1979 wurde das Europäische Parlament erstmals direkt gewählt. In der Mitte der zweiten Wahlperiode dieser Institution wird bei Wählern und Abgeordneten eine zunehmende Enttäuschung über die nach wie vor unbefriedigende rechtliche und politische Stellung des Europäischen Parlaments im System der Europäischen Gemeinschaft deutlich. Gründe hierfür sind die noch immer zu geringe Kompetenzausstattung, mehr aber noch vielleicht die bei vielen Kommentatoren und Akteuren zu beobachtende unangemessene Orientierung an traditionellen Parlamentsleitbildern, die zwar für nationale Volksvertretungen, kaum aber für das Europäische Parlament einen geeigneten Bewertungsmaßstab darstellen. Zur Vermeidung weiterer Irritationen mit der Gefahr einer noch weiterreichenden Abkehr der Wähler vom Europäischen Parlament ist die Ausarbeitung und Vermittlung geeigneter Bewertungsmaßstäbe, aus denen sich ein neues Parlamentsleitbild herauskristallisieren kann, dringend notwendig. Aus den Strukturgegebenheiten des EG-Systems und den Erwartungen der Bürger an diese Institution lassen sich Politikgestaltung, Systemgestaltung und Interaktion mit dem Wähler als dessen parlamentarische Funktionen ableiten. Politikgestaltung beschreibt die Fähigkeit des Parlaments zur Initiierung, Gestaltung und Kontrolle bestehender EG-Politiken; Systemgestaltung zielt auf seine Aktivitäten zur Weiterentwicklung des EG-Systems; Interaktion untersucht die Beziehungen zwischen Wählern und Abgeordneten. Eine vorläufige Bilanz der Funktionenwahrnehmung zeigt positive Ergebnisse bei der Initiative, der Kontrolle und der Artikulation, während hinsichtlich der Systemgestaltung, der Aggregation und Mobilisierung der Bürger deutliche Defizite bestehen. Als besonders bedenklich einzuschätzen ist die geringe Fähigkeit des Parlaments, EG-Entscheidungen in seinem Sinne zu beeinflussen. Funktionsdefizite in einzelnen Teilbereichen beeinträchtigen eine erfolgreiche Wahrnehmung anderer Funktionselemente. Versucht man, aus diesen Ergebnissen die Konturen eines neuen Leitbildes für das Europäische Parlament zu skizzieren, so ist auf die Notwendigkeit zu verweisen, daß das Parlament mit den Funktionen von Politikgestaltung und Interaktion seine gegenwärtigen Handlungsmöglichkeiten, mit der Systemgestaltungsfunktion zugleich aber auch seine Zukunftsziele verdeutlicht. Innerhalb dieses Gesamtrahmens können drei wesentliche Beiträge für das gegenwärtige EG-System deutlich gemacht werden: die demokratische Kontrolle, die Initiierung neuer Politikvorschläge und die Artikulation der Sorgen und Nöte der EG-Bürger. Offen bleibt, ob die Wähler ein derartiges Parlamentsverständnis mittragen werden. Das Europäische Parlament wird auf absehbare Zeit in einem Spannungsverhältnis zwischen weitreichenden Erwartungen und widrigen Umfeldbedingungen leben müssen.
Beitrag enthält die komprimierten Ergebnisse eines von der Stiftung Volkswagenwerk geförderten gemeinsamen Forschungsprojekts des Institutsfür Integrationsforschung der Stiftung Europa-Kolleg Hamburg und des Institutsfür Europäische Politik Bonn. Eine ausführliche Publikation der Projektergebnisse ist für die zweite Jahreshälfte 1986 geplant. Arbeitstitel: Eberhard Grabitz/Otto Schmuck/Sabine Steppat/Wolfgang Wessels, Das direkt-gewählte Europäische Parlament im System der EG. Strukturen und Funktionen, Bonn 1986.
I. Enttäuschte Erwartungen nach der Direktwahl
1979 wurde zum ersten Male das Europäische Parlament direkt gewählt. Zum damaligen Zeitpunkt war kaum abzusehen, welche Rolle diese mit nationalen Volksvertretungen nicht vergleichbare supranationale Institution im politischen System der Europäischen Gemeinschaften würde einnehmen können. Entsprechend war die Einführung von Europawahlen —je nach Interessenlage — von weitreichenden Hoffnungen und Erwartungen, aber auch von Skepsis und Befürchtungen begleitet. Zwar wurden die von Abgeordneten und Beobachtern bereits seit langem als unzureichend kritisierten Parlamentsbefugnisse im Zusammenhang mit der ersten Direktwahl nicht erweitert, doch herrschte vor 1979 vielfach die Auffassung vor, einer direktgewählten Volksvertretung werde aufgrund ihrer im Wahlakt erlangten höheren Legitimität ein größerer politischer Einfluß zuwachsen. In absehbarer Zeit werde sie sich zudem größere Entscheidungsrechte erkämpfen Heute sind derartige Erwartungen einer zunehmenden Ernüchterung und Enttäuschung gewichen. Europawahlen sind zum „politischen Normalfall" geworden. Wahlkampf und Wahlergebnisse der zweiten Europawahl 1984 waren aus der Sicht des Europäischen Parlaments und seiner Mitglieder kaum zufriedenstellend. In nahezu allen EG-Staaten dominierten nationale Themen. Die Wahlbeteiligung blieb mit 59, 1 Prozent geDieser genüber 62, 4 Prozent im Jahre 1979 vergleichsweise gering. In der Bundesrepublik war sogar ein Rückgang bei der Wahlbeteiligung um 8, 9 Prozent zu verzeichnen. In der wissenschaftlichen Diskussion wurde die Wahl als — gescheitertes — europäisches Referendum oder als nationale Nebenwahl interpretiert
Die Gründe für dieses vergleichsweise geringe Interesse an der Europa-Wahl und der Institution selbst sind vielfältig: Im Vordergrund steht hierbei häufig die politische Machtlosigkeit des Parlaments, die an seiner geringen Kompetenzausstattung festgemacht wird. Die Wähler schätzen die Bedeutung des Europäischen Parlaments im EG-Entscheidungsprozeß als gering ein Die Medien nehmen von seiner Arbeit nur am Rande Notiz Entsprechend schwach ausgeprägt sind die Kenntnisse der Öffentlichkeit von dieser Institution Nach übereinstimmender Einschätzung von Europa-Abgeordneten, Beobachtern und befragten EG-Bürgern entspricht die Rolle, die das Europäische Parlament gegenwärtig in der Europäischen Gemeinschaft zu spielen vermag, weder den Hoffnungen und Erwartungen, die vor der Einführung europäischer Direktwahlen 1979 geweckt worden waren, noch der dem Parlament im Wahlakt von den Wählern verliehenen formalen demokratischen Legitimität.
Die bisherigen Versuche der Europa-Abgeordneten, die institutionelle Stellung ihrer Institution — vor allem im Bereich der Gesetzgebung — zu verbessern, schlugen weitgehend fehl. Der verfassungsähnliche „Vertragsentwurfzur Gründung einer Europäischen Union“ der vom Europäischen Parlament am 14. Februar 1984, kurz vor der zweiten Direktwahl, verabschiedet worden war, wurde von den Regierungen der EG-Mitgliedstaaten, denen bei der Ausgestaltung des EG-Systems eine überragende Bedeutung zukommt, kaum zur Kenntnis genommen. Statt dessen einigten sich die Vertreter der EG-Regierungen im Februar 1986 auf die „Einheitliche Europäische Akte“, die für das Europäische Parlament nur wenige substantielle Verbesserungen bringt
Nach diesen Erfahrungen deutet wenig darauf hin, daß das Europäische Parlament im System der Europäischen Gemeinschaft in absehbarer Zeit eine den nationalen Volksvertretungen vergleichbare Stellung als Entscheidungsorgan für Legislativakte und die Wahl einer europäischen
Exekutive einnehmen wird. Gerade diesen beiden Elementen kommt aber im traditionellen Leitbild bei der Beschreibung von parlamentarischen Funktionen ein zentraler Stellenwert zu Damit scheinen Enttäuschungen bei Bürgern und Abgeordneten, die im Hinblick auf das Europäische Parlament gleichermaßen zumeist an nationalen Erfahrungen orientiert sind, vorprogrammiert. Die Folge könnte in einer weiteren Abwendung von dieser Institution bestehen, mit einer noch geringeren Beteiligung bei zukünftigen Europa-Wahlen und Kandidaten, die von ihrer politischen Potenz her keineswegs zur ersten Garnitur der nationalen Parteien zu rechnen wären.
