„Literaturgesellschaft" DDR Leseverhalten, Lektüreinteressen und Leseerfahrungen
Richard Albrecht
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Zusammenfassung
Die Deutsche Demokratische Republik ist — dies vermitteln die globalen Daten zur Buch-produktion — auch im internationalen Vergleich mit entwickelten industriellen Gesellschaften ein „Leseland". Im Selbstverständnis ihrer Führungsschicht gilt sie als entwickeltes „Leseland", das beansprucht, die Vision einer sozialistischen „Literaturgesellschaft" auf deutschem Boden zu verwirklichen. Unterhalb einer allgemein-abstrakten Ebene freilich stellt sich die „Literaturgesellschaft" DDR widersprüchlich dar. Einmal muß die Lektüre als besondere Form individueller Gestaltung der disponiblen Zeit mit anderen Medien und Freizeitvollzügen konkurrieren, zum anderen konnte bisher auch in der DDR trotz aller — zum Teil gewiß anerkennenswerter — literaturpädagogischer Bemühungen ein Widerspruch in den Lektüreinteressen selbst nicht aufgelöst werden. Dieser ist gekennzeichnet durch das Lesemotiv Unterhaltung und Ablenkung einerseits und die angebotenen Lesestoffe andererseits. Besonders deutlich zeigt sich dies bei der quantitativ und qualitativ besonders untersuchten fiktionalen Textsorte „sozialistische Gegenwartsliteratur“, deren zeitgenössische Arbeiten (Romane) an den Lektürebedürfnissen und Leseerfahrungen nicht weniger DDR-Bürger vorbeigehen.
I. Einleitung
Vor mehr als sechzig Jahren hat der Soziologe Theodor Geiger in seinem bekannten Versuch zur „sozialen Schichtung des deutschen Volkes" darauf hingewiesen, daß die wissenschaftliche Kärrnerarbeit erst unterhalb der sozialdemographischen Ebene beginne. In diesem Zusammenhang nannte Geiger auch Lesen und Lektüren (letztere verstanden als bereichs-und aktivitätsbesondere Form ästhetischer Interessen und moralischer Orientierungen), die charakteristische Einblicke in Aspekte des Alltagslebens und sozial unterschiedliche Lebensstile böten: „Die Kleinarbeit müßte bei den Symptomen beginnen, die das äußere Leben des Menschen darbietet. Sie hätte mit recht eigentlich positivistischen Methoden anzufangen, ehe sie an die verstehende Deutung gehen kann. Lebenshaltung, Gewohnheiten des Konsums und der sonstigen Lebensgestaltung, Freizeitverwendung, Lesegeschmack, Formen des Familienlebens und der Geselligkeit — tausend Einzelheiten des Alltagslebens."
Dieser allgemeine methodische Hinweis gilt sicherlich auch — und in besonderem Maße — für die Gesellschaft der Deutschen Demokratischen Republik. Denn diese gilt im Selbstverständnis ihrer Führungsschicht als entwickeltes „Leseland" (Klaus Höpke), das beansprucht, die Vision einer sozialistischen „Literaturgesellschaft" (Johannes R. Becher) auf deutschem Boden zu verwirklichen. Bis heute ist das dieses Selbstverständnis engagiert ausdrückende Plädoyer für Lesen und Lektüre insbesondere fiktionaler Texte ungebrochen, und zwar auf Grund der mit Lesen verbundenen angeeigneten Lebenserfahrung, die wichtig ist für die ästhetische, moralische und politische Persönlichkeitsformung. Dieter Schlenstedt nannte die zum Lesen erforderliche „intellektuelle Intensität" mit Blick auf das tätige und kunstrezipierende Subjekt „unersetzbar"
So gesehen kann ein systematischer Über-blick als Darstellung empirisch ermittelbarer Lesegewohnheiten und Lektüreinteressen in der DDR Einblicke in einen kulturellen Prozeß bieten wobei sicherlich unter dem Gesichtspunkt des Zugangs zum Alltagsleben die Rezeption jener „mittleren Regionen der Prosa" in der DDR-Literatur, also „die erzählende Literatur des Alltags" von besonderem Interesse sein dürfte
Im Vordergrund dieses Beitrags steht jedoch nicht die DDR-Literatur im speziellen, son-dem der Leser — vor allem fiktionaler, d. h. nicht fach-oder sachbezogener Literatur — in der DDR-Gesellschaft im allgemeinen, mit seinen inzwischen auch in der DDR literatur-soziologisch ermittelten Lesegewohnheiten, Lektüreinteressen und Leseerfahrungen.
