Ost-West-Konflikt, Krisenbewußtsein und Protestbewegung in Westeuropa
Wilfried von Bredow /Rudolf H. Brocke
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Zusammenfassung
Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Verlaufsform des Ost-West-Konflikts, Veränderungen im öffentlichen Krisenbewußtsein und dem Auftreten sicherheitspolitischen Protests in Westeuropa? Deutet das rapide Anwachsen einer allgemeinen Furcht vor einem neuen Weltkrieg, das man zwischen 1977 und 1983 beobachten konnte, auf eine tiefreichende Verschiebung des Meinungsklimas und der kollektiven politischen Wahrnehmung hin? Oder soll man das ebenso rapide Abklingen dieser Kriegsfurcht nach 1983 und die raschen Schrumpfungsprozesse des in sozialen Bewegungen locker institutionalisierten sicherheitspolitischen Protests dahingehend deuten, daß im ständigen Auf und Ab von Themenkonjunkturen auch die Sicherheitspolitik einfach einmal an die Reihe gekommen und jetzt wieder in den Hintergrund öffentlichen Interesses getreten ist? Eine nähere Untersuchung von Protestzyklen nach 1945 zeigt zweierlei: Erstens ist, weitgehend unabhängig von den einzelnen Gegenständen des Protests in sozialen Bewegungen, das gesellschaftliche Protestpotential langsam gewachsen. Zweitens bezieht sich sozialer und politischer Protest in westlichen Ländern durchgängig auf die dominante Ordnungs-und Konfliktstruktur des internationalen Systems, den Ost-West-Konflikt. Dieser Bezug steht in der Regel unter einem negativen Vorzeichen — es geht bei jenem Protest also häufig um Zielvorstellungen und Utopien jenseits des Ost-West-Konflikts. Im Meinungsklima Westeuropas zu Beginn der achtziger Jahre müssen gewachsene Kriegsangst und angestiegene Dringlichkeit des Friedenswunsches im Zusammenhang mit einer allgemein eher pessimistischen Zukunftsperspektive gesehen werden. Sie sind durchgängig ökonomischen Sicherheitsbedürfnissen nachgeordnet. Unter themenspezifischem Gesichtspunkt wird man prognostizieren können, daß ein erneuter Aufschwung sicherheitspolitischen Protests in Westeuropa unangesehen der Fortdauer sicherheitspolitischer Probleme im westlichen Bündnis kaum zu gewärtigen ist. Demgegenüber ist unter soziologischem Gesichtspunkt auf das weiter angewachsene Protestpotential insbesondere unter den jungen Leuten des neuen Mittelstandes hinzuweisen. Hier haben sich neben eher links orientierten Oppositionshaltungen auch solche herausgebildet, die sich eher nach rechts orientieren. Ansatzweise sind Themenüberschneidungen beider Oppositionshaltungen erkennbar. Je nach den politischen Traditionen und Kulturen der einzelnen westeuropäischen Gesellschaften werden sich diese Oppositionshaltungen in Zukunft stärker oder schwächer, insgesamt aber nachdrücklicher artikulieren.
Freunde und Gegner der zwischen 1977 und 1983 in verschiedenen westlichen Ländern sehr aktiven und ihren sicherheitspolitischen Protest mit großer öffentlicher Resonanz bekundenden „neuen Friedensbewegungen“ haben deren Auftreten, Aktionen, interne Konflikte, allgemeine und partielle Zielvorstellungen gewissermaßen parallel mit beträchtlichem publizistischem Aufwand verfolgt und dokumentiert. Dabei entwickelte sich so etwas wie eine oftmals bizarre Verfolgungsfahrt zwischen der „Bewegung“ und ihrem publizistischen „Troß“, deren Mitglieder sich teils als „Betreuer“, teils als distanzierte Beobachter, teils als „Verlangsamer“ der Protestbewegung fühlten. So oder ähnlich stellt sich der Laie die „Tour de France“ vor.
Insgesamt ergibt sich damit eine zwiespältige Situation für denjenigen, der sich mit dem sicherheitspolitischen Protest in Westeuropa während jener sechs Jahre befaßt; zwar findet er Daten und Informationen in Hülle und Fülle vor, aber zumeist haben sie je nach Ursprungsquelle einen entweder „narzistischen“ oder überkritischen Drall, und in den meisten Fällen werden sie unter Fragestellungen geordnet, die, gelinde gesagt, Kurzatmigkeit verraten.
Abbildung 6
Tabelle 6: US-Raketen: Gefahr oder Sicherheit? Umfrage 1982 (in %) Quelle: Der Spiegel, (1982) 10, S. 97.
