Der große Wahlerfolg des jungen Premierministers Rajiv Gandhi-prägt die gegenwärtige politische Situation Indiens. Gerade sein Mangel an politischer Erfahrung und die Tatsache, daß er dieses hohe Amt nicht anstrebte, verheißen einen Neubeginn. Rajiv Gandhi verweist auf die große Tradition seiner Partei, die in diesem Jahr ihr hundertstes Jubiläum feiert. Doch als Staatspartei hat sich dieser indische Nationalkongreß im Laufe der Geschichte mehrfach bedeutsam gewandelt. Rajiv Gandhi muß diese Partei abermals umgestalten, um neuen Aufgaben gerecht zu werden. Eine der wichtigsten Aufgaben für Staat und Partei ist die Schaffung eines echten Föderalismus. Der imperiale Föderalismus, den die Briten in Indien einführten, befindet sich derzeit in einer Krise. Der Säkularismus, das zweite grundlegende Prinzip der indischen Verfassung, wird jetzt ebenfalls auf eine harte Probe gestellt. Militante Sikhs verlangen für ihre Religionsgemeinschaft einen autonomen Staat und fordern damit Föderalismus und Säkularismus heraus. Rajiv Gandhi muß sich dieser Herausforderung stellen und im Rahmen der indischen Verfassung eine zukunftsweisende Kompromißlösung finden, ökonomische und fiskalische Zugeständnisse könnten helfen, die Kompromißbereitschaft der Herausforderer zu fördern. Indiens wirtschaftliches Wachstum ist zur Zeit unter den gegebenen Bedingungen recht beachtlich, problematisch bleibt freilich die Verteilung: Etwa ein Zehntel der Bevölkerung (mit 70 Millionen ein großer Markt) hat ein gutes oder zumindest ausreichendes Einkommen, die große Masse jedoch verharrt in der Subsistenzwirtschaft oder gar am Rande eines schwer definierbaren Existenzminimums.
I. Rajiv Gandhis Indien
Neue Hoffnungen auf eine bessere Zukunft sind in Indien entstanden, seit Rajiv Gandhi die Regierung übernommen hat Dies gilt nicht erst für die Zeit nach seinem großen Wahlerfolg, sondern schon für die Wochen davor. Der Wahlerfolg war bereits ein Ausdruck der neuen Stimmung, die einen großen Teil der Wähler erfaßt hatte. Die Lage der Opposition war unter diesen Umständen im doppelten Sinne hoffnungslos. Sie konnte den Wählern keinen Neubeginn bieten, wie er sich doch so augenfällig mit dem Namen des jungen Premierministers verband. Die Tatsache, daß Rajiv Gandhi kaum politische Erfahrung hat, war in diesem Zusammenhang für ihn von Nutzen und sprach nicht gegen ihn.
Die Politik war im vergangenen Jahrzehnt in Indien in Verruf geraten. Nach dem Notstandsregime Indira Gandhis versprach die aus den Wahlen von 1977 hervorgegangene Regierung der Janata Partei unter Morarji Desai zunächst eine Besserung. Doch der betagte Premierminister war keine Integrationsfigur, sondern nur ein gewissenhafter Sachwalter seines hohen Amtes. Ohne bedeutende eigene Hausmacht und ohne Geschick für die Bewältigung von Rivalitäten und Flügelkämpfen in der Regierungspartei mußte er schließlich zurücktreten. Die Minderheitsregierung seines alten Rivalen Charan Singh, die der Präsident einsetzte, obwohl er eigentlich Neuwahlen hätte anberaumen müssen, zeigte dann alle Schwächen, die eine Regierung solcher Art hat. So konnte Indira Gandhi in den Wahlen von 1980 rasch die Macht zurückgewinnen. Doch ihre zweite Amtszeit war innenpolitisch glücklos und von schweren Konflikten gekennzeichnet. Zwar hütete sie sich davor, wieder ein Notstandsregime zu errichten, aber ihr Bestreben, Landesregierungen zu beseitigen, die nicht ihrer Partei angehörten, und Oppositionsparteien zu unterminieren, stürzte Indien in eine Krise und kostete sie selbst das Leben. Der politische Alltag war auf diese Weise von Frustration und Intrigen erfüllt. Politische Erfahrung konnte so gesehen nur eine schlechte Erfahrung sein, je weniger Rajiv Gandhi davon hatte, um so besser für ihn.
Noch ein weiteres Paradoxon kam dem jungen Premierminister zugute: Er hatte sein hohes Amt nicht angestrebt, sondern es war ihm geradezu wider Willen zugefallen. Zuerst hatte er nach dem Unfalltod seines jüngeren Bruders Sanjay nur ungern seinen Beruf als Flugpilot aufgegeben, um seiner Mutter bei der politischen Tagesarbeit zu helfen. Dann war ihm nach ihrem raschen Tod plötzlich ihr Amt zuteil geworden, das der Präsident in dieser Krise keinem anderen anvertrauen wollte. In Indien aber gilt jemand, der etwas erwirbt, ohne es zu begehren, als besonders achtenswert. Man vergleicht ihn mit dem Asketen, der auf alles verzichtet, was er hat, mittellos fortwandert und nur noch von milden Gaben lebt. Das Nichtbegehren, das dem normalen Menschen so schwer fällt, gilt gerade deshalb als eine besonders wertvolle Charaktereigenschaft. Nach einem Jahrzehnt rücksichtslosen Machtstrebens umgibt daher einen Premierminister, der es nicht werden wollte, fast schon ein Heiligenschein.
Rajiv Gandhi ist aus den genannten Gründen zur Zeit geradezu unersetzbar. Das birgt natürlich große Gefahren in sich. Ganz unmittelbar ist die Gefahr einer großen Erschütterung, wenn ihn das gleiche Schicksal ereilen sollte wie seine Mutter. Die Fanatiker, die ihre Ermordung planten, haben auch ihm Rache geschworen, und man kann nur hoffen, daß Indien die schrecklichen Folgen eines zweiten politischen Mordes dieser Art erspart bleiben. Die Hoffnungen, die sich gerade jetzt an die Person Rajiv Gandhis knüpfen, würden dann in verzweifelte Wut umschlagen, die sich nur schwer zügeln ließe. Es wäre dann vielleicht unumgänglich, daß die Armee die Macht übernähme. Wenn dies aber erst einmal geschieht — so zeigt die Erfahrung der Nachbarländer —, dann ist es sehr schwer, je wieder eine demokratische Regierung zu bilden. Andererseits ist Indien — im Unterschied zu den Nachbarländern — ein so großes und vielfältiges Land, daß es von einem Militärregime kaum für längere Zeit regiert werden kann. Aber nicht nur die unmittelbare Gefahr eines Attentats ist bedrohlich, auch die schleichende Gefahr einer Auszehrung der Hoffnungen, die sich an den Namen Rajiv Gandhis knüpfen, ist beängstigend genug. Dabei stehen ihm große Aufgaben bevor, die er in kürzester Zeit meistern muß, ohne sich auf eine längere Schonfrist verlassen zu dürfen.
