das Großherzogtum ist gleichermaßen ein historischer Anachronismus und ein ökonomisches Kuriosum. Die mittelalterliche Grafschaft, aus der vier deutsche Kaiser hervorgingen, bevor sie in eine wechselvolle Fremdherrschaft abrutschte, erlangte erst zu Beginn des vorigen Jahrhunderts ihre Eigenstaatlichkeit zurück. Seitdem hat sich das Land mit Geschick, Hartnäckigkeit und auch mit einer Portion Glück behauptet. Die Tatsache, daß sich die Luxemburger zu den reichsten Nationen der Welt zählen können, geht zum einen auf die mächtige Stahlindustrie des Landes zurück, zum anderen auf das Dienstleistungsgewerbe im Bereich der Finanzen und der Kommunikation, auf das der Kleinstaat auswich, als der Niedergang der Stahlschmelzen einsetzte. So kommt es, daß die 270 000 Einheimischen auch heute noch auf fremde Hilfe angewiesen sind, um die anfallende Arbeit zu bewältigen: 26 Prozent der Bevölkerung sind Ausländer. Die größte Stärke Luxemburgs ist wohl die, daß es sich stets seiner naturgemäßen Schwächen bewußt gewesen ist, aus denen es dann das Beste zu machen suchte. So sehr der Kleinstaat auch auf seine politische Unabhängigkeit bedacht ist, hinderte ihn dies doch nicht daran, Bündnisse mit anderen Staaten einzugehen, um seine wirtschaftlichen Entfaltungschancen voll zu nutzen. Diese lange Partnerschaftserfahrung hat die Luxemburger zu den wohl engagiertesten Europäern in einer Gemeinschaft gemacht, deren Festigung notwendiger denn je geworden ist.

L Historischer Anachronismus mit nationaler Identität

Die über tausendjährige Geschichte Luxemburgs ist höchst wechselhaft und längst nicht immer so „rosig" wie in ihrem jüngsten Kapitel. Am Schnittpunkt der zwei europäischen Kulturkreise — des romanischen und des germanischen — gelegen, sah sich Luxemburg nicht selten in die Rolle des Puffers zwischen seinen Nachbarn gedrängt. Die geographische Lage brachte es mit sich, daß die wechselnden Herrschaften die strategische Schlüsselposition von Luxemburg voll zu nutzen suchten, indem sie die Stadt zu einer der gewaltigsten Festungen des Kontinents ausbauten. Jahrhunderte hindurch war Luxemburg, „das Gibraltar des Nordens", gleichermaßen gefürchtet und begehrt.

Dem Aufstieg Luxemburgs zum militärischen und politischen Streitobjekt war freilich der Niedergang des eigenen Fürstengeschlechts und mit ihm das Ende der Eigenständigkeit vorausgegangen. Die Dynastie der Luxemburger Grafen, mit der die eigentliche Geschichte Luxemburgs im Jahr 963, dem Jahr der Gründung der Stadt durch den Ardennergrafen Siegfried, begann, verschwand nach einem halben Jahrtausend wieder — allerdings nicht ohne Spuren hinterlassen zu haben. Immerhin gab das Haus Luxemburg dem Deutschen Reich vier Kaiser, darunter Heinrich VIL, ein illustrer Zeitgenosse und Freund des Dichters Dante Alighieri. Es waren Luxemburger Grafen, die lange Zeit hindurch die Königskrone von Böhmen und Mähren trugen und Prag zu einer der großen Kapitalen der damaligen Welt machten. Ende des 14. Jahrhunderts, kurz bevor das Geschlecht der Luxemburger ausstarb, verschacherte König Wenzel von Böhmen, wohl nicht zu Unrecht „der Faule" genannt, seine Stammheimat an einen seiner Gläubiger und leitete damit eine Fremdherrschaft ein, die 400 Jahre dauern sollte. Das später zum Herzogtum erhobene Land gehörte erst den Burgundern, dann Spanien, Frankreich, dann wieder Spanien, schließlich Österreich und zuletzt erneut. Frankreich, dessen Kaiser Napoleon Luxemburg zum Wälderdepartement erklärte und aus dem Herzogtum einen Teil seiner Armee für den Rußlandfeldzug rekrutierte.

Auf dem Wiener Kongreß von 1815, der nach dem Sturz Napoleons die politische Karte Europas neu zeichnete, wurde Luxemburg nicht nur zum Großherzogtum befördert, sondern erhielt dazu seine Eigenständigkeit zurück, wenn auch nicht in vollem Umfang. Einerseits wurde nämlich das Land der niederländischen Krone als Privatbesitz zugeteilt und bildete fortan mit dem in die Niederlande integrierten Belgien einen Gürtel an der Nord-grenze Frankreichs, der als politische Barriere zwischen den Franzosen und den Preußen gedacht war. Andererseits bekam das aufstrebende Preußen, das nunmehr im Osten direkt an Luxemburg stieß, das Verfügungsrecht über die mächtige Festung, die vom Sonnenkönig Ludwig XIV. zu einem geradezu uneinnehmbaren Bollwerk ausgebaut worden war.

Diese doppelte Abhängigkeit — in administrativer Hinsicht von den Niederlanden und in militärischer von Preußen — erschwerte es den Luxemburgern natürlich, jenes nationale Selbstgefühl zu entwickeln, das ihnen während der jahrhundertelangen Fremdherrschaft notgedrungen abhanden gekommen war.

Doch noch bevor das 19. Jahrhundert aus-klang, hatte das Großherzogtum seine uneingeschränkte Unabhängigkeit erlangt. Nachdem die Festung wiederholt zum „casus belli" zwischen Frankreich und Preußen geworden war, kamen die europäischen Großmächte 1867 in London überein, den Streitereien ein Ende zu bereiten, indem sie Luxemburg zum „ewig neutralen" Staat erklärten und die Schleifung der Festung verfügten. Einige Jahre später ging auch die Abhängigkeit von der holländischen Krone zu Ende: Aufgrund eines Familienvertrags gelangte das Land 1890 von den (niederländischen) Oranien-Nassauern an das Haus Nassau-Weilburg und bekam einen neuen Fürsten, den es zudem ganz für sich allein hatte. Denn Großherzog Adolphe, der Stammvater der noch heute regierenden Luxemburg-Dynastie, hatte 1866 sein Land an Preußen abtreten müssen, weil er sich im Krieg zwischen den Habsburgern und den Preußen auf die Seite Österreichs geschlagen hatte.

Nach vier Jahrhunderten unter fremder Herrschaft und nach drei Gebietsteilungen, die das Land auf knapp ein Viertel seiner ursprünglichen Ausdehnung zusammenschrumpfen ließen, konnte Luxemburg endlich zu sich selbst finden. In der Tat entwickelten die Luxemburger in der Folge ein Nationalgefühl, das um so ausgeprägter wurde, je stärker der Druck war, den die mächtigen Nachbarn (immer noch) auf den Kleinstaat ausübten.

Weil das Großherzogtum einerseits so winzig und damit zu schwach war, um sich gegen seine Angreifer wehren zu können, andererseits jedoch wiederum attraktiv genug, um den Appetit seiner Nachbarn zu wecken, machte es auch nach der Erlangung seiner Unabhängigkeit noch so manche schwere Stunde durch. Waren es bis dahin die Franzosen gewesen, die sich das Ländchen einzuverleiben trachteten, so betrieben nunmehr die 1830 von den Niederlanden abgefallenen Belgier mehr oder weniger offen die Annektierung Luxemburgs; dies wäre ihnen auch um ein Haar gelungen, als nach dem Ersten Weltkrieg die noch junge Dynastie in Bedrängnis geriet. Am schlimmsten aber kam es im Zweiten Weltkrieg: Hitler gliederte 1940 das Großherzogtum in sein Reich ein, provozierte jedoch damit einen derart heftigen Widerstand, daß seine Statthalter in Luxemburg mit einer wahren Schreckensherrschaft reagierten. 5 300 Bewohner des Landes — seinerzeit 1, 8 Prozent der Bevölkerung — verloren damals als KZler oder als Zwangseingezogene ihr Leben.

Heute ist das Großherzogtum mit seinen 2 600 qkm und seinen 365 000 Einwohnern, die dazu auch noch ihre eigene Sprache sprechen, wohl ein anachronistisches Kuriosum. An Fläche nicht größer als das Saarland und mit einer Gesamtbevölkerung, die nicht einmal der Einwohnerzahl von Wuppertal entspricht, müßte Luxemburg eigentlich längst seine eigenstaatliche Lebensfähigkeit eingebüßt haben und in einem der größeren Staats-gebilde aufgegangen sein, die es umgeben. Daß dem nicht so ist, verdankt das Großherzogtum in erster Linie zwei Umständen: zum einen seiner überdimensionierten wirtschaftlichen Stärke und zum anderen seinem mit der Zeit recht ausgeprägt gewordenen nationalen Selbstbewußtsein.

Obschon 1815 eher als Zufallsprodukt der Geschichte entstanden, überlebte Luxemburg die Wirren des 19. Jahrhunderts, entging der politischen Konzentration, der damals die kleinen Fürstentümer reihum zum Opfer fielen, und schaffte trotz seiner Winzigkeit den Sprung ins industrielle Zeitalter. Dank der Eisenerzvorkommen im Süden des Landes, deren Nutzung im großen Maßstab in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts einsetzte, aber auch dank der Infrastruktur, die das Land sich beizeiten u. a. mit einem ausgedehnten Eisenbahnnetz zulegte, und schließlich dank der Zugehörigkeit zum Deutschen Zollverein, der von 1840 bis zum Ersten Weltkrieg der Luxemburger Wirtschaft einen riesigen Absatzmarkt zugänglich machte, wurde das Großherzogtum zu einer der wohlhabendsten Nationen weit und breit, die sich geradezu den Luxus leisten konnte, klein und doch autonom zu sein.

