Demokratie, Wohlfahrtsstaat und neue soziale Bewegungen. Der Beitrag des Parteienwettbewerbs und der Regierungspolitik zur Entstehung der neuen sozialen Bewegungen | APuZ 11/1984 | bpb.de
Demokratie, Wohlfahrtsstaat und neue soziale Bewegungen. Der Beitrag des Parteienwettbewerbs und der Regierungspolitik zur Entstehung der neuen sozialen Bewegungen
Manfred G. Schmidt
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Zusammenfassung
Inwieweit und auf welche Weise hat die Bonner Demokratie und die Politik der CDU-und SPD-geführten Regierungen zum Entstehen der neuen sozialen Bewegungen beigetragen? Dieser Frage wird an Hand einer Analyse des Schrifttums, von Umfragen und insbesondere einer Auswertung der neuesten „Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (Allbus 1982)" nachgegangen. Zunächst wird die Ideologie und soziale Zusammensetzung der neuen sozialen Bewegungen im Vergleich mit der Zusammensetzung der Wählerschaften von CDU, SPD und FDP analysiert. Hier zeigt sich eine relativ große politische und soziale Distanz zwischen der „neuen" und der „alten" Politik. Entsprechend groß ist auch die politische Unzufriedenheit mit der „etablierten" Politik. Die politische Unzufriedenheit der Anhänger der neuen sozialen Bewegungen entzündet sich zwar nicht zufällig an einer Reihe von Defiziten der „alten" Politik; diese erklären aber nicht aus sich heraus den Protest. Es spricht einiges für die These, daß entscheidende Weichenstellungen für den neuen Protest bereits früher ablaufen: Der Erwerb „alternativer sozialer Utopias" in der Jugendphase, politische Schlüsselereignisse und solche staatlichen Politiken, die alternativen Utopias Karrierechancen eröffnen, spielen eine große Rolle. Diejenigen Regierungspolitiken, die relativ erfolgreich „alte Konfliktlinien" eingedämmt haben (z. B. Kapital-Arbeit und religiöse Konfliktlinien), haben unbeabsichtigt und ungewollt zur Aufrechterhaltung und Stützung von alternativen sozialen Utopias beigetragen. Für die politische Mobilisierung des neuen Protestes waren schließlich auch eine Reihe von Strukturen im Willensbildungssystem verantwortlich. Zu den wichtigsten zählen demokratische Verfahren, Nischen im Parteiensysten, z. T. auch das Wahlsystem, die Häufigkeit und zeitliche Streckung von Landtags-und Bundestagswahlen und der Abnutzungseffekt von Parteien, die schon seit langem regieren, und die bundesstaatliche Struktur.
I. Fragestellung
Woher kommen die „neuen sozialen Bewegungen"? Wie kann erklärt werden, daß in der Bundesrepublik in den siebziger und achtziger Jahren zum Beispiel die Anti-Kernkraft-, die Ökologie-, die Friedens-und die Frauen-bewegungen entstanden und rasch angewachsen sind und bald vielen Politikern das Fürchten lehrten? In der fachwissenschaftlichen und politischen Diskussion wird mit einer Vielzahl unterschiedlicher Erklärungsvorschläge gehandelt Als gemeinsamer Nenner zeichnet sich ab, daß man die neuen sozialen Bewegungen als Produkte von ökono-misch reichen, liberaldemokratischen, staatsinterventionistisch regulierten Industriegesellschaften begreifen kann. Auch liegt auf der Hand, daß eine rasche Modernisierung, die Auflösung traditioneller Bindungen, sich rasch ausweitende Prozesse der Kommerzialisierung und der staatlichen Regulierung, sichtbarer werdende Kosten des Wirtschaftsund Staatswachstums und ein — durch den relativen Wohlstand mitbedingter — Wandel von Werten und politischen Beteiligungsformen die Entstehung der neuen sozialen Bewegungen begünstigt haben. Schließlich liegt es auch nahe, in der „etablierten Politik" — sowohl in ihren Spielregeln und Willensbildungsprozessen („politics") als auch in ihrer Regierungspraxis („policy") — eine der Ursachen für die neuen Bewegungen zu sehen. Immerhin richtet sich deren Protest vehement auch gegen jene.
Um den Zusammenhang zwischen der „etablierten Politik" (im Sinne von „politics" und „policy" im Regierungs-und Parteiensystem) und dem neuen Protestpotential geht es in diesem Beitrag. Die leitende Fragestellung lautet: In welchem Ausmaß und auf welche Weise sind die Verfahren und die Ergebnisse der „etablierten Politik" ursächlich für das Entstehen der neuen sozialen Bewegungen verantwortlich?
