Wirtschaftswachstum und Grundbedürfnisbefriedigung in Lateinamerika
Hartmut Sangmeister
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Zusammenfassung
Die Staaten Lateinamerikas haben in den beiden zurückliegenden Entwicklungsdekaden ein eindrucksvolles wirtschaftliches Wachstum erzielt. Trotz der relativ erfolgreichen gesamtwirtschaftlichen Wachstumsstrategie dieser Länder ist Massenarmut aber noch immer ein charakteristisches Merkmal der Region. Spätestens mit der weltwirtschaftlichen Rezession seit Beginn der achtziger Jahre ist auch in Lateinamerika die Illusion verflogen, daß sich der industrielle Wachstumsprozeß als Motor der gesamtwirtschaftlichen Modernisierung wie bisher würde fortführen lassen. Als Alternative bietet sich eine Umorientierung der entwicklungspolitischen Zielvorgabe in Richtung auf eine verstärkte Grundbedürfnisbefriedigung der Bevölkerung an. Mit Hilfe eines relativ einfachen Systems grundbedürfnisrelevanter Indikatoren werden für 22 lateinamerikanische Staaten Defizite in vier materiellen Grundbedürfnisbereichen vergleichend analysiert. Durch clusteranalytische Auswertung der verfügbaren Daten lassen sich fünf recht deutlich voneinander abgegrenzte Ländergruppen in bezug auf die Grundbedürfnisbefriedigung identifizieren. Ein Vergleich dieser Ländergruppen kommt zu dem Ergebnis, daß das durchschnittliche Einkommensniveau nicht entscheidend für die Grundbedürfnisbefriedigung der Bevölkerung ist. Es zeigt sich auch, daß wirtschaftliches Wachstum allein nicht ausreicht, um eine Verbesserung der Grundbedürfnisbefriedigung zu gewährleisten. Zwar ist in den meisten lateinamerikanischen Staaten das notwendige ökonomische Potential vorhanden, um zumindest die absolute Armut zu beseitigen; ohne grundlegende Korrekturen des bislang praktizierten Entwicklungsstils läßt sich dieses Potential aber kaum hinreichend nutzen. Durch die externe Verschuldungskrise vieler lateinamerikanischer Staaten werden jedoch deren Möglichkeiten zur Korrektur ihrer sozialen, regionalen und sektoralen Deformationen erheblich eingeschränkt
I. Wirtschaftswachstum und Armut in Lateinamerika
Die Staaten Lateinamerikas haben in den beiden zurückliegenden Entwicklungsdekaden ein eindrucksvolles wirtschaftliches Wachstum erzielt. Das aggregierte Bruttoinlandsprodukt (BIP) dieser Region stieg zwischen 1960 und 1970 mit einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate von 5, 3% und zwischen 1970 und 1980 mit einer Rate von 6, 0%. Insbesondere in der Dekade 1970— 1980 übertraf das lateinamerikanische Wirtschaftswachstum deutlich die Zuwachsraten des BIP der westlichen Industrieländer (3, 2%) und der Entwicklungsländer insgesamt (5, %) 1).
Abbildung 7
Tabelle 6: Indikatoren des Gesundheitswesens. Quelle: World Bank, World Development Report 1983
Tabelle 6: Indikatoren des Gesundheitswesens. Quelle: World Bank, World Development Report 1983
Wegen des relativ hohen Bevölkerungswachstums in Lateinamerika hat der in den vergangenen zwanzig Jahren erzielte Zuwachs des gesamtwirtschaftlichen Produktionsergebn 3% und zwischen 1970 und 1980 mit einer Rate von 6, 0%. Insbesondere in der Dekade 1970— 1980 übertraf das lateinamerikanische Wirtschaftswachstum deutlich die Zuwachsraten des BIP der westlichen Industrieländer (3, 2%) und der Entwicklungsländer insgesamt (5, 1 %) 1).
Abbildung 8
Tabelle 7: Bewertete relative Abweichungen der länderspezifischen Indikatorenwerte vom Mittelwert der Industrieländer(in Prozent)
Tabelle 7: Bewertete relative Abweichungen der länderspezifischen Indikatorenwerte vom Mittelwert der Industrieländer(in Prozent)
Wegen des relativ hohen Bevölkerungswachstums in Lateinamerika hat der in den vergangenen zwanzig Jahren erzielte Zuwachs des gesamtwirtschaftlichen Produktionsergebnisses allerdings nicht zu einem entsprechenden Anstieg des Pro-Kopf-Einkommens geführt; bei einem durchschnittlichen jährlichen Bevölkerungswachstum in Lateinamerika von 2, 6% zwischen 1960 und 1980 ergab sich ein jährlicher Anstieg des Bruttosozialprodukts (BSP) pro Kopf von nur 3, 4% (vgl. Tabelle 1). Immerhin hatten 1981 die hier untersuchten lateinamerikanischen Länder, mit Ausnahme Haitis, ein BSP pro Kopf erreicht, das zum Teil erheblich über dem Schwellen-wert von 410 US-Dollar lag, den die Weltbank als untere Grenze zur Klassifikation der Entwicklungsländer mit „mittlerem" Einkommen verwendet 2). Acht lateinamerikanische Staaten (Panama, Brasilien, Mexiko, Argentinien, Chile, Uruguay, Venezuela, Trinidad & Tobago) werden von der Weltbank sogar der „oberen" Einkommenskategorie innerhalb der Gruppe der Entwicklungsländer mit mittlerem Einkommen zugerechnet. Lediglich Haiti, mit einem BSP von 300 US-Dollar pro Kopf im Jahre 1981, gehört zur Gruppe der Länder mit niedrigem Einkommen und wird von der UNO auf der Liste der am wenigsten entwik-kelten Länder („Least Developed Countries" — LDCs) geführt.
Abbildung 9
Tabelle 8: Aggregierter Index der Grundbedürfnisbefriedigung Land Index der Grundbedürfnisbefriedigung
Tabelle 8: Aggregierter Index der Grundbedürfnisbefriedigung Land Index der Grundbedürfnisbefriedigung
Die zuvor genannten statistischen Mittelwerte und Pro-Kopf-Zahlen zur Kennzeichnung des wirtschaftlichen Wachstums können den Eindruck vermitteln, daß Lateinamerika im Entwicklungsprozeß der letzten zwanzig Jahre recht erfolgreich abgeschnitten habe. Aber dieser Eindruck trügt, denn der „Erfolg", wie er sich in Wachstumsraten und Durchschnittseinkommen niederschlägt, ist an einem erheblichen Teil der Bevölkerung vorbeigegangen. So schätzte z. B. die Weltbank 1980, daß in Lateinamerika — trotz des weit fortgeschrittenen Industrialisierungsprozesses — noch immer eine von sieben Personen in absoluter Armut lebe 3). Eine andere Weltbank-Studie kam 1979 zu dem Ergebnis, daß die Zahl der absolut Armen in Lateinamerika auf absehbare Zeit bei mindestens 100 Millionen liegen werde 4). Eine neuere Untersuchung der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika („Economic Commission for Latin America" — ECLA), die sich auf zehn Staaten der Region bezieht, schätzt, daß 1981 in diesen Ländern ca. 104 Millionen Menschen (35% der Bevölkerung) unterhalb der Armutsgrenze lebten, davon allein in Brasilien ca. 52 Millionen und in Mexiko ca. 21 Millionen 5). Diese Zahlen deuten darauf hin, daß Massen-armut ein charakteristisches Merkmal der meisten lateinamerikanischen Länder (geblieben oder geworden) ist, trotz der „erfolgreichen" gesamtwirtschaftlichen Wachstums-strategie in der Vergangenheit. Das Beispiel Lateinamerika zeigt auch, daß Zweifel erlaubt sind an der These, wonach das Ergebnis for-eierten wirtschaftlichen Wachstums allmählich zu den Beziehern niedrigerer Einkommen durchsickern würde und ein wachsendes Sozialprodukt sich konfliktfreier verteilen ließe. Die nationalen Entwicklungsstrategien, die in den fünfziger und sechziger Jahren in vielen lateinamerikanischen Ländern (unter dem deutlichen intellektuellen Einfluß der ECLA) konzipiert worden waren beruhten im wesentlichen auf dem dualen Entwicklungs-modell von Lewis sowie auf der Theorie der ungleichgewichtigen Entwicklung von Hirschman Die im Lewis-Modell vorgeschlagene beschleunigte Kapitalakkumulation im „modernen" industriellen Sektor konnte in der Mehrzahl der lateinamerikani-sehen Volkswirtschaften tatsächlich erreicht werden, zumal sich der Zufluß ausländischen Kapitals nach Lateinamerika zur Finanzierung der Investitionen stetig ausweitete und damit der Zwang zur internen Ersparnisbildung reduziert blieb. Die zweite Stufe des dualen Entwicklungsmodells, die Absorption des Arbeitskräfteüberschusses im „traditionellen" Agrarsektor durch die Wachstumsdynamik des „modernen" Sektors sowie die nachfolgende Erhöhung des realen Lohnniveaus in allen Wirtschaftsbereichen, realisierte sich jedoch nicht in dem gleichen Maße wie die erste Stufe, da die im „modernen" Sektor neugeschaffenen Produktionsprozesse in der Regel kapitalintensiv angelegt wurden, und nicht arbeitsintensiv, wie dies in dem Modell von Lewis auf Grund des angenommenen Faktorpreisverhältnisses zwischen Arbeitskraft und Kapital unterstellt worden war. Hinzu kam, daß Lewis das hohe Bevölkerungswachstum, das in Lateinamerika anhielt und den Druck auf den Arbeitsmarkt zusätzlich erhöhen mußte, in seinen Modellüberlegungen nicht hinreichend berücksichtigt hatte.