Das durch die historischen Umstände erst verhältnismäßig spät erwachte Nationalbewußtsein der Luxemburger wuchs gewiß mit dieser wirtschaftlichen Erstarkung. Mögen auch die Grundlagen für diesen Aufschwung zu einem beträchtlichen Teil mit fremdem Kapital geschaffen worden sein — zur Zeit des Zollvereins kam es vornehmlich aus Deutschland —, hinderte dies die Luxemburger doch keinesfalls daran, aus ihrem Wohlstand den Anspruch auf uneingeschränkte Eigenständigkeit und Unabhängigkeit abzuleiten. Mit der Zeit entwickelten sie, die — nach den Worten des früheren Staatsministers und derzeitigen Präsidenten der EG-Kommission, Gaston Thorn — „jahrhundertelang unter dem militärischen Massentourismus ihrer mächtigen Nachbarn gelitten hatten", ein Nationalgefühl, dessen Stärke sich auch im hartnäckigen Widerstand gegen die Okkupation durch die Nationalsozialisten bewies.

Aus jener Zeit rührt auch das enge Verhältnis zwischen Bevölkerung und Monarchie. Die Luxemburger, die anfänglich Schwierigkeiten mit ihrer neuen Dynastie hatten und 1919 die damalige Großherzogin Marie-Adelheid gar zur Abdankung zwangen, scharten sich zwei Jahrzehnte später, als ihre nationale Existenz bedroht war, um den Thron. Während des Zweiten Weltkrieges wurde Großherzogin Charlotte, die Schwester und Nachfolgerin Marie-Adelheids, die mit ihrer Regierung vor den Nationalsozialisten ins Londoner Exil geflohen war, zum Inbegriff der nationalen Identität. Indem sie unermüdlich in Amerika auf die Befreiung ihres Landes drängte und über den britischen Rundfunk ihre Landsleute zum Widerstand gegen das Dritte Reich aufrief, wurde sie zur beinahe mythischen Symbolfi-gur für ihr Volk. Diese Gefühle übertrugen die Luxemburger auch auf Charlottes ältesten Sohn Jean, als dieser 1964 den Thron übernahm.

II. Schwächen und Stärken eines Kleinstaats

Rekorde, wenn auch kaum sportliche, hat das kleine Luxemburg gleich reihenweise aufzuweisen. So produziert es beispielsweise pro Kopf noch immer den meisten Stahl (9, 6 t) und verfügt über die meisten Banken im Verhältnis zur Bevölkerung. Es besitzt nach den USA den höchsten Lebensstandard weltweit; das nach Kaufkraftparität umgerechnete Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist mit 10 300 Dollar pro Kopf das zweithöchste dr Welt und wird nur noch von den Amerikanern übertroffen, die es 1981 auf 11 700 Dollar brachten (zum Vergleich: Der EG-Durchschnitt lag bei 8 300 Dollar, das BIP der Bundesrepublik lag bei 9 500 Dollar). Außerdem hat Luxemburg die niedrigste Arbeitslosenrate und den höchsten Ausländeranteil weit und breit.

Dieser Wohlstand, der sich beispielsweise auch darin ausdrückt, daß in Luxemburg auf zwei Einwohner ein PKW kommt, rührt daher, daß die Wirtschaft des Großherzogtums bis Mitte der siebziger Jahre kräftige Außen-handelsüberschüsse erzielte und auch jetzt noch die Zahlungsbilanz positiv und recht ansehnlich ist. Während die meisten EG-Staaten beträchtliche Leistungsdefizite zu verzeichnen haben, schafft Luxemburg einen Überschuß in der Größenordnung von fast einem Viertel seines Bruttoinlandsprodukts.

Die intensive Industrieproduktion — die allerdings etwas an Gewicht eingebüßt hat, seit der alles überragende Stahlsektor Mitte der siebziger Jahre in eine Strukturkrise abrutschte — und vor allem der enorme Aufschwung, den die Bankenbranche im letzten Jahrzehnt in Luxemburg nahm, sind die Säulen des Wohlstands. Aber auch die Landwirtschaft und der Weinbau sowie der Fremdenverkehr sind wichtige wirtschaftliche Faktoren; hinzu kommen zwei spezifische Dienstleistungssparten: der weit über die Grenzen hinweg wirkende Radio-und Fernsehbetrieb des kommerziellen Senders „Radio Tl Luxembourg" (RTL) sowie eine internationale Luftfahrt-Aktivität.

Allerdings hat sich seit den fünfziger Jahren das Verhältnis innerhalb der Zusammensetzung des BIP deutlich geändert und ein Un-gleichgewichthervorgerufen, das, wenn auch ganz im Zuge der Zeit, den Luxemburgern Kopfzerbrechen bereitet. In den vergangenen drei Jahrzehnten ging der Anteil des Primär-sektors, also der Land-und Forstwirtschaft sowie die Erzförderung, am BIP von 13 auf 2 Prozent zurück, während der bis dahin so übergewichtige Industriebereich von 53 Prozent auf knapp ein Drittel zusammenschrumpfte; dafür hat dann der Dienstleistungssektor seinen Anteil von einem auf zwei Drittel verdoppelt.

Doch Luxemburg hütete sich neben der politischen auch noch die völlige ökonomische Autonomie anzustreben. Der Einsicht folgend, daß eine derart ungleichgewichtige und alles andere denn selbsttragende Volkswirtschaft auf sich allein gestellt niemals existenzfähig sein könnte, und auch angesichts der guten Erfahrungen, die die Luxemburger einst mit ihrer Zugehörigkeit zum Deutschen Zollverein machten, suchte das Land stets Anschluß bei einem seiner Nachbarn, um sich derart Zugang zu einem großen Wirtschaftsraum mit entsprechend potenten Absatzmärkten zu verschaffen.

Als nach dem Ersten Weltkrieg der Zollverein zusammenbrach und die Luxemburger ohnedies nichts mehr von ihrem östlichen Nachbarn wissen wollten, der ihr Land während des Krieges besetzt hatte, sahen sie sich nach einem anderen Partner um; dabei war die Wahl freilich nicht groß, denn es blieben nur zwei direkte Nachbarn: Frankreich und Belgien. Weil nun aber Paris offensichtlich nicht an einer Allianz mit dem Wirtschaftszwerg interessiert war, ging das Großherzogtum 1921 notgedrungen eine Partnerschaft mit Belgien ein. Mit dem damals aufgrund seines einträglichen Kolonialbesitzes in Afrika recht wohlhabenden Königreich, das zudem den Vorteil für Luxemburg hatte, daß es von der Größe her kein allzu überdimensionierter Partner war, kam es zur Gründung der „Union Economique Belgo-Luxemburgeoise" (UEBL). Diese Zoll-, Wirtschafts-und Währungsunion funktioniert bis zum heutigen Tag, obschon in der Zwischenzeit die Einbettung der beiden Partner in die Superstruktur der Europäischen Gemeinschaft erfolgte (zu deren Gründungsmitgliedern sowohl Belgien als auch Luxemburg gehören).

Freilich ist neuerdings das Verhältnis zwischen Belgien und Luxemburg etwas getrübt, besonders seitdem die Luxemburger im Februar 1982 eine 8, 5prozentige Abwertung ihres an die belgische Währung gekoppelten Franken hinnehmen mußten. Diese Paritätsänderung war durch die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des belgischen Partners herbeigeführt worden. Obwohl das Großherzogtum entschieden bessere Resultate aufzuweisen hatte, mußte es die — infolge seiner starken Importabhängigkeit empfindlich nachteilige — Währungsmaßnahme in Kauf nehmen. Daraufhin überlegte man in Luxemburg ernsthaft, ob es nicht besser wäre, das teste Währungsverhältnis mit dem UEBL-Partner zu kündigen und den eigenen Franken an die (möglichst harte) Währung eines andern oder gleich mehrerer Wirtschaftspartner anzuhängen. Diese allerdings in der Praxis mit etlichen Schwierigkeiten verbundene Lösung wird mittlerweile nicht mehr erwogen; sie könnte aber bei einer erneuten drastischen Abwertung des belgischen Franken wieder akut werden. Jedenfalls haben die Luxemburger Behörden vorsichtshalber neue Bedingungen mit ihrem Partner ausgehandelt, durch die sie ihrem bislang nur in der Theorie autonomen Franken eine etwas größere Eigenständigkeit sichern. Am liebsten wäre ihnen natürlich, wenn sich die EG-Währung ECU in der Praxis durchsetzte, denn dann hätten sie eine solide Anschluß-Währung für ihren eigenen, zwar gesunden, aber ob des beschränkten Wirtschaftshintergrunds auf den Devisenmärkten allzusehr gefährdeten Franken.

Ein weiteres Problem stellt die Abhängigkeit von fremder Arbeitskraft dar, die man ins Land holen mußte, um die anfallende Arbeit zu bewältigen, und auf die man auch heute noch, trotz der Wirtschaftsverlangsamung, angewiesen ist.

Als die Stahlindustrie vor hundert Jahren ihren Aufschwung nahm, reichte die vorhandene Arbeitskraft längst nicht aus, zumal in den Jahren zuvor eine massive Auswanderungswelle nach den USA die aktive Bevölkerung erheblich dezimiert hatte. Die benötigten Arbeiter kamen anfänglich noch aus den benachbarten Ländern, doch da auch dort die Industrialisierung fortschritt, mußte die regionale Arbeitskraft bald durch weiter herbeigeholte Kräfte ergänzt werden. Diese kamen vornehmlich aus Norditalien, wurden im Großherzogtum heimisch und integrierten sich dort mit den Jahren nahtlos, so daß heute Luxemburger mit italienisch klingenden Namen keine Seltenheit sind.