Daß ein Zusammenhang zwischen beiden Größen besteht, liegt auf der Hand. Wie er beschaffen ist — in zeitlicher, sachlicher und sozialer Hinsicht — ist strittig. Die Ansichten gehen auseinander Sie reichen von der These des „Partei-und Staatsversagens" bis hin zu zivilisationskritischen Thesen, in denen der etablierten Politik die untergeordnete Rolle eines passenden (aber durchaus austauschbaren) Anlasses für den Protest zukommt. Sehen z. B. die einen die Verantwortung der Parteien und der Regierungen darin, daß sie zu wenig Reformen, Phantasie und Sinn, aber zuviel Beton, Polizei und Atom und vor allem ein Übermaß an Etatismus geschaffen haben, so verorten andere die Schuld der Regierungen vor allem in einem Übermaß an Reformen und Wohlfahrtsstaatlichkeit, das die Wirtschaft überlastet und die individuelle Verantwortungsbereitschaft untergraben habe. Andere Autoren wiederum sehen in einer politisch verursachten oder zumindest tolerierten Verelendungstendenz die eigentliche Ursache für die neuen sozialen Bewegungen: die offensichtliche Unfähigkeit oder Unwilligkeit, die Massenarbeitslosigkeit zu beseitigen; die Inkaufnahme einer Spaltung der Gesellschaft in den sozial gesicherten Kern und die sozial ungesicherte Peripherie werden hier an erster Stelle genannt. Wieder anderen Ansichten zufolge liegt der eigentliche Beweggrund in der ökonomischen und sozialen Modernisierung, an der die etablierte Politik zwar lautstark, aber keineswegs vorrangig mitgewirkt habe. Die Modernisierung habe traditionelle Bindungen aufgelöst, private Lebensbereiche bedroht, Individuen durch vielfältige nichtmaterielle Deprivationen (subjektiv als relative Benachteiligung empfundene Zustände) überlastet und indirekt oder direkt zum neuen Protest beigetragen. Die Debatte um die politischen Ursachen der neuen sozialen Bewegungen ist keineswegs nur akademischer Natur, sondern auch politisch höchst folgenreich. Wenn nämlich die neuen sozialen Bewegungen in erster Linie ein Produkt des „Staats-und Parteiversagens"
wären, dann liegen eindeutige Handlungsfolgerungen nahe. Sie lassen sich so formulieren: Wenn Du den neuen sozialen Bewegungen (auf nicht-repressive Weise) den Boden unter den Füßen wegziehen willst, dann ändere (sofern Du es kannst) diejenigen Merkmale der „etablierten Politik", die den neuen Protest entstehen ließen. Das ist — salopp formuliert — diejenige Handlungsfolgerung, die am interessantesten für die SPD ist Die für die CDU/CSU lukrative Handlungsfolgerung wäre spiegelbildlich zur ersten: Wenn Du die neuen sozialen Bewegungen weiterhin haben willst (und damit die sozialdemokratische Konkurrenz zuverlässig bei etwa 40% der Stimmen halten willst), dann behalte diejenigen Aspekte der „etablierten Politik" bei, die für das Entstehen der neuen Protestbewegung verantwortlich sind — sofern Nebenwirkungen anderer Art tragbar sind. Anders sehen die Handlungsempfehlungen und -Chancen aus, wenn sich erweisen sollte, daß die „etablierte Politik" nicht oder nicht vorrangig für die Entwicklung der neuen sozialen Bewegungen verantwortlich ist. Dann kann durch eine Änderung der Politik wenig bewirkt werden. Dann wäre auch für die Existenz und Entwicklungsdynamik der neuen Protestbewegung relativ unerheblich, welche Politik von den Regierungen und den Parteien betrieben wird.
Die in diesem Beitrag präsentierte Antwort auf die leitende Fragestellung basiert auf einer Sekundäranalyse von fachwissenschaftlicher Literatur, Umfragen und insbesondere auf einer eigenen Auswertung der „Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (Allbus 1982)".
II. Neue soziale Bewegungen
Abbildung 2
Tabelle 2: Soziale Gruppen und ihre Neigung zu neuen sozialen Bewegungen zur CDUa), SPD und FDP und zum Nicht-Wählen
Tabelle 2: Soziale Gruppen und ihre Neigung zu neuen sozialen Bewegungen zur CDUa), SPD und FDP und zum Nicht-Wählen
Zum Kern der neuen sozialen Bewegungen gehören die Anti-Atomkraft-, die Ökologie-, Friedens-und Frauenbewegung sowie eine Vielzahl von alternativen Bewegungen Trotz der Unterschiedlichkeit und der Vielfalt der Formen haben die Anhänger dieser Bewegungen grundlegende Wertorientierungen gemeinsam. Neue soziale Bewegungen repräsentieren eine spezifische Form des kollektiven Protestes gegen bestehende Lebensverhältnisse und Verfahren und Ergebnisse der politischen Willensbildung und Konfliktregulierung. Es sind Bewegungen, die meist nicht formal organisiert sind, keine geregelte Mit-gliedschaft aufweisen und eher auf organisatorisch locker zusammengefügten identitätsstiftenden Gruppen außerhalb der etablierten politischen Institutionen beruhen und die die Motive ihrer Anhänger möglichst unmittelbar zum Ausdruck zu bringen versuchen. Ihre Motive und Ziele stellen nicht auf dasjenige ab, was die klassische soziale Bewegung — die Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts — charakterisierte: die Aufhebung der „capitallosen Arbeit" (Lorenz von Stein). Ihnen geht es auch nicht vorrangig um die Verteilung von Wachstumsdividenden der industriell-kapitalistischen Entwicklung. Im Kern stehen vielmehr die Verteidigung, Rettung oder Rückeroberung von Lebensformen, Politikformen und -inhalten, die weitgehend frei von Zentralisierung, Hierarchie, bürokratischer Rationalisierung und Kommerzialisierung sind, im Vordergrund. Die Forderungen, Ziele und politischen Stile der neuen Protestbewegungen liegen zu einem guten Teil quer zu denjenigen Achsen, die bislang den politischen Raum der westlichen Industrieländer kennzeichneten: Links-Rechts-Dimensionen, religiöse Spannungslinien und Konfliktlinien zwischen Stadt und Land. Sie liegen auf einer Dimension, die bisweilen als „neue Politik" — im Gegensatz zur „alten Politik" —, bisweilen als „Establishment-Anti-Establishment-Achse" oder auch als Spannung zwischen „materialistischen" und „postmaterialistischen Werten" bezeichnet wird Neue soziale Bewegungen zeichnen sich darüber hinaus auch im Regelfall durch einen spezifischen Stil der politischen Beteiligung aus. Sie verfügen über ein größeres Repertoire an Beteiligungsformen, über konventionelle (z. B. Abfassung von Petitionen) ebenso wie über unkonventionelle (z. B. Demonstrationen, Sit-ins, kalkulierte Regelverletzungen). Schließlich haben sie auch eine starke Abneigung gegenüber einer Politik, die von oben, technokratisch und bürokratisch und ohne basisdemokratische Fundierung und Rückkoppelung erfolgt.