Das Europäische Parlament steht somit heute an einem Scheideweg: Entweder es gelingt ihm, in wesentlich stärkerem Maße als bisher ein eigenständiges Rollenprofil zu entwickeln und dieses seinen Wählern zu verdeutlichen, oder aber es wird auf unabsehbare Zeit in das politische Abseits gestellt werden, mit erheblichen Folgen für seine eigene institutioneile Bedeutung und für die politische Glaubwürdigkeit des EG-Systems und des Instruments direkter Wahlen.
Gefordert ist demnach die Ausarbeitung und Vermittlung eines der institutioneilen und politischen Stellung des Europäischen Parlaments im gegenwärtigen EG-System gerecht werdenden parlamentarischen Leitbildes, an dem die Bürger ihre Erwartungen, die politischen Akteure ihre Aktivitäten und die Beobachter ihre Bewertung ausrichten können. Doch dürfen derartige Anstrengungen nicht bei kosmetischen Image-Verbesserungen stehen bleiben. Auch ein Leitbild, das auf die Handlungsmöglichkeiten des Europäischen Parlaments in stärkerem Maße zugeschnitten ist als das herkömmliche, macht weitreichende Reformen seiner Kompetenzausstattung, seiner internen Arbeitsstruktur und der Vermittlung seiner Aktivitäten zum Wähler keineswegs überflüssig; denn das Europäische Parlament muß in den Augen der Wähler als eine Institution erscheinen, die für das EG-System einen bedeutsamen Beitrag leistet. Nur so lassen sich weitere Irritationen und Enttäuschungen verhindern. Die im EG-System zunehmenden Verflechtungstendenzen stehen allerdings einer derartigen Demokratisierung und Parlamentarisierung in starkem Maße entgegen. Der vorliegende Beitrag gibt ein Raster von Funktionen zur Bewertung der Parlamentsaktivitäten vor und fragt danach, inwiefern das direktgewählte Europäische Parlament bisher seine parlamentarischen Funktionen ausfüllen konnte. Am Schluß finden sich einige Hinweise darauf, unter welchen Rahmenbedingungen das Parlament in Zukunft seine Funktionen effektiver wahrnehmen und durch die Akzentuierung bestimmter Teilbereiche ein neues parlamentarisches Leitbild entwickeln kann. Zunächst jedoch sollen einige Besonderheiten des EG-Systems, die zum Verständnis der Parlamentsstellung notwendig sind, dargestellt werden.
II. Das Europäische Parlament im System der Europäischen Gemeinschaften
1. Der Verflechtungscharakter des EG-Systems
Die Schwierigkeiten, denen sich das Europäische Parlament gegenübergestellt sieht, ergeben sich zu einem großen Teil aus den Besonderheiten des politischen Systems, in dem es wirkt. Es handelt sich beim EG-System weder um ein Staatsmodell nach traditionellem (föderalem) Muster, in welchem dem Parlament als demokratisch legitimierter Entscheidungsinstanz im Legislativbereich und bei der Wahl der Exekutive eine starke Stellung zukommt, noch um eine klassische Form internationaler Zusammenarbeit, bei der ein nicht zwingend notwendiges Parlament allenfalls eine Rolle als politisch und rechtlich wenig bedeutsames Diskussionsforum einnehmen kann. Statt dessen stellt dieses System ein Mit-und Nebeneinander von EG und Mitgliedstaaten dar, das wesentliche Entscheidungen für die Bürger trifft und eine beachtliche Variationsbreite von unterschiedlichen Zuständigkeitsregelungen und Verfahrens-mustern aufweist. Als drei wesentliche Merkmale zur Charakterisierung des EG-Systems können der Gesamtumfang der vom EG-System beeinflußten Politikmaterien („funktionale Reich-* weite“), die rechtliche Kompetenzverteilung zwischen gemeinschaftlicher und nationaler Ebene und die institutioneile Struktur zur Problembearbeitung herangezogen werden.
Verflechtung bezeichnet einen dynamischen Prozeß der Ausdehnung der funktionalen Reichweite des EG-Systems bei zunehmender rechtlicher Überlappung und Vermischung von nationalen und EG-Kompetenzen und bei erheblicher Schwerfälligkeit der auf dem Konsensprinzip basierenden, von den nationalen Regierungen dominierten Entscheidungsverfahren.
Das EG-System umfaßt heute weit mehr als die in den Verträgen zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1951 bzw. 1957 niedergelegten Gemeinschaftsmaterien. Die Grenzen dieses Systems sind wenig präzise und werden von den politischen Akteuren je nach Interessen-und Problemlagejeweils neu definiert. Doch ist die Zuweisung neuer Materien zum EG-System durch die Mitgliedstaaten von Dauer. Neben den traditionellen EG-Zuständigkeiten, z. B. in der Zoll-, Handels-und Agrarpolitik, gehören zum EG-System heute zahlreiche eng mit der Gemeinschaft verbundene gemeinsame Aktivitäten der Mitgliedstaaten, für die die Gemeinschaft über keine originären Zuständigkeiten verfügt. Diese Materien bereiten dem Europäischen Parlament als Gemeinschaftsorgan erhebliche institutioneile Probleme, da seine Entscheidungsbefugnisse zunächst nur auf den Zuständigkeitsbereich der EG ausgerichtet sind. Die im EG-System eingesetzten Instrumente — hier-B unter wird die Wahrnehmung von Zuständigkeiten in der Gesetzgebung und/oder in der Verwaltung verstanden— lassen sich idealtypisch drei verschiedenen Bereichen zuordnen:
— Im Gemeinschaftsbereich verfügt die EG über klar definierte Kompetenzen für die hier eingesetzten Instrumente. Die Entscheidungen verlaufen entsprechend den in den EG-Verträgen vorgesehenen Verfahren. Finanzwirksame Aktionen werden aus dem EG-Haushalt finanziert. Hier hat das Europäische Parlament einige — wenn auch begrenzte — Entscheidungsrechte, wie etwa die Befugnis, über die Aufstellung des EG-Haushalts mitzuentscheiden oder der Kommission das Mißtrauen auszusprechen. Diese Parlamentsrechte werden jedoch nicht in allen Gebieten der EG-Materien gleichermaßen wirksam. Hinzu kommen die Mitwirkungsrechte in der Gesetzgebung in Form von obligatorischen Anhörungen vor Entscheidungen des Rates.
— Im Koordinierungsbereich verfügt die Gemeinschaft nicht über eigene Zuständigkeiten. Die Kompetenz über die hier eingesetzten Instrumente verbleibt ausschließlich bei den Mitgliedstaaten, bei denen ein Interesse besteht, zur wirksamen Inangriffnahme gemeinsamer Probleme nationale Instrumente koordiniert einzusetzen. Die hierbei angewandten Verfahren können von der stillschweigenden Übereinkunft zu einem gleichgerichteten Verhalten (beispielsweise einem gemeinsamen Stimmenverhalten in internationalen Konferenzen) über formelle Regierungsvereinbarungen — wie etwa im Falle des Europäischen Währungssystems (EWS) oder der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) — bis hin zu vertraglich vorgesehenen Koordinierungsgeboten, z. B. in der Wirtschafts-und Währungspolitik, reichen. Das Europäische Parlament verfügt hier über einige selektive außervertragliche Beteiligungsformen, z. B. das Recht, an die EPZ-Präsidentschaft Fragen zu stellen. Entscheidungs-und Mitwirkungsrechte sind nicht vorhanden. — Im Gemischten Bereich wird ein Instrumentarium eingesetzt, das sowohl aufnationalen wie auf EG-Kompetenzen beruht. Bei „gemischten Ver25 trägen“ mit Drittstaaten — wie dem Lome-Abkommen mit heute 66 Entwicklungsländern — oder Aktionsprogrammen in der Bildungs-und Sozialpolitik werden einzelstaatliche und europäische Zuständigkeiten gebündelt, um die angestrebten Ziele umfassend und ohne juristische Komplikationen erreichen zu können. Das Europäische Parlament verfügt in diesem Gemischten Bereich neben außervertraglichen Beteiligungsmöglichkeiten, wie dem Fragerecht, nur insoweit über vertragliche Entscheidungs-und Mitwirkungsrechte, als Gemeinschaftskompetenzen berührt sind.
