Die Krise des Fortschritts in der DDR. Innovationsprobleme und Mikroelektronik
Fred Klinger
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Zusammenfassung
Trotz erheblicher finanzieller und personeller Aufwendungen, die sich durchaus mit internationalen Spitzenwerten messen können, bleiben die Leistungen der Forschungs-und Entwicklungsbereiche (FE) der DDR unbefriedigend. Mittelmäßigkeit der Forschungsergebnisse und niedrige Ansprüche in den Projekten bilden die Hauptkritikpunkte der aktuellen DDR-Diskussion. Die bestimmenden Einflußfaktoren für diesen Zustand sind systembedingt und ergeben sich aus den Wechselwirkungen verschiedener Determinanten: Das politische Herrschaftssystem bedingt einen hochgradigen Zentralismus der Steuerungsformen im FE-Bereich. Praktisch wirkt sich das in mangelnder Flexibilität, einseitigen Prioritätenbildungen und Desorganisationen aus. Dem korrespondiert ein Gefüge defensiver Interessenlagen und Verhaltensstrategien des FE-Personals, das vor allem eine risikolose Planerfüllung sicherstellen will. Und schließlich werden innovationsfeindliche Wirtschaftspraktiken durch die im Wirtschaftsmechanismus vorgegebenen Rahmenbedingungen — vor allem durch die Wirkungen des Preissystems — von außen verstärkt. Die weltweite Entwicklung der Mikroelektronik hat diese strukturell wirksamen Innovationshemmnisse in der DDR überdeutlich werden lassen. Erhebliche technologische Rückstände und die qualitative Veränderung des Zeitfaktors im Innovationszyklus deuten für die DDR eine verhängnisvolle Entwicklung an: Zum einen unterliegen ihre konventionellen Erzeugnisse und Wirtschaftspotentiale aufgrund technologischer Veralterung einem progressiven Preisverfall, zum anderen kann das politische und wirtschaftliche System in seinem gegenwärtigen Erscheinungsbild mit dem Tempo und dem Leistungsniveau der internationalen Entwicklung immer weniger mithalten.
I. Vorbemerkung
Unzureichende Leistungen der Forschungspotentiale, technologische Rückstände gegenüber dem Weltmarktstandard, eine innovationsfeindliche Wirtschaftspraxis in den Betrieben und Kombinaten geben Anlaß zu der Vermutung, daß dem real-existierenden Sozialismus der DDR eine neue hausgemachte Krise bevorsteht: die Innovationskrise. Das mag sich angesichts vorweisbarer Erfolge gerade der jüngsten Wirtschaftsentwicklung wie ein vergangener Unkenruf vom Zusammenbruch des Sozialismus anhören. Doch lassen sich für die These von der Innovationskrise stichhaltige Gründe angeben und deutliche Symptome erkennen. Im wesentlichen sind es zwei Grundtendenzen, die in ihrer Kombination einen kritischen Zustand erzeugen: einerseits die technologischen und ökonomischen Wirkungen der mikroelektronischen Revolution, andererseits die systembedingte Innovationsschwäche des zentralistischen Planungs-und Leitungssystems. Die nachfolgenden Überlegungen versuchen, das Erscheinungsbild, die inneren Zusammenhänge sowie die mutmaßlichen Auswirkungen aktueller Innovationshemmnisse nachzuzeichnen.
II. Das Erscheinungsbild einer stillgelegten Kreativität
Abbildung 2
Schaubild: Prozeß der Planerstellung in der DDR
Schaubild: Prozeß der Planerstellung in der DDR
1985 waren rund 200000 Beschäftigte im Bereich von Forschung und Entwicklung (FE) eingesetzt, rund 60% von ihnen waren Hochschulabsolventen. Obwohl Vergleiche aufgrund der vorliegenden Daten auf Schwierigkeiten stoßen, schätzen DDR-Wissenschaftler, daß man „hinsichtlich des Anteils der für FE eingesetzten Berufstätigen im Landesmaßstab in die internationale Spitzengruppe“ aufgestiegen sei. Einem geschätzten DDR-Anteil von 1 bis 2% am Forschungs-und Wissenschaftspersonal der Welt entspricht ein Anteil von weniger als 0, 4% der Weltbevölkerung. 4, 7% des Nationaleinkommens, knapp 11 Mrd. Mark, wurden 1985 insgesamt für Wissenschaft und Technik bereitgestellt. 1986 wird sich diese Summe auf 11, 6 Mrd. Mark belaufen 1).