II. Leseverhalten im Zusammenhang mit konkurrierenden Freizeitbeschäftigungen
Abbildung 2
Alexandre Dumas Erik Neutsch Stanislaw Lem Günter Hof Michail Scholochow Emile Zola Anna Seghers Erwin Strittmatter Hans Fallada Ruth Werner Robert Merle Ehm Welk Jules Verne Hermann Kant Bruno Apitz Werner Steinberg Wolfgang Schreyer Jack London Alexander Tschadowski Leonhard Frank D. H. Lawrence Harry Thürk 11 10 10 9 8 8 7 6 6 5 5 5 5 5 4 4 4 4 4 4 4 3 Tabelle 2: Liste der meistgenannten literarischen Autoren von Leuna-Beschäftigten 1978/79 als aktuell gelesene Schriftsteller Autor Nennungen
Alexandre Dumas Erik Neutsch Stanislaw Lem Günter Hof Michail Scholochow Emile Zola Anna Seghers Erwin Strittmatter Hans Fallada Ruth Werner Robert Merle Ehm Welk Jules Verne Hermann Kant Bruno Apitz Werner Steinberg Wolfgang Schreyer Jack London Alexander Tschadowski Leonhard Frank D. H. Lawrence Harry Thürk 11 10 10 9 8 8 7 6 6 5 5 5 5 5 4 4 4 4 4 4 4 3 Tabelle 2: Liste der meistgenannten literarischen Autoren von Leuna-Beschäftigten 1978/79 als aktuell gelesene Schriftsteller Autor Nennungen
Inzwischen ist auch in der DDR, unabhängig davon, welche Fernsehprogramme wo und wie im einzelnen empfangen werden (können), das Fernsehen Massenmedium Nr. 1 und damit zugleich auch wesentlichste Freizeitbeschäftigung. Zwar gab es in der DDR noch 1982 mehr zugelassene Radios (etwa 6, 44 Millionen) als Fernsehgeräte (etwa 5, 85 Millionen) und damit eine höhere Rundfunk-als Fernsehdichte (etwa 38, 6 : 35, 0 auf 100 Einwohner) aber nach Zwischenständen von täglichen Fernsehreichweiten (1970: etwa 70 Prozent, 1978: etwa 90 Prozent) müßte heute die entsprechende Reichweite bei 95 Prozent der DDR-Gesamtbevölkerung liegen. Dieser Tendenz entspricht auch eine bis 1981 kontinuierlich zunehmende durchschnittliche Sendezeit »der beiden DDR-Fernsehprogramme von zusammen gut 20 Sendestunden täglich (1980: 7 610 und 1981: 7 716 Gesamtsendestunden) und — vom Mediennutzer her gesehen — eine tägliche oder zumindest mehrmals wöchentliche Nutzung des Mediums Fernsehen von etwa 94 Prozent der Frauen und 96 Prozent der Männer (zum Vergleich: Zeitungslektüre 95 bzw. 97 Prozent) -
Trotz dieser intensiven Fernsehnutzung ist die DDR-Buchproduktion auch im internationalen Vergleich beeindruckend. Mit ihren 78 Verlagen (1979) steigerte die DDR ihre Buchproduktion auch in den letzten Berichts-jahren. 1982 erschienen einschließlich Nach-auflagen 1 630 Titel mit einer Gesamtauflage von ca. 142, 6 Millionen Exemplaren Damit steht die DDR hinsichtlich der Pro-Kopf-Produktion von Büchern „neben der Sowjetunion und Japan ganz vorn in der Weltrangliste''und erreichte auch 1982 wieder in etwa „eine große Durchschnittsauflage von 23 000 (Exemplaren) pro Titel"
Betrachtet man Belletristik oder fiktionale Texte anhand der DDR-Systematik und ihrer „Sachgruppen", so ergibt sich für 1982 etwa ein Anteil von 1 268 Neu-und Nachauflagen (ohne Kinder-und Jugendliteratur), von denen 496 Titel aus anderen Sprachen ins Deutsche übersetzt wurden. Dieser Bereich von Literatur im engeren Sinne machte 1982 damit knapp 21 Prozent aller Buchveröffentlichungen in der DDR aus und erzielte zugleich den höchsten Ranganteil bei der Auflagenhöhe mit etwa 31 Millionen Exemplaren (zum Vergleich: etwa 24 Millionen aus der Sparte „Gesellschaftswissenschaften" ohne Schulbücher)
Bei der repräsentativ erfragten Häufigkeit von ausgeübten Freizeitbeschäftigungen nahm das Lesen von Büchern im DDR-Bevölkerungsdurchschnitt von Bürgern ab 18 Jahren nach Zeitungslektüre (1), Fernsehen (2), Musikhören (3), Gartenarbeit (4) und Tierzucht/Tierbeschäftigung (5) den 6. Rang ein — noch vor Wandern/Spazierengehen (7), Reparieren (8) und Sportaktivitäten (9). Dabei ergab diese Umfrage, daß 28 Prozent der Frauen und Männer in der DDR täglich oder mindestens zwei Mal in der Woche ein Buch oder Bücher in ihrer Freizeit lesen In diesem Sinn ist denn auch heute „der Umgang mit den gedruckten und elektronischen Medien die eindeutig dominierende Freizeitbeschäftigung der Bevölkerung" in der DDR
III. Empirisch ermittelbare Ausprägung von Lesegewohnheiten und Leseverhalten
Abbildung 3
Liselotte Welskopf-Henrich andere Autoren Märchen Gesamtnennungen Belletristik Gesamtnennungen Sach/Fachbücher Gesamtanzahl der aktuell ein Buch lesenden Befragten keine aktuelle Lektüre 2 329 3 465 100 565 424 [ca. 47 %] [ca. 10 %] [ca. 57 %] [ca. 43 %] Quelle: D. Sommer, Leseinteressen und Roman-strukturen, in: Th. Höhle/D. Sommer [Hrsg. ], Hallesche Studien zur Wirkung von Sprache und Literatur, Halle (Saale) 1980, S. 49/50.