Eine Neugestaltung des indischen Föderalismus und damit auch ein neuer Stil des Umgangs mit regionalen Oppositionsparteien sind dringend erforderlich. Zugleich muß die Kongreßpartei reformiert werden, die zwar gerade aufgrund der besonderen Umstände einen glänzenden Erfolg zu verbuchen hatte, mit der sich aber sonst in letzter Zeit nicht sehr viel Staat machen ließ, während sie doch dereinst geradezu eine Staatspartei gewesen war. In seiner ersten Regierungserklärung nach der Wahl hat Rajiv Gandhi ausdrücklich auf die Geschichte des Nationalkongresses verwiesen, der in diesem Jahr sein hundertstes Jubiläum feiert. Doch der Hinweis auf das Erbe genügt nicht. Der Kongreß hat sich seit 1885 mehrfach gründlich gewandelt Dabei waren die jüngsten Wandlungen nicht unbedingt zu seinem Vorteil, und es gilt nun, durch weiteren Wandel die politische Initiative wiederzugewinnen, die Rajiv Gandhis Indien dringend braucht. •
II. Hundert Jahre Nationalkongreß: Eine Staatspartei im Wandel
Als der indische Nationalkongreß im Dezember 1885 in Bombay gegründet wurde, war er alles andere als eine Staatspartei. Gebildete Honoratioren aus allen Teilen Britisch-Indiens hatten sich damals zusammengefupden, um ein nationales Forum zu schaffen, in dem in wohlgesetzten Worten verfaßte Resolutionen verabschiedet wurden. Immerhin enthielt bereits eine der ersten dieser Resolutionen eine entschiedene Absage an den britischen Imperialismus und eine Verurteilung der damaligen Annexion Ober-Birmas. Als den Kolonialherren die Resolutionen dieses Honoratiorenkongresses zu kritisch wurden, sprachen sie von einer „mikroskopischen Minderheit", die sich anmaße, eine Nation zu vertreten, die es nach der Ansicht der Kolonialherren gar nicht gab. Unter der jüngeren Generation der indischen Nationalisten, die statt Resolutionen Taten sehen wollte, kam dann der Terrorismus auf. Der Kongreß spaltete sich in „Gemäßigte" und „Extremisten". Die „Gemäßigten" behielten die Organisation in der Hand und führten 1908 eine neue Delegiertenverfassung ein, die verhüten sollte, daß die Jahresversammlung des Kongresses von einer Mehrheit rasch herbeigereister Extremisten beherrscht wurde. Dieses Delegiertengremium, genannt All-India Congress Committee (AICC), ist noch heute das wichtigste beschlußfassende Organ der Kongreßpartei.
Als Mahatma Gandhi 1920 die Führung des Kongresses übernahm, sorgte er dafür, daß die soziale Basis der Organisation durch Delegierte aus den ländlichen Gebieten erweitert wurde, ferner schuf er einen Arbeitsausschuß (Working Committee), der die Agitationen des Freiheitskampfes leitete und als eine Art Kabinett des Kongreßpräsidenten fungierte, der nach wie vor auf jedem Jahreskongreß neu gewählt wurde, aber nun ständig amtierte und nicht nur den zeremoniellen Vorsitz bei der Jahresversammlung führte. In zwei großen Revisionen des Parteistatuts von 1920 und 1934 legte Gandhi die Struktur des Nationalkongresses selbst fest. Dabei betrachtete er den Kongreß als nationales Forum und nicht als Partei; das Statut des Kongresses war für ihn zugleich das Modell für eine künftige indische Verfassung. Die Verfassungsstruktur wurde aber inzwischen durch die britisch-indischen Verfassungsreformen bestimmt, in deren Rahmen der Nationalkongreß nicht umhin konnte, sich als Partei an Wahlen zu beteiligen, Provinzregierungen zu bilden etc.
Sobald Indien die Unabhängigkeit gewährt wurde, meinte Gandhi, man solle nun den Kongreß auflösen und normale politische Parteien verschiedener Richtungen bilden. Aber die Kongreßorganisation, die Gandhi selbst so gut aufgebaut hatte, konnte sich gar nicht der Aufgabe entziehen, die staatstragende Partei zu werden. Damit wurde sie aber auch zu einer staatsgetragenen Partei, die, solange Jawaharlal Nehru lebte, praktisch mit dem von ihm geführten und geprägten Staatswesen identifiziert wurde. Die Kongreßpartei war nicht nur auf der Bundesebene kontinuierlich an der Macht, sondern mit wenigen Ausnahmen auch in allen Bundesländern. Der stark zentralistisch konzipierte indische Föderalismus — ein Erbe der britisch-indischen Verfassungsreformen — wurde durch diese Allgegenwart der Kongreßpartei gestützt. Es kam hinzu, daß Bundestags-und Landtagswahlen immer gleichzeitig abgehalten wurden und daß das geltende Mehrheitswahl-B recht die Kongreßpartei begünstigte und die stets gespaltene Opposition reduzierte.