Tabelle 6: US-Raketen: Gefahr oder Sicherheit? Umfrage 1982 (in %) Quelle: Der Spiegel, (1982) 10, S. 97.
Die folgende Studie fragt nach dem Zusammenhang zwischen dem Ost-West-Konflikt, Verände
Protestzyklus nach 1945
Abbildung 1
Weltkriegsgefahr in den nächsten zehn Jahren Halten Sie einen neuen Weltkrieg innerhalb der nächsten zehn Jahre für „wahrscheinlich“? 1)
In sozialen Bewegungen drückt sich Protest gegen bestehende politische und soziale Verhältnisse, die als ungerecht wahrgenommen werden, in einer besonderen Form aus: locker institutionalisiert, mit einem hohen Maß an Protestbewußtsein und in Schwung gehalten von der Vorstellung, daß die Bewegung im Prinzip immer weiter anwächst. Soziale Bewegungen stagnieren eigentlich nicht; sie wachsen, erreichen für einen kurzen Augenblick ihren Wirkungshöhepunkt und verfallen dann wieder, sei es, daß sie sich
Dieser Aufsatzfaßt einen Teil der Ergebnisse unserer umfangreichen Studie „Krise und Protest. Ursprünge und Elemente der Friedensbewegungen in Westeuropa " zusammen.
Abbildung 2
Quelle: Die Europäer über sich selbst. Zehn Jahre Euro-Barometer 1973— 1983, hrsg. vom Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaft, Luxemburg 1983, S. 39. Tabelle 2: Politischer Zielkatalog nach Prioritäten in der EG 1. Der Frieden 2. Die Menschenrechte 3. Die Bekämpfung des Elends 4. Die Freiheit des einzelnen 5. Der Schutz der Natur 6. Die Verteidigung des Landes 7. Der religiöse Glaube 8. Die Gleichberechtigung der Geschlechter Die Vereinigung Europas 10. Die Revolution Nichts von ﮕA
Quelle: Die Europäer über sich selbst. Zehn Jahre Euro-Barometer 1973— 1983, hrsg. vom Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaft, Luxemburg 1983, S. 39. Tabelle 2: Politischer Zielkatalog nach Prioritäten in der EG 1. Der Frieden 2. Die Menschenrechte 3. Die Bekämpfung des Elends 4. Die Freiheit des einzelnen 5. Der Schutz der Natur 6. Die Verteidigung des Landes 7. Der religiöse Glaube 8. Die Gleichberechtigung der Geschlechter Die Vereinigung Europas 10. Die Revolution Nichts von ﮕA
rungen im öffentlichen Krisenbewußtsein in Westeuropa und dem Auftreten sicherheitspolitischen Protests in großen Friedensbewegungen. Die Konzentration auf Westeuropa bedeutet nicht, daß wir entsprechende Phänomene in anderen westlichen Gesellschaften, z. B. im pazifischen Raum oder besonders natürlich in den Vereinigten Staaten von Amerika, für unerheblicher hielten. Nur hätte eine Ausdehnung des Untersuchungsfeldes auf diese praktisch eine Verdoppelung des Arbeitsaufwandes bedeutet; hier ist also noch Platz für Folgeuntersuchungen.
Abbildung 7
Tabelle 7: Bündnispräferenzen in Westeuropa 1981 (in %) Quelle: Der Spiegel, (1982) 10, S. 143.
Tabelle 7: Bündnispräferenzen in Westeuropa 1981 (in %) Quelle: Der Spiegel, (1982) 10, S. 143.
Im folgenden soll zunächst der Protestzyklus nach 1945 skizziert werden, also der Prozeß des langsamen und von Zeit zu Zeit schubweise beschleunigten Anwachsens eines Protestpotentials in Westeuropa, das ein breites Spektrum von ganz unterschiedlichen Themen bis hin zu dem „universalistischsten“ Thema, nämlich Frieden, aufgegriffen hat. Im zweiten Kapitel wird es in einer Art historischer Momentaufnahme anhand von Material aus der Umfrageforschung darum gehen, das zum Untersuchungszeitraum vorherrschende Krisenbewußtsein in Westeuropa zu dokumentieren. Schließlich soll im dritten Kapitel die Zukunft von Friedensbewegungen und sozialem Protest in Westeuropa erörtert werden. fester institutionalisieren, z. B. zu einer politischen Partei werden, sei es, daß sie auf ihren Kern von Aktivisten zurückschrumpfen, zu einer nostalgischen Kleingruppe werden oder sogar völlig verschwinden.