Angesichts der fortbestehenden, und seit Beginn der achtziger Jahre eher noch zunehmenden Massenarmut in vielen lateinamerikanischen Ländern, kann rückblickend der Versuch dieser Staaten zumindest als fragwürdig bezeichnet werden, das Konzept der dualen Modernisierung ihrer Volkswirtschaften mittels forcierter Industrialisierungsstrategien realisieren zu wollen. Allerdings wurde die Problematik einer „Entwicklung zur Unterentwicklung", als die die spezifisch lateinamerikanische Strategie einer zunächst importsubstituierenden und dann exportorientierten Industrialisierung bezeichnet worden ist bis Ende der siebziger Jahre durch eindrucksvolle Wachstumsraten des BIP vordergründig verdeckt. Die unbestreitbare Dynamik, die der „moderne" industrielle Sektor lateinamerikanischer Staaten in den beiden zurückliegenden Dekaden entwickelte, reichte jedoch nicht aus, die „Rückständigkeit" der übrigen Sektoren zu überwinden und die Volkswirtschaften als Ganzes zu einer universalen Modernität zu führen. Im Gegenteil: Die Einführung neuer Formen des technischen Fortschritts und der wirtschaftlichen Organisation bewirkten eine zunehmende strukturelle Heterogenität, und anstatt die sozialen Probleme Lateinamerikas durch „Modernisierung" zu lösen, wurden diese verstärkt.
II. Grundbedürfnisbefriedigung als alternatives Entwicklungsziel
Abbildung 2
Abbildung 1: Indikatormodell für vier Grundbedürfnisbereiche
Abbildung 1: Indikatormodell für vier Grundbedürfnisbereiche
Spätestens mit der weltwirtschaftlichen Rezession seit Beginn der achtziger Jahre ist auch in Lateinamerika die Illusion verflogen, daß sich der industrielle Wachstumsprozeß als Motor der gesamtwirtschaftlichen Modernisierung wie bisher würde fortführen lassen. Zwar wurden Zweifel an der Lebensfähigkeit des lateinamerikanischen „Imitationskapitalismus" (Raül Prebisch) auch schon früher formuliert aber die tiefgreifende Krise, in die 1982/83 gerade die wirtschaftlich relativ „erfolgreichsten" Länder Lateinamerikas wie Brasilien, Mexiko und Venezuela geraten waren, hat die Notwendigkeit eines Wandels der grundlegenden entwicklungspolitischen Zielsetzung für die Staaten der lateinamerikanisehen Region unübersehbar gemacht. Der euphorische Konsens über die vermeintliche Notwendigkeit, die Industrialisierung als ein Instrument zur Beschleunigung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung zu fördern, ist der ernüchterten Einsicht gewichen, die Optionen prüfen zu müssen, die angesichts der „frustrierten Entwicklungsalternative" Industrialisierung (noch?) zur Verfügung stehen.
Bereits in den siebziger Jahren führte die kritische Analyse von Wohlfahrtseffekten wirtschaftlicher Wachstumsprozesse in Entwicklungsländern zur Formulierung entwicklungspolitischer Alternativstrategien, welche die Einkommensverteilungs-und Beschäftigungseffekte des Wirtschaftswachstums in den Vordergrund stellten In programmatischer Form finden sich die Grundgedanken alternativer Entwicklung in der „Erklärung von Cocoyoc", die 1974 in Mexiko von einem Wissenschaftler-Gremium verabschiedet wurde; in dieser Erklärung heißt es u. a.: „Als erstes müssen wir überhaupt Ziel und Zweck von Entwicklung neu definieren. Es kann sich nur darum handeln, den Menschen, nicht die Dinge zu entwickeln. Menschen haben bestimmte Grundbedürfnisse: Nahrung, Unterkunft, Kleidung, Gesundheit und Bildung. Jeder Wachstumsvorgang, der nicht zur Befriedigung dieser Bedürfnisse führt — oder sogar störend eingreift —, ist eine Verkehrung des Entwicklungsgedankens."
Ein wesentliches Element in der Neuformulierung alternativer Entwicklungsstrategien war die Betonung des zielgruppenspezifischen Bezugs entwicklungspolitischer Zielsetzung, d. h. die Orientierung der Entwicklungsstrategien auf solche Personen(-gruppen) innerhalb einer Gesellschaft, die bei den je gegebenen Rahmenbedingungen von den positiven Effekten wirtschaftlichen Wachstums nicht „automatisch" — im Sinne eines „trickling down" — begünstigt werden.
In konsequenter Fortführung der Zielgruppenorientierung entwicklungspolitischer Strategieentwürfe wurde Mitte der siebziger Jahre von dem „International Labour Office" (ILO) ein Konzept aufgestellt, in dem das Ziel der Beseitigung absoluter Armut in den Entwicklungsländern in operationaler Weise konkretisiert wird: nämlich als die Befriedigung von Grundbedürfnissen der größtmöglichen Zahl von Menschen in der kürzestmöglichen Zeit.
Als wichtigste Komponente grundbedürfnis-orientierter Entwicklungsstrategien gelten nach der ILO-Definition * ): 1. Die Gewährleistung einer Mindestausstattung mit Gütern des privaten Verbrauchs, vor allem angemessene Ernährung, Kleidung und Wohnung sowie bestimmte Haushaltsgeräte und Möbel;
2. die Bereitstellung grundlegender öffentlicher Dienstleistungen wie Wasserversorgung und -entsorgung, Transportmöglichkeiten, Gesundheits-und (Aus-) Bildungseinrichtungen. Eine grundbedürfnisorientierte Entwicklungsstrategie soll darüber hinaus die als immaterielles Grundbedürfnis verstandene politische Partizipation der Zielgruppen beinhalten. Zielgruppen grundbedürfnisorientierter Entwicklungsstrategien sind diejenigen Personen(-gruppen) einer Bevölkerung, deren individueller und/oder gruppenspezifischer Konsum privater und/oder öffentlicher Grundbedarfsgüter einen absoluten oder relativen Standard nicht erreicht. Grundbedürfnisorientierte Entwicklungsstrategien müssen also mehr beinhalten als „Armenpflege" oder „Umverteilung der Armut" und sollten auch über die Gewährleistung eines objektivierbaren Existenzminimums hinauszielen. Grundbedürfnisbefriedigung, weiterreichend verstanden als das Vorhandensein körperlichen, sozialen und mentalen Wohlbefindens in einer lebenswerten Umwelt, und dies wiederum verstanden als notwendige Voraussetzung für Selbstverantwortlichkeit und Partizipation, geht von einer ethisch-humanitären Zielsetzung aus. Aber diese Zielsetzung hat zugleich auch einen funktional-instrumentellen Charakter, insofern Gesundheit, Bildung und Ernährung sowie die Erfüllung anderer Grundbedürfnisse als ökonomische Bedingungsfaktoren der menschlichen Produktivität verstanden werden.