Als sich Indira Gandhi 1967, nur ein Jahr nach Beginn ihrer Amtszeit, einer Wahl stellen mußte, verlief diese nicht mehr so günstig wie die von 1962, als ihr Vater Jawaharlal Nehru noch lebte. Indira Gandhi galt damals noch als schwache Kompromißkandidatin, die ihr Amt nur der Tatsache zu verdanken hatte, daß man es Morarji Desai nicht gönnte, der allzusehr davon überzeugt war, daß kein anderer als er für den Posten des Premierministers geeignet sei. Die Kongreßpartei verlor in den Wahlen von 1967 in mehreren Bundesländern die Mehrheit und konnte sie im Bundesparlament nur knapp behaupten. Bald darauf ergriff Indira Gandhi die Initiative, spaltete die Kongreßpartei und entledigte sich der alten Garde, der sie als Kompromißkandidatin gedient hatte. Dann zog sie die Bundestagswahlen um ein Jahr vor und koppelte sie damit von den Landtagswahlen ab. Die Bundestagswahl wurde auf diese Weise zu einem nationalen Plebiszit, das ihr 1971 einen glänzenden Wahlerfolg eintrug. Auf diese Weise bestätigt, ging sie daran, die Landesregierungen zu unterminieren, die nicht ihrer Partei angehörten. Sie rechtfertigte dieses Vorgehen mit dem Argument, ihr großer Wahlerfolg habe ja gezeigt, daß diese Landesregierungen nicht mehr das Vertrauen der Wähler hätten. Die Entscheidung, einerseits die Bundestagswahl von den Landtagswahlen abzukoppeln, andererseits aber aus dem Ausgang der Bundestagswahl Konsequenzen für die Politik auf der Länderebene abzuleiten, prägt bis heute die politische Landschaft Indiens auf sehr unglückliche Weise. So geschah es denn auch, daß gleich nach dem großen Wahlerfolg Rajiv Gandhis der der Janata Partei angehörende Ministerpräsident des Bundeslandes Karnataka mitsamt seiner Regierung zurücktrat, weil selbst in diesem Bundesland nur ganz wenige Abgeordnete seiner Partei ein Bundestagsmandat erringen konnten. Es ergibt sich auf diese Weise wieder eine Ankopplung der Landtagswahlen an die Bundestagswahlen. Ein echter Föderalismus verlangt aber, daß politische Prioritäten und damit auch Parteipräferenzen auf Bundes-und Landesebene durchaus verschieden sein können. Die Machtkämpfe der jüngsten Zeit und der dadurch bedingte Wandel der Kongreßpartei haben aber gerade diese Einsicht nicht aufkommen lassen.
Der Stil dieser Machtkämpfe und damit auch das Schicksal der Kongreßpartei sind entscheidend von Indira Gandhi bestimmt worden, die mit ihrer plebiszitären Wahlkampf-strategie und ihrem Verzicht auf konstruktive Parteiarbeit dem Nationalkongreß zwar einige äußere Erfolge, dabei aber einen inneren Verfall beschert hat. Als Indira Gandhi 1977 die Bundestagswahl verlor, zerfiel bald darauf ihre Kongreßpartei nahezu völlig. Die Oppositionsparteien, die übrigens viele ehemalige Kongreßpolitiker in ihren Reihen hatten, gewannen 1977 die Wahlen, weil sie zum ersten und einzigen Mal die Lehre beherzigten, daß beim Mehrheitswahlrecht in jedem Wahlkreis nur ein Gegenkandidat gegen den Kandidaten der herrschenden Partei antreten darf, weil die Spaltung der Opposition unweigerlich zum Sieg der Regierungspartei führt.
Die Tatsache, daß die Kongreßpartei nach ihrer Niederlage praktisch erledigt war und von Indira Gandhi sogar noch weiter gespalten wurde, ließ die Janata Partei, zu der sich die früheren Oppositionsparteien zusammengefunden hatten, diese Lehre aber bald wieder vergessen. Der alte Hader setzte erneut ein, und als Indira Gandhi 1980 in den Wahlkampf zog, war die Front ihrer Gegner bereits wieder gespalten. Das verhalf ihr zu einem überraschenden Sieg. Nun hatte sie diesen Sieg aber nicht der Kongreßpartei zu verdanken, sondern hauptsächlich ihrem eigenen unermüdlichen Einsatz und der Dummheit ihrer Gegner. Deshalb war die Kongreßpartei, die sich nach ihrem Sieg wieder wie ein Phönix aus der Asche erhob, im wesentlichen ein Produkt ihrer willkürlichen Personalpolitik, die von ihrem Sohn Sanjay mitbestimmt wurde, bis er im Sommer 1980 mit seinem Sportflugzeug abstürzte.
Sanjay Gandhi hatte eine ganze Reihe äußerst fragwürdiger Politiker für die Kongreßpartei rekrutiert, derer sich Rajiv Gandhi erst wieder mit großer Mühe entledigen mußte. Manche dieser Leute arbeiteten mehr nach Art der Mafia als im Stile Mahatma Gandhis und Jawaharlal Nehrus. Wäre die Kongreßpartei schließlich ganz in die Hände solcher Leute geraten, so hätte man sie zu ihrem hundertsten Geburtstag in der Tat kaum wiedererkennen können. Indira Gandhi, die ihren Sohn Sanjay nicht nur liebte, sondern geradezu bewunderte, akzeptierte seine politischen Freunde ohne große Bedenken. Sie hielt nichts von Schmeichelei, konnte aber Kritik schlecht vertragen und verlangte absolute Gefolgschaftstreue, und die konnte Sanjay bei seinen politischen Freunden auf seine Weise durchsetzen. Der Nationalkongreß wäre nach diesem Muster zu einer Kaderpartei geworden, deren Kader aber nicht durch eine gemeinsame Idee, sondern nur durch das gemeinsame Machtstreben zusammengehalten worden wären.
Um so bedeutsamer ist es, daß mit Rajiv Gandhi ein Mann an die Spitze der Kongreßpartei getreten ist, der von diesem Machtstreben frei ist. Freilich muß er sich nun andere Methoden ausdenken, um seine Gefolgschaft zu motivieren und zusammenzuhalten. Eine wesentliche Aufgabe wird es dabei sein, die Verbände der Kongreßpartei in den Bundesländern wieder zu eigenen Initiativen anzuregen, damit sie Profil gewinnen und sich nicht nur als Handlanger der Zentrale gebärden, deren politische Karriere allein davon abhängt, ob sie in New Delhi einen Stein im Brett haben. Indira Gandhi sorgte meist dafür, daß nur ihr treu ergebene Gefolgsleute Ministerpräsidenten wurden, erwartete aber dann von ihnen, daß sie für die Kongreßpartei in ihren Ländern eine breite Basis sicherten. Gerade diese widerspruchsvolle Politik führte dazu, daß regionale Oppositionspolitiker Erfolg hatten, die im Grunde nur dadurch an Profil gewannen, daß sie nicht von Indira Gandhis Gnade abhingen.