Dennoch bleibt ein Potential für künftigen Protest zurück, und zwar in zwei Versionen. Sowohl die Aktiven des Kerns als auch die einmal Mitgerissenen vom Rande der sozialen Bewegung bleiben empfänglich für ein neues Krisenthema, ja suchen ein solches oft intensiv. An den Biographien von Anhängern, insbesondere Aktivi-sten der Friedensbewegungen kann man erkennen, wie nach den ursprünglichen rites de passages (seit der Studentenbewegung „Politisierung“ genannt) Protestverhalten in sozialen Bewegungen in ihrem die Themen wechselnden zyklischen Auf und Ab zu einem Bestandteil der Lebensweise wurde
Bei den größeren und allgemeinere Ziele verfolgenden Protestbewegungen nach 1945 kann man einen auf den ersten Blick verblüffenden Bezug auf den Ost-West-Konflikt erkennen. Der Ost-West-Konflikt gilt uns als die dominante Ordnungsstruktur der internationalen und transnationalen Beziehungen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs; er besitzt eine machtpolitische, ideologisch-gesellschaftspolitische und eine nuklear-strategische Dimension, die in ihrem teilweise widersprüchlichen Zusammenwirken die Akteure auf ein kompliziertes Gemisch von Feindlichkeit und Kooperation, von offensiven und defensiven Handlungen verweisen
Zur Zeit der Ausbildung von Ost-West-Konflikt-Strukturen während des Kalten Krieges hat sich politische Identität in den europäischen Gesellschaften beiderseits der Blockgrenze in deutlicher Freund-Feind-Polarität gebildet oder jedenfalls bilden sollen. Zwar gab es in den meisten westeuropäischen Ländern auch eine „Partei der anderen Seite“, in einigen konnte sie sogar auf beachtliche Wahlerfolge zählen, aber damit wurde das Polaritätsmuster nicht verwischt, sondern eher noch plastischer
Soziale und politische Protestbewegungen in Westeuropa sind nun aber von ihren Anfängen an und in Fällen ihrer Unterstützung durch kommunistische Gruppierungen nicht wegen, sondern trotz dieser Unterstützung dadurch gekennzeichnet, daß sie sich dieser kollektiven Identitätszuweisung über die Ost-West-Polarisierung zu entziehen suchen. Dies gilt auch und eigentlich sogar besonders nachdrücklich dort, wo zu den Zielen solchen Protests auch Werte gehören, die scheinbar „zum Besitzstand“ der anderen Seite gehören, so z. B. „Sozialismus“. Was immer da-mit im einzelnen gemeint sein mag, man kann als sicher unterstellen, daß „Sozialismus“ als Ziel westeuropäischer Protestbewegungen gerade nicht den seit ein paar Jahren mit nicht übertrieben feinem Sprachgefühl so genannten „real existierenden Sozialismus“ meint
Soziale und politische Protestbewegungen nach 1945, von den auf ein „Aussteigen“ aus der Gesellschaft orientierten Bewegungen mit dezidiert anti-politischer Grundhaltung über die Anti-Atombewegungen der fünfziger und in erweiterter Form der siebziger Jahre bis hin zur Ökologiebewegung, der Friedensbewegung oder, wiederum mit Schwerpunkt auf einer anderen sozialen Ebene, der Frauenbewegung, haben sich immer so verstanden, als stünden sie jenseits des Ost-West-Konflikts. Es ist, sieht man einmal von „unechten“ Teilnehmern sozialer und politischer Protestbewegungen ab, niemals um eine innerhalb des Ost-West-Konflikts vorfindbare Kontra-Identität gegangen, sondern immer um die Utopie des Nicht-Konflikts, für welche ganz unterschiedliche Namen, oft solche mit mißverständlichen Nebendeutungen, verwendet werden: kollektives Glück, Basisdemokratie, Emanzipation, Frieden im Sinne eines „positiven“ Friedens (ein Un-Begriff!) oder eben auch „Sozialismus“. Aufschwung und Scheitern der Studentenbewegung Ende der sechziger Jahre sind für den Formwandel des sozialen und politischen Pro-tests in Westeuropa von besonderer Bedeutung, denn der Studentenprotest zielte zum ersten Mal seiner Anlage