In jedem dieser drei Bereiche ist die Zuständigkeitsverteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten anders definiert. Trotz einiger bedeutsamer Differenzen könnte man den Gemeinschaftsbereich entsprechend dem traditionellen föderalen Muster mit einer übergeordneten bundesstaatlichen Ebene vergleichen, zu der die EG-Mitgliedstaaten — auch wenn sie die Entscheidungsfindung in diesem Bereich mit spezifischen Konsensverfahren weitgehend beherrschen — als Gliedstaaten in einem untergeordneten Verhältnis stehen. Demgegenüber befinden sich die Mitgliedstaaten umgekehrt im Koordinierungsbereich in einer dominierenden Position, während die Gemeinschaft bei diesen Materien ohne eigene Zuständigkeiten ist und hier allenfalls organisatorische und inhaltliche Hilfestellungen geben kann. Im Gemischten Bereich schließlich wirken EG und Mitgliedstaaten nach der Formel „Zwölf plus Eins“ gleichberechtigt zusammen.
Seit Beginn der siebziger Jahre wurde der Verflechtungscharakter des EG-Systems zunehmend gestärkt. Die Mitgliedstaaten waren zu einer Ausweitung des Gemeinschaftsbereichs nicht bereit, sondern setzten auf eine Bündelung nationaler Instrumente im Koordinierungs-bzw. auf eine Koppelung nationaler und EG-Instrumente im „Gemischten Bereich“. Grund hierfür war ihr Bestreben, weiteren Souveränitätsverlusten und Störeinflüssen von aus ihrer Sicht unkontrollierbaren Akteuren, zu denen auch das Europäische Parlament gerechnet wird, auszuweichen. Dieser Haltung entspricht das Bemühen der Regierungen, auch im Gemeinschaftsbereich einen beherrschenden Einfluß auszuüben. Waren für die EG-Instrumente zunächst supranationale Entscheidungsregeln vorgesehen, so verhinderten die Regierungen durch ihr Beharren auf der Einstimmigkeitsregel, durch die starke Einbindung des Ausschusses der Ständigen Vertreter beim Rat und durch die weitreichende Kompetenzausstattung der zahlreichen bei der Kommission eingerichteten Verwaltungsausschüsse eine starke Stellung der Gemeinschaftsorgane Parlament und Kommission.
Die nationalen Regierungsvertreter dominieren demnach heute in allen Bereichen des EG-Systems, jedoch jeweils in unterschiedlich starkem Ausmaß, den Entscheidungsprozeß. Sie wollen in um so stärkerem Maße nationale Kontrolle ausüben, je mehr eine beabsichtigte gemeinsame Maßnahme ihre einzelstaatliche Politiksteuerungsfähigkeit beeinflussen würde. Sie suchen nach Lösungen, die allen begrenzte Vorteile versprechen, da sie die Problembearbeitung jeweils alleine nicht wirksam genug gestalten können. Der vorhandene Konsenszwang hat große Unbeweglichkeit und Entscheidungsschwächen bei der Problembewältigung zur Folge, denen jedoch eine vergleichsweise hohe Akzeptanz und Stabilität des Gesamtsystems gegenüberstehen, die aus zwei Faktoren resultieren: Zum einen akzeptieren die EG-Bürger auch das europäische Handeln ihrer im einzelstaatlichen Rahmen legitimierten nationalen Akteure (Minister, Beamte, InteressenVertreter), zum anderen beruhen die von den nationalen Akteuren vertretenen Positionen auf einem über längere Zeiträume hinweg in der Auseinandersetzung von Parteien, Interessengruppen und Medien gewachsenen innerstaatlichen Konsens. Ein einmal auf europäischer Ebene gefundener Kompromiß, der auf diesem innerstaatlichen Konsens aufbaut, kann deshalb zumeist auch ohne allzu große innerstaatliche Widerstände national umgesetzt werden. Das EG-Verflechtungssystem weist somit trotz — möglicherweise auch wegen — seiner schwerfälligen Entscheidungsfindung einen beachtlichen Grad an Stabilität und Akzeptanz auf.
Gleiches läßt sich jedoch für die demokratische Legitimierung der Entscheidungsverfahren nicht sagen. Denn die Parlamente auf nationaler wie auf europäischer Ebene bleiben aus diesen Verhandlungen der Regierungsbürokratien weitgehend ausgeschlossen. Ein Kompromiß zwischen den beteiligten Regierungen muß mühsam erarbeitet werden und wird häufig als so wertvoll ein-B gestuft, daß parlamentarische Bemerkungen kaum zur Kenntnis genommen werden. Demokratische Mitsprache wird zum lästigen Störfaktor. 2. Die institutionelle und politische Stellung des Europäischen Parlaments Der Verflechtungscharakter des EG-Systems hat demnach für die Stellung des Europäischen Parlaments weitreichende Auswirkungen. Sein Einfluß ist wesentlich davon abhängig, ob und inwieweit es auf den Einsatz und die Ausstattung von Instrumenten des EG-Systems rechtlichen Einfluß nehmen kann. Doch verlaufen die Entscheidungen im EG-System nicht mechanisch nach rechtlichen Bestimmungen. Denn für die Beeinflussung von Entscheidungen sind neben den vorhandenen Rechten der Akteure auch die jeweiligen Verhandlungskonstellationen zum Zeitpunkt einer Entscheidung von Bedeutung.
Wegen des vorherrschenden Bemühens um Konsens werden bevorzugt Paketlösungen ausgehandelt, die allen Beteiligten Vorteile bei bewußter Inkaufnahme einiger Nachteile versprechen. Der Einfluß eines Entscheidungsakteurs hängt hierbei in erster Linie davon ab, ob er den Mitspielern etwas anbieten („positive Sanktionen“) oder etwas verwehren („negative Sanktionen“) kann. Die vorhandenen Sanktionsinstrumente müssen sich nicht in jedem Fall direkt auf die Materien beziehen, die konkret beeinflußt werden sollen. Beispielsweise kann das Parlament mit einem bestimmten Verhalten im Haushaltsverfahren den Rat zu Zugeständnissen bei ausstehenden Legislativakten drängen.
Das Europäische Parlament verfügt bislang nur über ein vergleichsweise schwach ausgeprägtes Sanktionsinstrumentarium das stärker auf negative als auf positive Sanktionen ausgerichtet ist und zudem primär auf die Kommission, nicht aber auf den Rat — dem im Entscheidungsprozeß eine viel größere Bedeutung zukommt — abzielt. Seine vertraglichen wie außervertraglichen Befugnisse und Partizipationsmöglichkeiten können in drei Stufen eingeteilt werden: Entscheidungs-rechte, Mitwirkungsrechte und außervertragliche Beteiligungsformen.
Entscheidungsrechte des Europäischen Parlaments liegen dann vor, wenn es über den Einsatz eines Instruments oder das Ergebnis eines Verfahrens (mit-) bestimmen kann,. Im EG-Bereich betrifft dies den Bereich der nicht-obligatorischen Ausgaben des EG-Haushalts, d. h. die Ausgabenposten, die sich nicht zwingend aus dem Gemeinschaftsrecht ergeben, und das Mißtrauensvotum gegenüber der Kommission.
Mitwirkungsrechte stellen auf vertraglicher Grundlage eine Mitwirkung des Europäischen Parlaments im Entscheidungsprozeß sicher, ohne daß die Parlamentarier das Verfahren und das Ergebnis „beherrschen“ können. Im EG-System betrifft dies vor allem die in den Verträgen enumerativ aufgezählten Fälle, in denen eine Anhörung des Europäischen Parlaments zu Rechtsakten der Gemeinschaft zwingend vorgeschrieben ist.