Liselotte Welskopf-Henrich andere Autoren Märchen Gesamtnennungen Belletristik Gesamtnennungen Sach/Fachbücher Gesamtanzahl der aktuell ein Buch lesenden Befragten keine aktuelle Lektüre 2 329 3 465 100 565 424 [ca. 47 %] [ca. 10 %] [ca. 57 %] [ca. 43 %] Quelle: D. Sommer, Leseinteressen und Roman-strukturen, in: Th. Höhle/D. Sommer [Hrsg. ], Hallesche Studien zur Wirkung von Sprache und Literatur, Halle (Saale) 1980, S. 49/50.
Eine erste empirische literatursoziologische DDR-Untersuchung, verfaßt von einer Hallenser Forschergruppe um Dietrich Sommer, diskutiert recht instruktiv Leseverhalten, Lektüregewohnheiten und literarische Interessen in der dialektischen Verschränkung von sozialen und ästhetischen, gesellschaftlichen und literarischen Bestimmungsfaktoren anhand systematisch präsentierter Befragungsdaten Sie ist „repräsentativ" für die beiden DDR-Bezirke Halle und Leipzig und mithin für etwa ein Fünftel der DDR-Gesamtbevölkerung (ab 14 Jahre) in zwei industriellen Ballungsregionen
Das zugrunde liegende Datenmaterial stammt aus dem Jahr 1970. Während eine Folgeuntersuchung mit Befragungsdaten des Jahres 1978 vor allem auf den Komplex „ästhetische Erfahrung" abhebt gibt es darüber hinaus noch eine für die gesamte DDR-Bevölkerung ab 15 Jahre repräsentativ angelegte, durchaus bundesdeutschen Buchmarktstudien vergleichbare Befragung der Abteilung Bedarfs-forschung des Leipziger Kommissionsgroßbuchhandels für 1976/77. Sie gibt Einblicke über das Lesen, Kaufen und Leihen von Büchern in der DDR. Folgt man den in mehreren größeren Beiträgen im Leipziger „Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel" 1979/80 veröffentlichten Angaben und Befragungsergebnissen, dann bestätigt sich eine kürzlich von Bodo Franzmann im „Kulturpolitischen Wörterbuch" vertretene These, derzufolge es „keine Anhaltspunkte" dafür gebe, „daß in der DDR ein größerer Prozentsatz der Bevölkerung regelmäßig liest (D. Sommer, 1978)“ allerdings nicht. Denn auch die DDR-repräsentative Studie zum Leseverhalten ergab einen Prozentsatz von Bücherlesern von 74 Prozent -(D. h., die Befragten hatten im letzten
Jahr vor der Befragung mindestens ein Buch gelesen.) Im Bevölkerungsdurchschnitt der DDR wurden von dieser bücherlesenden Mehrheit etwa acht bis neun Bücher gelesen — und etwa 15 Prozent der DDR-Bürger ab 15 Jahre lasen 1976/77 mehr als zwei Bücher pro Monat
Gewiß ist das Lesen — speziell von Büchern — auch in der DDR in hohem Maße sozial erwünscht, so daß auch hier (vergleichbar der Bundesrepublik Deutschland) ein besonderer, auffälliger Unterschied zwischen Wollen (Lektüreabsicht) und Handeln (Ausmaß von Buchlektüren) existiert. 33 Prozent der Befragten teilten 1977 mit, sie würden gern öfter insbesondere fiktionale Texte (Romane, Erzählungen, Lyrik) lesen, als sie es tatsächlich tun, und speziell Romane, Erzählungen und Gedichte werden in der DDR als Lektüren eher geschätzt als Fachzeitschriften bzw. wissenschaftliche Fach-und Sachbücher
Diese ausgeprägte Wertschätzung der Lektüre fiktionaler Texte als besonderer Freizeitbeschäftigung spiegelt sich sowohl in der erfragten allgemeinen Einstellung zum Bücher-lesen mit den entsprechenden Antworten (jeweils mehr als die Hälfte der repräsentativ befragten DDR-Bürger ab 15 Jahre verwiesen auf Antworten wie „gehört zur Allgemeinbildung" [ca. 70 Prozent], „erwarte geistige Anregungen" [ca. 56 Prozent] und „lese, um mich zu entspannen" [ca. 53 Prozent] als auch in den Antworten, die die Hallenser Forschergruppe 1970 und 1978 erhielt. Hier waren es 50, 7 Prozent (1970) und 52, 3 Prozent (1978), die in Halle-Leipzig bzw. als Beschäftigte des Leuna-Werks „Walter Ulbricht“ zum jeweiligen Befragungsdatum ein Buch lasen. Dem standen allerdings 29, 5 Prozent einer vergleichbaren Stichprobe bei Genossenschaftsbauern aus dem Kreis Querfurt (1978) gegenüber.