und Absicht nach auf den Gesamtbereich der sozialen Welt. Hier wurde zum ersten Mal in bildungsbürgerlichem Milieu und mit erheblicher öffentlicher Resonanz die Verstrickung hochpolitischer Ereignisse der internationalen Politik mit mikropolitischen Schwierigkeiten und mit persönlichen Problemen (die allerdings hauptsächlich altersspezifisch waren) demonstriert, wenn auch meist nur als Pose. Aber damit war ein neues Grundmuster für sozialen und politischen Protest gefunden. Die von den bestehenden Institutionen politisch, ökonomisch und kulturell gestaltete Welt wurde in diesem Deutungsmuster als die Ursache für individuelle Probleme und reduzierte Lebenschancen gesehen. Zugleich tauchte als „positiver Gegenhorizont“ in dieser Perspektive die Welt als natürlicher Lebensraum auf. Genau diese Polarisierung — die von den Menschen organisiert verschandelte Welt versus die Welt als natürlicher Lebensraum — schob sich in den siebziger und achtziger Jahren im Milieu des politischen Protests in den Vordergrund. Die Energiepreiskrise, nicht nur in diesem Milieu mißverstanden als Knappheitskrise, verstärkte eine sich ausbreitende Gefühlslage, wonach die politische und wirtschaftliche Weltordnung die Erde ausbeutet, und zwar so, daß sich jeder einzelne Mensch als „unmittelbar betroffen“ verstehen kann. Außerdem läßt sich dieser Topos leicht in die Kritik am „Neokolonialismus“ mit seiner klaren Zuweisung der Opfer-Rolle für die Entwicklungsländer übertragen Solches Protestgefühl, schon auf dieser Ebene mit Spuren von apokalyptischen Ängsten durchsetzt, breitete sich weiter aus im Kontext des sogenannten Atom-konflikts. Die Verwendung von Nuklearenergie wird von ihren Gegnern als ein Schritt interpretiert, der letztlich in die Selbstvernichtung der Menschheit führt. Die Ökologiebewegung erweiterte dieses Krisenbewußtsein und das darin angelegte Polarisierungs-Schema bis hin zur Exterminismusthese, der Vorstellung, daß das gesamte „Industriesystem“ samt seinen Werten und Normen auf den Weltuntergang zusteuert
Damit war das politische Leitmotiv der neuen sozialen Bewegungen endgültig ausformuliert — sie verstehen sich als „Lebensschutzanwalt“ der Bevölkerung. Vom Ost-West-Konflikt hat sich dieses Selbst-und Weltverständnis vollends gelöst, ist doch in solcher Perspektive die lebensbedrohende Kurzsichtigkeit der „Herrschenden“ hüben wie drüben gleichermaßen anzutreffen.
In diese fiktive Realität sind seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre mit ihrem steten Verfall der Entspannung im Ost-West-Konflikt scharfkantige Bewußtseinssplitter einer anderen, härteren Wirklichkeit eingedrungen. Die Entspannung hatte sich nach dem Ende der KubaKrise 1962 zunächst auf bilateraler Ebene der Weltführungsmächte, später insgesamt zwischen den antagonistischen Bündnissen als neues Austragungsmuster für den Ost-West-Konflikt angebahnt und durchgesetzt. Sie bedeutet, vereinfacht gesagt, nichts anderes als die Fortsetzung des Konflikts unter Beimischung von mehr Elementen der Kooperation. Wichtige Felder solcher vermehrten Kooperation waren die Rüstungskontrolle und die Wirtschaftsbeziehungen.
Die Möglichkeiten der Entspannung blieben indes nach einigen beachtlichen Erfolgen letztlich unausgeschöpft, und schon ein so umfänglich detailliert angelegtes intersystemares Entspannungsdokument wie die Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) von 1975 bezeugte eher die Zerbrechlichkeit der Entspannung als deren Ausbau-chancen. So entwickelte sich aus der Entspannung eine mehrdimensionale sicherheitspolitische Krise, Folge der (strukturellen wie personellen) Unfähigkeit der Weltführungsmächte, das militärische und das politische Risiko der Ost-West-Konfrontation auf beiden Seiten einzuhegen.