Als außervertragliche Beteiligung können jene Partizipationsformen klassifiziert werden, die dem Europäischen Parlament von anderen Organen oder Gremien gewährt wurden, ohne daß sie rechtlich fixiert und einklagbar sind, z. B. die Informationsweitergabe nach dem Luns/Westerterp-Verfahren im Bereich der EG-Handels-und Assoziierungsverträge, das Fragerecht gegenüber der EPZ-Präsidentschaft oder auch das förmliche Konzertierungsverfahren in der Rechtsetzung Nach Inkrafttreten der im Februar 1986 von den Vertretern der Regierungen der EG-Mitgliedstaaten unterzeichneten „Einheitlichen Europäischen Akte“ werden die Parlamentsrechte insofern geringfügig aufgewertet, als das Parlament hinsichtlich des Abschlusses von Assoziierungsabkommen nach Art. 238 EWG-Vertrag und bei weiteren EG-Erweiterungen ein neues Entscheidungsrecht erhält Im Bereich der vom Parlament als bedeutsamer eingestuften Gesetzgebung wurden ihm jedoch nur verstärkte Mitwirkungsrechte zugestanden, da sich der Rat bei anstehenden Legislativentscheidungen in jedem Fall das letzte Entscheidungsrecht Vorbehalten wollte. Wie sich das vereinbarte neue Verfahren der Zusammenarbeit zwischen Rat und Parlament, das im wesentlichen für Entscheidungen zum Binnenmarkt Anwendung findet, in der Praxis auswirken wird, läßt sich gegenwärtig kaum abschätzen. Doch zeigten die Reaktionen des Europäischen Parlaments auf die Einheitliche Europäische Akte, daß mit der Verwirklichung dieser Übereinkunft der Reform-bedarf sowohl hinsichtlich der institutioneilen Verfahren als auch hinsichtlich der Kompetenzzuweisung an die Gemeinschaft keineswegs als erfüllt angesehen wird
Aus der vorstehenden Analyse wird deutlich, daß sich die Entscheidungs-und Mitwirkungsrechte des Parlaments auf Instrumente des Gemeinschaftsbereichs und — insoweit EG-Kompetenzen betroffen sind — auf Teilbereiche des Gemischten Bereichs richten. Außervertragliche Beteiligungsformen können darüber hinaus auch im Koordinierungsbereich Anwendung finden: Die Zuordnung von Materialien zum Gemeinschaftsbzw. zum Gemischten Bereich stellt eine notwendige, jedoch keine hinreichende Bedingung für rechtliche Einflußmöglichkeiten des Europäischen Parlaments dar. Dieses kann im Koordinierungsbereich seine Vorstellungen grundsätzlich nicht gegen den Willen der nationalen Regierungen und Administrationen durchsetzen. Es verfügt auf der Gemischten Ebene nur in Ausnahmefällen und nur insoweit Gemeinschaftsmaterien betroffen sind über (Mit-) Entscheidungsrechte. Auf der Gemeinschaftsebene können ihm hingegen selektive Entscheidungsrechte in Einzelfällen, vor allem im Haushaltsverfahren, eine Durchsetzung seiner Position auch gegen den Willen der anderen Entscheidungsakteure ermöglichen. Bei bedeutsamen Instrumenten des Gemeinschaftsbereichs, so z. B. in der EG-Handels-und Agrarpolitik, fehlen ihm jedoch jegliche Entscheidungsrechte, so daß seine Einflußmöglichkeiten begrenzt bleiben.
Die Analyse des EG-Verflechtungssystems führt somit zu dem Ergebnis, daß die nationalen Regierungen dem Europäischen Parlament nur in als weniger bedeutsam eingestuften Bereichen, in denen ihre nationale Politikgestaltungsfähigkeit nur geringfügig eingeschränkt wird, Entscheidungsrechte einräumten, während sie sich selbst bei allen zentralen Instrumenten und den ausgabenintensiven Aktionsfeldern ein ausschließliches Entscheidungsrecht sichern. Dem Europäischen Parlament ist somit die Möglichkeit weitgehend verwehrt, sich entsprechend dem traditionellen Parlamentsleitbild als Entscheidungsorgan im Legislativbereich und bei der Wahl einer europäischen Exekutive weiterzuentwickeln. 3. Auf der Suche nach einem tragfähigen neuen Leitbild Die Konsequenzen, die sich aus dieser institutioneilen Stellung des Europäischen Parlaments ergeben, sind alarmierend: Die zur Wahl aufgerufenen Bürger zeigten sich irritiert, da die zu wählende Institution ihren im nationalen Rahmen gewonnenen Vorstellungen von einer direktlegitimierten Volksvertretung keineswegs entsprach. Parteien und Medien gelang es nicht, ein alternatives Leitbild auch nur in Ansätzen zu vermitteln. Symptomatisch für die zu verzeichnende Abwendung der Wähler vom Europäischen Parlament ist die in einer empirischen Untersuchung zur zweiten Direktwahl festgestellte schwache, aber immerhin nachweisbare Korrelation zwischen dem Wissen über das Parlament und der Einschätzung der Bedeutung dieser Institution Demnach kann ein erhöhter Kenntnisstand über die (schwache) Parlamentsstellung eine zunehmende Bereitschaft zum Wahlboykott als Protesthaltung bewirken — sicherlich ein Faktum, das die verantwortlichen Politiker zum Nachdenken veranlassen sollte.
In den vorliegenden wissenschaftlichen Arbeiten wurden nur wenige Hinweise auf eine Neudefinition der Parlamentsrolle gegeben. Vor allem bei der wissenschaftlichen Kommentierung des Vertragsentwurfs des Europäischen Parlaments zur Gründung einer Europäischen Union wird das vorherrschende Festhalten am tradierten Parlamentsleitbild deutlich. Kritische Aussagen und Neuansätze blieben die Ausnahme Theoretisch stehen zur Lösung der vorhandenen Probleme drei Wege offen:
erstens die Abschaffung europäischer Direktwahlen als einem interessanten, aber — weil dem EG-System nicht angemessen — problematischen Experiment; zweitens eine rasche und umfassende Kompetenz-ausweitung, damit das Europäische Parlament möglichst bald schon eine den nationalen Volksvertretungen vergleichbare Rolle im EG-System einnehmen kann;
drittens die Ausarbeitung und Vermittlung eines der institutionellen und politischen Stellung des Europäischen Parlaments gerecht werdenden neuen parlamentarischen Leitbildes, das jedoch verbunden sein müßte mit selektiven Reformen seiner Befugnisausstattung und internen Arbeitsstrukturen, um dem Parlament eine seiner direkten Legitimation entsprechende Bedeutung im EG-System zu sichern und — wichtiger vielleicht noch — seinen Wählern nahezubringen.
Unter Gesichtspunkten demokratischer Normen und politischer Realisierbarkeit bietet weder der erste noch der zweite Lösungsansatz eine Zukunftsperspektive. Es bleibt demnach nur die dritte Alternative, die Konzeption und Vermittlung einer der Stellung des Europäischen Parlaments gerecht werdenden neuen parlamentarischen Rollenbeschreibung.
Ansätze für ein derartiges neues Rollenverständnis wurden in der Parlamentsarbeit seit der ersten Direktwahl 1979 deutlich, ohne daß sich dies jedoch bisher zu einem spezifischen Leitbild in Abgrenzung zu traditionellen Parlamentsleitbildern verdichten konnte In einem vom Institut für Integrationsforschung der Stiftung Europa-Kolleg Hamburg und vom Institut für Europäische Politik in Bonn gemeinsam durchgeführten Forschungsprojekt wurde der Versuch unternommen, geeignete Bewertungsmaßstäbe für das Europäische Parlament zu entwickeln. Hierbei wurden die Erwartungen an die Einführung europäischer Direktwahlen und die Parlamentsstellung im Institutionengefüge berücksichtigt. Das dabei ausgearbeitete Funktionenraster bietet die Möglichkeit, die verstreuten Parlamentsaktivitäten in einen Gesamtrahmen zu stellen. Aus der Art, wie das Europäische Parlament diese Parlamentsfunktionen ausfüllt, könnten im Ergebnis die Konturen eines neuen parlamentarischen Leitbildes für diese Institutionen sichtbar werden.