Der zentrale Unterschied zwischen den neuen und den älteren Protest-Bewegungen liegt eher in den Motiven, Zielen und Mitteln und weniger in der sozialen Zusammensetzung. Bei der sozialen Zusammensetzung der neuen Bewegungen gibt es manche Parallelen zu jüngeren Aktiven in Parteien und Verbänden oder auch zu älteren Bewegungen, wie etwa zur britischen Campaign for Nuclear Disarmament und zu den Bürgerinitiativen der endsechziger und frühen siebziger Jahre In der Anhängerschaft sind jüngere Altersgruppen (bis etwa 30— 35 Jahre), Städter, vor allem Jüngere mit höherer Ausbildung und auch die Humandienstleistungsberufe aus dem Bildungs-und Sozialwesen deutlich stärker vertreten. Die Arbeiterschaft und der alte Mittelstand (mit Ausnahme derjenigen, die von Industrialisierungs-, Verkehrs-und Energieprojekten unmittelbar betroffen sind)
hingegen sind stark unterrepräsentiert (vgl. Tabelle 1). In einem weiteren Punkt sind freilich die Unterschiede zwischen den neuen und den älteren Bewegungen und auch den Parteien offenkundig. Während diese die Organisation der „Gebundenen" sind, repräsentieren jene eher „Bindungslose". Hier finden sich häufig diejenigen, die ledig, konfessionslos oder jedenfalls nicht in religiös gefärbte Milieus integriert, ohne stabile Parteiidentifikation, mobil und mobilitätsfreudig und oftmals in der Ausbildung — im „Zwischenland" der Nach-Jugendphase — befindlich sind. Hier finden sich auch diejenigen — vor allem gilt das für die Altersgruppen bis zum 24. Lebensjahr —, die sich auffällig oft weigern, typische Erwachsenenrollen anzunehmen oder deren Übernahme so lange wie möglich hinauszuzögern versuchen
III. Unzufriedenheit mit der „Etablierten Politik" oder: Der neue rationale Wähler läßt grüßen
Die Diskrepanzen zwischen den Politikzielen, -formen und -inhalten der neuen sozialen Bewegungen und denjenigen der „etablierten Politik" sind groß. Insofern ist es auch nicht weiter verwunderlich, daß die Anhänger der „neuen Politik" mit dem Angebot der „alten Politik" unzufrieden sind. Sie sind mit der Politik der Regierung meist nicht einverstanden, sind von Staat und Parteien enttäuscht und haben ein geringes Vertrauen in die Problemlösungskapazität der etablierten Parteien. Sie weisen ein größeres Maß an subjektiv empfundener politischer Benachteiligung auf als viele andere Wählergruppen. Das gilt insbesondere für Fragen sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit und für langfristige Lebensfragen wie Umwelt, Atomenergie und Rüstungsdynamik
Politische Unzufriedenheit gibt es jedoch nicht nur bei den Anhängern der neuen sozialen Bewegungen, sondern auch bei zahlreichen CDU-, SPD-, FDP oder DKP-Wählern. Sie erklärt demnach nicht für sich allein den neuen Protest. Darüber hinaus lassen Momentaufnahmen der politischen Unzufriedenheit nicht ohne weiteres auch Schlußfolgerungen über ihre Bestimmungsfaktoren zu.
Die Anhänger der „neuen Politik" sind vielmehr für unterschiedlichste Interpretationen offen. Zum Beispiel könnte die Unzufriedenheit mit der „etablierten Politik" eine Ursache der Protestbereitschaft sein. Denkbar wäre jedoch auch, daß die politische Unzufriedenheit Folge einer vorgängig erworbenen Protestbereitschaft ist, oder daß beide Variablen ihrerseits von anderen Größen abhängig sind. Eine abgesicherte Interpretation würde Panel-Studien (Untersuchungen der gleichen Befragtengruppe zu mehreren Zeitpunkten) und Analysen individueller Lebensverläufe vor-aussetzen. Weil derartige Untersuchungen über neue soziale Bewegungen bislang nicht verfügbar sind, muß man mit Interpretationen vorliebnehmen, die durch Plausibilitätsüberlegungen untermauert sind. Unter dieser Einschränkung sprechen jedoch drei Gründe für die These, daß der neue Protest eine vorgelagerte politische Unzufriedenheit als notwendige (aber nicht hinreichende) Bedingung hat, Wobei die politische Unzufriedenheit ihrerseits das Ergebnis eines Bewertungsvorganges ist, dessen Maßstäbe im Sozialisationsprozeß erworben und unter spezifischen Umständen beibehalten und gehärtet wurden. Erstens ist dieses Erklärungsmodell gut vereinbar mit den Ergebnissen anderer Untersuchungen über politisches Protestpotential Zweitens bezieht sich die politische Unzufriedenheit der neuen Protestbewegung im großen und ganzen auf reale und seit längerem bestehende Defizite der staatlichen Politik, Drittens lassen sich Wähler beim Wahlverhalten in hohem Maße durch retrospektive Bewertungen der konkurrierenden Parteien leiten Das gilt für die Anhänger der neuen sozialen Bewegungen um so mehr, als die meisten politisch relativ gut informiert sind und sich auch als politisch kompetent einstufen. Wenn man dann noch berücksichtigt, daß die neuen Protestler sich keine oder keine ausgeprägte Parteiidentifikation erworben haben, dann spricht noch mehr dafür, den neuen Protest als Ergebnis einer Bewertung bisheriger Politikangebote und derjenigen, die für die Zukunft erwartet und als wünschenswert angesehen werden, zu interpretieren. Die neuen sozialen Bewegungen könnten mit diesem Modell als eine Bewegung von — im weiteren Sinne — „rationalen Wählern" begriffen werden, die sich von alteingesessenen Händlern abwenden und eigene, neue Marktstände aufbauen.