Sobald aber diese Problematik deutlich würde, trat auch eine zweite sicherheitspolitische Krisensituation an den Tag: die Verschlechterung der Ost-West-Beziehungen bewirkte das Aufbrechen der langfristig angelegten und politisch vernachlässigten westeuropäischen Sicherheitsdefizite innerhalb der Atlantischen Allianz. Diese Defizite folgen aus der sicherheitspolitisch und bündnis-politisch unzureichenden Bearbeitung all der. Probleme, die sich vornehmlich aus der geopolitischen Trennung der NATO ergeben. Das betrifft in erster Linie die Glaubwürdigkeit des amerikanischen Atomschirms über Westeuropa, die konventionelle Schwäche der NATO und die antizipierbaren Konsequenzen der „Vorneverteidigung“. Daß es gegen Ende der siebziger Jahre zu einer Themenkonjunktur „Sicherheit“ in Westeuropa kommen würde, war also fast unvermeidlich. Für die Friedensbewegungen entstand so ein dreifach verstärkter Impuls: Sie konnten über ihr in der Umwelt-und Antikernkraftdiskussion entwickeltes Selbstverständnis, Lebensschutzanwalt der ganzen Bevölkerung zu sein, sowohl das bis dahin angesammelte Protestpotential als auch irritiertes Bürgertum themenspezifisch rekrutieren; sie konnten hochbrisante, wenn auch den Nicht-Experten nicht immer verständliche Strategie-und Sicherheitsdebatten durch „Gegen-Experten“ aller Art für ihre Zwecke instrumentalisieren und sie konnten schließlich die Ost-West-Konfrontation als Bezugspunkt für Politik, in manchen Gruppen sogar Politik schlechthin diskreditieren
Wichtig ist auch, daß die Friedensbewegungen, nachdem es ihnen gelungen war, das Themenfeld „Sicherheitsdefizite in Westeuropa“ zu besetzen, auch die in den fünfziger Jahren angeknüpften Verbindungen zu sozialdemokratischen/sozialistischen Parteien wiederzubeleben vermochten, insbesondere in Ländern, in denen sich diese Parteien in der Opposition (z. B. Großbritannien) oder auf dem Wege dorthin (z. B. Bundesrepublik vor 1982) befanden. Weil auch von dieser Seite her neben gruppenspezifischen Interessen die politische Zielvorstellung von der Überwindung des Ost-West-Konflikts, z. B. über ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem, atomwaffenfreie Zonen usw., eingebracht wurde, insgesamt der Topos von der „Europäisierung Europas“ antiamerikanische Konturen bekam, verstärkten sich die inneratlantischen Selbstwahrnehmungsprobleme noch weiter.
Zum Meinungsklima in Westeuropa zu Beginn der achtziger Jahre
Abbildung 3
Tabelle 3: Zentrale Probleme in der Europäischen Gemeinschaft Quelle: Euro-Barometer vom 20. Dezember 1983, S. 44. (Werteskala von 1 = „überhaupt nicht wichtig“ bis 4 = „sehr wichtig“)
Tabelle 3: Zentrale Probleme in der Europäischen Gemeinschaft Quelle: Euro-Barometer vom 20. Dezember 1983, S. 44. (Werteskala von 1 = „überhaupt nicht wichtig“ bis 4 = „sehr wichtig“)
Wie hängt nun die Krisenperzeption in den Friedensbewegungen mit dem Meinungsklima in der Bevölkerung zusammen? Haben sich etwa in Westeuropa insgesamt oder in einzelnen Ländern die Bedrohungsvorstellungen in den letzten Jahren grundlegend verändert? Die Daten, mit denen diese Fragen beantwortet werden sollen, stammen aus der Umfrageforschung und verlangen einen vorsichtigen Umgang.
Da alle sozialen Protestbewegungen immer nur im Zusammenhang mit sozialen Krisen existie-ren, kann man sich bei der Auswahl solcher Daten auf Aussagen über Zukunftsängste und -hoffnungen konzentrieren. Es liegt nahe, Antwort auf die Frage nach Verbreitung und Intensität von Kriegsfurcht zu suchen. In Tabelle 1 sind weniger die Prozentzahlen von Interesse, als vielmehr die Trendentwicklung. Gefragt wurde nach der Beurteilung der Gefahr eines neuen Weltkriegs im nächsten Jahrzehnt.
Die Tabelle 1 zeigt eindrucksvoll den Verlauf der Themenkonjunktur, welche die Friedensbewegungen in Westeuropa zwischen 1977 und 1983 emportrug, sie danach dann wieder, eigentlich ziemlich unsanft, an ihren Ausgangspunkt absetzte. Aber auch 1984 waren Frauen und jüngere Befragte (15— 24 Jahre) im Durchschnitt besorgter als Männer und Ältere.
1982 wurden einem repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung in der Europäischen Gemeinschaft eine Liste mit zehn Werten und dazu die Frage vorgelegt: „Für welche großen Ziele aus der folgenden Liste lohnt es sich ihrer Ansicht nach heutzutage, Risiken einzugehen oder Opfer auf sich zu nehmen?“
Die Art der Fragestellung gibt allerdings den unterschiedlichst motivierten Individuen, z. B. Soldaten und Aktivisten der Friedensbewegung, den Impuls, guten Gewissens den Frieden an die Spitze dieses Katalogs zu setzen.
Die Ergebnisse der empirischen Soziologie legen die Vermutung nahe, daß Sicherheitsbedürfnisse gegenüber äußeren Gefahren in ihrer allgemeinen Wertigkeit erst nach wirtschaftlichen Sicherheitsbedürfnissen rangieren Wenn die wirtschaftliche Entwicklung in düsteren Farben gesehen wird, scheint in einer Art Übersprungeffekt auch die Kriegsfurcht rascher zu steigen.