III. Die drei Funktionen des Europäischen Parlaments
1. Zum Funktionenansatz In der westeuropäischen Parlamentarismustheorie wurden in vielfältiger Weise Funktionenkataloge zur Messung und Bewertung von Parlamentsleistungen aufgestellt. Unter „Funktionen“ werden dabei grundlegende Aufgabenstellungen von Parlamenten für das Bestehen und den Erhalt des politischen Systems, in dem sie wirken, verstanden In Anlehnung an den klassischen Funktionenkatalog Walter Bagehots wurden beispielsweise dem Deutschen Bundestag die Funktionen Wahl der Regierung, Artikulation, Initiative, Gesetzgebung und Kontrolle zugeschrieben Andere Funktio-nenkataloge betonen in starkem Maße jenen schwer zu beschreibenden Aufgabenbereich der Kommunikation von Abgeordneten mit ihren Wählern die Rekrutierung politischer Führungskräfte oder — so etwa in den US-amerikanischen „Legislatures“ -Studien — die Aufarbeitung gesellschaftlicher Konflikte Offensichtlich sind derartige Funktionenraster für das Europäische Parlament kaum unmittelbar verwendbar, da dieses wegen der Andersartigkeit des EG-Systems im Vergleich zum Nationalstaat beispielsweise weder eine europäische Regierung wählen kann noch konstitutionell über wesentlichen Einfluß auf die EG-Gesetzgebung verfügt. Wichtige Arbeitsbereiche des Parlaments — vor allem sein Einsatz für eine Weiterentwicklung des EG-Systems in eine handlungsfähige und demokratisch legitimierte „Europäische Union“ — bleiben hingegen unberücksichtigt. 2. Politikgestaltung, Systemgestaltung und Interaktion mit den Wählern als zentrale Aufgabenstellungen
Für das Europäische Parlament lassen sich unter Berücksichtigung der Strukturgegebenheiten des EG-Systems aus dem Konglomerat von Anforderungen und Erwartungen drei Hauptaufgabenstellungen unterscheiden, die als seine parlamentarischen Funktionen interpretiert werden können:
— Die Politikgestaltungsfunktion umfaßt die Fähigkeit des Parlaments, innerhalb des bestehenden EG-Systems die aktuelle Politik zu initiieren, mitzugestalten und zu kontrollieren. Durch die kontinuierliche Nutzung der in den EG-Verträgen und anderen Vereinbarungen festgelegten Entscheidungs-und Mitwirkungsrechte sowie anderer außervertraglicher Beteiligungsformen widmet das Parlament dieser Funktion einen erheblichen Anteil seiner Tätigkeiten. — Die Systemgestaltungsfunktion berücksichtigt den Beitrag des Parlaments zur Weiterentwicklung des EG-Systems zu einem anders definierten Integrationsstand, der vielfach von den Abgeordneten selbst als „Europäische Union“ umschrieben wird. Bei dieser Funktion sind die Aktivitäten des Parlaments im Hinblick auf alle drei Charakterisierungsmerkmale des EG-Systems (funktionale Reichweite, Kompetenzverteilung zwischen EG und Mitgliedstaaten und institutioneile Struktur zur Problembearbeitung) zu untersuchen. — Die Funktion der Interaktion mit dem Wähler rückt die Beziehung Wahlbürger-Abgeordnete in den drei Bereichen Artikulation von Bürgerinteressen, Aggregation der akzeptablen und mehrheitsfähigen Positionen und Mobilisierung der Öffentlichkeit für seine Ziele in den Vordergrund. Das Erfordernis einer engen Verbindung zwischen Parlament und Wahlbürgerschaft stellt sich im EG-Verflechtungssystem in besonderer Weise, da hier aufgrund der kaum vorhandenen Transparenz politische Entscheidungsprozesse nur mit Mühe nachvollzogen werden können und die Gefahr der Bürgerferne und Abgehobenheit besonders groß erscheint. Von besonderem Interesse ist hierbei, inwiefern das direktgewählte Europäische Parlament als „neue“ Institution eine anders-geartete Beziehung der Bürger zum EG-System herstellen kann.
Mit der Beschränkung auf diese drei zentralen Funktionen wurde bewußt ein überschaubares Bewertungsraster vorgelegt, das im Hinblick auf die Parlamentsarbeit deutliche Akzente setzt. Für denjenigen, der sich vorrangig mit nationalen Parlamenten beschäftigt, mag die Berücksichtigung der Systemgestaltungsfunktion ungewohnt erscheinen, während ihm die mit Politikgestaltung und Interaktion mit den Wählern zu verbindenden Aufgabenstellungen — vielleicht unter anderen Namensgebungen — vertraut sein dürften. Die Akzentsetzung bei der Systemgestaltung, die sich für nationale Volksvertretungen in vergleichsweise saturierten politischen Systemen nicht in gleicher Weise wie für das Europäische Parlament ergibt, resultiert aus dem dynamischen Grundzug des EG-Systems einerseits und dem Bemühen des Parlaments andererseits, dieses System in Richtung auf ein Mehr an Handlungsfähigkeit und Demokratie weiterzuentwickeln.
IV. Eine vorläufige Funktionenbilanz
Versucht man zur Mitte der zweiten Wahlperiode eine vorläufige Bilanz zu ziehen, wie das Europäi-sehe Parlament seit seiner ersten Direktwahl im Juni 1979 diese Parlamentsfunktionen ausfüllen konnte, so erhält man ein vielschichtiges und uneinheitliches Bild. Zwar konnte es einige Teilbereiche seiner drei Parlamentsfunktionen intensiver wahrnehmen, doch wurden insgesamt deutliche Grenzen in den Auswirkungen seiner seit 1979 stark zugenommenen Aktivitäten sichtbar. Das Parlament konnte auch nach Einführung seiner direkten Wahl durch die EG-Bürger die gegen eine stärkere Parlamentsstellung wirkenden Struktureigenschaften des EG-Verflechtungssystems nicht in seinem Sinne wesentlich verändern. Es blieb einer in ihrer Bedeutung begrenzten, wenn auch intensiver genutzten Rolle verhaftet. Selbst pragmatischen Weiterentwicklungen wurden von den Regierungen deutliche Widerstände entgegengesetzt. Im einzelnen lassen sich hinsichtlich der drei Funktionen die folgenden, verallgemeinernden Aussagen treffen: 1. Politikgestaltungsfunktion Bei der Wahrnehmung der Politikgestaltungsfunktion haben die Abgeordneten beträchtliche Bemühungen unternommen, bei bestehenden oder neu zu entwickelnden Politiken eigene Initiativen in das EG-System einzubringen. Das Parlament hat eine erhebliche Arbeitskapazität an die Aufgabe verwandt und Verfahren entwickelt, „seismographisch" zu den Problemen der EG, der westeuropäischen Gesellschaft und des internationalen Systems Vorschläge vorzulegen. Es hat dadurch ein Selbstverständnis als Gewissen Europas und als ein konzeptioneller Motor der Gemeinschaft entwickelt. Profitiert hat es dabei von der Vielfalt und Vielzahl der politischen Strömungen und persönlichen Ambitionen der Abgeordneten, aber auch von der in der Regel feststellbaren Folgenlosigkeit seiner Meinungsäußerungen, die manchen unausgereiften Vorstoß und manche widersprüchliche Kompromißformel zuließ
Viele Vorschläge des Parlaments können keinen Anspruch auf intellektuelle Originalität erheben. Wie dies in pluralistischen Gesellschaften als Regel gelten kann, werden Ideen in ständigem Austausch von Politikern, Wissenschaftlern, Medien und Beamten weiterentwickelt. Das Parlament diente aber im Gemeinschaftsrahmen in vielen Fällen als Auslöser und Verstärker einer intensiven Debatte, ohne daß dies jedoch aufgrund des geringen Medienechos den Wählern hinreichend vor Augen gestellt wurde.
Der ständige Strom von Ideen, Konzepten und Programmen wurde in unterschiedlicher Weise im
EG-Verflechtungssystem aufgenommen. Viele Vorschläge blieben nichts als eine im Amtsblatt der Gemeinschaft veröffentlichte Resolution des Europäischen Parlaments. Häufig fehlte es seitens der Parlamentarier auch an einem konsequenten Nachhaken und einem Lobbying für die eigenen Ideen, die für ein erfolgreiches Mitgestalten der Tagesordnung der Gemeinschaft notwendig sind. Für die anderen EG-Organe und die Öffentlichkeit war die Vielzahl und Vielfalt der Resolutionen und Stellungnahmen des Europäischen Parlaments, die eine durchgängige Prioritätensetzung häufig vermissen ließen, kaum mehr ernsthaft zu verfolgen und aufzunehmen.
Die Fähigkeit des Parlaments, bei der Politikgestaltung Entscheidungen in seinem Sinne mitzugestalten, ist weitgehend von seiner Ausstattung mit Rechten, daneben aber auch vom Charakter des Politikbereichs und der aktuellen Verhandlungssituation im Moment der Aushandlung einer Paketlösung abhängig. Handelte es sich um neuartige Materien, deren inhaltliche Festlegung bei den Mitgliedstaaten noch offen war, so konnte das Parlament — wie etwa in der Entwicklungsoder Menschenrechtspolitik — einen vergleichsweise großen Einfluß ausüben Im Haushalts-bereich konnte es seinen Dispositionsteil — die sogenannten nicht-obligatorischen Ausgaben — zwischen 1979 und 1984 von 16, 04 auf 25, 06 Prozent ausweiten und einige überraschend feste Positionen einnehmen, so etwa bei der Frage der Beitragsrückerstattung an Großbritannien oder bei der Errichtung neuer Haushaltslinien Wenig erfolgreich war das Parlament hingegen im Bereich der Gesetzgebung. Das förmliche Konzertierungsverfahren von 1975, als Einstieg in die Legislativrechte gedacht, erwies sich als Fehlschlag, da der Rat nur selten auf die Forderungen des Parlaments einging. Eine gleichberechtigte Annäherung divergierender Standpunkte kam nur sehr selten Zustande
Positiv entwickelte sich die Fähigkeit des Europäischen Parlaments, außenpolitische Positionen mitzuprägen. Es konnte vor allem in der Entwicklungs-und Menschenrechtspolitik die EG-und EPZ-Positionen nicht unerheblich beeinflussen. Teilweise wurde seinen Meinungsäußerungen in Drittstaaten eine erhebliche politische Bedeutung zugemessen Möglicherweise trug diese konstruktive Arbeit dazu bei, daß die Regierung der EG-Mitgliedstaaten bei ihrer im Februar 1986 vereinbarten begrenzten Reform der EG-Verträge dem Parlament ein Entscheidungsrecht beim Abschluß von Assoziierungsverträgen einräumten
Das direktgewählte Parlament widmete den Kontrolltätigkeiten eine große Aufmerksamkeit. Es setzte erstmals einen eigenen Haushaltskontrollausschuß ein, der intensiv über die sparsame Verwendung von Haushaltsmitteln wachte. Es entwickelte zusätzliche Verfahren und Instrumente, deren Anwendung zu einer erhöhten Transparenz eines Teiles des Verflechtungssystems führte; wesentliche Prozesse in den Verhandlungen der nationalen Regierungsbürokratien und in der nationalen Durchführung, insbesondere die internen Ratsdiskussionen und die Arbeiten der Verwaltungsausschüsse, blieben dem Informationszugriff des Europäischen Parlaments jedoch weiterhin weitgehend entzogen. Die negativen Sanktionsinstrumente des Europäischen Parlaments beschränkten sich auf einen Teil der Akteure, insbesondere auf die Kommission. Doch wurden mit der Ablehnung der Haushalte 1980 und 1985 und dem Einbringen einer Untätigkeitsklage gegen den Rat auch gegenüber dieser Institution neue Akzente sowohl bei der Festlegung politischer Prioritäten, als auch bei der Kontrolle gesetzt.