Solche empirischen Befunde veranschaulichen, was selbstverständlich scheint: Eine Gesellschaft, die erheblichen Aufwand für die Entwicklung von Wissenschaft und Technik treibt und auf die industrielle Nutzung wissenschaftlich-technischer Ergebnisse ausgerichtet ist, muß wie jede andere Industriegesellschaft auch der Bedeutung industriellen und wissenschaftlich-technischen Fortschritts einen zentralen Platz einräumen (vgl. Tabelle
Doch konstatieren Soziologen, Wissenschaftstheoretiker und Praktiker aus den Forschungsund Entwicklungsbereichen ein merkwürdiges Phänomen: Man habe zwar in der DDR Forschungs-und Entwicklungskapazitäten aufgebaut, die sich durchaus mit ihren materiellen und personellen Ressourcen am Niveau entwickelter Industriegesellschaften messen könnten, aber diese Potentiale blieben in hohem Maße unwirksam. Ihre virtuelle Potenz müsse aktiviert, in tatsächliche ökonomisch-technische Effektivität überführt werden Hierin besteht, so die nahezu übereinstimmende Kritik neuerer wissenschaftstheoretischer und soziologischer Untersuchungen, die entscheidende Herausforderung der weiteren Entwicklung.
Das Wort vom „Mittelmaß“ wird bemüht, wenn es darum geht, den aktuellen Zustand und die Malaise vorhandener Forschungs-und Entwicklungskollektive zu beschreiben. Bei einer Untersuchung von 442 Hoch-und Fachschulkadern und 92 Kollektivleitern wurde beispielsweise festgestellt, daß sich insbesondere in der Altersgruppe der unter dreißigjährigen Wissenschaftler eine signifikante „Konzentration mittelmäßiger Leistungen“ zeige Solche Ergebnisse, die in den hochaggregierten offiziellen Statistiken verschwinden, erhält man freilich erst durch genauere soziologische Analysen, die naturgemäß auch quantitativen Beschränkungen unterliegen. Anonyme Befragungen von Führungskräften in Forschungs-und Entwicklungsbereichen der DDR ergaben, daß diese „bemerkenswert oft“ der Ansicht waren, daß ihre Mitarbeiter für For-schungszwecke „nicht geeignet“ seien. Leitungskader müssen in der DDR für ihre Mitarbeiter regelmäßig schriftliche Leistungsbewertungen anlegen. Als man nun diese anonymen Befragungen mit den offiziellen Leistungsbewertungen verglich, wurde derselbe Mitarbeiterstamm regelmäßig mit Bewertungen wie „Spitzenkraft“ oder „sehr gute Forscher“ eingestuft Wie es scheint, gilt auch für die Forschungs-und Entwicklungsbürokratie der DDR, was für ähnliche Organisationen in aller Welt zutrifft: Sie erzeugen überhaupt erst jene Oberflächenbefunde scheingenauer Meßwerte und fiktiver Daten, die sie dann mit großem Aufwand, Kompetenzansprüchen und statistischem Eifer zu verwalten versuchen.
III. Entscheidungszentralismus und Innovationsprozeß
Abbildung 3
Tabelle 2: Wachstum der industriellen Nettoproduktion im Bereich der Industrieministerien
Tabelle 2: Wachstum der industriellen Nettoproduktion im Bereich der Industrieministerien
Während der Gesamtdauer der jährlichen Planer-stellung kommt es auf allen Stufen der Leitungspyramide in horizontaler wie vertikaler Richtung zu vielfältigen Koordinations-, Korrektur-und Kontrollprozessen, die bis in den genossenschaftlichen oder kommunalen Bereich hineinreichen (vgl. Schaubild) Aber die hierbei gegebene funktionale Selbständigkeit der Teilsysteme (Betriebe, Kombinate, staatliche Instanzen usw.) ist niemals eine prinzipielle, qualitative Entscheidungsautonomie, sondern immer daran gebunden, einen vorgegebenen Rahmen effektiv auszufüllen und festgelegte Ziele nach Maßgabe konkreter Bedingungen umzusetzen. Schon zu Beginn der Plan-periode sind die sogenannten staatlichen Planaufgaben, die den Betrieben, Kombinaten und anderen Organen als Grundlage zur Erarbeitung eigener Planentwürfe dienen, Vorgaben, die im Grundsatz nicht mehr verändert werden können.
Bereits sie gelten nämlich als „verbindliche Mindestziele für die zu erreichenden Leistungen“
Diese Organisationsprinzipien des demokratischen Zentralismus bauen auch heute noch auf den klassischen Vorstellungen Lenins auf, der das Avantgardemodell der bolschewistischen Partei und seine (bisweilen) verklärenden Auffassungen von fabrikmäßiger Disziplin auf den Gesamtbereich staatlicher Planung und Leitung ausgedehnt hatte. Lenin zufolge müssen Leitung und arbeitsteiliges Zusammenwirken der Teilglieder die „strengste Einheit des Willens" gewährleisten
Insbesondere für Innovationsprozesse hat diese Hierarchie von Erfüllungsprozeduren gravierende Folgen. Denn wer innerhalb dieses Systems den Steuermann steuert, bleibt prinzipiell ungeklärt. Selbst wenn inzwischen vorausgesetzt werden darf, daß die Formulierung sogenannter „objektiver gesellschaftlicher Erfordernisse“ in den staatlichen Planauflagen nach allen Regeln wissenschaftlicher Expertise erfolgt, so verstößt doch die Funktionslogik des gesamten Planungsablaufs gegen elementare kybernetische Erkenntnisse, wie sie übrigens von Seiten der Fachwissenschaft auch in der DDR schon in den sechziger Jahren hervorgehoben wurden Danach müßte nämlich bereits die Zielbestimmung und nicht erst die Erfüllungsprozedur das Ergebnis eines offenen dialogischen Prozesses sein, der eine Vielzahl wirksamer Feed-back-Impulse reguliert und verarbeitet. In diesem Sinne wäre aber das Steuerungszentrum aus Partei und wirtschaftsleitenden Organen an der Spitze kein autonomes Führungsorgan, das gleich einem Puppenspieler die Marionetten der Wirtschaftseinheiten an dirigierenden Fäden zieht, es wäre vielmehr in seiner Entscheidungsfindung selbst durch die nachgeordneten Teilsysteme gesteuert.