Ein solcher Zusammenhang ergibt sich jedenfalls aus der folgenden Tabelle 3. Hier wurde nach wichtigen sozialen Problemen gefragt, die auf einer Werteskala von 4 (= sehr wichtig) bis 1 (= überhaupt nicht wichtig) unterzubringen waren. Eine Differenz von weniger als 0. 13 gilt als nicht signifikant.
Die nur auf den ersten Blick verwirrende Zahlen-vielfalt spiegelt eine überaus feste Struktur in der Problemsicht der Befragten, sowohl was innergesellschaftliche als auch was zwischengesellschaftliche Probleme betrifft. In allen Ländern steht die Beschäftigungsproblematik obenan. Die zweite Position teilen sich Umwelt-und Terrorismus-Probleme.
Man darf annehmen, daß deshalb die im Jahr 1982 in der Europäischen Gemeinschaft insgesamt erhobenen Daten über Zukunftshoffnungen und Zukunftsängste im Kern für alle einzelnen Länder gleich und für die ersten beiden Drittel der achtziger Jahre gültig sind (Tabelle 4).
Gewachsene Kriegsangst und angestiegene Dringlichkeit des Friedenswunsches, das ergibt sich aus diesen Daten, können nur im Zusammenhang einer allgemein eher pessimistischen Zukunftsperspektive gesehen werden und als gegenüber ökonomischen Sicherheitsbedürfnissen nachgeordnet.
Die Datenlage zu dem speziell von den Friedensbewegungen aufgenommenen Thema zeigt eine ungleiche Verteilung der Meinungen in Westeuropa. Auf die Frage, was die Sicherheit ihres Landes am meisten gefährde, die Präsenz sowjetischer Raketen in Osteuropa oder die geplante Stationierung von NATO-Mittelstrecken-Raketen in Westeuropa, gab es 1981 die aus Tabelle 5 ersichtlichen Antworten.
Wie nachdrücklich die jeweilige Fragestellung das Ergebnis einer Umfrage bereits mitbestimmt, wird an einer Gallup-Umfrage deutlich. Gefragt wurde, ob die Stationierung von US-Mittelstrekkenraketen die Gefahr eines Angriffs auf Europa größer oder geringer werden lasse (vgl. Tabelle 6).
Auf die berühmte Bündnisfrage („mit den USA oder mit der UdSSR?“) gab es 1981 die in Tabelle 7 enthaltenen Antworten.
Der in dieser letzten Umfrage durchgängig starke Neutralitätswunsch ist in seiner Größenordnung durch die Fragestellung induziert worden. Zu offenkundig kann mit diesem Begriff die Möglichkeit assoziiert werden, man könne sich und sein Land aus den unerfreulichen Ost-West-Querelen heraushalten. In der Bundesrepublik Deutschland sprachen sich 1981 rund 35 % der Befragten für und rund 63 % gegen eine Neutralität nach österreichischem Muster aus befürworteten aber zu 45 % eine größere Distanz zu den USA, sofern diese eine Anpassung der westdeutschen Politik an ihre Konfrontationspolitik gegenüber Osteuropa fordern sollten l Man kann deshalb vermuten, daß — bis zu einem gewissen Grade ist Frankreich hier auszunehmen — der ausgedrückte Neutralitätswunsch eher die Überzeugung spiegelt, man müsse sich von einer eher konfrontativen amerikanischen Außenpolitik distanzieren. Aus dem hier vorgelegten und umfangreichen weiteren Material folgern wir, daß die in Westeuropa und übrigens auch in den USA erkennbare Sympathie mit den allgemeinsten Zielen der Friedensbewegungen in der Bevölkerung zunächst ein Reflex auf die Verschärfung der weltpolitischen Lage war und vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Unsicherheiten begriffen werden muß. Merklich verringert sich diese Sympathie, wenn es um einzelne oder spezielle Ziele der Bewegung geht. In keinem der Länder der NATO, in denen es zwischen 1979 und 1983 zu allgemeinen Parlamentswahlen gekommen ist, konnte sich das Friedens-Thema als wahlentscheidend durchsetzen; die Parteien, die dieses Thema in den Vordergrund ihres eigenen Wahlkampfs schoben, mußten bittere Niederlagen hinnehmen.
Zukunft des sicherheitspolitischen Protests
Abbildung 4
Tabelle 4: Zukunftshoffnungen und -ängste in der EG (in %) Quelle: Die Europäer über sich selbst. Zehn Jahre Euro-Barometer 1973— 1983, hrsg. vom Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaft, Luxemburg 1983, S. 38f.