Die hier angedeuteten sozialen Differenzierungen im aktuellen Lektüreverhalten der DDR-Bevölkerung sind — über den Stadt-Land-und Arbeiter-Bauern-Komplex hinaus — anhand des empirischen Befragungsmaterials der Hallenser Forschergruppe so zusammengefaßt: Ähnliche soziale Differenzierungen ergeben sich auch bei der repräsentativen Befragung 1977 hinsichtlich von Buchentleihungen aus öffentlichen Bibliotheken und im Freundes-, Kollegen-und Bekanntenkreis
Betrachtet man wesentliche Determinanten zur Herausbildung und Festigung von Lese-verhalten und Lektüreinteressen sowie deren Motivierung in der DDR, so scheint die wichtigste Scheidegrenze zwischen (regelmäßigen) Lesern mit ausgeprägten Leseinteressen und Lektüreansprüchen einerseits und vergewohnheitlichten Nichtlesern von Büchern im Zehn-Klassen-Schulabschluß zu liegen (ähnlich den mittleren Bildungsabschlüssen in der Bundesrepublik). Dietrich Löfflers Deutung dieses zentralen empirischen Befunds der Rolle der „für die DDR grundlegenden Form der Allgemeinbildung" als „deutlichstem Einschnitt" geht jedoch weiter. Er sieht ein allgemeines „Beziehungsgefüge“ von . Allgemeinbildung, einem Komplex von Allgemeinwissen, Gesellschafts-und Lebenserfahrung und beruflicher Qualifikation", das Leseverhalten und Lektüreinteressen bestimmt und dessen „Einfluß auf das Leseverhalten in allen Gruppen nachgewiesen werden (kann)" Und weiter führt er aus: . Allgemeinbildung, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe nach der Tätigkeit und das Alter sind demnach die entscheidenden allgemeinsten Faktoren, die sich auf das Lesen — nicht nur dem Umfange nach, sondern auch in den Interessen — auswirken. Ihr Zusammenwirken wurde schon angedeutet — sie bilden gemeinsam ein soziales Beziehungsgefüge, das für das Lesen (von schöner Literatur) determinierend wirkt."
IV. Literarische und Lektüreinteressen
Abbildung 4
Nikolai Ostrowski Bruno Apitz Michail Scholochow Erik Neutsch Dieter Noll Emile Zola Konstantin Simonow Marcus Clarke Günter Hof 6 Jack London Anna Seghers Ruth Werner Hans Fallada Leo Tolstoi Karl May Stanislaw Lem Helmut Sakowski Ehm Welk J. W. Goethe Lion Feuchtwanger Anton Makarenkow Harry Thürk Jules Verne Ludwig Renn Olaf Gulbransson Fjodor Dostojewski andere Autoren Märchen 21 14 14 12 10 .
Nikolai Ostrowski Bruno Apitz Michail Scholochow Erik Neutsch Dieter Noll Emile Zola Konstantin Simonow Marcus Clarke Günter Hof 6 Jack London Anna Seghers Ruth Werner Hans Fallada Leo Tolstoi Karl May Stanislaw Lem Helmut Sakowski Ehm Welk J. W. Goethe Lion Feuchtwanger Anton Makarenkow Harry Thürk Jules Verne Ludwig Renn Olaf Gulbransson Fjodor Dostojewski andere Autoren Märchen 21 14 14 12 10 .
Da in keiner Gesellschaft Leseverhalten und Lektüreinteressen sich selbst setzende autonome Gebilde sind, geht es auch bei ihrer empirischen Analyse und allen Deutungsversuchen um gesellschaftlich bezogene und vermittelte soziale Tatbestände. In der DDR wird dieser Komplex der gesellschaftlichen Literaturverhältnisse von Manfred Naumann u. a. (Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR) als „gesellschaftliche Rezeptionsweise" bezeichnet. Gemeint ist damit, „daß sich gemäß den objektiven gesellschaftlichen Funktionen, die der Literatur durch die materiellen und ideologischen Verhältnisse in einer Gesellschaftsformation vermittelt sind, bestimmte Denkweisen, Bewertungsnormen gegenüber der überlieferten und der zeitgenössischen Literatur herausbilden". Nach den Erläuterungen der DDR-Literaturwissenschaftler sind diese aufzufassen „als Konkretisierung des Bewußtseins der Gesellschaft, ihrer Klassen, Gruppen, Schichten in bezug auf die mit der Literatur zusammenhängenden Probleme (...): Vorstellungen z. B. davon, was Literatur war, ist, sein soll, bewirken kann, bewirken müßte; wie Werke, Autoren, Strömungen, Schulen, ganze literarische Epochen, die Literaturge-schichte überhaupt zu bewerten, zu interpretieren, zu verstehen sind; welche Werke und Autoren die Leser lesen sollen und welche nicht; Vorstellungen von Normen für die Realisierung der in der literarischen Produktion und Rezeption begründeten Möglichkeiten für eine spezifische Weise der gesellschaftlichen Kommunikation und Bewußtseinsbildung."
In diesem Sinn müßte es auch in der Gesellschaft der Deutschen Demokratischen Republik neben klassen-, Schicht-und gruppenbezogenen Rezeptionsformen von fiktionaler Literatur eine — kulturpolitisch beförderte — vorherrschende gesellschaftliche Rezeptionsweise geben. Sie müßte sich sowohl auf historische als auch auf aktuelle Literatur beziehen und sich in den empirisch ermittelten Lektüreinteressen auffinden und nachweisen lassen.