Ein besonders charakteristischer Fall dieser Art ist der Aufstieg des Schauspielers Rama Rao in Andhra Pradesh, der mit seiner Partei „Telugu Desam“ (= Telugu-Land, nach der Sprache von Andhra Pradesh, Telugu, genannt) aus der Mißstimmung seiner Landsleute gegenüber der Zentralregierung politisches Kapital schlug und dort Ministerpräsident wurde. Indira Gandhis mißglückter Versuch, ihn absetzen zu lassen, steigerte seine Popularität noch mehr, und jetzt ist seine Partei die einzige größere Oppositionspartei im Bundestag, denn sie wurde auch durch Rajiv Gandhis Siegeszug nicht hinweggefegt. Im Wahlkampf in Andhra Pradesh hat Rajiv Gandhi gesagt, man solle an „Bharat Desam'(= Indien) denken und nicht die Sonderinteressen von „Telugu Desam" betonen. Damit hat er Rama Rao ein Stichwort gegeben, der nun eine nationale Oppositionspartei mit dem Namen „Bharat Desam" gründen will. Ob daraus etwas wird, bleibt abzuwarten. Jedenfalls wird Rajiv Gandhi mit der regionalen Opposition, die Rama Rao repräsentiert, leben müssen. Bei der großen Mehrheit, die er hat, wird ihm das nicht schwerfallen. Vielleicht gelingt es ihm dann auch, den indischen Föderalismus so zu gestalten, daß er die politische Struktur des Landes stärkt.
III. Probleme und Chancen des indischen Föderalismus
Den Föderalismus haben die Briten den Indern aufgeprägt, obwohl sie selber im eigenen Lande keine Erfahrungen mit einer solchen Verfassungsform hatten. Die britische Vorliebe für den Föderalismus ergab sich aus ihrer Strategie der stufenweisen Machtübertragung: Indische Provinzregierungen sollten in ihrem Zuständigkeitsbereich weitgehende Machtvollkommenheit haben, alle wesentlichen Machtbefugnisse blieben aber der Zentralregierung des britischen Vizekönigs Vorbehalten. Dieser hatte zudem die Möglichkeit, auf einen Notstandsparagraphen zurückzugreifen, der es erlaubte, eine Provinzregierung abzusetzen und den britischen Provinz-gouverneur mit seinen Beamten wieder die Regierungsgeschäfte besorgen zu lassen. Diese Notstandsbefugnis ist in der Verfassung des unabhängigen Indien dem Staatspräsidenten gegeben und unter dem Namen „President’s Rule" bekannt geworden. Ein Instrument des britischen Imperialismus wurde auf diese Weise zu einem politischen Hebel, der es der auf Bundesebene regierenden Partei erlaubt, mißliebige Landesregierungen jederzeit aus den Angeln zu heben. Zwar müssen nach der Amtsenthebung einer Landesregierung innerhalb von sechs Monaten Neuwahlen stattfinden, doch falls man mit deren Resultat nicht zufrieden ist, kann man das Spiel wieder von vorn anfangen. In der Amtszeit Jawaharlal Nehrus wurde von dieser Möglichkeit nur in sehr wenigen Fällen Gebrauch gemacht, aber unter Indira Gandhi wurde diese Notbremse so oft gezogen, daß man schon von einem Mißbrauch sprechen kann. Kein Wunder, daß indische Föderalisten die Abschaffung dieser speziellen Notstandsbefugnis fordern.
Das imperiale Erbe belastet den indischen Föderalismus aber auch noch auf andere Weise. Als die Briten den indischen Provinzen 1935 mehr Machtvollkommenheit gaben, waren sie nicht gewillt, ihnen auch entsprechende Finanzen zur Verfügung zu stellen. Es war die Zeit der Weltwirtschaftskrise, und die britisch-indische Regierung fand es ohnehin schwierig, ihr Budget auszugleichen. Wenn die Provinzen Geld brauchten, so sollten sie doch selbst ihr Steueraufkommen erhöhen. Die Steuern, die man den Provinzen übertrug, wie etwa die Grundsteuer, eigneten sich aber gerade in dieser Zeit nicht zur Erhöhung. Außerdem wollte kein indischer Politiker sich bei den ländlichen Wählern unpopulär machen, indem er sich für die Erhöhung der Grundsteuer einsetzte. Die britisch-indische Zentralregierung behielt sich alle ertragreicheren Steuern vor, insbesondere solche, die bei steigender Wirtschaftstätigkeit wieder anwuchsen. An dieser Art der Verteilung hat sich auch bis heute nicht viel geändert. Obendrein hat die indische Bundesregierung durch die Kontrolle der Entwicklungshilfe und das Monopol bei der Aufnahme von Anleihen noch zusätzliche Manövriermasse in die Hand bekommen, die ihr finanzielles Übergewicht gegenüber den Bundesländern erhöht. Zwar tritt alle fünf Jahre eine Finanzkommission zusammen, die den Verfassungsauftrag hat, die Ströme der Staatsfinanzen gerecht umzuverteilen. Bisher wurden die meist sehr maßvollen Empfehlungen dieser Kommission immer angenommen, aber das Übergewicht der Bundesfinanzen bleibt weiterhin bestehen. In der Bundesrepublik Deutschland verhält sich der Bundeshaushalt zur Summe aller Länder-haushalte etwa wie 1: 1, in Indien war dieses Verhältnis zunächst 2, 6: 1 und ist in jüngster Zeit auf 1, 6: 1 zurückgegangen. Dabei ist ferner zu beachten, «daß sich in der Bundesrepublik Deutschland auch noch die Summe der Haushalte der Gemeinden fast ebenbürtig zu den Bundes-und Länderhaushalten hinzugesellt, während dieser Finanzbereich in Indien noch sehr wenig ausgeprägt ist Nun sind aber alle Entwicklungsaufgaben in erster Linie auf lokaler und regionaler Ebene anzugehen, und deshalb ist die Kopflastigkeit der indischen Staatsfinanzen besonders zu bedauern.