Tabelle 4: Zukunftshoffnungen und -ängste in der EG (in %) Quelle: Die Europäer über sich selbst. Zehn Jahre Euro-Barometer 1973— 1983, hrsg. vom Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaft, Luxemburg 1983, S. 38f.
Die Frage nach der Zukunft sicherheitspolitischer Protestbewegungen kann man auf verschiedene Art zu beantworten versuchen. Trotz aller strukturell angelegten Ähnlichkeiten dieser Bewegungen in Westeuropa haben alle auch ein spezifisches Profil, das von den politischen Traditionen, der Kultur und den sozialen und politischen Bedingungen in den einzelnen westeuropäischen Gesellschaften bestimmt wird. Aber selbst, wenn man die jeweiligen Besonderheiten, so weit es geht, aus dem Blick läßt, ergeben sich noch unterschiedliche Ansätze.
Der themenspezifische Ansatz betont einmal den schematischen Verlauf einer bestimmten Themenkonjunktur, und zweitens fragt er nach künftigen Entwicklungen innerhalb des Themenfeldes (hier also: der Sicherheitspolitik), auf dem möglicherweise neue Einzelthemen mit Mobilisierungskraft erwachsen können.
Die Themenkonjunktur, die die westeuropäischen Friedensbewegungen zwischen 1977 und 1983 pfleglich ausnutzen konnten, rankte sich um die beiden Themen Neutronenwaffe und NATO-Doppelbeschluß. Letzterer, von seinen Initiatoren ja als Rüstungskontrollmaßnahme gedacht, hat durch die Zeitgrenze 1983 Intensität und Dauer der Themenkonjunktur mitbestimmt. Am Ende eines Themenkonjunkturbogens ist ein einigermaßen komplexes Thema natürlich keineswegs ausdiskutiert, aber es hat seine Mobilisierungskraft eingebüßt. In der Geschichte der Bundesrepublik ist ein solcher Bogen mehrfach zu beobachten; und selbst den soziologisch geschulten Beobachter wird immer wieder in Erstaunen setzen, wie rasch sein Abfall erfolgt und wie quasi von heute auf morgen die Brisanz eines Themas im öffentlichen Bewußtsein verfliegt. So ging es mit der Wiederbewaffnung und auch mit den Notstandsgesetzen, um nur zwei Beispiele zu nennen; und in ähnlicher Weise ist auch das Thema der Raketenstationierung seit dem November 1983 bar aller Massenwirksamkeit.
Wie aber sieht es mit dem Themenfeld der Sicherheitspolitik insgesamt aus? Es gibt immerhin Anzeichen dafür, daß aus dem aktivistischen Kern der Friedensbewegungen heraus nach einem „neuen“ öffentlichkeitswirksamen Mobilisierungsthema gesucht wird, wenngleich die neu gefundenen Themen bislang die ersten Tests nicht recht überstanden haben, teils weil sie — wie das Thema „Airland Battle“ — doch zu fachspezifisch, teils weil sie — wie das Thema „Strategie Defense Initiative“ — (noch?) zu diffus sind. Grundsätzlich indes erscheint das Themenfeld der Sicherheitspolitik auch in Zukunft „bewegungssoziologisch“ interessant. Das militärische Risiko im Ost-West-Konflikt kann ja nur durch eine effiziente antagonistische Kooperation insbesondere auf der Ebene USA/UdSSR so kalkulierbar und handhabbar gemacht werden, daß es sowohl im Sektor globaler intersystemarer Konkurrenz als auch im Sektor der Verteidigungsfähigkeit durch Verteidigungsbereitschaft akzeptabel ist. Die Versuchung zur „Flucht aus dem Ost-West-Konflikt“, denen sich insbesondere die Westeuropäer und unter ihnen wegen ihrer nationalen Problematik die Westdeutschen auch in Zukunft ausgesetzt sehen, wird ihre Anziehungskraft dann noch steigern können, wenn zugleich auch die wirtschaftlichen und politischen Probleme innerhalb der westlichen Industriestaaten weiterhin oder gar vermehrt auf die westlichen Bündnisse Druck ausüben werden.
Dies leitet über zu einem zweiten Ansatz, den man bewegungssoziologisch nennen könnte. Hier geht es um die Frage nach der sozialen Trägerschaft des politischen Protests und nach den sozio-kulturellen Rahmenbedingungen für seine Formierung, wobei das im engeren Sinne mobilisierende Thema letztlich zweitrangig bleibt. Wie also sehen Umfang und Struktur des Protestpotentials in Westeuropa aus?