III. Indikatoren der Grundbedürfnisbefriedigung
Abbildung 3
Tabelle 2: Bevölkerung und Bruttosozialprodukt pro Kopf. Quelle: World Bank, World Development Report 1983. UNRISD, Research Data Bank of Development Indicators, Vol. III., Geneva 1976.
Tabelle 2: Bevölkerung und Bruttosozialprodukt pro Kopf. Quelle: World Bank, World Development Report 1983. UNRISD, Research Data Bank of Development Indicators, Vol. III., Geneva 1976.
Fundierte Aussagen über das Ausmaß und/oder über Defizite der Grundbedürfnisbefriedigung setzen statistische Informationen über den Status quo der Zielgruppe(n) voraus. Die Beschaffung dieser Informationen erfordert u. a. die Bestimmung valider und adäquater statistischer Indikatoren, mit denen das aktuelle und zukünftige Befriedigungsniveau der verschiedenen Grundbedürfnisse operational gemessen werden kann Darüber, inwieweit verschiedene mögliche Indikatoren den Bedeutungsinhalt der einzelnen Grundbedürfnisse angemessen widerspiegeln, hat in den vergangenen Jahren eine umfassende Diskussion stattgefunden. Eine Auswertung dieser Diskussion zeigt, daß für einzelne Bereiche ein weitgehender Konsens hinsichtlich der Validität und Adäquation bestimmter Indika-toren gegeben ist — zumindest als jeweils beste verfügbare Näherungsgröße
Abbildung 1 zeigt ein Modell, in dem 13 direkt beobachtbare bzw. meßbare Variablen als Indikatoren für die nicht direkt beobachtbaren Konstrukte „sanitäre Versorgung", „Ernäh-rung", „Bildung" und „Gesundheit" dienen. Für fast alle lateinamerikanischen Staaten stehen statistische Daten zur Verfügung, um dieses Modell empirisch auszufüllen. Nicht direkt berücksichtigt ist in dem Modell das Grundbedürfnis „Wohnen", da hierfür allgemein akzeptierte Indikatoren bislang nicht gefunden wurden. Gerade in diesem Bereich ist eine „Grundausstattung" nur in dem je gegebenen kulturellen, klimatischen und wirtschaftlichen Kontext sinnvoll zu definieren. Jedoch lassen sich die Wohnverhältnisse städtischer Bevölkerungsgruppen bis zu einem gewissen Grade durch den Indikator „Trinkwasserversorgung" beschreiben. Gänzlich ungeklärt ist bislang auch die Frage, durch welche Indikatoren das Grundbedürfnis „Partizipation" beschrieben werden könne, da Begriffe wie „freie Wahlen", „politische Parteien" oder „gewerkschaftliche Organisation" in verschiedenen politischen Systemen höchst unterschiedliche Bedeutung haben können
Die empirische Ausfüllung des in Abbildung 1 dargestellten Indikatorensystems mit nationalen Durchschnittswerten für eine Makro-Evaluierung der Grundbedürfnisbefriedi-gung in Lateinamerika ist nicht unproblematisch. Im Hinblick auf den spezifischen Gehalt des Grundbedürfniskonzeptes — die Orientierung auf die Befriedigung elementarer Bedürfnisse von Individuen — kann das Operieren mit auf nationalen Durchschnitten beruhenden Indikatorenwerten unangemessen sein. Dies gilt insbesondere dann, wenn die von einem Indikator vermittelte Aussage nicht „zweiwertig" strukturiert ist. „Zweiwertige“ Informationsstrukturen sind z. B. bei den Indikatoren „Einschulungsquote" und „Verstädterungsgrad" gegeben; die Angabe des jeweiligen Indikatorenwertes vermittelt gleichzeitig auch die korrespondierende Information über den Anteil der Bevölkerung, der nicht eingeschult ist bzw. nicht in Städten wohnt. Unabhängig von der Informationsstruktur des jeweiligen Indikators haben nationale Durchschnittswerte den Nachteil, daß sich daraus — ohne zusätzliche Verteilungsmaße — keine Rückschlüsse ziehen lassen auf die Beteiligung bestimmter Bevölkerungsgruppen (z. B. ländliche Bevölkerung, Frauen, Kinder) an der Versorgung mit Grundbedarfsgütern in denjenigen Bereichen, in denen eine systematische Benachteiligung dieser Gruppen möglich ist, wie z. B. im Ernährungs-und Bildungsbereich. Auch werden bei der Verwendung nationaler Durchschnittswerte regionale Disparitäten der Grundbedürfnis-befriedigung innerhalb eines Landes nicht erkennbar. Unter Berücksichtigung der zuvor genannten Einwände ist es aber durchaus möglich, aus dem vorhandenen Datenmaterial einige inter-essante Erkenntnisse über Ausmaß bzw. Defizite der Grundbedürfnisbefriedigung in den untersuchten lateinamerikanischen Ländern zu gewinnen. Für 22 Staaten der Region sind in den Tabellen 2 bis 6 aktuelle Indikatoren-werte für die vier materiellen Grundbedürfnisbereiche des Modells in Abbildung 1 kompiliert, wobei die Jahre um 1980 die Referenz-periode bilden; soweit verfügbar, sind auch die entsprechenden Werte für 1960 aufgeführt, um einen zeitlichen Vergleich mit der Situation vor zwanzig Jahren zu ermöglichen.
Die hier verwendeten Daten entstammen überwiegend den „Weltentwicklungsberichten" 1978 bis 1983 der Weltbank, die eine sehr sorgfältige Auswahl des Materials für ihre Datenbank betreibt. Dennoch sollten die Statistiken mit einer gewissen Zurückhaltung interpretiert werden, da die Qualität der Daten-erhebung und -Sammlung in vielen lateinamerikanischen Ländern (wie auch in den meisten anderen Entwicklungsländern) sehr unterschiedlich ist, wodurch insbesondere die Möglichkeiten von Länderquervergleichen beeinträchtigt werden. Statistiken aus und über Entwicklungsländer(n) sind (meist) mit Fehlern unbekannten Ausmaßes behaftet; dem sollte bei der Verarbeitung dieser Statistiken Rechnung getragen und nicht eine Genauigkeit der Ergebnisse vorgetäuscht werden, die, von der Qualität der zugrunde liegenden Daten her gesehen, kaum zu rechtfertigen ist.
IV. Vereinheitlichung und Differenzierung der Grundbedürfnisbefriedigung
Abbildung 4
Tabelle 3: Indikatoren des sanitären Grundbedarfs. Quelle: World Bank, World Development Report 1982, 1983.
Tabelle 3: Indikatoren des sanitären Grundbedarfs. Quelle: World Bank, World Development Report 1982, 1983.
Die begriffliche Zusammenfassung von 22 Staaten zur Entwicklungsregion „Lateinamerika" vermag Vorstellungen von Einheitlichkeit Vorschub zu leisten, obwohl Unterschiede zwischen den Ländern, nicht nur hinsichtlich ihrer natürlichen Ressourcenausstattung, sondern auch hinsich Staaten zur Entwicklungsregion „Lateinamerika" vermag Vorstellungen von Einheitlichkeit Vorschub zu leisten, obwohl Unterschiede zwischen den Ländern, nicht nur hinsichtlich ihrer natürlichen Ressourcenausstattung, sondern auch hinsichtlich ihres kulturellen Er-bes, ihrer kolonialen Geschichte sowie ihrer postkolonialen Ideologien und politischen Ausrichtungen, eine differenzierende Analyse verlangen. Gewiß kann Lateinamerika auch eine (funktionale) Homogenität zugewiesen werden, analysiert man die Region in den Kategorien eines Modells, das globale Entwicklung unter Zentrum-Peripherie-bzw. Dominanz-Dependenz-Aspekten betrachtet. Stellt man hingegen die Untersuchung der Grundbedürfnisbefriedigung im jeweiligen nationalen (gesellschaftlichen) Kontext in den Vordergrund, dann ergibt sich ein vielschichtigeres Bild der Region, trotz einiger gemeinsamer charakteristischer Merkmale.