IV. Woher kommen die Bewertungsmaßstäbe der neuen sozialen Bewegungen?
Daß die „etablierte Politik" an den Meßlatten der neuen sozialen Bewegungen scheitert, ist nicht verwunderlich. Woher kommen aber diese Meßlatten? Und warum legt die große Mehrheit der Wähler offenbar ganz andere Meßlatten an, wenn sie die Politik beurteilt? Unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe können nicht allein durch die Eigenschaften der zur Beurteilung anstehenden Objekte erklärt werden. Mithin erklären auch die Defizite der „etablierten Politik" nicht aus sich heraus die neuen Protestpotentiale.
Nun gibt es in der neueren sozialwissenschaftlichen Diskussion eine Reihe von Ansätzen, mit denen man eine Lösung des Rätsels wagen könnte. Der bekannteste Ansatz ist sicherlich derjenige, demzufolge die neuen sozialen Bewegungen ein Symptom einer neuen Präferenzordnung von Werten seien. „Post-materialistische Werte" (wie z. B. Lebensqualität, saubere Umwelt, Mit-und Selbstbestimmung) haben bei denjenigen, die in der Nachkriegszeit aufgewachsen sind und die über eine höhere Bildung verfügen, weitaus mehr Gewicht als „materialistische" Wert-orientierung (wie z. B. Wirtschaftswachstumsargumente, Orientierungen an sozialer und politischer Stabilität). Folgt man den bisherigen Analysen, dann ist die Wertwandel-These mit den meisten Befunden über Zusammensetzung und Ideologie der neuen sozialen Bewegungen einigermaßen vereinbar.
Die meisten Autoren haben sich bei der Erklärung des neuen Protestes mit einem Drei-oder Vierklang und mit mehr oder minder bedeutsamen Prozentsatzdifferenzen begnügt. Alter bis etwa 30/35 Jahre, Bildung, Postmaterialismus, Humandienstleistungsberuf — das sind die (in verschiedenen Kombinationen zusammengefügten) Variablen zur Erklärung des Protestes. Das ist freilich ein wenig befriedigender Abschluß — sowohl hinsichtlich der Größe der Prozentsatzdifferenzen wie auch im Hinblick auf die inhaltliche Bedeutsamkeit der Differenzen. Immerhin ist ja augenfällig, daß ein großer Teil derjenigen Befragten, die dieselben drei oder vier Merkmalsausprägungen wie die Anhänger der neuen sozialen Bewegungen aufweisen, Sym pathien und Verhaltensweisen an den Tag legen, die nichts — aber auch gar nichts — mit dem neuen Protest zu tun haben. Eine Auswertung der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage 1982 mag das verdeutlichen (vgl. die Tabelle 2). Fast alle „Materialisten" und auch die Mehrzahl derjenigen mit „gemischter Wert-orientierung" stimmen für eine der alteingesessenen Parteien, während 46% der Postmaterialisten zu den Grünen neigen. Freilich ist das noch kein besonders aufregender Zusammenhang; denn knapp die Hälfte der Postmaterialisten geben ihre Stimme nicht den Grünen, sondern einer der „etablierten" Parteien Zwar zeigt die Tabelle deutlich, daß die neuen sozialen Bewegungen überdurchschnittlich viel Zulauf von Jüngeren, von besser Ausgebildeten, Schülern und Studenten, Ledigen, konfessionell nicht Gebundenen und Geprägten, von Postmaterialisten und zur Linken Tendierenden erhalten. Etwa 20 bis 30 Prozent der Angehörigen dieser Gruppen sind jeweils zu den neuen sozialen Bewegungen zu rechnen. Das heißt freilich aber auch, daß 70 bis 80 Prozent dieser angeblichen „Kerntruppen" des neuen Protestes sich ganz anders orientieren, als die Modelle zur Erklärung des Protestes vorhersagen — nämlich an den „etablierten" Parteien.
Natürlich kommt man dann zu besseren „Trefferquoten", wenn man mehrere Erklärungsfaktoren kombiniert. Zu Friedensbewegungen tendieren beispielsweise immerhin 40 Prozent derjenigen, die jung sind und über eine mittlere oder hohe Ausbildung verfügen Wie Tabelle 2 zeigt, ist das Potential für die neuen sozialen Bewegungen dort am größten, wo lange Ausbildung, ein Alter bis etwa 30 oder 35 Jahre und eine postmaterialistische Wertorientierung zusammenkommen. 40 bis 60 Prozent der Befragten mit diesen Merkmal-Kombinationen rechnen sich zu den neuen sozialen Bewegungen. Nach den Maßstäben der Zunft verfügt man damit über ein respektables Erklärungsmodell. Ganz zufrieden kann man damit nicht sein. Warum denken und verhalten sich die übrigen 40 bis 60 Prozent aus derselben Gruppe denn ganz anders?
Nach Ansicht des Verfassers bieten sich mindestens drei Klassen von Variablen an, um diejenigen Lebensentwürfe, Weltbilder, Bewertungsmaßstäbe und Lebensverläufe nachzuzeichnen, die die Anhänger von neuen sozialen Bewegungen offenbar von den Bürgern anderer politischer Zugehörigkeit unterscheiden:
a) die politische Sozialisation in der Adoleszenz-Phase (Phase zwischen dem Beginn der Pubertät und dem Erwachsenenalter), b) politische Schlüsselereignisse und c) die durch die Politik geschaffenen Chancen, in der Post-Adoleszenz-Phase („Nach-Jugend-Phase") und später in der Berufswelt, alternative soziale Utopias beizubehalten und unter bestimmten Umständen auch erst zu erwerben.