Gut gesichert ist hier die Ausgangshypothese, daß die Probleme wirtschaftlicher Sicherheit alle anderen überschatten und erst diejenigen Verhältnisse schaffen, in denen soziale Unzufriedenheit und politischer Protest gedeihen. Dabei ist wichtig — wichtiger als der Sachverhalt allgemeiner wirtschaftlicher Unsicherheit —, daß die Verteilung der Krisenlasten und -folgen als sozial ungleich und ungerecht wahrgenommen wird. Neben anderem ist hier vor allem die Streuung des Beschäftigungsrisikos (Arbeitslosigkeit) zu nennen.
Schwieriger werden Prognosen bei der sozialen Trägerschaft des Protests. Die konfliktfähigste Gruppe innerhalb des Protestpotentials stellen zweifellos die jungen Leute des neuen Mittelstandes dar. Hier haben sich nun in den letzten Jahren zwei verschiedene Oppositionshaltungen herausgebildet, der Neokonservatismus einerseits und die neuen sozialen Bewegungen seit 1968 andererseits. Beide Gruppen wollen, mit zum Teil verblüffenden Zielüberschneidungen, sich selbst und der Gesellschaft neue Zukunftschancen eröffnen. Beide Gruppen stehen für eine ansatzweise Radikalisierung des Mittelstandes, durch welche die nach 1945 entwickelten politischen Kräftekonstellationen, z. B. die herkömmlichen Parteien der Mitte, unter Druck geraten. Es ist sehr wahrscheinlich, daß die aktiven Träger gesellschaftlicher Konflikte weiterhin die jungen Leute des Mittelstandes sein werden.
Die neuen sozialen Bewegungen werden sich themenspezifisch kaum weiterentwickeln können. Für die Friedensbewegungen als eines ihrer Elemente bedeutet das, daß sie sich wegen der unübertrefflichen Breite ihres Leitmotivs Frieden nach dem Abklingen der Einheitlichkeit der Bewegung in segmentierten Themen-und Protestbereichen immer wieder in Erinnerung bringen werden und mithin bald zu allem und jedem ihren Protest wirksam zur Kenntnis zu geben versuchen.
Hier muß man allerdings sehr genau auf die Unterschiede zwischen einzelnen westeuropäischen Gesellschaften achten. Denn jene beschriebene „Fehde“ innerhalb des Mittelstandes spielt sich überall ein wenig anders als beim Nachbarn ab.
Die Antwort auf die Frage nach der nächsten populistischen Wendung des neuen Mittelstandsradikalismus kann deshalb auch nicht einheitlich ausfallen. Im übrigen sind sich hier nicht nur die Beobachter, sondern auch die Strategen der neuen sozialen Bewegungen und der Friedensbewegungen nicht einig, wie sich an den Auseinandersetzungen etwa in der Bundesrepublik und in den Niederlanden (den beiden interessantesten Beispielen) nach 1983 erkennen läßt. Die einen unter den zuletzt genannten wollen die , besseren 4 Sozialisten/Sozialdemokraten werden und die entsprechenden Parteien beerben. Andere halten eine solche Strategie für falsch, weil nicht mehrheitsfähig. Sie wollen deshalb ohne den Umweg über konservative Parteien in das konservative Lager der Bevölkerung einbrechen; über das Thema Umwelt-und Naturschutz und, in der Bundesrepublik, über das Thema Wiedervereinigung bieten sich Wege für eine solche Strategie in der Tat auch an.
Legt man die demoskopischen Untersuchungen zugrunde, dann liegt der größere Bewegungsspielraum für die neuen sozialen Bewegungen und für die Friedensbewegung auf der rechten Seite des politisch-ideologischen Rechts-links-Schemas. Denn in das linke Spektrum sind sie schon tief eingebrochen und stoßen jetzt an Potentialgrenzen. Demgegenüber ist zu betonen, daß die allseits mit geringer Aufmerksamkeit wahrgenommenen national-revolutionären Elemente der neuen sozialen Bewegungen in ihnen strukturell angelegt sind und keine Verirrungen rechter Splittergruppen darstellen. Es ist unwahrscheinlich, daß diese „Rechtsentwicklung“ sich mit den eher sozialistischen und international ausgerichteten Strömungen innerhalb der Bewegungen vereinbaren läßt. Unmöglich ist eine solche Amalgamierung aber nicht. Käme es dazu, geriete das politische System allerdings in eine fatale Zange.
Rudolf Horst Brocke, Dipl. -Politologe, geb. 1948; Wiss. Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg. Veröffentlichungen u. a.: (zusammen mit Wilfried von Bredow) Einführung in die internationalen Wirtschaftsbeziehungen, Stuttgart 1981; Deutschlandpolitische Positionen der Bundestagsparteien — Synopse (Erlanger Beiträge zur Deutschlandpolitik, Bd. 1), Erlangen 1985.
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