Als einfaches Instrument zur Bestimmung der Streuungsbreite in den grundbedürfnisrelevanten Indikatorenwerten kann der Variationskoeffizient 18) (VK) verwendet werden. Die höchste relative Streuung der Länderwerte, gemessen durch den VK, zeigen die Indikatoren Kindersterbeziffer (Indikator y 4), Einwohner je Arzt (z,) und Einwohner je Beschäftigten in der Krankenpflege (z,) 19). Am geringsten „streuen" die Länderwerte für die drei ernährungsrelevanten Indikatoren Lebenserwartung (y 2), Index der Nahrungsmittelproduktion (x,) und Kalorienangebot (x 4) 20), so daß in diesem Grundbedürfnisbereich von eher einheitlichen Verhältnissen in den untersuchten Ländern gesprochen werden kann. Auch bei den bildungsrelevanten Indikatoren (x 5, x,, y 3) deuten die vergleichsweise niedrigen Variationskoeffizienten 21) auf weniger stark ausgeprägte Unterschiede zwischen den lateinamerikanischen Staaten hin. Bei einem intertemporalen Vergleich der Datendispersion zeigt sich, daß gegenüber den 1960er Datenreihen der Variationskoeffizient im Zeitablauf bei den Indikatoren Kindersterbeziffer und BSP pro Kopf (z,) deutlich steigt, d. h., daß eine stärkere Differenzierung der Mortalitätsverhältnisse und der Einkommenssituation zwischen den Staaten Lateinamerikas stattgefunden hat. Die gegenläufige Tendenz, hin zu einer stärkeren Vereinheitlichung im Zeitablauf, zeigt sich — durch sinkende Variationskoeffizienten — insbesondere bei der Alphabetisierungsquote (y 3), bei der Zahl der Einwohner je Beschäftigtem in der Krankenpflege sowie bei der weiblichen Einschulungsquote (x 6).
Um die länderspezifische Situation in den verschiedenen Grundbedürfnisbereichen detailliert beurteilen zu können, bedarf es eines Vergleichsmaßstabes für die Länderwerte. In Frage kommen hierfür z. B. absolute oder relative Standards, wie etwa im Ernährungsbereich eine physiologisch bedingte Mindestbedarfsnorm für Kalorien und Proteine. Lassen sich für das Grundbedürfnis nach Nahrung gegebenenfalls Minimalstandards an Hand objektivierbarer Kriterien bestimmen 22), so ist eine solche Vorgehensweise für Grundbedürfnisse wie Gesundheit und Bildung kaum möglich. Die Definition und Quantifizierung eines Maßstabes zur Bewertung der Grundbedürfnisbefriedigung in einem Lande läßt sich dann nur im Wege der gesellschaftlichen Konsensbildung vornehmen. Für verschiedene Grundbedürfnis-Indikatoren, wie z. B.
Säuglingssterblichkeit, Lebenserwartung, Alphabetisierungsquote, wurden von internationalen Gremien konkrete Zahlenwerte festgelegt, die von allen Ländern innerhalb eines vorgegebenen Zeitraums erreicht werden sollten Insbesondere UN-Gremien neigen allerdings dazu, Zielvorstellungen zu formulieren, die eher politischem Wunschdenken der Abstimmungsmehrheit entsprechen als einer realistischen Einschätzung des innerhalb eines überschaubaren Zeitraums praktisch Erreichbaren. Für die Beurteilung der Grundbedürfnisbefriedigung in den lateinamerikanischen Ländern wird daher kein sol-eher idealisierender Vergleichsmaßstab herangezogen, sondern als Bezugsschema wird das in den verschiedenen Grundbedürfnisbereichen in den westlichen (OECD-) Industrie-ländern jeweils realisierte Befriedigungsniveau verwendet. Der Vergleich der lateinamerikanischen Verhältnisse mit denjenigen der OECD-Staaten bietet sich besonders an vor dem Hintergrund einer mit bemerkenswerter Kontinuität praktizierten Anlehnung vieler lateinamerikanischer Staaten an die wirtschaftspolitischen Erfahrungen und (vor allem) Empfehlungen westlicher Industriestaaten; der Bezug auf diese Länder mag sich auch anbieten vor dem Hintergrund des Zugehörigkeitsgefühls der sozialen Eliten Lateinamerikas zu der westlich-abendländischen Kultur Selbst wer Lebensstil und gesellschaftlicher Organisation, wie sie für die westlichen Industrieländer prägend geworden sind, kritisch gegenüber steht (was zumindest in intellektuellen Kreisen Lateinamerikas zunehmend zu konstatieren ist), wird den nordamerikanisch-westeuropäischen Standards der materiellen Grundbedürfnisbefriedigung dennoch ohne Zögern ubiquitäre Verbreitung wünschen wollen.
In Tabelle 7 sind die positiven bzw. negativen prozentualen Abweichungen der länderspezifischen Indikatorenwerte von dem jeweils korrespondierenden Mittelwert der westlichen Industrieländer zusammengestellt Eine summarische Auswertung von Tabelle 7 zeigt, daß bei fast allen grundbedürfnisrelevanten Indikatoren die lateinamerikanischen Länderwerte ungünstiger sind als der Durchschnittswert der Industrieländer. Besonders ausgeprägt ist der Abstand bei der Kinder-und Säuglingssterblichkeit. Lediglich in Jamaika ist es gelungen, die Kindersterblichkeit auf das in den Industrieländern erreichte Niveau abzusenken, in Costa Rica, Kuba, Panama sowie Trinidad & Tobago ist man diesem Standard immerhin schon recht nahe gekommen. Am schlechtesten schneiden Bolivien und Haiti ab, in denen die Kindersterb-
lichkeit noch immer um mehr als 500% bzw.
400% über der entsprechenden Mortalitätsziffer der Industrieländer liegt. Bolivien und Haiti registrieren auch bei der Säuglingssterblichkeit von allen lateinamerikanischen Ländern die ungünstigsten Werte. Sie übersteigen die Säuglingssterblichkeitsziffer der Industrieländer um 107% bzw. 92%. Die niedrigsten Säuglingssterblichkeitsziffern in Lateinamerika erzielen Jamaika, Kuba, Panama und Costa Rica.
Hohe postnatale Mortalitätsraten schlagen sich in einer entsprechend niedrigeren Lebenserwartung der Bevölkerung nieder, was im Falle Boliviens und Haitis besonders deutlich wird. In den Ländern mit überdurchschnittlich hoher Säuglings-und Kindersterblichkeit sowie einer — im Vergleich zu den anderen lateinamerikanischen Staaten — niedrigeren Lebenserwartung liegt meist auch die Alphabetisierungsquote unter dem lateinamerikanischen Durchschnitt. Dieses Resultat entspricht anderen Untersuchungsergebnissen, die einen starken Zusammenhang zwischen Ausbildungsniveau (insbesondere der weiblichen Bevölkerung) und Säuglingssterblichkeit bzw. Lebenserwartung hervorheben Als Ausnahmen von dem Schema eines zu erwartenden Zusammenhangs zwischen postnatalen Mortalitätsraten und Alphabetisierungsgrad der erwachsenen Bevölkerung sind Ecuador und vor allem Nicaragua zu nennen, wo trotz überdurchschnittlich hoher Alphabetisierungsquoten die Säuglings-und Kindersterblichkeit noch auf einem vergleichsweise hohen Niveau verharrt. Im Jahre 1960 hatte Nicaragua zu den drei lateinamerikanischen Staaten mit der höchsten Analphabetenquote gehört. Nach der sandinistischen Revolution gelang es mittels breit angelegter Alphabetisierungskampagnen, die Analphabetenquote der erwachsenen Bevölkerung auf 10% zu senken und damit den Standard von Costa Rica und Jamaica zu erreichen, die aber schon 1960 überdurchschnittlich hohe Alphabetisierungsquoten registriert hatten.