Solche Überlegungen mögen aus fachwissenschaftlicher Sicht noch so berechtigt erscheinen — im Kern stoßen sie an die grundlegenden Herrschaftsprinzipien des politischen Systems. Denn dieses System ist gemäß dem — nicht zufällig dogmatisierten — Leninschen Schema darauf ausgerichtet, den universellen Zugriff auf alle relevanten gesellschaftlichen Belange zu wahren Eben deshalb gilt für die Steuerung von Innovationsprozessen, was für die Planung und Leitung des Wirtschaftsgeschehens schlechthin gilt: die deterministische Festlegung der Planziele und der einheitliche, steuernde Zugriff von oben So besteht in den Forschungs-und Entwicklungsplänen (der „Staatsplan“ bzw. die „Pläne Wissenschaft und Technik“) die nachhaltige Tendenz, die jeweilige Aufgabenstellung als zu erwartendes Ergebnis festzulegen und dieses schließlich als planmäßiges Resultat auch entsprechend abzurechnen.
Die Kontrolle der Zukunft scheint perfekt. Man weiß schon im Vorgriff, was man eigentlich wissen möchte. Das mag wie eine unglaubwürdige Vereinfachung der DDR-Planungspraxis erscheinen, deckt sich aber im Grundsatz mit den kritischen Einwänden verschiedener DDR-Autoren.
So wird in einer Studie „Intensivierung der For- schung“ darauf verwiesen, daß Forschungsprozesse als sich entwickelnde Systeme begriffen werden müßten. Das heißt als Systeme, die einerseits genügend offen angelegt sein müßten, um spontanen, unvorhergesehenen Entwicklungen Rechnung zu tragen, und die andererseits entsprechend flexibel sein müßten, um auf selbstregulierte Weise — wenn erforderlich — Forschungspotentiale zu verlagern und Problemschwerpunkte zu modifizieren Mit anderen Worten: Wohlformulierte und festgelegte Aufgabenstellungen in Forschungsplänen (Wissenschafts-und Technikplänen) können bestenfalls bereits verfügbares Wissen aufbereiten oder absehbare Ergebnisse vorwegnehmen. Für die Erzeugung neuer Ideen sind solche Planungsprämissen ungeeignet. Eine solche „eingeengte Auffassung“ der Forschungsplanung sei, wie die Autoren der Forschungsstudie einräumen, „noch“ in der Praxis anzutreffen. Von ihr müsse man sich „entschie-den ... distanzieren“, da sich die „Forschungsplanung“ dann „auf die Vorausplanung absehbarer Resultate (reduzieren)“ würde. „Die Konsequenz einer derartigen Auffassung ist, daß das Unvorhersehbare, die fundamental neuartige Idee, das in höchstem Grade Kreative neben der Planung steht.... Wenn aber Forschungsplanung praktisch auf die Programmierung des Absehbaren beschränkt bleibt, dann organisiert sie ... tatsächlich den Nachtrab.“
Man hat in der DDR erkannt, daß mit vorgegebenen ökonomischen und technischen Parametern in den wissenschaftlich-technischen Plänen bestenfalls „internationale Durchschnittswerte“ zu erreichen sind Forschungs-und Entwicklungsprojekte, die „auf der Basis , sicher realisierbarer Lösungen“ aufgebaut werden, „transformieren Mittelmaß in die Zukunft und bedeuten ökonomischen Prestigeverlust auf dem Weltmarkt“
IV. Fehlsteuerungen und Rückstand in der Mikroelektronik
Zentralistische Systeme erliegen leicht der Gefahr von Fehlsteuerungen. Denn innerhalb des Systems gibt es keine ausreichend wirksamen Mechanismen zur Korrektur einmal getroffener Entscheidungen, wenn diese sich als Fehlorientierung erweisen sollten. Da alles auf die gesellschaftlich bedeutsamen Entscheidungen im Führungszentrum der SED und der von ihm kontrollierten Staatsorgane ausgerichtet ist, hängt die positive Gesamtentwicklung in hohem Maße davon ab, ob die Zentrale die richtigen Entscheidungen zum rechten Augenblick trifft. Dafür aber gibt es keinerlei Garantien, wie sich am Beispiel der Mikroelektronik in der DDR veranschaulichen läßt.