In diesem Rahmen interessiert jedoch weder das ästhetische Ensemble mit seiner Wert-und Welthaltigkeit noch die zunehmend auch von Wissenschaftlern in der DDR konzeptionell beachtete und empirisch als „gesellschaftliche Kunstkommunikation" aufgearbeitete kommunikationsästhetische Seite der DDR-Literaturverhältnisse. Vielmehr stehen im Mittelpunkt die tatsächliche aktuelle Lektüre und die über die aktuelle Lektüre hinausgehenden und insofern tieferliegenden Lektüreinteressen; d. h. genre-, Stoff-und themenbezogene literarische und Leseoptionen, soweit sie sich auf fiktionale Textsorten beziehen (lassen).
Bei der aktuell (1970 und 1978/79 jeweils als Antwort auf die Frage: „Was für ein Buch lesen Sie jetzt gerade? Geben Sie bitte, wenn möglich, Titel und Autor an!") erkundeten Lektüre spielten — so Dietrich Sommer — „ein, zwei Spitzentitel" eine Rolle, „die zwar durchaus wesentliche Gegenstände eines allgemeinen Lektüreinteresses darstellen, jedoch nicht mit derselben Entschiedenheit und Überzeugungskraft wie andere, weil sie in starkem Maße in verschiedenen Bildungskursen als Pflichtlektüre fungieren oder aus bildungsgeschichtlichen Gründen, aber auch aus Gründen besonders eindrucksvoller Verfilmungen ein so starkes gesellschaftliches Prestige beanspruchen (Apitz, Ostrowski), daß das okkasionelle und aktuelle freie Bedürfnis davon überlagert werden kann"
Trotzdem zeigt sich schon im ersten Vergleich der Befragungsergebnisse 1970 und 1978/79 eine auffällige Konstanz der aktuellen Lesestoffe bei den genannten fiktionalen Werken und ihren Autoren. Als Rangfolge der meistgenannten Autoren — die Titel werden für die Befragung 1978/79 leider nicht mitgeteilt — ergibt sich für den letzten Erhebungszeitraum Ende 1978/Anfang 1979 für die befragten 989 Beschäftigten des Großbetriebs Leuna (Werk „Walter Ulbricht" in Halle), von denen zum Befragungszeitraum 465 „Belletristik" lasen, folgendes Bild: Die dem gleichen Personenkreis vorgelegte Frage: „Gibt es Bücher, die Sie für sich persönlich als besonders wichtig empfinden oder die für Ihr persönliches Leben in irgendeiner Weise bedeutsam geworden sind? Wenn ja, geben Sie uns bitte Titel und Autor an!" zielte tiefer, nämlich auf die „Bedeutsamkeit der Belletristik für die Persönlichkeitsentwicklung" der befragten Arbeiter und Angestellten. Die Antworten ergaben ein Bild, das in seinem Kern mit den entsprechenden Antworten bei der Repräsentativumfrage der gleichen Forschergruppe in den beiden Bezirken Halle und Leipzig übereinstimmt und wiederum auf eine relative Konstanz fiktionaler Lektürestoffe verweist.
In einer gegen den Literaturtheoretiker Georg Lukäcs gerichteten Polemik wertet Dietrich Sommer „allein die Tatsache, daß beide Titellisten übereinstimmend 13 Autoren enthalten [... ], die überwiegend der sozialistischen Romanliteratur angehören oder dank ihrer ausgeprägt sozialkritisch-antibourgeoisen Gehalte auf verschiedene Weise sozialistische Einstellungen zu bestätigen oder zu differenzieren vermögen" als direktes „Ergeb-, nis sozialistischer Gesellschafts-, Bildungsund Kulturpolitik“
Diese Deutung trifft allerdings sicherlich nicht auf Alexandre Dumas (unter diesem Namen wurden im 19. Jahrhundert zahlreiche Abenteuerromane publiziert) zu. Dabei wurde Dumas 1978/79 immerhin von Leuna-Arbeitern und -Angestellten als aktuell meistgelesener Schriftsteller genannt. Auch hier ist eine partielle Stetigkeit dieser speziellen Lektürepräferenzen und Leseinteressen festzustellen, denn bereits 1970 wurde Dumas sowohl mit den Romanen „Die drei Musketiere“ und „Der Graf von Monte Christo" bei den meistgelesenen Büchern als auch — immerhin auf dem sechsten Rangplatz — bei den „bevorzugten Autoren" genannt
Ähnliches dürfte für die Nennung von Karl May bei den „bevorzugten Autoren" 1978/79 gelten, denn auch wenn — so Achim Walter von der Hallenser Forschergruppe in seinem Kommentar — „ 62, 5 Prozent der Nennungen" als Hinweise auf „sozialistisch-realistische Autoren“ gewertet werden mögen bleibt doch der Tatbestand beeindruckender oder persönlichkeitsbeeinflussender Autoren und Werke, deren „realer Erkenntniswert [... ] sehr gering ist“
Die damit deutlich werdende Widersprüchlichkeit und Ambivalenz von Lesestoffen und Lektüreinteressen, die — nicht zuletzt — auch Sommers These von der unmittelbaren Wirksamkeit der Politik in der DDR relativieren muß, drückt sich stärker noch als in den autoren-und titelbezogenen Antworten in den nach Stoff-und Themenkomplexen sortierten Lektüreinteressen aus.