Insgesamt hat das Europäische Parlament seine Rolle in der Politikgestaltung gestärkt, ohne in wesentlichen Bereichen den 1979 erwarteten Wahlbonus umsetzen zu können. Der Mangel an Entscheidungsrechten war auch durch eine erhöhte Legitimität nicht zu ersetzen. Diesem Mangel versuchte es durch eine intensive Ausfüllung seiner Systemgestaltungsfunktion zu begegnen. 2. Systemgestaltungsfunktion Bei der Systemgestaltung haben die Parlamentarier eine Doppelstrategie mit den beiden Elementen „umfassende Neuordnung des EG-Systems“ und „Politik der kleinen Schritte“ verfolgt Mit dem im Februar 1984 verabschiedeten Entwurf eines Vertrages zur Gründung der Europäischen Union wurde — ausgehend von einem durchgängigen Prinzip der Kompetenzverteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten — die erste Strategie eingeschlagen. Mit dieser Vorlage machte das Parlament seine Zielsetzungen hinsichtlich aller drei Elemente des EG-Systems (funktionale Reichweite, Kompetenzverteilung und institutionelle Struktur) deutlich. Eine Umsetzung wurde bisher nicht erreicht, wenn auch die Regierungen im Februar 1986 eine begrenzte Vereinbarung zur Reform der Gemeinschaft erzielten. Der Vertragsentwurf des Parlaments dürfte für die intensiven Reformberatungen zwischen 1984 und 1986 wesentliche Anstöße geliefert haben. Der Vergleich zwischen der „Einheitlichen Europäischen Akte“ und dem Vertragsentwurf verdeutlicht jedoch die geringe Prägekraft des Parlaments auf den Inhalt von Gemeinschaftsreformen
Neben dieser weitreichenden Strategie des „großen Wurfs“ wurden zahlreiche Teilreformen des Systems angestrebt. Eine detaillierte Analyse der Resultate dieser Bemühungen zeigt indes, daß auch diesem Bemühen des „Nischenausfüllens“ enge Grenzen gesetzt sind. Führende Parlamentarier halten eine derartige Politik für gescheitert In der ersten Wahlperiode wurde eine „Strategie mittlerer Reichweite“, die in der Ausarbeitung selektiver Vertragsänderungen bestehen würde, nicht deutlich, sieht man von dem mißlungenen Vorstoß zur Einführung eines einheitlichen Wahl-verfahrens ab
Bei seinen Bemühungen, die institutionelle Struktur zu verändern, traf das Europäische Parlament auf den deutlichen Widerstand der Regierungen der Mitgliedstaaten. Teilweise beriefen sich diese auf die aus ihrer Sicht vorhandenen Grenzen der nationalen Verfassungen und blockierten alle Versuche zur Ausdehnung der Entscheidungsoder Beteiligungsrechte des Europäischen Parlaments, selbst in vorgeschalteten Bereichen, wie z. B. an der gescheiterten Reform des Konzertierungsverfahrens, verdeutlicht werden kann Institutionelle Fortschritte gab es für das Europäische Parlament nur durch die Gewährung zusätzlicher Information insbesondere seitens des Präsidenten des Europäischen Rates und der Europäischen Politischen Zusammenarbeit, durch prozedurale Aufwertungen und durch die Präzisierung seiner vertraglichen Rechte Die „Einheitliche Europäische Akte“ vom Februar 1986 brachte einige begrenzte Fortschritte für das Parlament, die jedoch seinen Forderungen, vor allem, was den Bereich der Gesetzgebung anbelangt, in keiner Weise entsprechen.
Insgesamt konnte das Parlament seine Systemgestaltungsfunktion demnach nicht in befriedigendem Ausmaß wahrnehmen. Einige positive Akzente konnte es nur bei der Ausweitung des Aufgabenbereiches des EG-Systems setzen, beispielsweise durch die Befassung mit neuartigen bildungs-entwicklungs-oder sicherheitspolitischen Materien. Unter Zuhilfenahme seiner Haushalts-rechte konnte es seinen diesbezüglichen Zielen durch die Einrichtung neuer Haushaltslinien teilweise den entsprechenden Nachdruck verleihen. 3. Interaktionsfunktion Seit Einführung europäischer Direktwahlen hat sich die Beziehung zwischen Europa-Abgeordneten und Wählern nicht wesentlich verändert. Bei der Interaktionsfunktion ist anhand mehrerer Indikatoren, z. B.den Ergebnissen verschiedener Meinungsumfragen oder der Wahlbeteiligung an der zweiten Europawahl, festzustellen, daß das EP seit Einführung europäischer Direktwahlen über keinen größeren Bekanntheitsgrad in der Bevölkerung verfügt. Zudem konnte es nur auf wenige Fälle beschränkt ein verstärktes Engagement seiner Wähler für sich gewinnen, obwohl das latente Interesse an ihm, zumindest in der Bundesrepublik Deutschland, beträchtlich ist Auch die Zustimmung zum EG-System wurde durch die Direktwahl und die Aktivitäten des Parlaments nicht positiv verändert. Zwar artikulierte das Europäische Parlament Stimmungen, Meinungen und Interessen durch die erhöhte Zahl seiner Mitglieder und durch eine verbesserte Repräsentativität in einer gesteigerten Vielfalt und aggregierte sie, wenn auch mit einigen Widersprüchen. Eine Mobilisierung seiner Wahlbürger — etwa bei Fragen der Arbeitslosigkeit oder des Umweltschutzes — konnte es jedoch nicht erreichen.
Das geringe Engagement für das Parlament kann daraufzurückgeführt werden, daß die Wähler sich durch die Nichteinlösung des vor 1979 von führenden Politikern gegebenen Versprechens einer verstärkten parlamentarischen Mitwirkung im EG-System getäuscht sahen. Eine weitere Ursache könnte auch darin liegen, daß die Wähler die vielfältigen Anstrengungen des Parlaments wegen der nur unwesentlich ausgeweiteten Medienberichterstattung nicht hinreichend verfolgen konnten Interessenverbände, als wichtige Vermittlungsinstanzen, haben zwischen 1979 und 1984 den Weg zum Europäischen Parlament verstärkt gesucht. Dennoch räumten sie dem Zugang zu nationalen Regierungen und zur Kommission in der Regel weiterhin eine weitaus höhere Priorität bei ihrem politischen Vorgehen ein Die Aktivitäten der Parlamentarier bei Wählern, Parteien und Interessengruppen haben insgesamt zwar erheblich zugenommen, doch zeigten die Erfahrungen vieler Parlamentarier, daß die Europapolitik und damit auch ihre eigene Arbeit von ihrer politischen Basis häufig als nicht besonders bedeutsam eingestuft wird Im Zeitbudget der meisten Parlamentarier besteht ein Konflikt zwischen dem Engagement für Aktivitäten im Rahmen des Parlaments, die in der Regel mindestens drei Wochen eines Monats kosten, und der politischen Arbeit im heimischen Umfeld. Die Europa-Abgeordneten unterliegen der Gefahr, sich angesichts ihrer Plenarsitzungen, Ausschußberatungen, Fraktionssitzungen, Klausurtreffen und Delegationsreisen sowie Auftritten vor europäisch ausgerichteten Zirkeln und Tagungen von Verbänden und Wissenschaftlern in einem Kreis von Diskussionen und Aktivitäten zu bewegen, der sich neben und außerhalb der von Medien und Wahlbürgern erkennbaren und als wichtig eingestuften Entscheidungsstrukturen für zentrale Gegenwartsprobleme entwickelt. Die nationalen Parlamente und Parteien boten dem Europäischen Parlament bei der Interaktion mit den Wählern nur wenig Hilfestellungen. 4. Ein Teufelskreis der Machtlosigkeit?