Der internationale Vergleich von Alphabetisierungsquoten ist allerdings mit großer Vorsicht zu interpretieren, denn gerade bei der Messung der Alphabetisierung lassen sich durch entsprechend „großzügige" Definition rasche „Erfolge" vorweisen, die an den solchermaßen „Alphabetisierten" möglicherweise völlig vorbeigehen Immerhin deuten aber auch die anderen Indikatoren des formalen Bildungssystems, die Einschulungsquoten (x 5, x,), darauf hin, daß zahlreiche Länder Lateinamerikas erhebliche Anstrengungen unternommen haben, um ihrer Bevölkerung den Zugang zu formalen Bildungseinrichtungen zu ermöglichen. Lediglich in Haiti, El Salvador und Guatemala liegen die Einschulungsquoten weit unter dem ansonsten in Lateinamerika üblichen Standard. Bemerkenswert ist, daß in der Mehrzahl der lateinamerikanischen Staaten, anders als in vielen Entwicklungsländern Asiens und Afrikas, die weibliche Einschulungsquote nicht wesentlich niedriger ist als die männliche. Eine systematische Benachteiligung der Mädchen hinsichtlich des Zugangs zu einer Primarschulbildung läßt sich jedoch in Bolivien, Guatemala, Haiti und Honduras vermuten, wo die weibliche Einschulungsquote zwischen 12 und 7 Prozentpunkten unter der männlichen Einschulungsquote liegt, die ihrerseits um bis zu 31 Prozentpunkte von 100 entfernt ist. Daß auch bei Einschulungsquoten über 90% die Nichteinschulung in absoluten Zahlen gemessen ein erhebliches Ausmaß erreichen kann, zeigt das Beispiel Brasilien; bei einer Einschulungsquote von 93% im Jahre 1980 und einem Anteil von ca. 20% der 7— 14jährigen an der Gesamtbevölkerung waren es schätzungsweise 2 Millionen jugendliche Brasilianer, die — obwohl gesetzliche Schulpflicht besteht — in diesem Jahr von dem Grundschulsystem •nicht erfaßt wurden. Berücksichtigt man ferner, daß ein beachtlicher Prozentsatz der Eingeschulten über das 1. Schuljahr nicht hinauskommt dann wird deutlich, wie sehr der Aussagegehalt von Einschulungsquoten relativiert werden muß.
Gewiß sagen Einschulungsquoten allein nichts über die Qualität der Schulen aus; sie sind aber zumindest Indizien dafür, in welchem Umfang den Jugendlichen die Möglichkeit gegeben ist, diejenigen Fertigkeiten und
Fähigkeiten zu erlernen und zu üben, die gerade in einer (semi-) industrialisierten Umwelt als Voraussetzungen für eine aktive Teilnahme am wirtschaftlichen und sozialen Leben gelten. Nachdem in zahlreichen lateinamerikanischen Ländern in den zurückliegenden beiden Dekaden vorrangig das sekundäre und vor allem das tertiäre Bildungssystem staatliche Förderung erhalten hatte, setzt jetzt allmählich eine Umorientierung ein, die dem Primarschulsystem und der Berufsbildung Vorrang vor einer Massifikation des weiterführenden Bildungssystems einräumt. Investitionen in das Grundschulwesen ohne komplementäre Maßnahmen in anderen Bereichen (z. B. Ernährung, sanitäre Einrichtungen) reichen aber nicht aus, um zu einer besseren Grundbedürfnisbefriedigung der 'Bevölkerung zu gelangen. So gilt, neben dem Ausbildungsniveau der Eltern, die Wasserversorgung als ein weiterer wichtiger Bestimmungsfaktor z. B.der Säuglingssterblichkeit und insbesondere der Kindersterblichkeit. Ab einem Alter von ca.sechs Monaten wird die angeborene Immunität gegen infektiöse und parasitäre Krankheiten allmählich abgebaut und gleichzeitig wird von diesem Alter an in der Regel die Brustnahrung durch zusätzliche Nahrungsmittel ergänzt (z. B. Milchpulver), so daß bei unzureichenden sanitären Verhältnissen das Risiko etwa von Diarrhöe-Erkrankungen mit tödlichem Ausgang deutlich steigt
Fast alle Länder Lateinamerikas haben erhebliche Defizite in der Versorgung ihrer Bevölkerung mit Trinkwasser ebenso wie in der sanitären Entsorgung. Mit einem Versorgungsgrad von 77% im Jahre 1975 waren allein in Brasilien ca. 25 Millionen Menschen ohne angemessenen Zugang zu Trinkwasser, in Mexiko (Versorgungsgrad 66%) blieben ca. 23 Millionen nur unzureichend mit Wasser versorgt, und selbst in Chile mit einem vergleichsweise hohen Wasserversorgungsgrad von 84% bedeutet dies für ca. 1, 5 Millionen Menschen, innerhalb akzeptabler Entfernungen keinen Zugang zu einer unbedenklichen Wasserversorgung zu haben. Zwar sind seit 1975, dem Jahr, auf das sich die letzten diesbezüglich verfügbaren Statistiken beziehen, umfangreiche Maßnahmen zur Verbesserung der sanitären Infrastruktur durchgeführt worden, vor allem in den großen Städten. Aber diese Maßnahmen konnten kaum Schritt hal-ten mit dem unkontrollierten Wachstum der urbanen Siedlungskonzentrationen, in denen das Risiko von Erkrankungen und die Häufigkeit von Krankheitsübertragungen infolge nicht sachgerechter Wasserversorgung und -entsorgung tendenziell steigt. Städtische Leitungswasser-und Kanalisationssysteme mit individuellen Hausanschlüssen sind sehr kostspielig, aber bereits mit weniger aufwendigen, elementaren sanitären Einrichtungen lassen sich Krankheiten wie Typhus, Ruhr und Malaria effektiv bekämpfen.
Auch die ärztliche Versorung der Bevölkerung ist in den meisten Ländern Lateinamerikas noch sehr weit von dem Standard der westlichen Industrieländer entfernt. Gemessen an dem Indikator „Einwohner je Arzt" haben lediglich Argentinien und Uruguay sowie — mit einigem Abstand — Kuba und Panama eine Arztdichte erreicht, die in den westlichen Industrieländern bereits 1960 bestand. Besonders kraß ist das zahlenmäßige (Miß-) Verhältnis von Einwohnern und Ärzten in Guatemala sowie Haiti. Bezieht man in die Beurteilung des Gesundheitssystems zusätzlich den Indikator „Einwohner je Beschäftigtem in der Krankenpflege" ein, um zu berücksichtigen, daß auch das nichtärztliche Personal im Gesundheitsbereich einen wirkungsvollen Beitrag zur Versorgung der Bevölkerung leisten kann, dann zeigen sich ebenfalls ausgeprägte Defizite, und zwar am stärksten in Bolivien, in der Dominikanischen Republik sowie in Haiti. Nun ist allerdings für die medizinische Versorgung der Bevölkerung nicht so sehr die Zahl des Personals im Gesundheitsbereich entscheidend, sondern mehr die Art und Weise seines Einsatzes. Konkret bedeutet dies, daß die Gesundheitsdienste flächendeckend über Stadt und Land verteilt sein sollten und Maßnahmen zur Vorbeugung von Krankheiten zumindest ebenso betonen müssen wie kurative Maßnahmen — Forderungen, die in den am urbanen Modell europäisch-nordamerikanischer Gesundheitssysteme orientierten Gesundheitsdiensten vieler lateinamerikanischer Länder allenfalls ansatzweise verwirklich sind.