Inzwischen sind es zwar — außer den Funktionären der Europäischen Gemeinschaft, die 7 000 Menschen aus den zehn Mitgliedsländern in ihren Luxemburger Dienststellen beschäftigt — kaum noch Italiener, die einwandern, aber Gastarbeiter gibt es im Großherzogtum mehr denn je. Während andere Nationen bereits bei einem Ausländeranteil von 15 Prozent Überfremdung befürchten, nehmen es die Luxemburger gelassen hin, daß mittlerweile 26 Prozent der Einwohnerschaft des Landes Ausländer sind. Und sei es nur, weil man sich bewußt ist, daß ohne sie ganze Wirtschaftsbereiche — wie etwa die mit 90 Prozent Fremdarbeitern besetzte Baubranche — zusammenbrechen würden.

Das Gros des Fremdenkontingents stellen heute die Portugiesen: 29 000 von ihnen arbeiten vor allem im Handwerk und in der Industrie. Zwar ist inzwischen die Einwanderungswelle abgeebbt, weil auch in Luxemburg der Beschäftigungsmarkt enger geworden ist. Dennoch wächst der Ausländeranteil prozentual unaufhörlich weiter, da die Zugewanderten mit ihrer 17prozentigen Geburtenrate das demographische Defizit der Einheimischen — 10 Prozent Geburten bei einer Sterberate von 14 Prozent — wettmachen. Schon jetzt sind in manchen Grundschulen des Landes die Ausländer in der Mehrheit. Sollte dieser demographische Krebsgang der derzeit noch 270 000 Einheimischen anhalten, dem man bislang vergeblich mit einer teuren Familienpolitik entgegenzuwirken versuchte, dann dürfte jene Hochrechnung nicht so ganz falsch sein, laut der im Jahr 2040 der letzte Luxemburger geboren wird.

IIL Das Luxemburger Modell

Die Krise im Gefolge des Ölpreisschocks kam für die Luxemburger unerwartet und traf sie deshalb um so härter. Aus dem absoluten Boomjahr 1974, in dem der Außenhandelsüberschuß — aber auch die allgemeine Lohn-entwicklung im Lande — alle Rekorde brach, stürzte die beherrschende Stahlindustrie jäh in ein Konjunkturloch ab, in dem alsbald auch ihre in der Blütezeit angehäuften, aber nicht wahrgenommenen Strukturmängel offenkundig wurden. Seitdem ist die Außenhandelsbilanz des Großherzogtums defizitär, und die Zahlungsbilanz wäre es gewiß auch, wenn nicht der dynamische Dienstleistungssektor mit seinen über hundert Banken für einen Leistungsüberschuß sorgen würde.

Die Luxemburger Hütten, die 1974 noch 6, 5 Mio Tonnen Stahl (auf die Bevölkerung umgerechnet 19 Tonnen pro Kopf) hergestellt hatten, mußten im Jahr darauf ihre Produktion auf 4, 5 Mio zurückfahren und sind seitdem auf 3 Mio abgefallen. Für die Volkswirtschaft des Kleinstaats ist das ein durchaus dramatischer Einbruch, denn immerhin war die Hüttenindustrie, die 16 Prozent der aktiven Bevölkerung beschäftigte und die für sich allein ein Viertel der gesamten Lohnmasse im Lande bestritt, das ökonomische Rückgrat des Großherzogtums. Sie ist es gewissermaßen sogar heute noch, denn wenn auch ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt von einst einem Drittel auf ein Zehntel geschrumpft ist, ist die Stahlindustrie immer noch der größte Arbeitgeber des Landes.

Einem geflügelten Wort zufolge hat das ganze Land Schnupfen, wenn der Stahlgigant AR-BED — ein in Luxemburg beheimateter, aber weltweit verzweigter Konzern — nur einmal niest: Als die ARBED-Hütten nach 1974 nur noch Verluste einfuhren und sich schleunigst einer drastischen Gesundschrumpfung unterziehen mußten, war das ganze Land bis in den entlegensten Winkel davon betroffen. Immerhin mußte die Luxemburger Stahlindustrie seitdem ihr Personal um mehr als die Hälfte reduzieren, um sich der neuen Absatzlage anzupassen und ihre durch die schlechte Ertragslage nicht gerade erleichterte, aber für ihr Überleben unerläßliche Restrukturierung durchführen zu können.

Daß es dennoch nicht zu Massenentlassungen und sozialen Unruhen kam, ist dem „Luxemburger Modell'1 zu verdanken. Dieses besteht ganz einfach darin, daß die damals von Gaston Thorn geführte Regierung aus Liberalen und Sozialisten (die bislang einzige ihrer Art in Luxemburg, denn traditionell wird das Land von einer Koalition regiert, in der die Christlichsozialen den Ton angeben) sich mit den Sozialpartnern an einen Tisch setzte, um mit ihnen gemeinsam die Probleme zu lösen. Weil die Vernunft obsiegte und die Gruppeninteressen vor der nationalen Solidarität zurücktraten, konnte die Dreierkonferenz (Tripartite) zur festen Einrichtung werden. Sie ist für das Krisenmanagement zuständig und sorgt dafür, daß der Prozeß der strukturellen Anpassung an die neuen wirtschaftlichen Gegebenheiten möglichst reibungslos vor sich geht. Dieser Prozeß ist zwar immer noch nicht abgeschlossen, aber bis zur Stunde zumindest verlief er ohne nennenswerte Störung, obschon er der bis dahin vom Wohlstand verwöhnten Bevölkerung spürbare Opfer abverlangt. So gelang es beisielsweise, den doch recht beachtlichen Personalabbau in den Hütten — von 28 000 auf 13 000 Mann innerhalb von acht Jahren — zu bewältigen, ohne daß die Betroffenen allzu große Einbußen hinnehmen mußten. Zum einen stellten die Staats-und die Gemeindebehörden ein Programm mit nützlichen Arbeiten auf, für die in der Hoch-konjunktur keine Zeit gewesen war und für die man nun die überschüssigen Arbeitskräfte des Stahlreviers einsetzte. Zum anderen wurden die älteren Arbeitnehmer frühzeitig in Pension geschickt, wodurch sich die Personalreihen natürlich lichteten. Und schließlich wurden Sonderprämien für jene in Aussicht gestellt, die auf einen Posten in einem der neuen Unternehmen wechseln, die im Zuge der industriellen Diversifizierung ins Land geholt wurden. Finanziert wird dieser aufwendige Sozialplan zum Teil von der Hüttenindustrie selbst, vor allem aber vom Staat, der dafür zwei Quellen anzapfte: einerseits seine eigenen (allerdings jetzt zur Neige gehenden) Reserven und andererseits das Portemonnaie des Steuerzahlers, dem eine Zusatz-steuer als sogenannte Solidaritätsabgabe abverlangt wird.

Zwar spitzt sich angesichts der nach neun Jahren immer noch anhaltenden Wirtschaftskrise der Verteilungskampf bedrohlich zu, was sich notgedrungen auch auf das Verhandlungsklima innerhalb der Tripartite auswirkt. Doch bislang hat das Luxemburger Modell standgehalten und jener nationalen Solidarität zum Durchbruch verholten, ohne die diese Krise wohl nicht zu bewältigen wäre. Dank der Konzertation wurde der soziale Friede gewahrt und blieb die politische Stabilität in Luxemburg erhalten.

Für manchen ausländischen Beobachter ist das Luxemburger Modell geradezu das Ei des Kolumbus, das Rezept schlechthin für die Überwindung einer wirtschaftlichen und öko35 nomischen Durststrecke. Fraglich ist allerdings, ob sich dieses Modell, das sich in einem Kleinstaat mit nicht einmal einer halben Million Bewohnern bewährt hat, so ohne weiteres auf einen vielfach größeren Wirtschaftsraum übertragen ließe. Vielleicht ist das Modell ohne die familiäre Atmosphäre eines Kleinstaates, in der schon fast jeder jeden kennt und die gegenseitige Abhängigkeit besonders ausgeprägt ist, nicht praktikabel.

Darüber hinaus scheint jetzt auch das Luxemburger Modell an seine Grenzen gestoßen zu sein. Nachdem — wie anderswo auch — die Geschäftslage der Stahlkocher sich weiter verschlechtert und der damit wachsende Bedarf dieses Industriesektors an öffentlichen Stützungsmitteln zugenommen hat, sah sich die Regierung zu einer weiteren Steueranhebung gezwungen. Diese war verständlicherweise nicht nach dem Geschmack der Arbeitnehmerseite, die bereits zuvor eine Abschaltung der bis dahin vollautomatischen Lohnindexierung hatte hinnehmen müssen, so daß sich das Klima in der Tripartite deutlich abkühlte. Auch andere Kreise, die nicht direkt etwas mit der Hüttenindustrie zu tun haben, protestierten gegen die Steueranhebung und warfen der Regierung vor, sie lasse sich in der Dreierkonferenz von der Hüttenindustrie finanzielle Zugeständnisse abpressen, die letztlich nur die unumgängliche Schrumpfkur dieses Sektors hinauszögerten, wobei die übrigen Wirtschaftszweige die Zeche bezahlen müßten.