Die Beispiele der Notstandsbefugnisse und der Staatsfinanzen haben gezeigt, daß der indische Föderalismus durch das imperiale Erbe nicht unerheblich belastet ist, andererseits ist es für das riesige Land ohne Zweifel von Vorteil, daß überhaupt eine föderalistische Struktur besteht, die eine Anpassung des politischen Lebens an die vielfältigen regionalen Bedingungen erlaubt und zugleich die Bundesregierung davor bewahrt, daß jeder regionale Konflikt sofort zur allgemeinen Staats-krise wird. Die Ermordung Indira Gandhis aufgrund eines besonderen regionalen Konflikts ist hier die Ausnahme, die die Regel bestätigt. In der Tat war es ihre allzu intensive Einmischung in die Politik des Bundes-landes Panjab, die zu diesem politischen Mord führte. Bei einer stärkeren Beachtung föderalistischer Spielregeln wäre es vermutlich nicht zu diesem tragischen Ereignis gekommen. Gerade bei der von Indira Gandhi vollzogenen Trennung von Bundestags-und Landtagswahlen sollte es einem Premierminister möglich sein, von der Länderpolitik abzusehen und sich auf nationale Fragen zu konzentrieren. In ihren großen plebiszitären Wahlkämpfen hatte Indira Gandhi dies auch getan und so auch jetzt wieder Rajiv Gandhi. Die Verwicklung in politische Intrigen in einzelnen Bundesländern, die Indira Gandhis letzte Jahre kennzeichnen, war daher eher ein Anzeichen mangelnder Zuversicht als ein Ausdruck hochmütiger Machtpolitik. Jetzt, da ein neuer Anfang gemacht wird, kann es vielleicht auch gelingen, den indischen Föderalismus von seinem imperialen Erbe zu befreien und die Chancen zu nutzen, die er im Grunde der Entfaltung des politischen Lebens in Indien bietet.
Der zentrale Beamtenapparat (Indian Administrative Service), den die Briten einst als „stählernen Rahmen" (steel frame) bezeichne-B ten, der Indien zusammenhält, kann dazu dienen, den Föderalismus zu stützen. Die Beamten, die diesem Elitekorps angehören, werden zwar gleich zu Anfang ihrer Karriere einem Bundesland zugeordnet, sind aber frei versetzbar und wechseln im Laufe ihrer Dienstzeit oft mehrmals zwischen Landes-und Bundesministerien hin und her. Früher zeichneten sich diese Beamten durch Zivilcourage aus und ließen sich auch von mächtigen Politikern nicht das Rückgrat verbiegen. Außerdem herrschte unter ihnen ein Korpsgeist, der Freimütigkeit im Umgang miteinander erlaubte, zugleich aber jedem die. Sicherheit gab, daß er sich sowohl auf seine Untergebenen als auch auf seine Vorgesetzten verlassen konnte.
Die Jahre des Notstandsregimes und der folgenden Regierungswechsel haben diesen Korpsgeist erschüttert und vielen Beamten das Rückgrat gebrochen. Strafversetzungen für solche, die den Machthabern im Wege standen, waren an der Tagesordnung. Vorgesetzte wagten nicht mehr, sich für ihre Untergebenen einzusetzen, und diese wiederum taten nur noch Dienst nach Vorschrift und zeigten keine Eigeninitiative. Hier muß Rajiv Gandhi deutliche Zeichen setzen, um das Selbstvertrauen der Beamten wiederherzustellen und sie anzuspornen. Die Zeiten des imperialen „steel frame" sind dahin, der Wandel von einer herrschenden zu einer dienenden Bürokratie war zwar dringend erforderlich, aber eine dienende Bürokratie darf nicht eine verunsicherte sein, die verantwortungsscheu wird oder zum zynischen Opportunismus neigt.
Was vom Beamtenapparat gesagt wurde, gilt in ähnlicher Weise auch von der Kongreßpartei. Auch sie kann eine wesentliche Stütze des Föderalismus sein, wenn sie zusammenhält, zugleich aber in jedem Bundesland einen eigenständigen Charakter zeigt. So paradox es klingen mag: dazu muß sich diese Partei von ihrem anti-imperialistischen Erbe befreien. Während des Freiheitskampfes hatte sich der Nationalkongreß zentralistisch organisiert, um dem Imperium die Spitze bieten zu können. Nach der Erlangung der Unabhängigkeit hatte die Kongreßpartei die bestehende föderalistische Verfassungsstruktur nicht aus Überzeugung übernommen, sondern um nicht durch Experimente die nationale Einheit und den prekären säkularen Charakter des Staatswesens zu gefährden. Der säkulare Nationalstaat war das insbesondere von Jawaharlal Nehru energisch verteidigte höchste Gut, die bestehende Verfassungsstruktur nur ein Mittel zu seiner Aufrechterhaltung. Jetzt aber gilt es, Säkularismus und Föderalismus zugleich zu verteidigen, da beide aufeinander angewiesen sind.
IV. Der säkulare Staat und seine Herausforderer
Der ausländische Beobachter wird zunächst kaum verstehen, warum man in Indien so emphatisch vom Säkularismus spricht, als sei dies die bedeutsamste Ideologie. Der Europäer, für den die Trennung von Kirche und Staat zur Selbstverständlichkeit geworden ist, hält es geradezu für überflüssig, dem Wort Staat auch noch das Adjektiv . säkular" hinzuzufügen. Dieses Unverständnis kommt auch daher, daß in Europa ein säkularisierter christlicher Konsens besteht, der einen Appell an religiöse Werte nicht mehr kontrovers erscheinen läßt. Ein Politiker, der seine christliche Bindung betont, wird deshalb nicht als Feind des säkularen Staates betrachtet. Es gibt in Europa keine anderen Religionen, die gleiche Beachtung verlangen — man ist unter sich. Das säkulare Selbstbewußtsein war deshalb hier bisher recht billig.