In den meisten Staaten Lateinamerikas sind die medizinischen Einrichtungen und das ärztliche Personal in den Hauptstädten konzentriert, und so ist es insbesondere die arme ländliche Bevölkerung, die de facto keinen Zugang zu dem Gesundheitssystem hat, selbst wenn ihr dieser Zugang z. B. in Form eines staatlichen Gesundheitsdienstes formal offen-steht. Trotz der Einrichtung eines nationalen (und sehr kostenintensiven) Gesundheitsdienstes leben z. B. in den nordöstlichen Bundesstaaten Brasiliens ca. 16% der Bevölkerung in Munizipien ohne einen dort ansässigen Arzt; bis 1978 wurde weniger als die Hälfte der jugendlichen Bevölkerung Brasiliens von einem landesweiten Impfprogramm erreicht, das zur Bekämpfung endemischer Krankheiten wie Poliomyelitis, Diphtherie, Windpokken und Masern schon 1973 initiiert worden war Angesichts der weithin prekären medizinischen Versorgungslage kann es nicht überraschen, daß unter der Bevölkerung Lateinamerikas mit niedrigem Einkommen infektiöse und parasitäre Krankheiten weitverbreitet sind, insbesondere Tuberkulose, Lepra, Wurmerkrankungen (Schistosomiasis), tropische Augenerkrankungen (Trachome) und — vor allem in Brasilien — die Chagas-Krankheit. Neben den Krankheiten im engeren Sinne muß Mangel-und Unterernährung als Hauptursache der vergleichsweise niedrigen Lebenserwartung und der hohen Säuglings-und Kindersterblichkeit in mehreren lateinamerikanischen Staaten genannt werden. In mindestens zwölf Ländern läßt das durchschnittliche nationale Pro-Kopf-Kalorienangebot auf Unterernährung größeren Ausmaßes schließen. Denn angesichts der bestehenden Einkommensungleichverteilung muß das Pro-Kopf-Kalorienangebot im Landesdurchschnitt 110— 125% der Bedarfsnorm erreichen, wenn der Mindestverbrauch auch für die unterste Einkommensklasse gesichert sein soll Am größten ist die Kalorienlücke in Bolivien, Ecuador und Guatemala. Lediglich in Paraguay wird das in den westlichen Industrieländern gegebene Pro-Kopf-Kalorienangebot erreicht, in Argentinien — dem lateinamerikanischen Land mit dem zweitbesten Wert bei diesem Indikator — hegt der nationale Durchschnittswert um 7 % Prozent unter dem Standard der Industrieländer.
Das relativ schlechte Abschneiden Lateinamerikas gegenüber den westlichen Industrieländern bei einem Vergleich des Pro-Kopf-Kalorienangebotes mag um so mehr überraschen, als die lateinamerikanische Nahrungsmittelproduktion in den letzten 20 Jahren sogar etwas stärker erhöht wurde als in den OECD-Staaten. Das reichte zwar in den meisten Staaten der Untersuchungsregion aus, um die Kalorienlücke gegenüber den Industrieländern zwischen 1960 und 1980 zumindest nicht größer werden zu lassen (vorausgesetzt, daß dies durch den Indikator Pro-Kopf-Kalorienangebot adäquat wiedergegeben wird). Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß eine Steigerung der Nahrungsmittelproduktion nicht automatisch mit einer Verbesserung des Kalorienangebots für die eigene Bevölkerung verbunden sein muß. Dies ist insbesondere dann nicht der Fall, wenn die Ausweitung der marktvermittelten landwirtschaftlichen Produktion im wesentlichen nur im exportorientierten Bereich stattfindet und zu einer Verdrängung der Subsistenzproduktion bzw.der binnenmarktorientierten Nahrungsmittelproduktion führt Auch eine Steigerung der Nahrungsmittel-produktion für Zwecke der Energiegewinnung bleibt ohne positiven Einfluß auf das verfügbare Kalorienangebot für die nicht kaufkräftige Bevölkerung bzw. kann sogar zu einer Verschlechterung führen, wie dies z. B.
im Zusammenhang mit dem ehrgeizigen brasilianischen Programm der Alkoholgewinnung (als Benzinersatz) aus Zuckerrohr und dem Grundnahrungsmittel Maniok vermutet wird Insofern ist der Indikator „Index der Nahrungsmittelproduktion pro Kopf" (X 3) zwar in gewisser Hinsicht geeignet, die Dynamisierung der Agrarproduktion anzuzeigen, aber wenn diese Produktionssteigerung hauptsächlich nur der verstärkten Integration in das Weltmarktgeschehen dient, bleibt sie für die Befriedigung des Grundbedürfnisses weiter Bevölkerungskreise nach Nahrung ohne Belang.
In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß sich auch die externe Verschuldungskrise einiger großer lateinamerikanischer Staaten nachhaltig auf die Ernährungssituation der Bevölkerung auswirkt. Die Landwirtschaft, die jahrzehntelang zugunsten des Industriesektors in der staatlichen Entwicklungsplanung und -förderung vernachlässigt worden war, erscheint jetzt als ein Instrument zur Erwirtschaftung und/oder Ersparnis von Devisen, sei es durch verstärkte Export-produktion, sei es durch die Erzeugung von Biomasse in agroindustriellem Umfange für energetische Zwecke. Für die ausländischen „Experten", die den lateinamerikanischen Schuldnerländern solche „Auswege" aus der Verschuldungskrise vorschreiben, wird die Reise in Länder, „wo der Zucker wächst" zunehmend zu einer Reise in Länder des Hungers, in denen für die betroffene Bevölkerung diese Entwicklung zunehmende Krankheit, Verzweiflung und gesellschaftliche Deprivation bedeutet.
V. Grundbedürfnisorientierte Ländergruppierung
Abbildung 5
Tabelle 4: Indikatoren der Ernährung. Quelle: World Bank, World Development Report 1983; FAO, Production Yearbook 1976, 1981; World Bank, World Tables, the second edition (1980), from the data files of the World Bank.
Tabelle 4: Indikatoren der Ernährung. Quelle: World Bank, World Development Report 1983; FAO, Production Yearbook 1976, 1981; World Bank, World Tables, the second edition (1980), from the data files of the World Bank.
Versucht man, aus der vorangegangenen Beschreibung der Grundbedürfnisbefriedigung mittels ausgewählter Indikatoren einige zusammenfassende Ergebnisse zu gewinnen, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den lateinamerikanischen Ländern charakterisieren, so kann man sich hierfür eines aggregierten Index bedienen.
In den hier verwendeten Grundbedürfnis-Index gehen die zentralen Indikatoren y 1, y 2, y 3 und y 4 des Modells in Abbildung 1 ein. Dabei werden zunächst die Länderwerte jedes einzelnen Indikators X in einen Index mit der Skala von Null bis 100 transformiert. Dem Skalenwert Null wird der schlechteste zum jeweiligen Beobachtungszeitpunkt in den lateinamerikanischen Ländern registrierte Wert (= xmin) zugeordnet (das ist bei der Kinder-und Säuglingssterblichkeit der höchste numerische Wert, bei der Lebenserwartung und der Alphabetenquote der niedrigste numerische Wert), dem Skalenwert 100 der entsprechende Mittelwert für die Industrieländer (= Xi). Die Werte des Index L ergeben sich dann aus den Werten des Indikators Xj durch Abbildung auf die Indexskala, mit der Skaleneinheit [100/(Xi — xmin) ] für die Indikatoren y 2 und y 3, bzw. [100/(xmin — xj] für yi und y 2 Die auf diese Weise indexierten Indika-torenwerte gehen gleichgewichtig in den aggregierten Grundbedürfnis-Index ein, der sich als arithmetisches Mittel der vier Einzel-indices aus yi, y 2, y 3 und y 4 ergibt. Jeder Einzelindex, wie auch der Gesamtindex, kann theoretisch alle Werte von Null bis 100 annehmen; je höher der Indexwert, um so besser wird die Grundbedürfnisbefriedigung beurteilt
In Tabelle 8 sind die Werte des aggregierten Grundbedürfnis-Index der lateinamerikanisehen Länder für die Jahre 1960 und 1980/81 angegeben. Im unteren Viertel der Skala des Grundbedürfnis-Index 1980/81 finden sich Bolivien, Haiti und Honduras, die auch schon 1960 zu den lateinamerikanischen Ländern mit den niedrigsten Indexwerten gehört hatten. Peru, Nicaragua, El Salvador, die Dominikanische Republik und Brasilien, deren Grundbedürfnis-Index 1960 noch unterhalb der 50-Punkte-Marke gelegen hatte, rückten mit ihren 1980/81-Indexwerten in die obere Skalenhälfte auf. Die sechs Staaten (Costa Rica, Panama, Jamaika, Argentinien, Trininad & Tobago, Uruguay), die 1960 das oberste Viertel der Indexskala besetzt hatten, finden sich auch 1980/81 dort; zusätzlich erreichten 1980/81 auch Venezuela und Chile Indexwerte oberhalb der 75-Punkte-Marke. Die Spitzenplätze mit Indexwerten über 90 Punkten nehmen Costa Rica, Trinidad & Tobago sowie Kuba ein; 1960 hatte lediglich Uruguay in diesem Skalenbereich gelegen. Vergleicht man die Länderwerte des Grundbedürfnis-Index 1960 mit den Werten für 1980/81, dann zeigt sich, daß lediglich für Uruguay und Argentinien im Zeitablauf ein Rückgang ihrer Indexwerte zu registrieren ist, allerdings nur ein Rückgang auf ein immer noch recht hohes Niveau. Alle übrigen lateinamerikanischen Länder konnten zwischen 1960 und 1980/81 ihre Indexwerte steigern, wobei dieser Anstieg jedoch recht unterschiedlich ausfiel (zwischen 1 Punkt [Bolivien] und maximal 27 Punkten [Nicaragua, Peru]). Trotz dieser Unterschiede hat sich an der Reihenfolge der nach ihrem Indexwert geordneten Länder („ranking") 1980/81 gegenüber 1960 nur wenig geändert, was jedoch nicht zu der Schlußfolgerung verleiten darf, daß der Wetteifer der Regierungen (so es denn einen solchen gibt) um die Verbesserung der Grundbedürfnisbefriedigung ihrer Bevölkerung vergeblich bleiben müsse.