Zu a) Politische Sozialisation in der Adoleszenz-Phase
Was den Einfluß der politischen Sozialisation in der Adoleszenzphase angeht, scheint es lohnend zu sein, an die Cotgrove-Duff-These anzuknüpfen, derzufolge alternative soziale Utopias (im Sinne von Wertorientierungen, die in relativer Distanz zu den herrschenden ökonomischen, politischen und kulturellen Institutionen und Werten stehen) schon früh erworben werden. Das scheint vor allem in denjenigen Familien der Fall zu sein, in denen prägende Erziehungspersonen selber ein soziales Utopia mit relativer Distanz zu Markt, Macht und Hierarchie an die nachfolgende Generation weitergeben, Auch scheint plausibel, daß ein Wandel von Erziehungsstilen vor allem in Mittelklassen-Familien zum Tragen kommt. Erziehungsstile, die stärker kinderorientiert, weniger autoritär, mehr auf Entfaltung von kommunikativer Kompetenz und Ich-Stärke gerichtet sind und mehr Spiel-und Experimentierzeit vor der Festlegung auf eine Berufsrolle ermöglichen, scheinen zu den Bedingungen zu gehören, die notwendige (aber nicht hinreichende) Voraussetzung für die Entstehung alternativer sozialer Utopias sind Die alternativen sozialen Utopias überlappen sich zum Teil mit demjenigen, was post-materialistische Wertorientierung genannt wird. Bei den ersteren liegt der Akzent stärker auf der relativen Distanz gegenüber den Basisinstitutionen Markt, Macht und Hierarchie, und im Gegensatz zur Wertwandel-These wird nicht unterstellt, daß es alternative Utopias erst seit der Nachkriegsprosperität gebe. Ob und inwieweit solche alternativen sozialen Utopias beibehalten, differenziert und weitergegeben werden, hängt freilich von einer Vielzahl von Bindungen, Freiräumen und Ereignissen im späteren Lebenslauf ab. Die frühe politische Sozialisation determiniert keineswegs spätere Einstellungen und Verhaltensweisen.
Zu b) Politische Schlüsselereignisse Die politische Sozialisationsthese schließt keineswegs aus, daß Schlüsselereignisse in der Nachjugend-und — wenn auch seltener — in der Erwachsenenphase die früh erworbenen sozialen Utopias beeinflussen, verändern, stärken oder auch schwächen können.
Insofern nun die staatliche Politik derartige Schlüsselereignisse geschaffen hat bzw. sie geschehen ließ, hat sie auch dazu beigetragen, eine prinzipiell angelegte Protestbereitschaft wachzuhalten oder zu stärken. Zu derartigen politischen Schlüsselereignissen gehören z. B. bei der älteren Protestbewegung der endsechziger Jahre der Vietnamkrieg, die Tolerierung dieses Krieges durch die Bundesregierungen, die Große Koalition, die Verabschiedung der Notstandsgesetze und später etwa die Praxis des Radikalenerlasses. Welche politischen Ereignisse im einzelnen für die neue Protestbewegung der siebziger Jahre ausschlaggebend waren, ist weniger eindeutig bestimmbar. Immerhin liegt es nahe, den sichtbarer werdenden sozialen Kosten der wirtschaftlichen Entwicklung (die Umweltbelastungen und die möglichen Gefahren der Atomenergie zum Beispiel), der oftmals demonstrativ zur Schau gestellten Staatsmacht bei Konflikten mit neuen Protestbewegungen und den Ende der siebziger Jahre sich verschärfenden Ost-West-Beziehungen eine zentrale Rolle zuzuschreiben.
Zu c) Staatliche Politik Abgesehen von politischen Schlüsselereignissen, waren es vor allem zwei Arten von Politi-ken, die unbeabsichtigt und ungewollt gleichsam eine Infrastruktur für den neuen Protest bereitstellten — in dem Sinne, daß die staatliche Politik den Trägern alternativer sozialer Utopias Karrierechancen, Raum, Zeit und Organisationsmöglichkeiten eröffnete. An erster Stelle sind hier diejenigen staatlichen Politiken zu nennen, die die Nach-Jugend-Phase als massenhaftes Phänomen etablierten und zugleich eine kollektive Schulung und Organisierung unter einem Dach ermöglichten. Ganz offensichtlich spielt hier die Expansion des Bildungswesens seit Mitte der sechziger Jahre eine ganz zentrale Rolle. Die für unsere Frage bedeutsamste Folge der Bildungsexpansion lag in der Verlängerung und Verallgemeinerung der Post-Adoleszenz-Phase und in der Ausweitung von Berufskarrierechancen im Humandienstleistungsbereich. Stärker, länger und für mehr Lernende als je zuvor eröffnete die Bildungspolitik einen vorübergehenden Lebensabschnitt der Post-Adoleszenz, der gekennzeichnet ist durch eine widersprüchliche Koexistenz von ökonomischer Abhängigkeit und Nicht-Selbständigkeit, Nochnicht-Erwachsensein auf der einen Seite und einer vergleichsweise hoch entwickelten intellektuellen, moralischen und politischen Kompetenz auf der anderen Seite. Nun führen selbstverständlich Bildung und Post-Adoleszenz nicht aus sich heraus zum neuen Protest. Freilich liegt hier aber die Chance begründet, früher erworbene alternative Utopias zu stabilisieren oder über Gleichaltrige und politische Ereignisse zu erwerben. Die im Bildungswesen geforderten Fähigkeiten, die den Lernenden zur Verfügung stehenden zeitlichen und räumlichen Ressourcen und ferner die durch die Post-Adoleszenz gegebenen Widersprüche stärken tendenziell die Fähigkeit, individuelle Erlebnisse und Probleme zu verallgemeinern und gesellschaftliche und politische Defizite zu lokalisieren. Darüber hinaus erleichtern sie es, politische Kompetenz zu erwerben und Interessen auf breiter Basis zu organisieren. Es sind demnach die Chancen, die die Bildungsexpansion und der Status der Post-Adoleszenz für die Beibehaltung, Differenzierung oder auch den Erwerb von alternativen sozialen Utopias bieten, der uns die Bildungspolitik als einen der historischen Motoren der neuen Protestbewegung einstufen läßt. Damit ist, um es noch einmal zu betonen, keine zwangsläufige Entwicklung, wohl aber eine gewisse Wahrscheinlichkeit gemeint
Die staatliche Politik hat auf eine zweite Weise gleichsam den Boden für den neuen Protest bereitet bzw. die Chance eröffnet, früher erworbene alternative soziale Utopias beizubehalten: nämlich dadurch, daß die Zahl der Arbeitsplätze und die Karrierechancen im Bereich der Humandienstleistungen (im Bildungs-, Gesundheits-, Sozialarbeits-oder Kommunikationswesen) stark erhöht bzw. erheblich verbessert wurden. Damit wurde denjenigen, die sich ein alternatives soziales Utopia erworben hatten, Berufschancen eröffnet, die die Beibehaltung ihrer Utopias leichter machten. Hierin scheint eine der zentralen unbeabsichtigten Funktionen der Politik zu liegen, die den Wohlfahrtsstaat in der Bundesrepublik seit den fünfziger Jahren — und verstärkt seit Mitte/Ende der sechziger Jahre — ausgebaut hat.