Die mikroelektronische Entwicklung ist in diesem Zusammenhang besonders aussagekräftig, weil zum einen durch diese Basistechnologie und die Fähigkeit zu ihrer Beherrschung mittelfristig das ökonomische Schicksal ganzer Gesellschaften entschieden wird und weil zum anderen die DDR auf diesem Gebiet schon seit den fünfziger Jahren kein Neuling mehr war. Namhafte Industriepotentiale der Büromaschinenindustrie wie das Büromaschinenwerk Sömmerda, heute u. a. Hersteller des ersten DDR Personalcomputers, waren nämlich aus der Erbmasse des Dritten Reichs übernommen worden. So gelang es bei-spielsweise 1955 im VEB Carl Zeiss Jena, erstmals einen programmgesteuerten Rechner der ersten Generation zu entwickeln Insbesondere in der Reformphase ab 1963 mit ihrer prononcierten Orientierung auf die Entfaltung aller Triebkräfte der „wissenschaftlich-technischen Revolution“ wurden erhebliche Anstrengungen unternommen, die mikroelektronische Industrie zu entwickeln. Allerdings mit begrenztem Erfolg: Bereits zum Ende der Ära Ulbricht hatte man den Anschluß an die Entwicklung von Computern der dritten Generation (d. h. auf der Grundlage von integrierten Schaltkreisen) verloren
Der gerätetechnische Rückstand zum Weltstandard betrug zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich bereits drei bis vier Jahre.
Die entscheidende Weichensteilung zur Kurskorrektur wurde aber erst 1977 auf dem 6. ZK-Plenum der SED eingeleitet, das nunmehr den forcierten Ausbau der Mikroelektronik vorsah. Im gleichen Jahr bot der US-Hersteller Commodore bereits einen fertigen Kleincomputer mit Rechner, Tastatur, Bildschirm und Kassettenlaufwerk für den Massenverbrauch an. Bereits sechs Jahre zuvor war einem der heute führenden US-Hersteller für Mikroprozessoren — der Firma Intel — ein sensationeller Durchbruch gelungen:
Erstmals stellte man einen Mikroprozessor, d. h. die Zentraleinheit eines Computers, integriert auf einem einzigen Chip, vor Um die seit Mitte der siebziger Jahre einsetzende lawinenartige Entwicklung der Mikroelektronik zu verdeutlichen: Allein in der Bundesrepublik Deutschland stieg der Produktionswert der Elektronikbranche von 1975 bis 1980 um mehr als 25% auf 4, 4 Mrd. DM
Verschiedentlich wird in der DDR eingeräumt, daß man die Dynamik dieser westlichen Entwicklung unterschätzt habe Das kann kaum überzeugen. Denn die allgemeinen Tendenzen der Technologie-Entwicklung waren zum einen schon längst von Fachwissenschaftlern in der DDR (und auf Blockebene) vorausgesagt worden, und sie waren angesichts der Expansion der westlichen Elektronikindustrie und ihres Innovationstempos selbst für Laien erkennbar. Viel wahrscheinlicher scheint eine andere Erklärung, nämlich die relative Schwerfälligkeit und die langen Reaktionszeiten des zentralistischen Entscheidungssystems, das genau in der Phase, in der es auf grundlegende Weichenstellungen angekommen wäre, mit ganz anderen Problemen befaßt war: Walter Ulbricht wurde abgelöst. Erich Honecker mußte seine eigene Machtposition konsolidieren und politisch initiativ werden. Mit dem VIII. Parteitag der SED 1971 wurde eine neue Strategie der Sozialpolitik eingeleitet. Die Erfolge der neuen Ostpolitik der damaligen sozialliberalen Bundesregierung zwangen die SED, sich auf eine völlig veränderte Lage einzustellen — eine Situation, die Ulbricht noch zu verhindem gehofft hatte Diese ungenügende Reak tion (denn die mikroelektronische Industrie wirt schäftete ja im „Normalbetrieb“ weiter) hat z erheblichen Rückständen in einer Reihe von mikroelektronischen Erzeugnisstandards gegenübei der Weltmarktentwicklung geführt.
Will man diesen Rückstand abschätzen, dann stellt sich die Frage nach den Kriterien und darüber hinaus nach der Aussagekraft entsprechender Befunde, die je nach angelegten Vergleichs-maßstäben sehr unterschiedlich ausfallen können.
Technologievergleiche beziehen sich häufig auf gerätetechnische Leistungsmerkmale, was den Vorteil hat, daß bestimmte Gebrauchswerteigenschaften eines Erzeugnisses durch technische Parameter (Masse, Geschwindigkeit, Genauigkeit usw.) vergleichbar werden. Solche Merkmale sind für die Einschätzung technologischer Entwicklungen zwar ein wichtiges Kriterium, aber sie beleuchten immer nur einen Aspekt einer in Wahrheit viel komplexeren technologischen Wirklichkeit. Bedeutsam ist etwa auch die Fähigkeit eines sozialen Systems, neue Erkenntnisse rasch zu verallgemeinern, also die Diffusion von Innovationen zu gewährleisten. Ferner bildet die soziale Adaptionsfähigkeit einer Gesellschaft oder bestimmter Berufsgruppen an den technischen Wandel einen entscheidenden Gesichtspunkt des allgemeinen technologischen Niveaus.