Erhellend wirkt in diesem Zusammenhang eine Gegenüberstellung von Grundbedürfnis-Index und Einkommensniveau in der Weise, daß man die Länderhierarchie des Grundbedürfnis-Index und des Pro-Kopf-Sozialprodukts vergleicht (siehe Tabelle 8). Zwar lassen sich gegen eine hierarchische Länderklassifizierung auf der Grundlage des Pro-Kopf-Einkommens bzw.des Pro-Kopf-Sozialprodukts erhebliche Einwände vorbringen aber immerhin kann das Sozialprodukt doch als Indiz für gewisse Aspekte der gesamtwirtschaftlichen Leistungsfähigkeit angesehen werden und damit auch als Indiz für die potentielle Befriedigung materieller Grundbedürfnisse;
dies kommt auch durch die Einbeziehung des Pro-Kopf-Sozialprodukts (Indikator Z 3) in das Modell in Abbildung 1 zum Ausdruck. Der Zusammenhang zwischen Sozialproduktsniveau und Grundbedürfnisbefriedigung ist jedoch keineswegs eindeutig So wären z. B. für Brasilien, Venezuela und Mexiko auf Grund ihrer Rangplätze in der Sozialprodukts-Hierarchie wesentlich höhere Rang-plätze als die faktisch erreichten in der Hierarchie des Grundbedürfnis-Index zu erwarten. Umgekehrt liegen Kuba, Jamaika und Costa Rica mit ihren Rangplätzen in der indexierten Grundbedürfnis-Hierarchie deutlich über den Rangplätzen ihres Pro-Kopf-Sozial-produkts. Diese Vergleiche deuten darauf hin, daß — zumindest ab einer bestimmten Höhe des BSP per capita — auch bei relativ niedrigerem Niveau des Pro-Kopf-Einkommens eine vergleichsweise bessere Grundbedürfnisbefriedigung erreicht werden kann. Voraussetzung hierfür ist jedoch, daß eine dezidierte Politik der sozialen Basisversorgung betrieben wird, wie dies z. B. in Kuba und zeitweilig auch in Jamaika (unter der Regierung Manley) der Fall war. Die brasilianische Politik hingegen, die erklärtermaßen erst den „Kuchen" Sozialprodukt kräftig wachsen lassen wollte, bevor er verteilt würde, hat zwar dazu geführt, daß Brasilien zu den zehn größten Volkswirtschaften (gemessen am BIP) der Welt gehört und daß es mit einem Pro-Kopf BSP von (1983) über 2200 US-Dollar zu den „reichen" Entwicklungsländern gezählt wird, bei verschiedenen grundbedürfnisrelevanten Indikatoren aber keine besseren Werte aufweist als die „armen" lateinamerikanischen Länder.
Mit einer clusteranalytischen Auswertung der Grundbedürfnis-Indikatoren lassen sich die lateinamerikanischen Länder zu homogenen Gruppen zusammenfassen, d. h. zu Gruppen, deren Elemente einander möglichst ähnlich in bezug auf die berücksichtigten Indikatorenwerte sind. Die Clusteranalyse gehört zu den multivariaten Untersuchungsmethoden von Daten, die Objekte (im vorliegenden Falle: Länder) gleichzeitig an Hand mehrerer Merkmale (hier: grundbedürfnisrelevante Indikatoren) beschreiben, mit dem Ziel, die Struktur einer vorgegebenen Menge von Objekten durch die Konstruktion homogener Gruppen zu identifizieren.
Für die hier in Frage stehende Gruppierung der lateinamerikanischen Länder wurde ein hierarchisch-agglomeratives Clusterverfahren eingesetzt Als Merkmalswerte zur Be-Schreibung der Länder wurden standardisierte Daten für Jahre um 1980 des geringfügig modifizierten Indikatoren-Modells in Abbildung 1 verwendet -Da für Kuba nicht der vollständige Datensatz verfügbar ist, mußte dieses Land bei der clusteranalytischen Ländergruppierung unberücksichtigt bleiben. Die Auswertung des Gruppierungsprozesses ergibt — nach dem 15. Fusionierungsschritt, nach dem der als Homogenitätsmaß verwendete maximale Abstand innerhalb eines Clusters wesentlich stärker als bei den vorangegangenen Fusionierungsschritten ansteigt — fünf recht deutlich voneinander abgegrenzte Ländergruppen; innerhalb jeder Gruppe sind die Länder in der Reihenfolge abnehmender „Ähnlichkeit" zueinander aufgeführt:
1. Gruppe: Haiti;
2. Gruppe: Guatemala, El Salvador, Bolivien; 3. Gruppe: Dominikanische Republik, Peru, Nicaragua, Honduras, Brasilien, Ecuador, Paraguay;
5. Gruppe: Panama, Costa Rica, Jamaika, Trinidad & Tobago.
Haiti erweist sich hier als ein Sonderfall innerhalb der lateinamerikanischen Länder; bei fast allen grundbedürfnisrelevanten und infrastrukturellen Indikatoren steht Haiti mit weitem Abstand an letzter Stelle in Lateinamerika, wobei die nationalen Durchschnitts-werte nicht einmal erkennen lassen, um wie-viel schlechter die Situation in den ländlichen Gebieten Haitis ist
Teilweise dramatische Defizite in allen materiellen Grundbedürfnisbereichen sind auch für die Situation in den Ländern der zweiten Gruppe, Guatemala, El Salvador und Bolivien, charakteristisch. In allen drei Staaten haben politische Instabilität, periodenweise verschleiert hinter der Fassade „Stabilität" garantierender Militärregime, sowie extreme Gegensätze zwischen Reichtum und Armut, zwichen herrschenden Oligarchien und marginalisierten Unterschichten verhindert, daß das wirtschaftliche Potential dieser Länder 'für eine nachhaltige Verbesserung der Grundbedürfnisbefriedigung genutzt werden konnte. Bei überwiegend monostrukturierter gesamtwirtschaftlicher Produktion und extremer Außenabhängigkeit war das wirtschaftliche Wachstum dieser Länder in den letzten beiden Dekaden für die Bevölkerungsmehrheit nicht mehr als ein „Verelendungswachstum" (Bhagwati).