Die Bilanz der Funktionenwahrnehmung seitens des Europäischen Parlaments weist auf eine begrenzte Zunahme in den Bereichen Initiative, Kontrolle, Aufgabenausweitung des EG-Systems und Aggregation divergierender Interessen hin. Defizite bestehen hingegen in den Bereichen Entscheidung, Mobilisierung, Veränderung der Kompetenzverteilung zwischen EG und Mitgliedstaaten und Ausbau der institutionellen Struktur des EG-Systems. Die Ursachen für dieses wenig zufriedenstellende Gesamtergebnis stehen in einer engen wechselseitigen Beziehung zueinander. Diese können als ein Teufelskreis der Machtlosigkeit bezeichnet werden: Schwächen bei der Wahrnehmung einzelner Funktionen verstärkten sich gegenseitig oder bewirkten zumindest eine Beibehaltung des Status quo.
Die geringe Fähigkeit des Parlaments, die Politik des EG-Systems mitzugestalten, bedingt ein mangelndes Interesse von Wählern, Parteien, Medien und Interessengruppen an seiner Arbeit, wodurch das Parlament in der Wahrnehmung seiner Interaktionsfunktion beeinträchtigt wird. Folge dieser Funktionsdefizite sind zum einen eine Schwäche des Europäischen Parlaments, politische Kräfte bei der Politikgestaltung im Verflechtungssystem für sich zu mobilisieren, und zum anderen die Kraftlosigkeit des Parlaments, bei der Systemgestaltung eine Ausweitung seiner Befugnisse und eine Veränderung der Kompetenzverteilung zu erreichen. Ohne Veränderung in der Ausstattung des Europäischen Parlaments mit Befugnissen ist wiederum bei dem gegenwärtigen Mangel an von den anderen Entscheidungsakteuren akzeptierter erhöhter politischer Autorität keine verstärkte Rolle in der Politikgestaltung zu erwarten, womit die Argumentation wiederum in der Ausgangslage einsetzt.
Der Teufelskreis, in dem sich das Europäische Parlament gefangen sieht, ist eine Fortschreibung der Probleme, die in der Diskussion über die Priorität von und die Komplementarität zwischen Direktwahl und Kompetenzerweiterung in den siebziger Jahren bereits sichtbar wurden Der durch die Direktwahl erhoffte Ausbruch aus der Immobilität ist nicht eingetreten. Das EG-Verflechtungssystem hat sich noch verhärtet; der im Vorfeld der Direktwahl in mehreren Mitgliedstaaten eingegangenen Verpflichtung nationaler Politiker, keiner Ausweitung der Befugnisse des Europäischen Parlaments — zumindest nicht ohne grundsätzliche Vertrags-und Verfassungsrevision im nationalen System — zuzustimmen und den Strategien der nationalen Regierungen, das Parlament in seiner Randrolle zu belassen, konnte das Europäische Parlament keine hinreichend starke politische Mobilisierung entgegensetzen.
V. Zukunftsperspektiven
Die Bilanz der Funktionenwahrnehmung macht deutlich, daß das Europäische Parlament wesentliche Beiträge für das EG-System liefern konnte, daß aber gleichzeitig auch deutliche Defizite bei der Wahrnehmung verschiedener Funktionen (bzw. bei Teilbereichen davon) bestehen.
Wie auch bei nationalen Parlamenten aufgezeigt werden kann ist es keinesfalls erforderlich, daß das Europäische Parlament alle seine Funktionen gleichermaßen intensiv ausfüllt. Zum einen können von den Abgeordneten bestimmte Schwerpunkte bewußt gesetzt werden, denen gegenüber andere Aufgabenfelder zeitweise in den Hintergrund treten. Zum anderen stellen sich die in den Funktionen beschriebenen Anforderungen nicht exklusiv dem Parlament. In der Praxis übernehmen auch in den Mitgliedstaaten vielfach andere Akteure, z. B. Regierungen und Verwaltungen, aufgrund ihrer jeweiligen Aufgabenzuweisung und Sachkompetenz in Teilbereichen eine Führungsrolle, während sich das Parlament vielfach auf gelegentliche Steuerungsimpulse und Korrekturen beschränkt. Daher liegt es in der Linie parlamentarischer Entwicklung, daß eine Funktionenbilanz des Europäischen Parlaments ein differenzierendes Bild mit Stärken und Schwachstellen ergibt, ohne daß letztere Anlaß für „dramatische“ Reaktionen darstellen müßten. Unerläßlich erscheint jedoch zur Verhinderung von negativen Rückwirkungen der enttäuschten Direktwahlhoffnungen eine den Möglichkeiten und Rahmenbedingungen des Europäischen Parlaments angemessene Beschreibung und Vermittlung der parlamentarischen Funktionen des Europäischen Parlaments an die Wähler. Durch die Betonung einzelner Funktionsbereiche kann sich dann allmählich ein neues parlamentarisches Leitbild herauskristallisieren, das zum Bezugspunkt von Erwartungen und Kritik wird. Dabei ist von der gegenwärtigen Rolle des Europäischen Parlaments im EG-Verflechtungssystem mit dessen begrenzten Reformmöglichkeiten auszugehen. Ziel ist eine konstruktive Verdeutlichung und positive Würdigung der erbrachten Parlamentsleistungen, wobei vorhandene Schwachstellen durchaus kritisch zu beleuchten sind. Insbesondere ist dem Wähler die Einsicht zu vermitteln, daß in einem auf Konsens angelegten Verflechtungssy-stem ein Parlament mit universellem Machtanspruch nicht systemkonform ist und sein kann. Hiervon ausgehend kann ein parlamentarisches Leitbild entwickelt werden, das drei wesentliche Elemente enthält: — Die Ausübung einer demokratischen Kontrolle der Politiken des EG-Systems durch das Europäische Parlament wird in den Vordergrund gestellt. Entscheidungen werden, zumindest in einer Übergangsphase, vorrangig von den im einzelstaatlichen Rahmen legitimierten nationalen Regierungen getroffen. Die demokratische Kontrolle des Entscheidungs-Output und dessen Umsetzung werden jedoch vom Europäischen Parlament europäisch durchgeführt und verantwortet. Da eine europäische Regierung fehlt, auf die das Parlament Rücksicht nehmen müßte, kann hier die Kontrollfunktion wirkungsvoller ausgeübt werden als bei vielen nationalen Parlamenten. — Zweitens wird die Bedeutung des Parlaments bei der Initiative akzentuiert. Aufgrund seiner Spezialisierung und der intensiven Befassung mit allen Gemeinschaftsmaterien könnte das Parlament, das die politischen und regionalen Strömungen in der Gemeinschaft repräsentativ widerspiegelt und somit als ein „Forum für Konflikt-ausstattung“ fungieren kann, zu aktuellen Gegenwartsfragen akzeptable Lösungsvorschläge in Konkurrenz zu Kommission und nationalen Regierungsbürokratien aufzeigen. Diese werden gegebenenfalls von den anderen Entscheidungsakteuren aufgegriffen und umgesetzt. Dem Parlament kommt im Entscheidungsprozeß — zumindest für eine Übergangszeit — somit keine Bedeutung als dominierendes Entscheidungsorgan zu, vielmehr muß es, wie etwa die im EG-System wirkenden Verbände, durch Lobbying und Überzeugungsarbeit bei den nationalen Regierungen und Verwaltungen für seine Vorstellungen werben. — Drittens wird die Interaktionsfunktion des Europäischen Parlaments, aber auch jedes einzelnen Abgeordneten, vor allem im Bereich der Artikulation betont. Der einzelne EP-Abgeordnete, der wegen der im Europäischen Parlament nur schwach ausgeprägten Fraktionsdisziplin im Vergleich zu nationalen Parlamentariern eine herausgehobene Stellung innehat, tritt stärker als sein nationaler Kollege als Anlaufstation für die europaspezifischen Anliegen der EG-Bürger und als Vermittler zwischen Gemeinschaft und Bürger in den Vordergrund. In der Arbeit der Parlamentarier können auch die Interessen der Regionen verstärkt zum Ausdruck kommen, die auf europäischer Ebene nach verbesserten Möglichkeiten der Einflußnahme suchen. Gleichzeitig kann sich das Europäische Parlament als ganzes — wie dies auch in der ersten Wahlperiode bereits deutlich wurde — als moralische Instanz, als „Gewissen Europas“ profilieren.