Mit diesem Erklärungsmodell kann man im übrigen auch plausibel machen, warum der neue Protest sich häufig aus Gruppen rekrutiert, die besser ausgebildet und im Human-dienstleistungsbereich tätig sind. Die Erklärung liegt nicht in der Bildung oder im Beruf an sich, sondern vielmehr darin, daß beide einen ganz bestimmten Typ von Bürgern anziehen — häufig deshalb, weil somit eine relative Distanz zu Markt, Macht und Hierarchie gewahrt werden kann.
Interessanterweise wird demnach die Beibehaltung und Differenzierung von neuen Politik-Utopias durch staatliche Politiken ermöglicht, die aus ganz anderen Motiven entstanden sind und sowohl von CDU/CSU-wie von SPD-geführten Regierungen getragen wurden: — aus wachstumspolitischen Gründen (vor allem wichtig für die frühe Phase der Bildungsreform), — aus Versuchen, mehr sozialen Ausgleich entlang der Konfliktlinie zwischen Kapital und Arbeit zu besorgen (wichtiges Motiv für die Sozialstaats-und Bildungspolitik), — aus dem Bemühen, religiöse Konfliktlinien zu entschärfen (eines der Motive bei der Bildungsreform, bei der es ja auch um die Eindämmung des „katholischen Bildungsdefizits" ging und — aus Anstrengungen schließlich, die Kluft zwischen „öffentlicher Armut" und „privatem Reichtum" zugunsten der ersteren zu vermindern. Die staatliche Politik wirkt demnach bei der Aufrechterhaltung und Stützung von alternativen sozialen Utopias mit, die dem neuen Protestpotential zugrunde liegen. Sie tut dies freilich in einer Art und Weise, die ganz anders, aussieht, als es die linken und rechten Kritiker vermuten. Nicht das „Politikversagen" ist die eigentliche primäre Ursache, sondern eher der „Politikerfolg" bei der Eindämmung von alten Konfliktlinien. Und nicht die Disparitäten zwischen Lebensbereichen'sind das eigentlich Wichtige, sondern vielmehr gerade solche Politiken, die diese Disparitäten einzudämmen versuchten. Und schließlich: Nicht der Ausbau des Sozialstaats, der etwa immer mehr Bürger begehrlich, faul und lasch mache, ist das Problem, sondern vielmehr der Umstand, daß der Ausbau des Sozialstaats spezifische Qualifikationen für Humandienstleistungen erforderte, und damit gleichzeitig auch Berufskarrieren eröffnete, in denen soziale Utopias mit relativer Distanz zu Markt, Macht und Hierarchie beibehalten werden können.
In diesem Zusammenhang liegt es nahe, eine dritte Kategorie von staatlicher Politik anzuführen, die unfreiwillig zur Verlängerung der Nach-Jugend-Phase beiträgt und von der man eine Stärkung des neuen Protestpotentials erwarten könnte: die seit Mitte der siebziger Jahre zunehmende Massenarbeitslosigkeit und insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit. Auf den ersten Blick scheint es paradox zu sein, daß die Jugendarbeitslosigkeit bislang jedenfalls nicht zu einer ganz starken Beteiligung am neuen Protest führte Auch blieben bislang eruptionsartige Proteste und Gewaltakte aus. Unser oben skizziertes Erklärungsschema paßt zu diesem Paradox. Zwar wird hier — mehr durch staatliche Nicht-Entscheidung als durch Entscheidung — die Post-Adoleszenz-Phase verlängert und verallgemeinert und darüber hinaus auch psychische und sozialökonomische Not produziert. Freilich trifft das eine Gruppe, die hinsichtlich der sozialen Herkunft und des Qualifikationsgrades sehr heterogen ist, deren Zusammensetzung sich dauernd ändert, die drittens zersplittert ist und nicht „unter einem Dach" kollektiv geschult wird und sich viertens aus Betroffenen zusammensetzt, die ganz unterschiedliche soziale Utopias haben. Hier erweist sich einmal mehr, daß eine materielle oder immaterielle Verelendung wenig geeignet ist, um aktives Protestverhalten oder zumindest Protestbereitschaft zu erzeugen.
V. Inwieweit haben die Verfahren und Institutionen der politischen Willensbildung zur Entstehung der neuen sozialen Bewegungen beigetragen?