So ergibt sich 1978/79 eine „höhere Wertschätzung der historischen Romane durch die Leuna-Population" — in diese Rubrik dürften die genannten Dumas-Romane fallen —, „aber auch die der Abenteuerromane sowie der Memoiren und Lebenserinnerungen bzw. die schlechtere Einordnung der Reise-, Kriminalund Gegenwartsliteratur" -In den Haupttendenzen jedoch gelten diese themen-und stoff-bestimmten Lesepräferenzen und Lektüreinteressen auch für die Leuna-Beschäftigten Ende der siebziger Jahre. Bemerkenswert ist dabei einmal die Vorrangigkeit von spannend-entspannenden Lesestoffen, die nicht selten von der DDR-Gegenwart wegführen und die — so Sommer — durch „Überschaubarkeit und Durchschaubarkeit menschlich-gesellschaftlicher Beziehungen sowie einer erkennbaren Ordnung in den Raum-, Zeit-und Handlungsstrukturen" in den literarischen Konstruktionen bestimmt sind. Zum anderen ist aber auch (abgesehen von der Rubrik „Kinderliteratur", die denn auch 1978/79 nicht mehr abgefragt wurde) „sozialistische Gegenwartsliteratur" der am wenigsten von Arbeitern und Angestellten in der DDR und ihren Großbetrieben bevorzugte Lektüre-stoff. Seine Propagierung steht zwar nach wie vor im Zentrum staatlich-parteilicher kunst-, literatur-und bildungspolitischer Bemühungen, wird aber von etwa zwei Drittel der industriell Beschäftigten mehr oder weniger offen abgelehnt. Diese Tendenz, die gleichsam die andere Seite der Bevorzugung von gegenwartsabgewandten Lektürestoffen ist, blieb in den siebziger Jahren stetig.
Dieser Tatbestand weist sicherlich auf das lektürebezogene „Fluchtmotiv" als wesentliches und unleugbares Lesemotiv von DDR-Bürgern, namentlich der industriell beschäftigten Arbeiter und Angestellten hin. Zugleich ist damit eine wichtige Seite des Verhältnisses von Leben und Lesen und der widersprüchlichen Einheit von Lese-und Lebenserfahrung in der DDR-Gesellschaft angesprochen, die sich im empirischen Befragungsmaterial selbst spiegelt, von dem nicht anzunehmen ist, daß entscheidende Teile der Befragten nach dem Muster der sozialen Erwünschtheit antworteten.
Die verschiedenen Seiten des Widerspruchs zwischen Leseverhalten und Lektüreinteressen einerseits und zum anderen innerhalb des gewiß breiten Spektrums der Lektüreinteressen müssen folglich, soweit möglich, aufgeklärt werden. Dabei erscheint eine Auseinandersetzung mit den Deutungen der Hallenser Forschergruppe nötig.
V. Zum Verhältnis von Lese-und Lebenserfahrung
Zwar hat die Germanistik in der DDR bis heute noch keine Theorie der Unterhaltungsliteratur — genauer: der „einfachen Unterhaltung" (Bertolt Brecht) mittels fiktionaler Text-und Lektüresorten — vorgelegt. Aber die sich in unterhaltungsliterarischen Genres ausdrückenden Bedürfnisse, Lesemotivationen und Lektüreinteressen sind inzwischen in der DDR zumindest bei einigen avancierten Germanisten — etwa in Dieter Schlenstedts engagiertem Plädoyer für literaturgesellschaftliche Entwicklungen — als empi-risch vorhanden registriert worden und scheinen zunehmend auch als berechtigt akzeptiert zu werden
Trotzdem tendieren nicht wenige DDR-Forscher dazu, aus der Not eine Tugend zu machen. So löst etwa Dietrich Löffler von der Hallenser Forschergruppe die empirisch vorhandene Dominanz von aktionsbezogenen, spannungs-und abenteuerreichen Lektürebedürfnissen, die primär auf unterhaltsame literarische Genres bezogen sind, sehr rasch in die soziale Lage von Arbeitern in der DDR auf und bemerkt dabei nicht, daß die von ihm hervorgehobene „Bevorzugung von Bildungs-, Entwicklungs-und Gesellschaftsromanen" durch Angehörige der DDR-Sozialschicht „Intelligenz" wiederum auf einen tiefliegenden Widerspruch — nämlich den zwischen überwiegender körperlicher versus überwiegender geistiger Arbeit — verweist.
Die Ambivalenz von Unterhaltungsliteratur und der ihr unterliegenden Leserbedürfnisstruktur ist zwar in der DDR literatursoziologisch wohl bekannt, aber nach wie vor weitgehend unverstanden. Wohl haben die Hallenser Literatursoziologen um Dietrich Sommer 1970 in ihrer ersten Befragung in den Bezirken Halle und Leipzig auch nach einem von ihnen als „Entlastungsmotiv" bezeichneten Antriebsbündel gefragt („Ich lese, weil ich dabei den Alltag vergessen will") und durchaus zugegeben, daß dieses Fluchtmotiv (Robert Escarpit) in der DDR eher „negative, wenn nicht gar feindliche Einstellung zur sozialistischen Gesellschaft" und „Flucht aus dem sozialistischen Alltag heißen würde" Und Achim Walter bemerkt folgerichtig, daß „Rezipienten, bei denen dieses Motiv dominiert, sozialistische Literatur weitgehend ablehnen, insonderheit solche, die ausgesprochene Gegenwartsstoffe bzw. -themen behandelt" Aber anstatt ihr Befragungsmaterial auch durch diese Überlegungen zu strukturieren und nach dem bekannten Morgenstern’schen Motto, „daß nicht sein kann was nicht sein darf", haben die Hallenser Literatursoziologen gefolgert, daß es in der DDR kein literarisches Fluchtmotiv und entsprechende Leseantriebe, Lektürebedürfnisse und -interessen gibt. Insofern muß ihnen auch die in beiden Befragungen deutlich gewordene breite Ablehnung gerade „sozialistischer Gegenwartsliteratur" bei Arbeitern und Angestellten in großindustriellen Zentren letztlich unerklärbar bleiben.