Die politische Erfahrung in Indien, wo es ständige Konflikte zwischen Hindus und Muslims gab, die von den Kolonialherren auch noch geschürt wurden, gab dort dem Wort Säkularismus dagegen ein ganz anderes Gewicht. Es verband sich damit die Idee der gleichen Grundrechte für alle ohne Rücksicht auf Rasse und Religion. Für den Nationalkongreß ist dieses Prinzip besonders wichtig: Es begründete nicht allein den Anspruch, auch Muslims in den eigenen Reihen zu haben und sie nicht samt und sonders der Muslim-Liga zu überantworten, es war auch für die große Mehrheit der Hindus wichtig, sich ein Forum zu erhalten, das von religiösen Differenzen nicht berührt wurde. Es gibt schließlich keine allgemeinverbindliche hinduistische Orthodoxie, und jeder Versuch, hinduistische Politik zu machen, muß sofort den Widerstand der einen oder anderen Gruppe der Hindus erregen. Die Hindu Mahasabha, die sich außerhalb des Nationalkongresses als politische Gruppe mit eigenen Zielen organisierte, blieb denn auch eine kleine Splitterpartei. Der Bharatiya Jan Sangh (Indischer Volksbund), eine nach Erlangung der Unabhängigkeit gegründete Partei, die in gewisser Weise Hindu-Interessen vertrat, einen Einheitsstaat mit Hindi als Staatssprache forderte und sich durch Disziplin und Korpsgeist auszeichnete, betonte dagegen ebenfalls das Prinzip des Säkularismus und bemühte sich, Mitglieder aller Religionsgemeinschaften zu rekrutieren. Der Säkularismus wurde also im Grunde von keiner bedeutsamen politischen Kraft infrage gestellt. Durch die Nachbarschaft des betont islamischen Pakistan wird der Säkularismus als Element der nationalen Identität Indiens noch stärker hervorgehoben. Deshalb wird jede Herausforderung der säkularen Staats-idee in Indien besonders empfindlich registriert und als Gefährdung der nationalen Identität empfunden.
In jüngster Zeit wird dieser säkulare Staat durch die Sikhs herausgefordert, die nicht nur den säkularistischen Konsensus aufbrechen, sondern auch die Struktur des indischen Föderalismus auf eine harte Probe stellen. Die Sikhs werden vielfach als eine besondere Gruppe der Hindus angesehen, die in der Auseinandersetzung mit dem Islam eine betonte Abwehrstellung einnahm, zugleich aber manche Elemente islamischer Praxis übernommen hat. Die Sikhs wiederum wollen als eigene Religionsgemeinschaft angesehen werden. Da nun im Panjab viele Familien zum Teil aus Hindus, zum Teil aus Sikhs bestehen, sind die Übergänge fließend, die Betonung der Identität darum aber um so notwendiger. Äußere Zeichen wie Turban und Barttracht dienen dieser Betonung der Identität.
Unter britischer Herrschaft galten die Sikhs als eine der „martial races", der kriegerischen Rassen, die bevorzugt für die britisch-indische Armee rekrutiert wurden. Deshalb floß auch viel Sold in ihre Heimat, den Panjab, der dort in die Landwirtschaft investiert wurde. Als die Briten zu Beginn dieses Jahrhunderts im Zentral-Panjab Bewässerungskanäle bauten, siedelten sie dort Sikhbauern an, die in der Armee gedient hatten. Die Sikhs standen zum größten Teil loyal zu den Briten, um so mehr traf es sie, als die scheidenden Kolonialherren den Panjab teilten und die Grenze mitten durch die Siedlungsgebiete der Sikhs zogen. Darauf begann ein großer Exodus. Die Sikhs flohen in den bei Indien verbliebenen Ost-Panjab. Ihre privilegierte Position in der Ar-B mee konnten sie nicht halten. In einem armen Land wie Indien ist ein Posten in der Armee sehr begehrt, andere Bevölkerungsgruppen wollen daher ebenfalls berücksichtigt werden. Immerhin stellen die Sikhs mit nur ca. drei Prozent der indischen Bevölkerung noch ca. 10 Prozent der Soldaten und 22 Prozent der Offiziere. Dennoch fühlen sie sich im Hinblick auf ihre einstige Vorrangstellung benachteiligt und fordern, daß zumindest der Status quo erhalten bleibt und der Anteil der Sikhs nicht noch weiter zurückgeht Eigentlich haben die Sikhs keinen Grund zur Klage über ihre wirtschaftliche Position. Die „Grüne Revolution“ hat die Landwirtschaft im Panjab zu großer Blüte gebracht;
den meisten Sikhbauern geht es gut, aber dieser Wohlstand schafft nicht unbedingt Zufriedenheit, sondern läßt die Frage entstehen, warum man Indiens Armut teilen soll, wenn man es in einem separaten Sikhstaat, „Khalistan", noch besser haben könnte. Solche Parolen finden besonders bei der jungen Generation Anklang. Wer trotz Schulbildung keine Stelle findet und wenig Anteil an dem Wohlstand hat, der ihn umgibt, ist rasch bereit, radikale Lösungen zu fordern. Dabei wäre eine Sezession für viele Sikhs eine Katastrophe. Nur rund neun Millionen der ca. 14 Millionen Sikhs leben im Panjab, etwa fünf Millionen leben in der Diaspora in allen Teilen Indiens. Doch die Politik wird im Panjab gemacht, und dort gibt es eine Sikh-Partei, Akali Dal, die an sich nicht in das säkulare Parteienspektrum Indiens hineinpaßt, aber bei den Sikhs besondere Achtung genießt. Die Kongreßpartei hat daher im Panjab schon immer, aber in letzter Zeit ganz besonders einen schweren Stand gehabt Sikhs, die der Kongreßpartei angehören — darunter auch der jetzige indische Staatspräsident Zail Singh —, gelten bei den Akali-Sikhs als Renegaten. Doch die Akalis selbst sind sich keineswegs in allen Dingen einig, und so liegt die Versuchung nahe, Zwist unter ihnen zu säen, um daraus für die Kongreßpartei politischen Vorteil zu schlagen.
In diesem Sinne unterstützten die Kongreßpolitiker den radikalen Sikhführer Jarnail Singh Bhindranwale und wurden dann den Geist, den sie da riefen, nicht wieder los. Er schürte den politischen Terrorismus, wurde aber selbst von Rajiv Gandhi zu jener Zeit noch als religiöser Führer bezeichnet. Im Oktober 1983 wurde die Situation im Panjab so chaotisch, daß die Bundesregierung „President's Rule" proklamierte, obwohl ein Sikh-Ministerpräsident, der der Kongreßpartei an-B gehörte, an der Macht war. Doch selbst als das geschehen war, ging man noch nicht gegen Bhindranwale vor, der damals noch im Gästehaus des Goldenen Tempels von Amritsar lebte und sich erst im Dezember 1983 im Akai Takht, dem Gebäude, das den Eingang des Tempels beherrscht, verschanzte und es zu einer Festung ausbaute. Von nun an war alles auf die direkte Konfrontation mit der indischen Armee angelegt, die dann im Juni 1984 den Befehl erhielt, den Goldenen Tempel zu stürmen. Ein Sikh-General leitete den Einsatz, ein pensionierter Sikh-General die Verteidigung des Tempels. Sikh-Sicherheitsbeamte von Indira-Gandhis Leibwache erschossen sie wenige Monate später, andere versuchten wenige Tage danach, auch den Staatspräsidenten zu ermorden, der jedoch dem Attentat entging. In den Städten Nordindiens, besonders in New Delhi, kamen bei Vergeltungsaktionen viele Sikhs der Diaspora ums Leben, die offenbar mit alledem nichts zu tun hatten und nun ein Opfer ihrer allzu deutlich erkennbaren Identität wurden.