Im letzten Herbst hat sich zu diesen Belastungsproben für das Luxemburger Modell eine weitere hinzugesellt: Da der Kleinstaat am Ende seiner Finanzkraft angelangt ist, kann er nicht länger in dem Stahl-Subventionskrieg mithalten, den sich die europäischen Staaten gegenseitig liefern und der drauf und dran ist, auch die noch halbwegs gesunden Hüttenfirmen in den Bankrott zu treiben. Die Folge ist, daß jetzt der ARBED-Konzern, der über 100 000 Menschen in Luxemburg, Belgien, der Bundesrepublik, Frankreich, Österreich, Brasilien und den USA beschäftigt, drastisch abbauen und nicht nur auf einzelne Luxemburger Anlagen, sondern auch auf einen Teil seines Auslandsbesitzes verzichten muß. Als Eigentümer der seit einiger Zeit nur mehr mit öffentlichen Mitteln über Wasser gehaltenen Saarstahl-Hütten hat der ARBED-Konzern nun der Bundesregierung und dem Saarland seinen gesamten deutschen Besitz im Weiterverarbeitungsbereich angeboten, der der Saarstahl angegliedert werden soll, während die Muttergesellschaft auf drei Viertel ihrer Saarstahl-Anteile verzichtet.

Während die Gewerkschaften mit diesem Rückzug einverstanden sind — durch den sich die Konzernmutter ihrer Finanzverpflichtungen gegenüber der Saar-Tochter entledigt —, widersetzen sie sich einem anderen Teil des ARBED-Restrukturierungsplans: Um den Auflagen der EG-Kommission nachzukommen, die den europäischen Hütten drastische Kapazitätsbeschneidungen vorgeschrieben hat, will der Hüttenkonzern ältere Anlagen in Luxemburg stillegen und die damit einhergehende Schrumpfung der Produktpalette durch einen Synergieaustausch und eine engere Zusammenarbeit mit dem belgischen Stahlkonzern Cockerill-Sambre wettmachen. Diesem Ansinnen verschließen sich die Gewerkschaften wegen des drohenden zusätzlichen Verlustes an Arbeitsplätzen, doch scheint kein Weg mehr an einer solchen Lösung vorbeizuführen, wenn die (in der Produktivität mit der Stahl-Weltelite gleichauf liegende) ARBED sich über die Krise hinweg-retten will. Schon die Tatsache freilich, daß die Gewerkschaften trotz der tiefen Meinungsverschiedenheit weiter in der Dreierkonferenz ausharren, wird als Indiz dafür gewertet, daß einmal mehr das Luxemburger Modell einen Konsens herbeiführen könnte. Allerdings droht der herannahende Wahltermin (17. Juni 1984) insofern zum Hindernis zu werden, als die beiden bürgerlichen Regierungsparteien — Christlichsoziale und Liberale — nicht eben auf derselben politischen Wellenlänge sind wie die von einem linken Syndikat angeführte Gewerkschaftsbewegung.

IV. Der Aufstieg zum internationalen Finanzplatz

Ausländischen Besuchern zeigen die Luxemburger die Beton-und Glaspaläste entlang des Boulevard Royal, der sich im Westen um die Altstadt spannt, mit eher gemischten Gefühlen. Mit nostalgischem Unterton beschrei-ben sie die prächtigen Patrizierhäuser, die einst diese Straße säumten und die mittlerweile nahezu allesamt wuchtigen Betonklötzen gewichen sind. Andererseits jedoch sind sie sich bewußt, daß hinter de modernen Glasfassaden Unsummen an Geld gehandelt werden — fremdes Geld, das bei seinem Umweg über Luxemburg ein paar Tausendstel für die großherzogliche Staatskasse abwirft. Diese nehmen sich zwar gegenüber der Gesamtmasse, die hier umgeschlagen wird, verschwindend gering aus, doch für das kleine Luxemburg sind sie ein wahrer Goldregen. 8 700 Menschen — zu gut zwei Dritteln Luxemburger — widmen sich dem oft hektischen Geldgeschäft und schieben Milliardensummen, vornehmlich in Dollar und DM, hin und her.

Vor zwanzig Jahren schafften die wenigen Luxemburger Finanzinstitute gerade ein Bilanzvolumen von 5 Milliarden Franken, zehn Jahre später waren es schon etliche Banken mehr und 500 Milliarden und inzwischen sind es über 6 000 Milliarden Franken oder rund 300 Milliarden DM. Diese spektakuläre Entwicklung gibt besser als jede Beschreibung den erstaunlichen Aufstieg des kleinen Luxemburg zum internationalen Finanzplatz und zu einem der bedeutendsten Geldmärkte Europas wieder.

Dabei war der Anfang recht bescheiden, und es brauchte etliche Jahrzehnte, bis sich überhaupt der erste Erfolg einstellte. Obwohl der Aufschwung erst in den sechziger Jahren kam, waren die Grundlagen dafür bereits in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen gelegt worden.

Als 1929 die Luxemburger Börse gegründet wurde, hatte der damalige Finanzminister Pierre Dupong die Idee, in Ermangelung eines auch nur halbwegs bedeutenden Kapitalmarkts vor Ort für ein Gesetz zu sorgen, das der damals noch kaum verbreiteten Holding-Gesellschaftsform besondere steuerliche Begünstigungen einräumte.

Doch die an sich zweifellos originelle Idee sollte so schnell nicht zum Tragen kommen. Erst machte die große Wirtschaftskrise, dann der Zweite Weltkrieg diesem Plan einen Strich durch die Rechnung. Als jedoch nach der Wiederaufbauphase im Anschluß an den Zweiten Weltkrieg der internationale Handel in Schwung kam, machte sich die geleistete Vorarbeit für Luxemburg bezahlt. Immer mehr ausländische Firmen nutzten die freizügige Holding-Gesetzgebung und richteten Beteiligungsgesellschaften im Großherzogtum ein. Waren es 1960 knapp 1 200, so steigerte sich ihre Zahl bis 1975 auf 4 500 und ist mittlerweile bei 6 000 angelangt.

Für den Durchbruch sorgten freilich nicht nur die Holdings, denen man 1965 das Recht eingeräumt hatte, Finanzmittel auszuleihen und Obligationen zu emittieren, sondern auch äußere Faktoren. Die von den USA eingeführte „Interest Equalization Tax", die von der Bundesrepublik vorgeschriebene „BardepotPflicht" und andere den grenzüberschreitenden Kapitalfluß hemmende Maßnahmen des Auslands schleusten das aufkommende Euro-geldgeschäft nach Luxemburg; immer mehr ausländische Großbanken richteten Niederlassungen im kleinen Großherzogtum ein. Aus den 19 Finanzinstituten von 1960 waren 1975 schon 80 geworden; heute sind es 115.

Sah man anfangs die Zukunft dieses neuen, auf dem Eurodollar-Markt aufgebauten Finanzplatzes noch eher skeptisch — so manche Bank mietete vorsichtshalber nur eine kleine Etagenwohnung für ihre Luxemburg-Tochter an —, so sollte sich in der Folge herausstellen, daß der Luxemburg-Boom doch alles andere als eine Eintagsfliege war. Vielmehr steigerte der Finanzplatz sein Geschäftsvolumen unaufhörlich von Jahr zu Jahr — in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre durchschnittlich um ein Viertel, 1981 gar um 28 Prozent.

Noch immer wird fälschlicherweise angenommen, das Großherzogtum verdanke diesen Finanzboom dem Umstand, daß es unter die Steuerparadiese einzureihen sei. Die in Luxemburg ansässigen Banken hätten gewiß nichts dagegen, wenn dem so wäre, denn dann würde ihnen der großherzogliche Fiskus nicht bis zu 60 Prozent ihres Gewinns in Form von Steuern abziehen. Steuerbegünstigt sind einzig und allein die Holding-Gesellschaften, die der Staatskasse nicht einmal eine Milliarde Franken im Jahr einbringen, während die 115 Banken beträchtliche 5 Milliarden allein an Körperschaftssteuer überweisen und insgesamt nahezu 8 Milliarden abführen. Dies macht rund 30 Prozent des globalen Steueraufkommens und immerhin 15 Prozent der laufenden Staatseinnahmen aus.

Die Gründe für die Attraktivität des Finanzplatzes, der heute 29 deutsche, 14 skandinavische und je ein Dutzend belgische, luxemburgische und multinationale Joint-Venture-Banken beherbergt, liegen jedoch ganz woanders als im steuerlichen Bereich.

Hauptanziehungskraft ist die große Freizügigkeit, die die Kapitalbewegungen in Luxemburg genießen. Denn es gibt hier keine Zentralbank mit ihren währungspolitischen Zwängen und Vorschriften. Und das als Ban37 kenaufsichtsbehörde fungierende Währungsinstitut ist, obwohl strikt auf den guten Ruf des Finanzplatzes bedacht, verständnisvoll und flexibel. Von Vorteil ist ebenfalls der doppelte Devisenmarkt der belgisch-luxemburgischen Wirtschaftsunion, der eine Abwicklung der Kapitaltransaktionen außerhalb des in die Bandbreite des Europäischen Währungssystems eingezwängten offiziellen Kurses erlaubt, während der Umstand, daß der Finanzplatz Luxemburg nur Universalbanken kennt, also Finanzinstitute, die grundsätzlich alle Arten von Geldoperationen durchführen können, den Banken eine optimale Aktionsfreiheit einräumt.

Die Liste der Vorteile wäre jedoch nicht vollständig, würde man nicht auch die Umfeld-Aspekte anführen, die den Finanzplatz Luxemburg kennzeichnen. Dazu gehören sowohl die recht vorteilhaften Bedingungen der Luxemburger Börsengesellschaft und die Präsenz der Finanzeinrichtungen der Europäischen Gemeinschaft, wie etwa der Europäischen Investitionsbank, als auch die politische und soziale Stabilität des Landes. Eine moderne Fernmeldeinfrastruktur, die Mehrsprachigkeit der Luxemburger, ein hohes Bildungsniveau, ein angenehmer Lebensrahmen sowie schließlich der völlig unkomplizierte Umgang mit den Behörden bis hinauf in die Regierungsspitze runden das positive Umfeld ab.