Emmanuel Mesthene verweist beispielsweise darauf, wie durch eine Reihe institutioneller und mentaler Faktoren der Einsatz von computerisierten Lernmaschinen, Unterricht in Systemanalyse u. a. in den USA gegen Ende der sechziger Jahre effektiv verhindert wurde, obwohl die gerätetechnischen und curricularen Voraussetzungen längst gegeben waren Vergleichbar ist ein Sachverhalt, den der DDR-Ökonom Haustein Mitte der achtziger Jahre bei seinen Untersuchungen zu Rationalisierungsmaßnahmen im Industriebereich feststellte: Vorhandene Möglichkeiten der automatisierten Produktionsvorbereitung wurden nämlich nicht genutzt, weil die hier konzentrierten Leitungskader der modernen Informationstechnik ablehnend gegenüberstehen. Fehlende Kenntnisse in Informatik, Unklarheiten über ihren ökonomischen und technologischen Nutzen, aber auch die — insbesondere bei Akademikern verständliche — „Scheu und Bild- schirmangst“ sagen hier bisweilen mehr über technologische Entwicklungsniveaus aus als Neuvorstellungen auf der Leipziger Frühjahrs-messe Würde man solche sozialen Indikatoren als Vergleichspunkt wählen, dann entspräche die DDR vermutlich dem Entwicklungsniveau der USA vor zehn Jahren. Wenn im weiteren einige gerätetechnische Vergleiche angestellt werden, dann mögen solche Einschränkungen und Vorbehalte den Blick für die Relativität der Aussagen schärfen.
Als Vergleichsbereich wird der Sektor der Mikrocomputer gewählt, der für das Niveau der „Elektronisierung“ einer Gesellschaft besonders aussagekräftig ist. Denn der Mikrocomputer bewirkte überhaupt erst den Übergang zur Breitenanwendung der Mikroelektronik. Hätte sich die mikroelektronische Revolution allein im Bereich der großen Rechenanlagen abgespielt, dann wären die sozialen und ökonomischen Effekte der Elektronisierung vermutlich sektoriell begrenzt geblieben. Durch die kleinen und zunehmend leistungsstärkeren Mikrocomputer erschloß sich aber ein ungeheuer breiter Nutzungsbereich für autonome (d. h. unabhängig von der großen EDV-Anlage) Anwendungen in kleinteiligen Strukturen, die dadurch besonders an Flexibilität, Reaktionsvermögen und Verarbeitungskapazität gewannen. Für 1986 schätzt eine Diebold-Studie den Verkauf von Mikrocomputern allein in der Bundesrepublik auf rund 800000. Zum Vergleich: Insgesamt wurden 1985 in der DDR rund 34000 Mikrocomputer hergestellt, womit der volkswirtschaftliche Gesamtbestand zu Beginn des Jahres 1986 bestenfalls bei 80000 bis 90000 Einheiten gelegen haben dürfte
Vorsichtig geschätzt, beträgt gegenwärtig der gerätetechnische Rückstand der DDR auf dem Sektor der Mikrocomputer gegenüber den Erzeugnisstandards führender westlicher Länder etwa fünf Jahre und mehr. Differenzierte Niveauunterschiede ergeben sich vor allem insofern, als auch die westlichen Industriestaaten (einschließlich Japans) in ihrer Technologieentwicklung ein heterogenes Bild aufweisen. Aber als Faustregel kann gelten, daß die DDR technologisch gesehen mehr als eine Computergeneration zurückhinkt. Einige typische Merkmale ergeben folgendes Bild: Der noch vorherrschende Ausrüstungsstandard bei Mikrocomputern sind in der DDR 8-Bit-Prozessoren, wie sie in der Bundesrepublik bei den ersten Personalcomputern zu Beginn der achtziger Jahre Verwendung fanden und wie sie auch heute noch auf westlichen Märkten bei einfachen Geräten wie Hobbycomputern gebräuchlich sind. Professionellen Standards genügen sie allerdings kaum noch, da moderne Softwareprodukte — sei es für die Büroautomation oder im ingenieurtechnischen Bereich — Prozessoren mit einer Wort-länge von 16 Bit und mehr voraussetzen Solche Prozessoren lösten die Familie der 8-Bit-Geräte seit etwa 1982 ab. In der DDR ist ein Mikrocomputer mit 16 Bit Verarbeitungsbreite auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1985 vorgestellt worden. Ein Jahr zuvor gab es einen entsprechenden Prozessor bereits als Messeexponat Vergleicht man den ebenfalls seit 1984/85 verfügbaren Personalcomputer aus Sömmerda mit westlichen Produkten, so entsprechen seine technischen Leistungsmerkmale (Prozessortyp, Speicherkapazität, Peripheriegeräte wie Monitor usw.) in etwa jenen Geräten, wie sie international seit Beginn der achtziger Jahre verfügbar waren.