Entsprechend gilt dieses Lektüremotiv, das gewiß nur selten empirisch in reiner Form auftritt und insofern auch von anderen Antriebsrichtungen überlappt werden kann, als zwar ambivalentes, aber letztlich zumindest verdeckt-funktionales „Entlastungsmotiv": „Das momentane . Aussteigen'aus dem Alltag" — so Walter verallgemeinernd — „enthält [... ] gleichzeitig Reproduktionsmöglichkeiten für den Alltag, bereichert das individuell-gesellschaftliche Selbstverständnis und führt aus der temporären . Unterbrechung 1 unweigerlich zum Gesellschaftlichen zurück.
Das jedoch bedeutet, daß das idealtypisch zunächst bei der Befragung 1970 als kulturelle Depravierung festgemachte Ablenkungsund Fluchtsyndrom in der DDR-Gesellschaft viel allgemeiner ausgeprägt und von DDR-Wissenschaftlern in seiner gesellschaftlichen Funktionalität erkannt ist. Unterbrechung der Monotonie und Alltagssicherheit auch des DDR-Alltags mittels von ihm wegführender Lektüren wird nicht mehr kategorisch verdammt, denn der „stumme Zwang" (Marx) gegebener gesellschaftlicher Verhältnisse mag schon dafür sorgen, daß es sich nur um ein zeitweiliges — zudem ideelles — . Aussteigen" aus dem DDR-Alltag, seinen Routinen, Monotonien und Zwängen handelt — auch dann, wenn es um ein auch in anderen Gesellschaften gleichermaßen ausgeprägtes Fluchtmotiv geht.
Die Koppelung von Fluchtmotiven und Depravation durch Dietrich Sommer u. a. ist jedoch in jedem Fall wissenschaftlich unzureichend, lenkt sie doch den analytischen Blick weg von einer vorhandenen Literatur und den „Thatsachen, welche ihre Existenz nöthig machen" So gesehen, fallen die Deutungen der Hallenser Literatursoziologen noch hinter bürgerliche Aufklärung und deren Literatur-wissenschaft zurück. In ihrer letzten Untersuchung versuchte die Hallenser Arbeitsgruppe in Form von „Intensivgesprächen mit Lesern über Gelesenes“ — Teilnehmer waren nicht näher bezeichnete „Werktätige einer Maschinenfabrik in Halle und einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft im Kreis Querfurth" — mehr über Lektürewirkung einerseits und das Moment der Ablehnung und Nichtakzeptanz von „sozialistischer Gegenwartsliteratur“ der DDR andererseits zu erfahren. In diesem Zusammenhang erkannte Dietrich Sommer „die Präponderanz des Lebens gegenüber der Litaratur" Sie rufe denn letztlich auch die — quantitativ nicht mitgeteilten — Bedenken gegen die diskutierte „sozialistische Gegenwartsliteratur" hervor (diskutiert wurde über eine Erzählung Erik Neutschts, die zumindest räumlich den Befragten nahegelegen haben dürfte „Es ist aufschlußreich, daß Vorbehalte gegenüber der Erzählung stets dadurch gekennzeichnet sind, daß vergleichbare (nicht unbedingt gleichartige!) Lebens-und Wirklichkeitserfahrungen nicht betroffen wurden, sei es, daß die Erlebnisgrundlage fehlte, sei es, daß andersartige persönliche Verallgemeinerungen von ähnlich gelagerten Fällen den Genuß an der Darbietung und teilweise auch an der Erzählerwertung beeinträchtigen konnten. Als Gründe dafür, daß die Erzählung im großen und ganzen nur teilweise, nicht besonders gut, wenig oder gar nicht gefallen habe, wurden angegeben: Es wirkt alles . übertrieben'oder ein wenig . verworfen', wie die Probleme dargestellt werden; Durchführung und Lösung der Konflikte seien zu . einfach', zu . offensichtlich', zu . vordergründig', die Figuren zu typisch'angelegt; alles sei zu viel mit Arbeit'belastet, man wolle . echte'Geschichten lesen, in die Figuren wird zu viel hineingepackt'.“
Das im Zitat berichtete Bedürfnis nach „echten" Geschichten zeigt allerdings in aller Anschaulichkeit nichts anderes als ein Entlastungs-und Fluchtmotiv der „Werktätigen“, dem — hier kann sicherlich verallgemeinert werden — durch vorwiegend didaktisch angelegte, typisierte und relativ spannungslose Geschichten „sozialistischer Gegenwartsliteratur" nichts entgegenzusetzen ist — zumal, wenn darin das Syndrom Arbeit aufscheint und die fiktional gebotenen Konfliktlösungsmöglichkeiten oberhalb der alltäglich erfahrenen Lebenspraxis der Leser angesiedelt sind. Als ein erfolgreiches Beispiel populärer „sozialistischer Gegenwartsliteratur" führt Dieter Schlenstedt vom Zentralinstitut für Literatur-geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR hingegen Hermann Kants Mitte der sechziger Jahre publizierten Roman „Die Aula" an Hier handelte es sich um das „Erzählen ernster und heiterer Geschichten" und um den „Versuch, historisches Selbstbewußtsein in vergnüglicher Weise anzuregen (für welchen Doppelansatz das Komische zeugt) durch Einführung einer Kommentarebene, die das Reflektieren ermöglicht und ästhetisches Denken alltagsnah und in Bewegung zeigt, in dem Geschichte neu befragt wird" innerhalb des Spektrums „sozialistischer Gegenwartsliteratur" der DDR.