Mängel in der Gesetzgebung, wie etwa die nachteilige Doppelbesteuerung, werden nach und nach behoben; die Angebotspalette wird laufend durch Neuerungen erweitert, beispielsweise kürzlich durch den Goldhandel, der in Luxemburg von der Mehrwertsteuer befreit wurde und sein tägliches Fixing an der Börse kennt. Der Dienstleistungsfächer schließlich weist so nützliche Einrichtungen auf wie etwa ein eigens für das Clearing von Wertpapieren geschaffenes Institut.

Diese permanenten Verbesserungen im Hinblick auf die Erfordernisse des Markts sichern dem Finanzplatz Luxemburg eine solide Grundlage und sorgen für eine anhaltende Expansion, auch wenn inzwischen das Euro-geldgeschäft merklich nachgelassen hat. Schon hat sich Luxemburg ein weiteres Betätigungsfeld erschlossen, indem sich die ansässigen Banken immer mehr dem — kürzlich durch eine gesetzliche Verankerung des Bankgeheimnisses geförderten — Privatkundengeschäft widmen. Jetzt sollen noch die Bereiche Treuhandkonten, Devisenhandel, Wertpapieranlagen und Vermögensverwaltung ausgebaut werden, doch wird darüber hinaus auch schon erwogen, ebenfalls das internationale Versicherungsgeschäft ins Großherzogtum zu holen. Die Zukunft des oft als Eintagsfliege angesehenen Finanzzentrums Luxemburg hat offenbar erst begonnen.

V. Je kleiner das Land, desto größer das Ausland

Populär geworden im Ausland aber ist Luxemburg weder dadurch, daß es einen der zehn größten Stahlkonzerne der Welt beherbergt, noch dadurch, daß es sich zu einem der großen Finanzmärkte auf dem Globus entwikkelte. Der Name Luxemburg ist deshalb Millionen Menschen in Europa geläufig, weil er Tag für Tag über den Äther in die Welt hinausgetragen wird — von Europas größtem kommerziellen Rundfunksender, RTL (RadioTl-Luxembourg). Die mit französischem und belgischem Kapital auf die Beine gestellte, aber als Konzessionär der Luxemburger Wellenfrequenzen vom Kleinstaat kontrollierte Gesellschaft ist bereits seit über einem halben Jahrhundert in einer Sparte tätig, deren große Stunde offenbar erst jetzt schlägt. Lange Zeit hindurch nur in Frankreich ein Begriff, wo das französischsprachige Luxemburg-Programm seit den dreißiger Jahren die dortigen Staatssender in der Hörergunst aussticht, ist RTL mittlerweile ein regelrechter europäischer Medienriese geworden, der nicht nur Rundfunksendungen in Französisch (25 Mio Zuhörer), Deutsch (6 Mio), Englisch, Niederländisch und Luxemburgisch ausstrahlt, sondern auch ein französisches Fernsehprogramm, das von gut vier Millionen Zuschauern im Nordosten Frankreichs und in Belgien gesehen wird. Seit Beginn dieses Jahres gibt es auch ein TV-Programm in deutscher Sprache für die benachbarten Bundesländer Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Saarland. Außerdem ist RTL an zahlreichen ausländischen Verlagen und an Produktionsgesellschaften beteiligt und betätigt sich u. a. als Europas größter Hersteller von TV-Werbespots.

Völlig neue Horizonte hat die Ära der Verkabelung und der Satellitenübertragung dem Luxemburger Kommerzsender eröffnet, denn die neuen Kommunikationsmöglichkeiten er-B lauben es, die bei der herkömmlichen Übertragungstechnik verhältnismäßig engen Reichweiten-Grenzen zu sprengen. Nicht von ungefähr bemühte sich dann auch das Großherzogtum 1977 auf der Wellenkonferenz in Genf mit Erfolg um die Zuteilung der für eine Massenkommunikation auf europäischer Ebene benötigten Satellitenkanäle. Ohne zu zögern arbeitete RTL daraufhin ein Satelliten-projekt aus, das bis spätestens 1985 Betriebs-reife erlangt haben sollte.

Dieser Zeitplan wurde jedoch durch eine Reihe äußerer Einwirkungen durcheinander-gebracht, die einmal mehr die weitgehende Abhängigkeit des Kleinstaats von seiner Umgebung deutlich machen. Weil sich Widerstand bei den Nachbarn gegen die Fernsehpläne der Luxemburger regte und die Franzosen ihre — damals noch von einem sich gegen die TV-Überflutung sträubenden Helmut Schmidt regierten — deutschen Freunde nicht verprellen wollten, verzögerte der französische Staat in seiner Eigenschaft als Großaktionär der RTL-Trägergesellschaft „Compagnie Luxembourgeoise de Tldiffusion" das Satellitenprojekt. Am Ende lief dieses Manöver offenbar darauf hinaus, daß die Luxemburger auf einen eigenen Fernsehsatelliten verzichten und sich statt dessen auf jenem der Franzosen einmieten, auf dem diese noch einige Kanäle frei haben. Zur Zeit wird zwar noch über eine solche Beteiligung verhandelt, doch da diese keinesfalls den Zielen entspricht, die Luxemburg sich in der Massenkommunikation von morgen gesteckt hat, verfolgt das Großherzogtum jetzt parallel dazu ein anderes Satellitenprojekt, an dem sich ein internationales Medienkonsortium beteiligen will. Da es sich hier nicht um einen Direct-Broadcasting-Satelliten handelt, sondern um einen weniger aufwendigen, aber trotzdem weitreichenden Kommunikationssatelliten, hat der Luxemburger Staat zusätzliche Frequenzen beantragt, so daß er sich damit gleich zwei Wege in die Medienzukunft öffnet.

Das Gerangel um die Fernsehsatelliten zeigt einmal mehr, wo der Schuh die Luxemburger am meisten drückt. Sie wissen, in welchem Maß die geringe Größe ihres Landes sie behindert und daß sie, wirtschaftlich wie politisch, nur dann eine Überlebenschance haben, wenn sie ihre kleinstaatliche Dimension zu überspielen vermögen. Dies ist ihnen in der Vergangenheit mit der Stahlindustrie gelungen, und dann mit dem internationalen Finanzgeschäft. Dasselbe Manöver soll jetzt im Medienbereich wiederholt werden. Doch nunmehr beginnt eine Zeiterscheinung gegen das kleine Großherzogtum zu spielen, die einen dunklen Schatten auf Europa geworfen hat — nämlich der wiedererwachte Nationalismus, der sich in einem zunehmenden Protektionismus niederschlägt und der die Europäische Gemeinschaft in den Zusammenbruch zu führen droht.

Die Luxemburger gelten nicht nur deshalb als leidenschaftliche Europäer, weil sie einen Teil der EG-Dienststellen beherbergen und sich immer noch Chancen für ihre Hauptstadt ausrechnen, dereinst einer der Hauptsitze der Gemeinschaftseinrichtungen zu werden. Sie, die einst die Dienststellen der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl bei sich aufnahmen, weil niemand sie so recht haben wollte, glauben seit jeher an ein vereinigtes Europa, weil sie aufgrund ihrer Erfahrungen von der Notwendigkeit eines weitgehend verflochtenen Staatenbundes überzeugt sind. Nicht von ungefähr hat der Kleinstaat stets wieder seine Entfaltungsmöglichkeiten in einem größeren Verbund gesucht — sei es nun in der Wirtschaftsunion mit Belgien, in der Benelux-Dreierpartnerschaft oder in der Europäischen Gemeinschaft. Weil sie, auf sich allein gestellt, zu schwach sind, um wirtschaftlich und damit auch politisch überleben zu können, haben sich die Luxemburger — nach dem Motto: Je kleiner das Land, desto größer das Ausland — eine Weltoffenheit zugelegt, die sie von manchen ihrer großen Partner unterscheidet.

Und doch sind letztlich auch diese Großen in eine ähnliche Lage geraten wie die, in der sich Luxemburg seit jeher befindet. Die weltweite Umverteilung der Arbeit hat sich auf Kosten der Alten Welt vollzogen; diese ist deutlich gegenüber ihren amerikanischen und japanischen Konkurrenten ins Hinter-treffen geraten — nicht zuletzt, deshalb, weil die einzelnen europäischen Staaten sich im Alleingang auf Weltmärkten zu behaupten suchen, die mittlerweile von Giganten beherrscht werden. Europa könnte einer dieser Giganten sein — die Bundesrepublik oder Frankreich oder Großbritannien allein können es nicht.

Der Kleinstaat Luxemburg weiß, daß alle wirtschaftlichen Errungenschaften, einschließlich der nationalen Eigenständigkeit, gefährdet sind, wenn sich der Protektionismus breit-macht und die — für Kleinstaaten zuerst, aber nicht nur für sie allein verheerende — Schneckenhaus-Politik als Reaktion auf eine strukturelle Herausforderung zur Regel wird.

Kommentar und Replik

Parlamentarische Mehrheitsdemokratie

Zum Beitrag von Bernd Cuggenberger/Claus Offe, Politik aus der Basis — Herausforderung der parlamentarischen Mehrheitsdemokratie. B 47/83, S. 3— 10

In ihrem Aufsatz „Politik aus der Basis — Herausforderung der parlamentarischen Mehrheitsdemokratie“ schreiben Bernd Guggenberger und Claus Offe, daß die parlamentarische Mehrheitsdemokratie für ein modernes und freiheitliches Gemeinwesen zwar „gänzlich unverzichtbar“ sei, daß sie aber auf spezifischen, zu wenig beachteten Bedingungen beruhe, die ihr enge Grenzen setzten.