Die Zusammensetzung der dritten Länder-gruppe läßt erkennen, daß ein relativ hohes Pro-Kopf-Sozialprodukt nicht ohne weiteres auch eine entsprechend gute Grundbedürfnis-befriedigung garantiert. So beträgt z. B. das BSP pro Kopf des „reichsten" Landes dieser Gruppe, Brasilien, mehr als das Dreieinhalbfache des „ärmsten“ Landes, Honduras. Das Beispiel Brasilien belegt auch, daß ausgeprägtes wirtschaftliches Wachstum allein nicht ausreicht, um mit der erhöhten gesamtwirtschaftlichen Güterproduktion eine verbesserte Grundbedürfnisbefriedigung zu gewährleisten. Zwar kann beschleunigtes Wirtschaftswachstum die Steigerung des Befriedigungsniveaus materieller Grundbedürfnisse tendenziell (durch zunehmende Verteilungsspielräume) begünstigen; wichtiger als Wirtschaftswachstum per se ist aber seine Struktur, d. h. in welche Verwendungsrichtungen die zusätzliche gesamtwirtschaftliche Güterproduktion fließt. Unter diesem Blickwinkel wird deutlich, daß Deformationen in der Struktur der (privaten und staatlichen) Güterproduktion und -Verteilung bestimmend sind für die noch immer weitgehend unbefriedigende Versorgung mit Gütern des materiellen Grundbedarfs in den Ländern der dritten Gruppe. In einigen Staaten dieser Gruppe, wie z. B. Honduras, wird die herrschende Elite eine Umstrukturierung der inneren Entwicklung im Interesse der Verteidigung eigener Privilegien mit aller Macht (auch physischer Repression) zu verhindern suchen. In Nicaragua, wo die politische Führung die erklärte Absicht hat, die soziale Situation der Bevölke21 rung weiter zu verbessern, ist der (bürger-) kriegsähnliche Zustand ein Faktum, das weitere Fortschritte auf absehbare Zeit verhindert. Auch in den Ländern der vierten Gruppe ist das Befriedigungsniveau wichtiger materieller Grundbedürfnisse — im Vergleich zu den Industrieländern — insgesamt unzulänglich, jedoch zeigen sich hier im intralateinamerikanischen Vergleich günstigere Ergebnisse. Relativ am besten ist die Situation in den vier Staaten der fünften Ländergruppe, die bei den nationalen Durchschnittswerten der grundbedürfnisrelevanten Indikatoren einen vergleichsweise hohen Standard erreicht haben; dies schließt allerdings nicht aus, daß auch in diesen Ländern zahlenmäßig große Bevölkerungsgruppen ihre materiellen Grundbedürfnisse nur unzureichend befriedigen können.
VI. Perspektiven
Abbildung 6
Tabelle 5: Indikatoren des Erziehungswesens. Quelle: World Bank, World Development Report 1983.
Tabelle 5: Indikatoren des Erziehungswesens. Quelle: World Bank, World Development Report 1983.
Man kann davon ausgehen, daß in allen lateinamerikanischen Staaten — mit Ausnahme vielleicht Haitis — das ökonomische Potential längst gegeben ist, um die absolute Armut zu beseitigen Wenn die Bestandsaufnahme der Grundbedürfnisbefriedigung dennoch zu dem Ergebnis kommen muß, daß in den meisten Ländern der Region beachtliche Defizite in der Versorgung der Bevölkerung mit den Gütern des Grundbedarfs fortbestehen, dann belegt dies (auch) einen gravierenden Mangel an Ernsthaftigkeit und Eigenanstrengungen der jeweiligen Regierungen, die zur Beseitigung der Massenarmut erforderlichen strukturellen und institutionellen Voraussetzungen zu schaffen. Die gute Absicht hierfür, die in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern von zum Teil häufig wechselnden Regierungen immer wieder verkündet wurde, reicht allerdings nicht aus. Hinzu kommen muß auch das Durchsetzungsvermögen, um die erforderlichen Änderungen gegebenenfalls gegen die Interessen traditioneller (oder auch neuer „postrevolutionärer") Eliten sowie gegen ausländische Interessen, die sich gerade in Lateinamerika zu einer wirkungsvollen Allianz mit Fraktionen der nationalen Eliten verbunden haben, zu realisieren. Auf die meisten lateinamerikanischen Länder läßt sich grosso modo übertragen, was C. Furtado über eine alternative Entwicklung Brasiliens nach dem Ende des „Wirtschaftswunders" (ps-„milagre") geschrieben hat
1. Die notwendigen Investitionen zur Aufrechterhaltung des wirtschaftlichen Wachstums wurden bislang durch Inflation und externe Verschuldung finanziert. Die Folge sind interne und externe Ungleichgewichte, die mit den herkömmlichen wirtschaftspolitischen Mitteln nicht überwunden werden können. Voraussetzung für die zwingend notwendige Umstrukturierung der Volkswirtschaft ist eine Erhöhung der internen Sparquote zur Finanzierung der Investitionen, die ein solcher Umstrukturierungsprozeß erfordert. Ziel der Umstrukturierung muß eine Veränderung des Güterangebots sein, das in der Vergangenheit zu sehr auf die Befriedigung von Konsumwünschen eines gehobenen urbanen Lebensstils ausgerichtet war.
2. Die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung muß sich grundsätzlich an dem Binnenmarkt orientieren; dies bedeutet eine Änderung der bisher betriebenen Integration in das internationale System der Arbeitsteilung. Es darf keine Ausweitung des Exportsektors zu Lasten nicht erneuerbarer natürlicher Ressourcen erfolgen, die für die innere Industrialisierung von Bedeutung sind. Ebensowenig darf eine Erhöhung der Exportquote durch die Ausbeutung billiger Arbeitskraft erreicht werden; komparative Vorteile im internationalen Handel, die sich aus der Armut der Bevölkerung ergeben, sind in Wirklichkeit keine Vorteile.
3. Eine Umstrukturierung der Volkswirtschaft führt zu keinen anhaltenden positiven Ergebnissen, wenn sie nicht auch jene vermeintlichen „Zwänge" aufhebt, die die Masse insbesondere der ländlichen Bevölkerung zu ihrer gegenwärtigen Misere verurteilen. Die Förderung der Agroindustrie als Mittel zur Dynamisierung der Landwirtschaft kann zwar kurzfristig die Agrarproduktion (und die Exporte) erhöhen, langfristig verschärft sie aber nur die sozialen Probleme.
Es kann nicht darum gehen, die zwischenzeitlich entstandenen beachtlichen industriellen Kapazitäten Lateinamerikas wieder abzubauen. Aber eine verstärkte Ausrichtung dieser Kapazitäten, wie auch des agrarischen Potentials Lateinamerikas, auf eine binnenorientierte Entwicklung kann zumindest für die größeren lateinamerikanischen Staaten eine Option darstellen, um den bislang praktizierten außenorientierten Entwicklungsstil abzulösen. Ob jedoch diese Option überhaupt noch offen ist, mag bezweifelt werden, angesichts des „Teufelskreises der Auslandsverschuldung" in den gerade die wirtschaftlich relativ „erfolgreichen" lateinamerikanischen Länder in den letzten Jahren geraten sind. Denn als Ausweg aus diesem „Teufelskreis" pflegen die Gläubiger unter der Führung des Internationalen Währungsfonds (IWF) eine wirtschaftspolitische Radikalkur zu verschreiben, die die Außenorientierung (oder: Abhängigkeit) eher verstärkt
Das „klassische" IWF-Rezept, das mit einigen Modifikationen z. B. Jamaika, Argentinien, Chile und kürzlich auch Brasilien verordnet wurde, lautet in seinen Grundzügen: Abbau der öffentlichen Haushaltsdefizite, insbeson-durch Kürzung staatlicher Investitionsausgaben und der Subventionen sowie durch Steuererhöhungen, Liberalisierung des Kreditwesens, Exportförderung durch „realistische" Wechselkurse (d. h. durch eine über der Inflationsrate liegende laufende Abwertung der nationalen Währung), antiinflationäre Lohnpolitik (d. h. Lohnerhöhungen unterhalb der Inflationsrate).
Der mit dieser „Schockbehandlung" implizierte Rückzug des Staates aus zahlreichen Aktionsbereichen schränkt auch die Möglichkeiten ein, jene dringend erforderlichen Maßnahmen einzuleiten, mit denen die sozialen, regionalen und sektoralen Deformationen korrigiert werden könnten, die für Lateinamerika nach mehreren Dekaden der Industrialisierung und „Modernisierung" charakteristisch geworden sind. Ohne grundlegende Korrekturen wird sich das schon jetzt hohe Konfliktpotential in den Gesellschaften der meisten lateinamerikanischen Länder weiter erhöhen und die politische Destabilisierung der Region voranschreiten.
Hartmut Sangmeister, Dr. rer. pol., Dipl. -Volkswirt, geb. 1945; 1979— 1981 sowie im Herbst 1982 Gastprofessur für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Entwicklungstheorie und -politik, an der Universidade Federal do Cearä (UFC) in Fortaleza/Brasilien; derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für international vergleichende Wirtschafts-und Sozialstatistik der Universität Heidelberg. Veröffentlichungen u. a.: (zusammen mit G. Menges) Europäische Wirtschaftskunde, Frankfurt/Main 1977; zahlreiche Zeitschriftenaufsätze über internationale Wirtschafts-und Sozialstatistik sowie über entwicklungspolitische Probleme.
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