Die „etablierte Politik" hat nicht nur durch ihre Regierungspraxis zum neuen Protest mit beigetragen, sondern auch durch die Strukturen und Verfahrensregelungen im Willensbildungssystem die Entfaltung und Mobilisierung des neuen Protestes begünstigt. 1. Liberaldemokratische Verfahren Der Demonstration und der Mobilisierung von Protest stehen in liberaldemokratischen Systemen weitaus mehr Möglichkeiten offen und weniger Barrieren entgegen als in autoritären politischen Ordnungen. Hier liegen die vier institutioneilen Schwellen niedriger, die oppositionellen Bewegungen auf dem Weg ins Zentrum der Macht entgegenstehen:
die Schwelle der Anerkennung der Versammlungs-und Koalitionsfreiheit, der Pressefreiheit und des legitimen Rechts auf Kritik und Opposition;
die Schwelle der Eingliederung in das politische System durch die Gewährung gleicher politischer Beteiligungsrechte für ihre Anhänger; die Schwelle der Repräsentation ihrer Interessen im Parlament;
die Schwelle der Ausübung von Regierungsgewalt durch Beteiligung an der Regierung. Das gilt selbst dann, wenn man einkalkuliert, daß auch liberaldemokratische Systeme ein ganzes Arsenal von Abwehrmaßnahmen bereithalten und bisweilen auch einsetzen, um Protestbewegungen zu kontrollieren. Verbote von extremistischen Parteien, Einschränkungen von Demonstrationsrechten, indirekt oder direkt wirkende Kontrollen (Radikalenerlaß) sind einige von vielen anderen Beispielen. In der Regel wirkten jedoch die Kontrollen abweichenden Verhaltens in der Bundesrepublik weniger gegen die neuen Bewegungen (mit Ausnahme der Anti-Kernkraft-Bewe-gung) als vielmehr gegen die Überbleibsel der älteren Protestbewegungen. 2. Parteiensystem Die Bundesrepublik war lange Zeit durch ein alternierendes Drei-Parteiensystem mit „eingebautem" Koalitionszwang gekennzeichnet. Die beiden großen Parteien CDU/CSU und SPD und die FDP sammelten sich aus naheliegenden Gründen in der Mitte des ideologischen Spektrums; vernachlässigt wurde dabei die zu den Rändern des politischen Spektrums liegenden Präferenzen, überdies gab es auf der Linken — aufgrund von spezifisch deutschen Bedingungen (Teilung Deutschlands, orthodox-dogmatische Ausrichtung der linken Splitterparteien) — keine attraktive Alternative. Insofern bestanden auch — anders als in ideologisch stärker gestreuten Vielparteiensystemen (wie z. B. in den Niederlanden) — mehr Nischen für neue politische Gruppierungen. Das ist ein Umstand, von dem die Grünen als parlamentarischer Arm der Okologiebewegung in der Bundesrepublik sehr viel eher profitieren konnten als ökologische Bewegungen in Ländern mit Vielparteiensystemen. Dort lief die Umsetzung des neuen Protests auf die politische Bühne weniger über neue Parteien, als vielmehr über Kompromisse in älteren Parteien (etwa in Schweden, wo der ökologische Protest Eingang auch in die Zentrumspartei fand und wo ein weiterer Teil der neuen sozialen Bewegungen sich der kommunistischen Partei eingliederte). 3. Abnutzungserscheinungen bei Regierungsparteien Ferdinand Müller-Rommel hat in einer Untersuchung über neue Protest-und Umweltparteien gezeigt, daß die neuen Parteien sowohl unter bürgerlichen als auch unter sozialdemokratischen Regierungen entstanden Anders als es ein großer Teil der Diskussion in der Bundesrepublik nahelegt, ist der neue Protest demnach weitgehend unabhängig von der politischen Richtung der Regierungen und offenbar auch weitgehend unabhängig davon entstanden, ob sozialdemokratische Regierungen eine Reformpolitik oder eine pragmatische Krisenmanagement-Politik betrieben Eine wichtige erklärende Variable für neue Protestparteien scheint jedoch in dem Abnutzungseffekt von Parteien zu liegen, die schon lange regierungsbeteiligt sind. In der Regel sind z. B. in den EG-Ländern Protestparteien vor allem in denjenigen Parteien-systemen mit drei oder mehr Parteien entstanden, in denen die politische Zusammensetzung der Regierungen über längere Zeit hinweg weitgehend konstant blieb. 4. Wahlsystem Zweifellos hat die 5 %-Sperrklausel weitgehend die Erwartungen ihrer Urheber erfüllt: Sie hat kleineren Parteien den Zugang zum Parlament schwer gemacht. Das gilt auch für die — aus den neuen sozialen Bewegungen entstandenen — grünen, bunten und alternativen Listen. Und bis heute wirkt die Sperrklausel so, daß das Anhängerpotential der neuen Protestbewegung auf parlamentarischer Ebene nur teilweise repräsentiert ist. Andererseits ist aber unverkennbar, daß das Verhältniswahlrecht die Chancen für neue Parteien günstiger gestaltet als ein Mehrheitswahlsystem, das z. B. in Großbritannien bewirkt, daß der neue Protest parlamentarisch nicht repräsentiert und damit auch weniger mobilisierungsfähig ist. 5. Bundesstaatliche Struktur Im Gegensatz zu stark zentralisierten Staats-strukturen bietet die politische Gliederung der Bundesrepublik vielfältigere Zugangs-möglichkeiten für Parteien, die in neuen Protestbewegungen wurzeln. Die Häufigkeit und zeitliche Streuung der Landtags-und Bundestagswahlen führt zu einem fast auf Dauer gestellten Wahlkampf. Zweifellos hat die Dauer-wahlkampf-Atmosphäre zur Folge gehabt, daß die Politik der Regierungen oftmals kurzatmig und auf kurzfristige Wahlerfolge orientiert war. Auf der anderen Seite bietet ein Dauerwahlkampf für neue oppositionelle Bewegungen bessere Chancen. Mit zunehmender Politisierung nimmt die Chance zu, politisch bekannt zu werden. Darüber hinaus fällt manchen Wählern die Stimmenabgabe für eine neue Protestpartei bei Landtags-oder Europa-Wahlen leichter als bei Bundestagswahlen. Daß Landtagswahlen (und im übrigen auch Kommunalwahlen) zugleich Experimentierfeld sind und bisweilen besser signalisieren, wie die Verteilung der politischen Präferenzen aussieht, läßt sich an Hand der Geschichte der Bundesrepublik in den siebziger und achtziger Jahren illustrieren. Parteien, die aus den neuen sozialen Bewegungen ent-standen waren, hatten die ersten Erfolge in Landtagswahlen (Bremen 1979, Baden-Württemberg 1980, Berlin 1981, Hamburg 1982, Hessen 1982, Niedersachsen 1982) und erst später (1983) bei einer Bundestagswahl.