Beide Feststellungen sollten selbstverständlich sein. Es bedarf besonderer, stets prekärer Voraussetzungen der „politischen Kultur“, um die parlamentarische Demokratie möglich zu machen. Schon historisch und geographisch sind ihr Grenzen gezogen. Das zeigen mit den Ausnahmen, die die Regel bestätigen, die Mißerfolge aller Versuche, sie zu exportieren. Im wesentlichen bleibt sie auf ihren westeuropäisch-nordamerikanischen Ursprungsbereich beschränkt. Allenfalls sind nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Grenzen um ein paar hundert Kilometer von Aachen bis Helmstedt vorgeschoben worden — freilich nicht unangefochten, wie unsere einschlägigen Diskussionen und kritischen „Bewegungen“ demonstrieren. Im übrigen sollte gerade uns Deutschen die Möglichkeit der Selbstzerstörung als bittere Erfahrung eingebrannt sein; die Väter des Grundgesetzes haben darauf, wie sie nur konnten, reagiert, um nicht nur den Minderheiten, sondern auch dem Mehrheitswillen überall dort Grenzen zu ziehen, wo er auf solche Selbstzerstörung hinauslaufen könnte.

Welches sind nun die Voraussetzungen der parlamentarischen Demokratie? Guggenberger und Offe verweisen vor allem auf die seit dem 19. Jahrhundert wirksamen Erwartungen langfristiger Wohlstandsmehrung. So wichtig indessen ökonomische Bedingungen sein mögen, man kann sie auch überschätzen. Denn wahrscheinlich kommen sie „systemneutral“ jedem Regime zugute. Sie haben zur Konsolidierung des Bismarckreiches geholfen, das kaum demokratisch zu nennen war. Andererseits sind die politischen Institutionen Großbritanniens von der schleichenden Krise kaum berührt worden, die das Pionierland der Industrialisierung hinter neuen Herausforderern mehr und mehr Zurückbleiben ließ. Daß andere Bedingungen ins Spiel kommen — und nicht bloß zusätzlich —, zeigt sich in der Depression; man denke an die gegensätzlichen Reaktionen Deutschlands und der Vereinigten Staaten in der Weltwirtschaftskrise.

Worum es im Kern der Dinge geht, mag ein zugleich historisches und aktuelles Beispiel anschaulich machen. Iring Fetscher schrieb zum Streit um die Kernenergie: Es „sollte klar sein, daß in dieser Frage der Hinweis auf die formal-demokratischen Verfahren nicht mehr ausreicht, um Legitimitätsüberzeugungen zu begründen. Genauso wenig, wie sich religiöse Minderheiten im 17. Jahrhundert — in England und den Niederlanden — durch Mehrheitsbeschlüsse von ihren Glaubensüberzeugungen abbringen ließen, lassen sich heute Gegner der Nukleartechnologie ... davon überzeugen, daß wir , in die Steinzeit'zurückfallen, wenn wir auf diese technologische Möglichkeit verzichten, und daß sie sich aus diesem Grunde dem Mehrheitsvotum beugen müssen.“ (Ökologie und Demokratie — ein Problem der politischen Kultur, B 26/82).

Laut Fetscher wurde seinerzeit „der politische Friede dadurch wiederhergestellt, daß sich der Staat aus der Sphäre der religiösen Streitigkeiten herauszog'. Nein: Die Durchsetzung der Toleranz war im Falle der Niederlande und Englands keineswegs nur — wie vielleicht in Preußen — eine Sache der Staatsräson. Wichtiger war ein anderer Vorgang: Die Bürger selbst lernten allmählich, auf die politische Durchsetzung religiöser Überzeugungen zu verzichten. Sie lernten es, das Absolute letzter Glaubensüberzeugungen von den vorletzten Fragen praktischer Politik zu trennen. Erst damit konnte sich die Toleranz zu einem Element politischer Kultur entwickeln; erst auf dieser Grundlage wurde die westlich-liberale Demokratie möglich. Genau diese Grundlage wird jedoch zer-schlagen, wenn man den historischen Lernprozeß widerruft und Entscheidungsfragen praktischer Politik wieder ins Absolute des Religiösen hinaufsteigert. Das gilt auch dann — oder erst recht dann —, wenn es sich inzwischen um säkularisierte „Religiosität ins Diesseits“ handelt. Freilich grassiert die Behauptung, daß es bei Themen wie „Kernenergie“ oder „Frieden“ um letzte Fragen des Heils und Unheils schlechthin gehe. Franz Alt in seinem Buch „Frieden ist möglich — die Politik der Bergpredigt“ — symptomatisch durch seinen Erfolg — vertritt die These, daß das Unheil gerade aus der Trennung des Letzten und des Vorletzten von Religion und Politik stamme.

Aber es stünde erst recht schlimm, wenn es so wäre. Dann käme der Mehrheitsmechanismus der parlamentarischen Demokratie ans Ende. Denn über das Absolute und Letzte kann man in der Tat so wenig abstimmen wie über die Frage, ob es Cott gibt oder nicht gibt. Darum grenzt unsere Verfassung im Crundrechtsteil letzte Fragen sorgfältig aus. Weil Mehrheitsentscheidungen nicht mehr greifen, führt die Repolitisierung des Letzten in das Freund-Feind-Verhältnis, das Carl Schmitt als den angeblichen Begriff des Politischen beschwor; sie führt in den — zunächst geistig-moralischen — Bürgerkrieg, dem einzig die Diktatur ein Ende machen kann.

Solchen Hinweisen pflegt man grimmig entgegenzuhalten, daß damit alle Politik dem puren „Machen“, dem Bequemen, Opportunen, der Grundsatzlosigkeit ausgeliefert werde; der Glaube und das Gewissen hätten dann allenfalls im stillen Kämmerlein, nicht aber auf dem Forum etwas zu suchen.

Nein, keineswegs. Jeder, der Christ wie der Nichtchrist, sollte die Maximen seines Handelns von der für ihn letzten Instanz her bestimmen. Alles kommt jedoch auf die Einsicht an, daß man mit den Entscheidungen praktischer Politik unvermeidbar in einen Bezirk des möglichen Irrtums über die Handlungsfolgen übertritt. Unser Handeln richtet sich auf eine Zukunft, die wir nie völlig durchdringen und beherrschen; niemand verfügt über die absolute Einsicht oder hat die Wahrheit in Erbpacht. Eben darum können wir über die Wahrheit kontrovers diskutieren; eben darum wird es notwendig, „bloß formal“ durch Mehrheiten zu entscheiden.

Anders gewendet: Nur wenn wir die Versuchung des Absoluten, die kurzschlüssige In-eins-Setzung von Letztem und Vorletztem abwehren und die wesenhafte Differenz der Bereiche anerkennen, nur wenn wir damit uns selbst die Chance des Irrtums zuerkennen — nur dann werden wir fähig, sie zugleich dem Andersdenkenden einzuräumen. Nur dann kann es Freiheit und Vielfalt geben. Und nur dann kann man einander guten Willen zugestehen, zum Beispiel dazu, daß im Streit um die Sicherung des Friedens auch der Andersdenkende „friedensfähig“ und friedenswillig ist.

Es macht das Besondere der gemeinhin „westlich“ genannten Entwicklung aus, daß in ihr die Weltlichkeit der Welt als ein Bereich des Vorletzten freigegeben wurde — und zwar vom abendländischen Christentum selbst, das sich damit von der byzantischen Orthodoxie entscheidend abhebt. Hierauf beruht im Kern zugleich die westliche politische Kultur als Grundlage der parlamentarischen Mehrheitsdemokratie.

In Deutschland freilich erwies sich die Versuchung ‘des Absoluten wieder und wieder als mächtig, zunächst in heils-und unheilsgeschichtlichen philosophischen Konstruktionen. Zu dieser Versuchung hat vieles beigetragen. Nur stichwortartig seien genannt: die vom Luthertum freigesetzten geistigen Energien, die ein erstarrtes Landeskirchentum nicht aufzufangen vermochte, die lange Vorherrschaft eines leistungstüchtigen Obrigkeitsstaates, die Schwäche des Bürgertums, der Mangel an nationaler Identität. Aus der Faktorenkombination resultiert die nur prekäre Zugehörigkeit zur politischen Kultur des Westens.

Guggenberger und Offe statuieren ein Exempel, wenn sie schreiben oder zustimmend zitieren: „Was aber besagen Mehrheiten — in der Perzeption von Minderheiten — schon angesichts einer . drohenden Selbstvernichtung’? Was ist das, was apathische, ignorante „Akklamationsmehrheiten’ und ihre Repräsentanten in solcher Situation tun, anderes als . Parteinahme für den Tod, die Vernichtung, ohne daß ihnen das voll bewußt (wäre)'? Vermag in einer solchen Situation der Hinweis auf bestehende Mehrheitsverhältnisse wirkliche Legitimität zu begründen, oder hat er nicht allenfalls arithmetischen und statistischen Wert für den . Vertreter eines (überholten) quantitativen Demokratieverständ-nisses’?"

Das wirkt dreifach fatal. Erstens schlägt offenbar die Versuchung voll durch, den eigenen Standpunkt absolut zu setzen.

Zweitens trägt die giftige Wortwahl zur Vergiftung der Atmosphäre insgesamt bei, zu unserer notorischen Konfliktunfähigkeit im Rahmen von „Spielregeln“. Kann man sich eigentlich noch wundern und beklagen, und wie soll man es abwehren, wenn entsprechend giftig zurückgeschossen wird: Die Angst, vor der die Friedens-bewegten reden, ist pure Hysterie, schlau geschürt von der DKP, bezahlt von der DDR, nützliche Idiotie an den Drähten Moskaus ...?