Der Gang der Ereignisse gemahnte an einen Bürgerkrieg und man mußte schon befürchten, daß nur noch die Armee Herr der Lage werden könne. Die Entscheidung des Staats-präsidenten, in dieser Situation unter Hintansetzung parlamentarischer Konventionen kurzerhand Rajiv Gandhi zum Premierminister zu machen, war der rettende Ausweg. Damit aber trägt dieser nun die Last, eine Lösung zu finden, die sowohl die Sikhs befriedigt als auch die große Mehrheit der indischen Bevölkerung überzeugt und zugleich im Rahmen der durch die Verfassung gegebenen Möglichkeiten bleibt Das scheint fast so problematisch zu sein wie die Quadratur des Kreises.
Die Bemühungen, die Forderungen der Sikhs im Rahmen der vorgegebenen Verfassungsprinzipien von Säkularismus und Föderalismus zu erfüllen, sind nicht neu, und sie haben bisher zu keinem befriedigenden Ergebnis geführt, sondern nur zu weiteren Forderungen Anlaß gegeben. Das Bundesland Panjab, das bis 1966 auch noch das jetzige Bundesland Haryana einschloß, hatte eine überwiegende Hindu-Mehrheit Deshalb forderten die Sikhs eine Teilung dieses Bundeslandes und beriefen sich dabei auf ihre Sprache, Panjabi, der eine eigene Sprach-provinz zugestanden werden müsse. Dafür gab es genügend Präzedenzfälle von der Gründung Andhra Pradeshs, 1954, bis zur Tei10 lung des alten Bundeslandes Bombay in die neuen Bundesländer Gujarat und Maharashtra im Jahre 1960. Als Indira Gandhi im ersten Jahr ihrer Amtszeit, 1966, den Sikhs diese Forderung erfüllte und die Hindu-Mehrheitsbezirke, in denen Hindi gesprochen wird, vom Panjab abtrennte und so das Bundesland Haryana schuf, schien es so, als ob damit ein Kompromiß gefunden worden war, der den Sikhs de facto ein Sikh-Bundesland zugestand, ohne daß das Prinzip des Säkularismus aufgegeben worden war. Nun verblieben aber im Panjab noch eine beträchtliche Zahl von Panjabi-sprechenden Hindus, so daß die Sikhs nur eine knappe Mehrheit haben. Die Sikh-Partei Akali Dal kann sich daher ihrer Machtstellung in diesem Bundesland nie ganz sicher sein und muß entweder dafür sorgen, daß die Sikhs geschlossen hinter ihr stehen, oder sie muß Koalitionspartner bei den Punjab-Hindus finden. Die erste Alternative bedeutet den Zwang zur Radikalisierung und kompromißlosen Konfrontation, die zweite dagegen erfordert Mäßigung und Kompromißbereitschaft. Zwischen diesen beiden Polen schwankt die Politik der Akalis hin und her.
Die Position der Kongreßpartei gibt dabei entscheidende Anstöße. Als im Jahre 1973 die Opposition gegen Indira Gandhi allgemein zunahm, verabschiedeten die Akalis ihre bis jetzt immer wieder zitierte Anandpur Sahib Resolution, in der sie einen Föderalismus mit weitgehender Autonomie der Bundesländer forderten, die Bundesländer sollten ferner ohne Gewichtung ihrer Größe auf der Bundesebene gleichrangig repräsentiert sein. Daneben forderten die Akalis in dieser Resolution aber auch einen mit dem Säkularismus nicht vereinbaren Vorrang der politischen Organisation (Khalsa) der Sikhs im Panjab.
Nachdem Indira Gandhi die Wahl von 1977 verloren hatte, bemühten sich die Akalis um gute Beziehungen zur neuen Bundesregierung und hoben in einer erneuten Resolution die extremen Forderungen der Anandpur Sahib Resolution nicht noch einmal hervor. Unter einer Akali-Regierung schienen die Sikhs in diesen Jahren den Weg zur Kompromißbereitschaft zu finden. Das änderte sich freilich, als diese Regierung nach Indira Gandhis Wahlerfolg von 1980 alsbald gestürzt wurde. Von nun an gingen die Akalis notgedrungen wieder auf Konfrontationskurs mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben haben.
Die Erfahrung zeigt also, daß die Akalis „im Lichte der Anandpur Sahib Resolution", auf die sie natürlich hinweisen müssen, auch gemäßigtere Resolutionen fassen können. Man kann nur hoffen, daß es Rajiv Gandhi gelingt, diese Kompromißbereitschaft bei den Akalis wieder zu wecken. Ein Weg dorthin ist vielleicht durch das Eingehen auf ökonomische Forderungen gegeben, die in den Resolutionen der Akalis eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Man wünscht sich höhere Agrarpreise, Steuererleichterung beim Kauf von Traktoren, eine Förderung der Industrie im Panjab und dergleichen mehr. Es wäre sicher verfehlt, die religiösen und politischen Forderungen der Sikhs für Drohgesten zu halten, die dazu dienen sollen, ihren ökonomischen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Aber ein Eingehen auf die ökonomischen Forderungen könnte die Kompromißbereitschaft stärken. Regionale Wirtschaftsprobleme stehen derzeit überall in Indien zur Debatte. Sie müssen auf der Länderebene in Angriff genommen werden, und hier könnte man vielleicht gerade im Panjab Akzente setzen, die dann auch für die indische Wirtschaftspolitik allgemein anregend wirken könnten.