Auf dem Gebiet der Speicherchips zeigt sich ein ähnliches Bild. 256-Kilobit-Chips wurden auf westlichen Märkten seit 1984 angeboten. Solche sehr hoch integrierten Speicherbausteine könnten beispielsweise bis zu 16 Seiten eines normalen Schreibmaschinentextes aufnehmen (bzw. eine vergleichbare Zeichenmenge), was wiederum zu einer erheblichen Kapazitätserweiterung (bei gleichzeitiger Miniaturisierung) bei handelsüblichen Mikrocomputern führte. Jüngere Softwareprodukte, wie etwa professionelle Textverarbei-tungs-, Kalkulations-oder Graphikprogramme, setzen beispielsweise Speicherkapazitäten voraus, wie sie in der DDR erstmals mit dem neuen Arbeitsplatzcomputer A 7 100 (mit 16-Bit-Prozessor) im Frühjahr 1985 vorgestellt wurden. Nach Pressemitteilungen sollte das DDR-Kombinat VEB-Mikroelektronik 256-Kilobit-Speicherchips ab 1986 in Serie produzieren, aber dieses Planziel wurde offensichtlich nicht erreicht Dabei ist es wichtig zu wissen, daß gerade die Serienproduktion nochmals erhebliche technologische Probleme schafft und damit Zeit kostet. Das Nachfolgeprodukt, der 1-Megabit-Speicher, ist als Laborprodukt beispielsweise im Westen schon seit Ende 1984 verfügbar. Aber erst seit Mitte dieses Jahres wird dieser Chip von IBM in Sindelfingen und Burlington/USA in Serie produziert. Beim bundesrepublikanischen Hersteller Siemens wird das ab 1987 der Fall sein. Derzeit wird bei diesem Unternehmen die Serienproduktion noch in Probeläufen getestet Wenn Erich Honecker erst unlängst im Kombinat Carl-Zeiss Jena die „Strukturen eines Megabitspeichers“ durchs Mikroskop bewundern konnte, dann besagt das für sich genommen recht wenig nicht einmal, ob es sich hierbei um einen produktionsfähigen Prototypen gehandelt hat. Zumindest ist man im Konkurrenzkombinat Mikroelektronik in Erfurt noch damit beschäftigt, die Technologie des Vorgängerprodukts zu beherrschen.
V. Isolierte Prioritätenbildung und Desorganisation
Unter den herrschenden Bedingungen einer längst überholten, mechanistischen Planungsphilosophie, die auf determinierbare Ursache-Wirkung-Beziehungen abzielt, sind spontane Anpassungs-und Neuerungsprozesse, die das Gesamtsystem in seinen Teilbereichen auf vielfältige Weise gewissermaßen „bereithält“, weitgehend ausgeschlossen. Gerade bei elementaren Innovationen ist aber in der Regel nicht absehbar, wie vielfältig die Vernetzungen mit anderen Teilsystemen sind und zu welchen Fernwirkungen sie führen.
Um das zu verdeutlichen: Als beispielsweise Ende 1974 in den USA in der Zeitschrift „Populär Electronics“ zum ersten Mal für Elektronik-enthusiasten ein Computerbausatz namens „Altair“ angeboten wurde, war überhaupt noch nicht absehbar, daß damit die Geburtsstunde des Mikrocomputers geschlagen hatte Für den „Altair“ ging unerwartet binnen weniger Tage eine Flut postalischer Bestellungen ein. Und ebenso-wenig absehbar waren spontane Resonanz-und Anpassungsprozesse, die eine ganze Infrastruktur sozialer, kommunikativer und ökonomischer Zusammenhänge erzeugten. So entstand in kürzester Zeit ein Markt für Zubehör und neue, verbesserte Baugruppen. Erste Computerläden wurden eröffnet. Das Kommunikations-und Informationsbedürfnis einer neuen Gruppe von Verbrauchern und Herstellern lag gewissermaßen in der Luft. Die Zeitschrift „Byte“, damals die erste populär aufgezogene Fachzeitschrift für Klein-computer, verwertete und organisierte mit schlagendem Erfolg diese neuen Bedürfnisprofile. Gut ein Jahr später gab es, wie Curnow und Curran schreiben, „mindestens 30000 Hobbycomputer und 300 Computerfachgeschäfte in den USA; Byte besaß eine Auflagenstärke von 100000 Exemplaren. Kleincomputer hatten Fuß gefaßt“