Drittens: Wenn von apathischen und ignoranten Akklamationsmehrheiten und ihren Repräsentanten die Rede ist, dann scheint das Cegenbild einer aktiven und informierten „Basisdemokratie“ auf. Beim Wort genommen liefe diese Cegensatzkonstruktion auf eine politische Zwei-Klassen-Cesellschaft hinaus, mit einem VorRecht für jene, die sich für politische Aktivitäten mehr Zeit nehmen können als die „schweigende Mehrheit". Ideengeschichtlich handelt es sich um eine spätrousseauistische Cegensatzkonstruktion von volonte generale und volonte de tous, praktisch um das, was Lenin in „Was tun?“ (1902) als Herrschaft der Kaderpartei vorgezeichnet hat. So verkehrt sich der „basisdemokratische“ Ansatz unversehens in ein Elitekonzept — und konsequent genug. Denn ursprünglich handelt es sich um eine konservative Verteidigung geen Demokratisierungsbestrebungen und Wahlrechtserweiterungen.

Gegenüber alledem kann man gar nicht eindringlich genug auf die Friedens-und die Freiheitsfunktionen der parlamentarischen Mehrheitsdemokratie hinweisen. Sie beruhen auf einfachen Grundregeln: Gewählte Mehrheiten entscheiden (Regierbarkeit). Die Entscheidungsbefugnis wird nur auf Zeit verliehen (Zukunftsoffenheit für veränderte Mehrheitsverhältnisse).

3. Der Mehrheitsentscheidung kommt keine höhere Würde zu als die ihrer „bloß formälen“ Legalität (Freiheitsgarantie zum legitimen Dissens). — Legalität und Legitimität widerstreiten sich so gesehen nicht, wie es oft dargestellt wird. Im Gegenteil: Gerade die bloß legale Mehrheitsentscheidung macht die Freiheit, eine andere Auffassung zu haben und für sie zu werben, erst legitim. Umgekehrt wächst der Legalität „bloß formaler“ Mehrheitsentscheidungen Legitimation zu, weil sie die Freiheit der Anders-denkenden respektiert, statt sie der Verfemung und Verfolgung preiszugeben.

Es gibt zu dieser Friedens-und Freiheitsfunktion der parlamentarischen Mehrheitsdemokratie keine Alternative — es sei denn den Bürgerkrieg, der in die Diktatur des je Stärksten mündet. Wer aber würde unter deutschen Vorzeichen, angesichts der düsteren Erfahrungen unserer Geschichte wohl als der Stärkste sich erweisen? Warnend ist deshalb hinzuzufügen: Gerade der Schwache muß eigentlich ein brennendes Interesse daran haben, daß die Verfahrensregeln der Verfassung und des Rechtsstaates aufs strikteste, pingeligste eingehalten werden. Für ihn vor allem sind diese Regeln gemacht; nur sie bieten Schutz und im Blick auf die Zukunft die Chance, einen Wandel zu bewirken. Wer daher durch seine Ankündigungen und durch sein Verhalten auf die Mißachtung der Regeln hinwirkt, handelt leichtfertig, um nicht zu sagen selbstmörderisch. Er liefert Vorwände für die Unterdrükkung, die zu beklagen er am Ende reichlich Anlaß, aber kaum noch Gelegenheit haben dürfte.

Christian Graf von Krockow Graf von Krockow zeichnet in seiner „Replik“ 1) auf unseren Beitrag ein Realitätsbild, das wir für verkürzt und für verharmlosend halten. Wären die Verhältnisse so, wie er unterstellt, dann bliebe für Zweifel an der Legitimationskraft der Mehrheitsregel bzw. an der Verbindlichkeit von Mehrheitsentscheidungen in der Tat wenig Raum. Da wir jedoch an den Zweifeln und Einwänden festhalten, die wir in unserem Beitrag resümiert haben (und die wir im übrigen sehr viel detaillierter in unseren Beiträgen zu dem Sammelband ausführen, zu dem dieser Beitrag die Einleitung darstellt 2), müssen die Differenzen in dem Wirklichkeitsbild und seinen Prämissen liegen, das auf beiden Seiten der Kontroverse zugrundegelegt wird. In welchen Punkten ist das der Fall?

Unstrittig ist, daß die „Väter des Grundgesetzes“ bemüht waren, „auch dem Mehrheitswillen überall dort Grenzen zu ziehen, wo er auf ... Selbst-zerstörung hinauslaufen könnte“. Sie waren bemüht, durch den ausgebauten Grundrechtsteil der Verfassung „letzte Fragen sogfältig auszugrenzen“. Die Frage bleibt indes, ob ihnen dies auf Dauer gelingen konnte und gelungen ist. Von Krockow übergeht diese Frage und schließt umstandslos von der vormaligen Absicht auf ein im heutigen Zustand der Politik in der Bundesrepublik realisiertes Ergebnis.

Daß wir diesen anmutigen Syllogismus — die Väter des Grundgesetzes hatten eine Absicht; das Grundgesetz befindet sich in Geltung; folglich ist die Absicht realisiert — nicht ganz zwingend finden, fällt dabei weniger ins Gewicht als die Tatsache, daß ein paar Millionen Menschen in diesem Lande durch ihr Sprechen und Handeln den Zweifel daran artikulieren, daß die Politik wirklich die „letzten Fragen sorgfältig ausgrenze“. Damit reduziert sich die Streitfrage auf das Problem, ob dieser Zweifel (der sich keineswegs nur, aber in nie zuvor dagewesenen Größenordnungen in der Friedensbewegung manifestiert) auf anerkennenswerten Gründen beruht oder als unberechtigt zurückgewiesen werden kann.

Es hilft ja doch nicht, diese Frage einfach ungeprüft zu lassen und gegen die Lawine von Bürgerdissidenzen der letzten Jahre als sozialwissenschaftliches Remedium nur das ebenso phantasielose wie selbstgerechte Gesundbeten aufzubieten: „Gegenüber alldem kann man gar nicht eindringlich genug auf die Friedens-und Freiheitsfunktionen der parlamentarischen Mehrheitsdemokratie hinweisen ...“. Wenn es tatsächlich eine quantitativ und qualitativ nicht ohne weiteres vernachlässigbare Zahl von Menschen gibt, denen ihre Position zu den anstehenden Entscheidungsthemen selbst politisch-inhaltlich wichtiger und unverzichtbarer erscheint als das Vorhandensein eines auch von ihnen nicht gering geschätzten massendemokratischen Mechanismus zur Produktion politischer Entscheidungen, dann wird man mit dem Vorschlag, diese Menschen einfach in die Klippschule der politischen Bildung zu schicken, erkennbar nicht viel ausrichten.

Wir haben in unserem kleinen Beitrag die im politikwissenschaftlichen Schrifttum im übrigen nicht vereinzelt anzutreffende Auffassung vertreten, daß die moderne Politik in einer durch Grundrechtsschranken allein oft schwer zu bändigenden, diese Schranken eher „überspringenden“ als zwangsläufig „brechenden“ Weise in den Bereich elementarer Sinn-und Lebensfragen eingreift. Es ist also, in aller Kürze und Angreifbarkeit gesagt, eine Eigenschaft der „modernen“, in den Bahnen technischer und strategischer Rationalität verlaufenden und sie technologisch ausnutzenden Politik, den Menschen in einem Maße „nahezukommen“, von dem sich die Väter des Grundgesetzes schwerlich ein Bild haben machen können. Heute können auch diesseits der juristisch offenkundigen Grundrechtsverletzung oder gar des beabsichtigten Verfassungsbruches staatliche Ein-und Übergriffe (vgl. das seinerzeit einstimmig vom Bundestag verabschiedete Volkszählungsgesetz) vorkommen, an deren Legitimität Zweifel nicht nur massenhaft vorhanden, sondern auch solide begründbar sind. Demgegenüber hält es offenbar von Krockow für eine angemessene und zumutbare These, den Trägern jener Zweifel einen Mangel an demokratischen Tugenden zuzuschreiben bzw. diese Zweifel selbst als Ausdruck jener Distanz von einer reifen demokratischen Kultur zu interpretieren, in welcher die langen Schatten deutscher Geschichte viele Bürger der Bundesrepublik festhalten.

Der Zweifel an der unhinterfragbaren Verbindlichkeit demokratischer Mehrheitsentscheidungen, so unser Kritiker im Ergebnis, ist unvernünftig. Er hat keine anerkennenswerten Gründe auf seiner Seite, sondern ist lediglich aus beklagenswerten Ursachen zu erklären. Wer etwa, auch nach der Nachrüstungs-Akklamation des Deutschen Bundestages, sich noch bei Sitzblockaden vor amerikanischen Stationierungslagern herumtreiben sollte, auf den richten sich die Rohre der Wasserwerfer legitimerweise. Er hat nämlich nicht ordentlich gelernt, „daß Absolute letzter Glaubensüberzeugungen von den vorletzten Fragen praktischer Politik zu trennen“. Er hat den Unterschied von „Religion und Politik“ nicht begriffen. Mag er auch mit „Religion“ im landläufigen Verstände nichts zu tun haben, so offenbare sich im tätigen Zweifel an der Legitimität bestimmter Mehrheitsentscheidungen doch — um so schlimmer — eine „säkularisierte . Religiosität ins Diesseits’“. So oder so markiert der zivile Ungehorsam den Rückfall hinter die Schwelle politischer Modernität und politischer Zivilisiertheit: „Man steigert Politik wieder ins Absolute ... hinauf“. Kaum, eine politisch-moralische Untugend, die da nicht als Vorwurf fällig wäre: Vom „selbstmörderischen“ Spiel mit dem „zunächst geistig-moralischen“ Bürgerkrieg bis zur Verkennung des „möglichen Irrtums“, der allem menschlichenm Trachten innewohnt, von der Unwilligkeit zur „Toleranz“ bis zu dem „elitären“ Anspruch, die „Wahrheit in Erbpacht zu haben“.