V. Wirtschaftswachstum und Regionalentwicklung
Die indische Wirtschaft wächst in letzter Zeit zwischen fünf und sieben Prozent pro Jahr; bei einem Bevölkerungswachstum von ca. 2, 5 Prozent pro Jahr verbleibt damit immer noch eine Jahreswachstumsrate von durchschnittlich drei bis vier Prozent Wenn nicht gerade der wetterwendische Monsun Indien zwei Dürrejahre hintereinander beschert, ist die Selbstversorgung Indiens mit Getreide gesichert Die Flächenerträge liegen in Indien immer noch unter denen anderer Länder, und daher ist noch genügend Potential für eine Produktionserhöhung vorhanden.
Auch auf dem Energiesektor ist die Selbstversorgung ein nicht mehr weitentferntes Ziel. Indien hat große Kohle-und Ölvorräte. Nach den Energiekrisen der siebziger Jahre, die Indien hart getroffen haben, ist die indische Ölförderung stark vorangetrieben worden. Der ausgedehnte Festlandssockel vor Indiens Westküste ist wohl mindestens ebenso ergiebig wie die Erdölgebiete der Nordsee. Die Industrieproduktion, die über ein Jahrzehnt zunächst durch Engpässe in der Agrarproduktion und dann durch die Energiekrise in eine Dauerrezession geraten war, zeigt deutliche Anzeichen einer Belebung. Mit einer Politik der Liberalisierung versucht die Regierung, die internationale Wettbewerbsfähigkeit der indischen Industrie zu heben, die allzulange durch Protektionismus gegen diesen Wettbewerb abgeschirmt worden war. Rajiv Gandhi setzt sich für die moderne Computertechnologie ein und wird sich bemühen, Indien auf diesem Gebiet ganz weit nach vorn zu bringen. Die besondere Begabung der Inder für die Mathematik, für die es seit der Erfindung der Null durch einen indischen Gelehrten des Altertums immer wieder neue Beweise gibt, dürfte eine Garantie für große Erfolge auf diesem Gebiet sein.
Insgesamt steht es recht gut um die Wachstumschancen der indischen Wirtschaft. Nur um die Verteilung ist es schlecht bestellt, und zwar sowohl im Sinne einer gleichmäßigeren Verteilung von Einkommen und Kaufkraft als auch im Hinblick auf die Probleme der Regionalentwicklung. Rund zehn Prozent der indischen Bevölkerung, und das sind zur Zeit etwa 70 Millionen Menschen, verdienen genug Geld, um die Nachfrage nach Agrar-und Industrieproduktion zu beleben. 70 Millionen — das ist ein stattlicher Markt, doch 630 Millionen leben entweder im Rahmen einer mehr oder weniger erträglichen Selbstversorgung oder am Rande eines schwer definierbaren Existenzminimums.
Krasse regionale Entwicklungsunterschiede sind ein Symptom dieser ungleichen Verteilung: Der Osten Indiens etwa jenseits der Linie Delhi-Madras hat einen Lebensstandard, der sich mit dem der ärmeren Länder Afrikas vergleichen läßt, während sich der Westen Indiens weitgehend auf dem Niveau Lateinamerikas befindet. Die Urbanisierung Indiens ist demgemäß auch sehr uneinheitlich. Im Osten gibt es außer der verfallenden Metropole Kalkutta und einigen neuen Enklaven der Schwerindustrie nur wenige bedeutende Städte. Das ist im Westen ganz anders, wo sich viele Großstädte befinden. Insbesondere die Bundesländer Panjab im Norden und Tamil Nadu im Süden zeigen eine vergleichsweise gut gestaffelte Urbanisierung. Ganz un-ausgewogen ist dagegen die übergroße Konzentration in und um Bombay, wo zur Zeit etwa 15 Millionen Menschen leben und die städtische Infrastruktur unter dieser Bevölkerungslast fast zusammenbricht. Ein Fünftel des gesamten indischen Kraftfahrzeugverkehrs zwängt sich durch die Straßen dieser Metropole des Westens. Da wäre es sicher sinnvoller, statt noch mehr Industrie in dieser Region anzusiedeln, zum Beispiel im Panjab ein großes Industriezentrum zu schaffen. Unter dem Gesichtspunkt des Abzugs überflüssiger Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft wäre freilich auch die große Region nördlich von Patna und Benares (Varanasi) ein Gebiet, das eine Priorität in der Regionalentwicklung verdient. Dort gibt es viele rein agrarische Distrikte mit einer Bevölkerungsdichte von 600 Menschen pro Quadratkilometer. Land-lose Landarbeiter und arme Teilpächter werden unter solchen Bedingungen unerbittlich ausgebeutet. Die „Grüne Revolution" hat in diesen Gebieten weniger Wirkung gezeigt als anderswo. Planer, die in New Delhi sitzen und gesamtwirtschaftliche Wachstumsraten errechnen, denken oft nicht an diese Problem-regionen, und den zuständigen Landesregierungen fehlt es meist an Planern und Mitteln, um selbst Initiativen zu ergreifen. Mahatma Gandhi wollte Indien von seinen Dörfern her aufbauen, und Jawaharlal Nehru setzte auf die Industrie, von der er den großen Durchbruch zum allgemeinen Wirtschaftswachstum erhoffte. Es gab heftige Debatten zwischen ihnen, wie die Prioritäten zu setzen seien. Nehru hat recht, denn Indien hatte nach Überwindung der Kolonialherrschaft einen großen Nachholbedarf auf dem Gebiet der Industrialisierung. Aber Gandhi hatte auch recht, denn nur, wenn Armut und Ausbeutung auf der Dorfebene beseitigt werden, ist eine positive und stetige Wirtschaftsentwicklung möglich. Gandhis und Nehrus Ansätze müssen sich auf der Ebene der Regionalentwicklung ergänzen, die Industrie und Landwirtschaft aufeinander abstimmt. Es ist zu hoffen, daß Indien jetzt unter neuem Management diese Aufgabe zielstrebig in Angriff nimmt.
Dietmar Rothermund, M. A., Ph. D., geb. 1933, Studium der Geschichte und der Philosophie in Marburg, München und Philadelphia. Seit 1968 Professor für Geschichte Südasiens an der Universität Heidelberg. Veröffentlichungen u. a.: Die politische Willensbildung in Indien, Wiesbaden 1965; Government, Landlord and Peasant in India, Wiesbaden 1978; 5mal Indien (Panoramen der Welt), München 1979; (mit H. Kulke) Geschichte Indiens, Stuttgart 1982; Indiens wirtschaftliche Entwicklung von der Kolonialherrschaft bis zur Gegenwart, Paderborn 1985.