Dieses Beispiel mag verdeutlichen, wie problematisch dirigistische Planungsstrategien und Steuerungsmethoden zumindest dann sind, wenn es um komplexe Innovationsprozesse und ihre gesellschaftliche Verbreitung geht. Denn in der Tat hätte diese Infrastruktur aus Kommunikation, Service, Herstellerangeboten und Anwenderbedürfnissen, die sich im Prozeß einer fortlaufenden Ideenbildung und Anpassung wechselseitig hochschaukelten, in ihren wesentlichen Elementen vorausgesehen werden müssen. Da dies unrealistisch ist, bleibt de facto nur der steuernde Eingriff von oben, der wiederum zu isolierten Prioritätenbildungen und linearen Planungsprozeduren führt. Es entsteht die trügerische Optik einer durchgängigen Planbarkeit, die in Wahrheit fortlaufend versagt. Die Folgen sind dann — wie in der DDR — die „tausend kleinen Dinge“, an denen es fortlaufend mangelt: Wohnanlagen ohne ausreichendes Telefonnetz, Automobilproduktionen ohne genügende Servicebereiche und Ersatzteile und eigengefertigte Computersysteme, ohne ein entsprechend differenziertes und qualitativ anspruchsvolles Softwareangebot Gerade dieser letzte Aspekt wirft ein charakteristisches Schlaglicht auf die desorganisierenden Folgen linearer Planungs-und Steuerungsstrategien, die zwar einseitig Prioritäten durchsetzen können, aber dabei den ganzen Komplex miteinander verzahnter Komplementärbereiche außer acht lassen. Die besten Rechnerproduktionen sind nutzlos, wenn es an der entsprechenden Software mangelt. Computer (Hardware) ohne Software sind wie Plattenspieler ohne Schallplatten.
Offenkundig mangelt es in der DDR in jeder Hinsicht an einer entwickelten Infrastruktur von spezialisierten Softwareproduzenten, die für den allgemeinen Bedarf produzieren. Dementsprechend entwickelte jeder Anwender von Datenverarbeitungsgeräten — in der Regel die Kombinate und Betriebe, größere wissenschaftliche Einrichtungen, Behörden u. ä. —, sofern er sich dazu in der Lage sah, seine eigene Software Die Philosophie der Improvisation gebot: selber machen. Das führte notwendigerweise dazu, daß recht bald ein unübersehbares Wirrwarr selbstgebastelter Softwareerzeugnisse entstand und häufig für identische Anwenderzwecke voneinander isolierte Parallelarbeiten erfolgten. Jeder Hersteller produzierte für seinen speziellen Eigenbedarf, während anspruchsvolle Standardsoftware mangels Ressourcen und wegen des damit verbundenen Zeitaufwands nicht entwickelt wurde. So gibt es beispielsweise auf dem Gebiet der Büroautomatisierung allein 240 bis 260 verschiedene Softwareerzeugnisse für Lohn-und Gehaltsbearbeitungen (zugeschnitten für größere Datenverarbeitungsanlagen und Kleinrechner), bei denen es sich in der Regel offenbar um einfache Programme handelt, die für den Eigenbedarf entwikkelt wurden. „Anspruchsvollere Lösungen“ würden hingegen — so das Fachorgan „Rechentechnik und Datenverarbeitung“ —, „oft fehlen“ Personell und gerätetechnisch gut ausgestattete EDV-Anwender mögen sich in dieser Situation noch mit Improvisationstalent zu behelfen wissen, obwohl es sehr wahrscheinlich sein dürfte, daß auch hier mangels professioneller Software die vorhandene Hardware nur unzureichend ausgenutzt wird Wer aber hierbei gezwungenermaßen in die „Elektronenröhre“ schauen muß, sind alle die kleinen und mittleren Anwender von standardisierter Software, vor allem die Einzelbenutzer von Mikrocomputern, die an keine zentrale Rechenanlage gekoppelt sind. Das Einsatzgebiet reicht hier von der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft über den Versorgungsbetrieb, kleinere wissenschaftliche Einrichtungen bis zum Computerarbeitsplatz in Betriebsabteilungen uad — für die DDR derzeit noch Zukunftsmusik — bis zu den privaten Besitzern von Personalcomputern.