Der Gegensatz ist wohl deutlich: Wo wir ein in der Realität politischer Strukturen und Konstellationen gelegenes Problem identifizieren, das nur durch Beachtung bestimmter, von der Demokratietheorie immer schon mitgedachter, heute aber prekär werdender Regeln zu bewältigen ist, sieht von Krockow nichts als das moralisch-politische Fehlverhalten derer, die ein „wirkliches“ Problem zu bezeichnen in ihren Massenprotesten nur vorgeben (und ein Fehlverhalten der Sozialwissenschaftler, die dies zu registrieren und zu erklären suchen, obendrein). Aus dieser Sicht erübrigt sich dann die Betrachtung realer Zusammenhänge, und an ihre Stelle tritt der Tuqendappell.

Den freilich, den wahrlich in keiner Richtung überflüssigen, könnte man auch einmal — und sei es nur, um seine Erfolgsaussichten zu verbessern — an die politischen Eliten richten. Kurt Biedenkopf hat dies kürzlich mit seinem Zweifel daran nahe-gelegt, ob es der Stabilität der Demokratie zuträglich sei, wenn „repräsentative“ Mehrheiten von gesetzgebenden Körperschaften in bestimmten Fragen auf die Dauer von den entsprechenden empirischen Bevölkerungsmehrheiten abwichen; er hat sich damit vehemente Reaktionen seiner Parteifreunde eingehandelt, die sich verbaten, nach solchen Kriterien unter Legitimationsdruck gesetzt zu werden. Überhaupt ist es eine Crux des neuerdings so populären Begriffs der „politischen Kultur“ bzw.des Tugendkatalogs, für den er auch bei von Krockow steht, daß in merkwürdiger Einseitigkeit fast immer entweder die breite Masse der Bevölkerung oder (potentiell) dissentierende Minderheiten gemeint sind, denen es an „politischer, Kultur“ fehle, — nicht aber politische Führungseliten. Von Krockow zufolge „grassiert“ bei uns „die Behauptung, daß es bei(m) (Thema) ... . Frieden’ um letzte Fragen des Heils und Unheils schlechthin gehe“, und er hält diese „Behauptung“ offenbar für eine ganz abwegige Ausgeburt einiger von quasi-religiösen Absolutheitsansprüchen besetzter Gehirne. Aber wenn diese Behauptung tatsächlich „grassiert“ — wäre es den auf Mehrheitsvoten sich berufenden politischen Eliten nicht unter Verweis auf die Tugenden der auch sie betreffenden demokratischen politischen Kultur anzusinnen, auch ihrerseits die Möglichkeit eines „Irrtums über die Handlungsfolgen“ anzuerkennen, statt die allein auf parlamentarische Mehrheit gestützte „Wahrheit in Erbpacht“ zu nehmen? Man könnte durchaus argumentieren, daß die Pflicht zur Mäßigung, zur Toleranz, zur kontinuierlichen Beherzigung der „Irrtumshypothese“ hinsichtlich der Folgen des eigenen Handelns vor allem bei der Mehrheit und der von ihr gestellten politischen Führung liegt, welche die Anwendung staatlicher Machtmittel kontrolliert, während der Rigorismus das legitime Privileg von Minderheiten ist. Denn die Folgen der Verletzung dieser Pflichten sind ja auf jener Seite um Größenordnungen gravierender, welche die größere Macht auf ihrer Seite hat.

Wenn von Krockow der Friedensbewegung und anderen neuen sozialen Bewegungen, die nicht bedingungslos auf die Verbindlichkeit demokratischer Mehrheitsentscheidungen eingeschworen sind, die „Versuchung des Absoluten, die kurz-schlüssige In-Eins-Setzung von Letztem und Vorletztem“ attestiert, dann ähnelt dieser Vorwurf zum Verwechseln demjenigen, der von Nachrüstungsgegnern der in der Stationierung zum Ausdruck kommenden „Versuchung des Absoluten“ entgegengehalten wird. Wir meinen, daß die entscheidende Schwäche unseres Kritikers nicht so sehr darin liegt, daß er sich von der Ebene der Realanalyse auf die des Tugendappells zurückzieht, sondern vielmehr darin, daß er sich dabei auf Tugenden beruft, die auch von der anderen Seite in dem hier zur Debatte stehenden politisch-gesellschaftlichen Konflikt als rechtfertigende moralische Grundlage des gegen die Entscheidungen repräsentativer Mehrheiten gerichteten anhaltenden Protests in Anspruch genommen werden können und werden.

Wissenschaft und Technik sind in ihrer schicksalhaften Realbedeutung längst in den Rang einer „ersten Lebensmacht“ aufgestiegen, welche den Vergleich mit der lebens-und daseinsbestimmenden Wirkung der religiösen Konfession nicht zu scheuen braucht. Im Gegenteil: Hat wirklich ein bestimmtes Gebetbuch, hat der mächtige Dekalog den inneren und äußeren Menschen in seinen alltäglichen Lebensäußerungen ähnlich tiefgreifend betroffen, wie dies heute für Flugzeug und Fließband, für Television und Automobil angenommen werden muß? Großtechnische Systeme, und keineswegs nur solche militärischer Zweckbestimmung, sind ihrer Logik nach in höchstem Maße „intolerant“. Und es ist eine staatliche Politik, die mit quasi diktatorischer Selbstgerechtigkeit und mit anmaßender Schein-Erhabenheit über den Verdacht des eigenen Irrtums Lebensverhältnisse festschreibt und fortentwickelt, unter denen wir uns in der Tat nicht mehr „irren“ dürfen — weder beim Überqueren der Straße noch beim Einnehmen von Pillen, weder bei der Entscheidung für eine Energietechnologie noch bei irreversiblen großflächigen Stadtplanungen, weder im Cockpit eines Jumbojets noch an den Schalthebeln der atomaren Wechselbedrohung. Das alles dürfte dem Vorschlag von A. Hirschman einiges Gewicht geben, den Satz „errare humanum est” nicht im Sinne der Konstatierung eines Mangels, sondern im Sinne einer Auszeichnung zu interpretieren: Nur der Mensch kann sich irren und folglich dazulernen, es sei denn, er richtet sich die Welt so ein, daß Irrtümer automatisch lebensgefährlich sind. Daher kann, etwa aus der Sicht überzeugter Nachrüstungs-Gegner, der Vollzug der Stationierung ganz genau so intolerant, potentiell selbstmörderisch, elitär, selbstgerecht und bedenkenlos erscheinen, wie dies in umgekehrter Richtung behauptet wird. Wer mit „Tugenden“ hantiert, sollte wenigstens sicher sein, daß sie leisten, was man sich von Tugenden gemeinhin verspricht, nämlich Gerechtes und Ungerechtes wirklich eindeutig zu scheiden.

Von einer problemadäquaten Klärung der normativen Grundlagen demokratischer Repräsentation, die ja auch nicht im Austausch kurzer Repliken zu leisten ist, ist das gewiß alles weit entfernt. Aber wie dünn das Eis ist, auf dem der demokratische Anspruch einer nur auf grundrechtliche Verbürgungen einerseits, empirische Parlamentsmehrheiten andererseits sich berufenden politischen Herrschaft stünde, hat der Verfassungstheoretiker (und künftige Bundesverfassungsrichter) Ernst-Wolfgang Böckenförde kürzlich eindrucksvoll deutlich gemacht — und dabei in eine Richtung argumentiert, die unserem Vorschlag zumindest benachbart ist: dem Vorschlag, „die Entscheidungsbefugten sollten sich in hochrangig streit-befangenen Entscheidungssituationen stärker in die Position jener versetzen, für die durch die geplante Entscheidung ihre ganz spezifische . Normalität’ gefährdet wird“. Böckenförde nennt als Kriterium für die demokratische Legitimität politischer Herrschaft „eine Aufnahmebereitschaft und Sensibilität der Repräsentanten für die Wünsche und Interessen der Repräsentierten, verbunden mit einem entsprechenden Perzeptionsvermögen“. Ihnen müsse abverlangt werden, nicht nur kraft Mehrheitsentscheidung und „freien Mandats“ Repräsentanten zu sein, sondern „sie müssen auch Repräsentanten des Volkes (im inhaltlichen Sinn) sein wollen". ... „Die Verantwortung für das Schicksal der Demokratie, ihr Gelingen oder ihren Zerfall, liegt daher in erster Linie bei den repräsentativen Leitungsorganen, den gewählten und verantwortlichen Repräsentanten in Parlament, Regierung und ... politischen Parteien“ — und mithin bei der ihr Handeln bestimmenden „politischen Kultur“.

Bernd Cuggenberger/Claus Offe

Fussnoten

Fußnoten

  1. Merkwürdig und auffallend ist, daß sie nur an wenigen, eingeschobenen Stellen auf Text und Argumentation unseres Beitrages eingeht und es im übrigen — unter Verwendung anderswo schon publizierter Text-passagen — bei einer klappentextartigen Zusammenfassung der Thesen seines letzten Buches beläßt.

  2. B. Cuggenberger/C. Offe (Hrsg.), An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie, Opladen 1984.

  3. A. Hirschman, Shifting Involvements, Princeton 1982, Frankfurt 1984.

  4. E. W. Böckenförde, Demokratie und Repräsentation. Zur Kritik der heutigen Demokratiediskussion, Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung, Hannover 1983, S. 24, 28, 30.

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