Die bundesstaatliche Struktur und die darin eingelagerte Politikverflechtung hat demnach einen doppelten Effekt für die neuen sozialen Bewegungen gehabt. Einerseits war und ist sie ein Grund dafür, daß die Politik (im Sinne von „policies") relativ immobil und innovationsfeindlich ist, was wiederum Anlaß für politische Unzufriedenheit schuf und den neuen Protest nährte. Andererseits bot die bundesstaatliche Struktur einigermaßen günstige Bedingungen dafür, daß der neue Protest sich mobilisierte und parlamentarisch wirksam wurde.
VI. Schlußfolgerungen
Was haben die neuen sozialen Bewegungen und die „etablierte Politik" miteinander zu tun? Inwieweit und auf welche Weise hat die „etablierte Politik" zur Entstehung des neuen Protestpotentials beietragen? Das war die leitende Fragestellung. Als zusammenfassende Antwort könnte man sagen: Die „etablierte Politik" war ungewollt von erheblicher Bedeutung für die Entstehung der neuen sozialen Bewegungen. Der „etablierten Politik" kommt eine „erhebliche Bedeutung" zu, aber nicht in dem Sinne, daß sie letztendlich ursächlich für die neuen Bewegungen war. Der neue Protest wurzelt — so haben wir argumentiert — in alternativen sozialen Utopias, die lebensgeschichtlich bereits früh erworben werden. Alternative soziale Utopias sind solche, die — im Gegensatz zum „konformen sozialen Utopia" — eine relative Distanz gegenüber Markt, Macht und Hierarchie beinhalten. Ob derartige Utopias beibehalten und ausdifferenziert werden, hängt von einer Reihe von „intervenierenden Variablen" ab, die zeitlich vor allem nach der Jugendphase zum Tragen kommen. Zu diesen „intervenierenden Variablen" gehört auch die „etablierte Politik". Sie fördert auf unterschiedliche Art und Weise die Herausbildung eines neuen Protestes. Zum Beispiel dadurch, daß sie Anlässe für die ausgeprägte politische Unzufriedenheit schuf, die kennzeichnend für die meisten Anhänger der neuen sozialen Bewegungen ist, und die ihrerseits (zusammen mit hoher politischer Kompetenz und geringem Vertrauen in die politische Führung) ein Faktor ist, der die Protestbereitschaft stärkt. Zum Beispiel auch dadurch, daß die Politik an Schlüsselereignissen beteiligt war, die einer Protestbereitschaft förderlich waren. Schließlich auch dadurch, daß die von den Regierungen verfolgte Politik unbeabsichtigt und ungewollt gleichsam neue Karrierechancen für alternative soziale Utopias bot. An erster Stelle sind hier die Bildungsexpansion und die Ausweitung von wohlfahrtsstaatlich besorgten Humandienstleistungen zu nennen. Und zu guter Letzt waren auch eine Reihe von Strukturen der politischen Willensbildung der Ausbreitung — und insbesondere der parteiförmigen Organisierung des neuen Protests — förderlich: Demokratische Verfahren, Nischen im 2 1/2-Parteiensystem, z. T.
auch das Wahlsystem, die Häufigkeit und zeitliche Streuung von Landtags-und Bundestagswahlen, der Abnutzungseffekt von schon seit langem amtierenden Regierungsparteien und die dezentralisierte Staatsstruktur sind hier zu nennen.
Die „etablierte Politik" hat demnach einen — wenn auch vermittelten — Einfluß auf die Entstehung der neuen sozialen Bewegungen gehabt. Dafür waren nicht nur — wie es zahlreiche Analysen fälschlicherweise suggerieren — die Defizite oder auch die Leistungen der SPD-geführten Regierungen verantwortlich, sondern durchaus auch die Politik der CDU-geführten Regierungen. Ein mehr oder weniger gradueller Unterschied zwischen CDU und SPD ist freilich offensichtlich: Dadurch, daß die SPD-geführten Regierungen noch etwas stärker als CDU-geführte Regierungen die Bildungsexpansion besorgten und den Wohlfahrtsstaat ausbauten, haben sie auch etwas mehr als ihre Konkurrenz zum Entstehen derjenigen Bewegung beigetragen, von deren wahlpolitischem Gewicht die SPD dann 1983 auf unter 40% der Stimmen gedrückt wurde.
Wem der Sinn nach Politikberatung steht, der kann aus dieser Analyse auch einige Konsequenzen ziehen. SPD-Regierungen könnten neue soziale Bewegungen (auf nicht-repressive Weise) nur dann eindämmen, wenn sie einen risikoreichen Politikkurs wählten und beispielsweise die Axt an die Bildungs-, Sozial-und Wachstumspolitik anlegten. Die CDU/CSU könnte sich politisch eine derartige Austeritätspolitik zwar besser als die SPD leisten, sie wäre damit aber schlecht beraten. Sie riskierte nämlich, daß der Unterbau der neuen sozialen Bewegungen sich auflöst, daß alte Konfliktlinien die neuen verdrängen und sie damit zum Wahlhelfer der SPD würde.
Manfred G. Schmidt, Dr. rer. soc., geb. 1948; Studium der Politikwissenschaft und der Anglistik an der Universtät Heidelberg; Privatdozent für Politikwissenschaft an der Universität Konstanz; 1983 Bewilligung eines Heisenberg-Stipendiums. Veröffentlichungen u. a.: (zusammen mit F. F. Müller) Empirische Politikwissenschaft, Stuttgart 1979; CDU und SPD an der Regierung. Ein Vergleich ihrer Politik in den Ländern, Frankfurt-New York 1980; Wohlfahrtsstaatliche Politik unter bürgerlichen und sozialdemokratischen Regierungen. Ein internationaler Vergleich, Frankfurt-New York 1982 (diese Analyse wurde mit dem Stein-Rokkan-Preis für International Vergleichende Sozial-forschung ausgezeichnet).
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