Insofern konnten — so Schlenstedt weiter — Autor und Roman wohl „auch einen Lernprozeß in Gang setzen: Die Aula wurde mit einer Auflagenhöhe von etwa 800 000 in Breite und Tiefe der Wirkung zu einem der größten Erfolge unserer Literatur"
VI. Schlußbetrachtung
Allen beeindruckenden Daten über das „Leseland" Deutsche Demokratische Republik zum Trotz gibt es offensichtlich auch in der DDR„Literaturgesellschaft" zumindest in weiten Teilen gleichgültige und indifferente Leseantriebe und Lektüreausrichtungen gegenüber der „sozialistischen Gegenwartsliteratur". Sie korrespondieren formal mit vergleichbaren unterhaltungsliterarischen Bedürfnissen westlicher Gesellschaften — nicht zuletzt der bundesrepublikanischen —, bedeuten aber nicht notwendig eine literarische Flucht in den Westen, sondern zunächst nur Distanzfen) gegenüber dem DDR-Alltag und seiner literarischen Verdoppelung.
Daß diese Bedürfnisse sich in besonderen Lektüreinteressen, Lesestoffen, Genres und Themen ausdrücken, ist inzwischen auch mittels literatursoziologischer Forschungen in der DDR empirisch belegt und unbestreitbar. Ebenso dürfte erkannt sein, daß diese Bedürfnislagen, zumal wenn sie als grundsätzlich legitim erachtet und anerkannt werden, gewiß nicht durch irgendwelche kunst-und literaturpropagandistischen Kampagnen neutralisiert, funktionalisiert und umgelenkt werden können. Zugleich scheinen sowohl im tatsächlichen, aktuellen Leseverhalten als auch in den tieferliegenden Leseantrieben, Lektüreinteressen, themen-und genrebezogenen Lese-stoffen Momente einer verborgenen Gesellschaft auf. Sie mögen als werthafter gesellschaftlicher „Kontrapunkt oder auch als spurenhafte Elemente historisch älteren volkstümlichen Drangs nach eigenem, vitalen Ausdruck gesehen werden — verweisen aber in jedem Fall auf die ungelöste „Wechselwirkung [... ] zwischen dem fertig Gestalteten und dem Suchen nach eigenem Ausdruck"
Leseverhalten und Lektüreinteressen in der DDR der siebziger Jahre veranschaulichen aber auch das vorhandene Ausmaß gesellschaftlicher Differenzierung. Die breit und nicht zuletzt im Lager der „unmittelbaren Produzenten" (Marx) vorhandenen Leseinteressen und Lektürebedürfnisse verweisen, auch in ihrer offensichtlichen Gleichgültigkeit und Indifferenz gegenüber „sozialistischer Gegenwartsliteratur", damit durchaus auf die „Vitalität der Bedürfnisse" Deren ideeller Ausdruck ist, sicherlich nicht zufällig im „Leseland" DDR, jene Spannungs-und Entspannungsliteratur als Ausdruck von Entlastungs-, Flucht-und Verweigerungstendenzen gegenüber dem DDR-Alltag seiner relativen Sicherheit, aber auch der mit ihr notwendig einhergehenden Statik und Monotonie. Diesem steht der noch immer vorhandene „Hunger nach Unmittelbarkeit“ (Siegfried Kracauer) in Form erkennbarer Lektüreinteressen und Lesemotive drängend und in seiner zunächst immer gegebenen Ambivalenz gegenüber.
Die Untersuchung von Leseverhalten, Lektüreinteressen und Leseerfahrung in der DDR zeigt aber noch einen weiteren Aspekt: Jene Autoren und Werke der DDR, die in der Bundesrepublik als die DDR-Literatur diskutiert werden sind in der DDR Lesestoffe einer Minderheit. Christa Wolfs „Kein Ort. Nirgends" ist — hüben wie drüben — ebensowenig ein den Lektüreinteressen der Vielen entgegenkommender Lesestoff wie ihre „Kassandra". Was man auf beiden Seiten bedauern mag — aber doch zumindest drüben wie hüben kenntnishaft registrieren könnte.
Richard Albrecht, Dr. phil., geb. 1945; Autor und Kulturwissenschaftler, z. Z. Stipendiat der VW-Stiftung. Letzte Buchveröffentlichung: Erkundungen — Texte aus dem Revier (Hrsg.), 1983.
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