Gelingt es, diese Teilbereiche der Parlaments-funktionen wirkungsvoll auszufüllen, so könnte dies als eine realistische und wichtige Mitwirkung der gewählten Volksvertretung in einem von den Nationalstaaten dominierten Verflechtungssystem interpretiert und dem Wähler als ein Mehr an Demokratie nahegebracht werden. Offen bleibt allerdings, ob sich ein derartiges Konzept als tragfähig erweist und von den Wählern akzeptiert werden kann. Ein anhaltendes Spannungsverhältnis zwischen den gegen eine Aufwertung des Parlaments wirkenden Strukturelementen des EG-Systems und den Erwartungen in Richtung auf mehr Entscheidungsmacht der an traditionellen Parlamentsleitbildern orientierten Wählern ist absehbar.
Die zukünftige Bedeutung des Europäischen Parlaments im Entscheidungsprozeß ist wesentlich von der Weiterentwicklung des EG-Systems insgesamt abhängig, die — wie zuletzt das Schicksal des Vertragsentwurfs zur Gründung der Europäischen Union zeigte — vom Parlament kaum zu beeinflussen ist. Sollten sich die Verflechtungstendenzen verstärken, wird es dem Parlament kaum gelingen, Entscheidungen in größerem Maße als bisher in seinem Sinne zu beeinflussen. Bei Veränderungen in Richtung auf einen — von der Mehrheit der Abgeordneten unter dem wenig konkreten Signum „Europäische Union“ angestrebten — handlungsfähigeren und zugleich demokratische-ren Zusammenschluß der europäischen Staaten kann auch dem Parlament eine in wesentlichen Elementen verstärkte Bedeutung zufallen. Jedoch wäre auch bei einer derartigen Entwicklung die Erwartung verfehlt, daß das Europäische Parlament langfristig universellen Entscheidungsansprüchen genügen könnte. Statt dessen wäre es eher denkbar, daß dem Parlament bei vergleichsweise günstigen Rahmenbedingungen weitere selektive Entscheidungsrechte von begrenzter Reichweite zuerkannt werden. Ein Ansatzpunkt hierfür könnte eine Verstärkung und Verfeinerung der parlamentarischen Haushaltsrechte sein.
Die Direktwahl sollte sich trotz dieser Einschränkung aus der Sicht der Wähler weiterhin als ein notwendiger Schritt darstellen, wenn auch durch den unangemessenen Bezug auf nationale Leitbilder zum Teil falsche Erwartungen geweckt wurden bzw. berechtigte Erwartungen nicht so schnell verwirklicht werden konnten. Das hier vorgeschlagene Funktionenraster ist mit der Aufnahme der Systemgestaltungsfunktion bewußt offen für dynamische Weiterentwicklungen des EG-Systems, bei denen das Parlament sich eine bedeutsame Rolle als konzeptionelle und treibende Kraft erarbeiten muß. Mit dergleichzeitigen Betonung von Gegenwarts-und Zukunftsaufgaben verbindet sich eine für das Europäische Parlament nicht unproblematische Gratwanderung zwischen einem „Realismus auf unbefriedigendem Anspruchsniveau“ und „blauäugigen Zukunftsvisionen“, durch welche eine Unzufriedenheit mit der Gegenwart vorprogrammiert wird. Vieles spricht dafür, daß das Parlament in seiner Selbstdarstellung seine Gegenwartsaufgaben und seine Zukunftspläne gleichzeitig und gleichberechtigt verdeutlichen sollte.
Die zurückhaltenden Reaktionen von nationalen Regierungen, Parlamenten und auch der europäischen Öffentlichkeit auf den verfassungsähnlichen „Vertragsentwurf zur Gründung der Europäischen Union“ belegen, daß das Europäische Parlament das Gemeinschaftssystem aus eigener Kraft heraus nicht verändern kann. Hierzu muß es Bündnispartner suchen, und diese sind nur im einzelstaatlichen Bereich zu finden: nationale Regierungen, Parlamente, Parteien und Medien. Bisher war das Europäische Parlament bei der Suche nach verläßlichen Koalitionspartnern — sieht man vom Sonderfall Italiens ab — wenig erfolgreich.
Auch nach einer Ratifizierung der im Februar 1986 unterzeichneten „Einheitlichen Europäischen Akte“ bleibt der Reformdruck auf das EG-System bestehen. Die nächste Phase der integrationspolitischen Debatte ist bereits angelegt Die mögliche Rolle des Parlaments bei den dann zu erwartenden Diskussionen ist unter Berück-sichtigung der politischen Gesamtlage neu zu überdenken.
Ein realistisches Vorgehen des Europäischen Parlaments kann nur darauf abzielen, das EG-System pragmatisch in überschaubaren Schritten durch eine partielle Entflechtung in seinem Sinne zu verbessern. So könnte das Parlament mit einer „Strategie mittlerer Reichweite“ weitere Vertragsänderungen nach Art. 236 EWG-Vertrag initiieren, in der Absicht, klar umrissene Einzelforderungen zu realisieren. Begrenzte Veränderungen sind auf ihre Auswirkungen besser zu kontrollieren und gegebenenfalls zu revidieren, und zwar von den Instanzen, die seitens der EG-Bevölkerung noch immer als die primär Handlungsbefugten eingestuft werden, nämlich von den von der Mehrheit der Bevölkerung und der einzelstaatlichen Parlamente getragenen nationalen Regierungen.
Eberhard Grabitz, Dr. jur., geb. 1934; Professor für Öffentliches Recht, Europarecht und Rechtliche Grundlagen der Politik an der Freien Universität Berlin; Direktor des Instituts für Integrationsforschung an der Universität Hamburg, Mitglied des Instituts für Europäische Politik, Bonn. Veröffentlichungen u. a.: Gemeinschaftsrecht bricht nationales Recht, Hamburg 1966; Europäisches Bürger-recht, Bonn 1970; Freiheit und Verfassungsrecht, Tübingen 1976; Europa-Wahlgesetz, Kommentar, Bonn 1979; (zusammen mit T. Läufer) Das Europäische Parlament, Bonn 1980; (Hrsg.) Kommentar zum EWG-Vertrag, München 1984; (Hrsg.) Grundrechte in Europa und USA, Kehl-Straßburg 1986. Otto Schmuck, geb. 1953; Studium der Politikwissenschaft, Germanistik und Geschichte an den Universitäten Bonn und Mainz; seit 1982 Projektmitarbeit beim Institut für Europäische Politik, Dissertationsvorhaben über das Thema „Das Europäische Parlament und die Entwicklungspolitik“. Veröffentlichungen u. a.: Die Europäische Einigung als Unterrichtsgegenstand, in: Werner Weidenfeld (Hrsg.), Die Vermittlung der europäischen Einigung in Schule und Massenmedien, Bonn 1981; (Mitautor) Nur verpaßte Chancen? Die Reformberichte der Europäischen Gemeinschaft, Bonn 1983; (zusammen mit A. Kosch) Das Europäische Parlament in seiner ersten Wahlperiode, Bonn 1983; (zusammen mit E. Grabitz) Das Europäische Parlament im Verflechtungssystem der EG — Handlungsspielräume, Rollenbeschreibung, Funktionen, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 15 (1984) 3. Sabine Steppat, Dipl. Pol., geb. 1956; Studium der Politikwissenschaft in Hamburg, 1982/83 Studium am Europa-Kolleg Brügge; seit 1983 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Integrationsforschung der Stiftung Europa-Kolleg Hamburg. 1984 Verleihung der Robert-Schuman-Silber-Medaille. Wolfgang Wessels, Dr. rer. pol., geb. 1948; seit 1973 Geschäftsführer des Instituts für Europäische Politik in Bonn, seit 1981 Direktor der Dominante administrative am Europa-Kolleg Brügge. Veröffentlichungen u. a.: (zusammen mit R. Rummel) Die Europäische Politische Zusammenarbeit, Bonn 1978; Der Europäische Rat, Bonn 1980; (zusammen mit W. Weidenfeld) Herausgeber des „Jahrbuches der Europäischen Integration“; (Herausgeber zusammen mit E. Scharrer) Das Europäische Währungssystem. Bilanz und Perspektiven eines Experiments; (Mitherausgeber) Parlement Europeen, Bilan — Perspectives, 1979— 1984, Brügge 1984; (Mitherausgeber) EG-Mitgliedschaft: ein vitales Interesse der Bundesrepublik Deutschland?, Bonn 1984; Alternative Strategies for Institutional Reforms, European University Institute, Working Paper 85/184, Florenz 1985.
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