Diese Situation hat wiederum Folgen für den gesamten Kommunikationsprozeß. Die Hinweise auf entsprechend anwenderfreundliche Anleitungen (sogenannte „Dokumentationen“ oder „Manuals“) für Software sind in den Fachpublikationen so spärlich, daß auf diesem Gebiet der Eindruck eines mikroelektronischen Entwicklungslandes berechtigt erscheint. Ohne ausführliche Dokumentation sind aber selbst Kenner der Materie kaum in der Lage, ein Softwareerzeugnis adäquat zu nutzen. So arbeitet man zwar, wie das „Neue Deutschland“ anläßlich der Leipziger Herbstmesse zu berichten wußte, mit „Konsequenz“ an den gerätetechnischen Voraussetzungen zur Herstellung des Ein-Megabit-Speicherchips befindet sich aber fast zehn Jahre nach dem entscheidenden ZK-Beschluß von 1977 noch in einer Situation, bei der zur „ordentlichen Dokumentation“ von Software die Zeit fehlt
VI. Defensive Verhaltensstrategien und informelle Einflüsse
Obwohl demokratisch-zentralistische Leitungsstrukturen darauf ausgerichtet sind, eine straffe Einheitlichkeit des Willens über die ganze Be-fehlspyramide hinweg zu gewährleisten, erzeugen sie merkwürdigerweise fortlaufend ihr Gegenteil: den Verlust an Steuerungskapazität durch sich widerstreitende Interessen und Interessenebenen. Die Grundbeziehung zwischen leitender und ausführender Ebene gründet zunächst auf einem Autoritätsgefälle: Das leitende Organ verfügt über relativ mehr positive oder negative Sanktionsmöglichkeiten, seinen Willen durchzusetzen, als die ausführenden Organe. Vordergründig erfüllt diese Konstellation ihren beabsichtigten Zweck: Das Interesse der nachgeordneten Instanzen wird einseitig auf die zentralen Vorgaben ausgerichtet. Die formale Planerfüllung ist auch in der Tat die alles entscheidende Richtgröße für die politischen und fachlichen Kader in den Betrieben, Kombinaten und anderen Einrichtungen. Aber dieselbe Konstellation erzeugt gleichzeitig einen unerwünschten Nebeneffekt: das defensive Verhalten der ausführenden Organe gegenüber den jeweiligen Leitungsinstanzen.
In diesem Sinne haben die Wirtschaftseinheiten ein strukturell bedingtes Interesse daran, die eigene Leistung zu minimieren, die Planziele zu senken und ohne Risiko für den Planerfüllungsprozeß zu disponieren. Je komplexer die Planungsobjekte geraten und je länger die Entscheidungskette wird, um so mehr operieren die zentralen Organe mit hoch aggregierten Informationen aus zweiter Hand. Diese Informationen aber sind auf allen Stufen der Planungs-und Leitungspyramide in erheblichem Maße durch die dort wirksamen defensiven Verhaltensstrategien geprägt und daher einseitig. Auf diese Weise entsteht ein Netzwerk sozialer Mechanismen der Absicherung und Leistungsbegrenzung, das vom betrieblichen Mikrokosmos über die Kombinate bis hin zu den Industrieministerien, Ministerien und anderen zentralen Organen reicht. So ergibt sich ein merkwürdiges Phänomen: äußerlich, in den formalen Leitungsbeziehungen, entsteht das Bild einer monolithisch durchorganisierten Struktur: realiter aber wirkt ein Gefüge informell wirksamer, vielfältiger Eigeninteressen, die allesamt nach Wegen und Möglichkeiten suchen, den eigenen Funktionsbereich abzuschirmen und überschaubare Routineoperationen durchzuführen.
Natürlich sind mit dieser modellhaften Konstruktion keineswegs alle relevanten Interessen-strukturen innerhalb des Planungs-und Leitungsgeschehens erfaßt. Der Zusammenhang von formalem Entscheidungszentralismus und realer Aufspaltung in isolierte, sich defensiv verhaltende Interessenbereiche ist vor allem für die Funktionsweise der wirtschaftlichen Subsysteme und der nachgeordneten staatlichen Entscheidungsinstanzen von Bedeutung. Dieses Interessengefüge charakterisiert also vornehmlich das Verhalten von Funktionsträgern, wenn es um die verantwortliche Regelung von Entscheidung und
Entscheidungsumsetzung, von Planung und Plan-erfüllung geht. Darüber hinaus mischen sich diese dominanten Interessenlagen mit einer Vielzahl von Sonderinteressen sozialer Gruppen, die innerhalb des Wirtschaftsgeschehens teils gleichgerichtete, aber auch gegenläufige Interessen vertreten. Gerade diejenigen, die beispielsweise als Individuen oder soziale Gruppe ein hohes Interesse an beruflicher Profilierung haben — ehrgeizige Manager, Teile der wissenschaftlich-technischen Intelligenz, erfolgsorientierte Parteifunktionäre oder Arbeiter mit Aufstiegsambitionen —, stoßen sich mit ihren Initiativen häufig an den defensiven Beharrungstendenzen der Planungs-und Leitungsmaschinerie. Ihr Verhalten stiftet für gewöhnlich Unruhe und vor allem: Sie „verderben die Preise“ 37a).
Grundlegende Innovationen stellen daher für die Wirtschaftseinheiten häufig nur eine unliebsame Belastung dar. Sie bringen über längere Zeit Unsicherheiten in die eingespielten Routineabläufe, führen naturgemäß zu höheren Leistungsansprüchen in nachfolgenden Planperioden, entwerten ihre bisherigen konventionellen Leistungen und Erzeugnisse und bergen zudem das Risiko in sich, mit der laufenden Planerfüllung in Verzug zu geraten
Das prägt das Verhalten der Wirtschaftseinheiten im Umgang mit den staatlichen Planauflagen. Wenn beispielsweise der Minister für Hoch-und Fachschulwesen der DDR, Hans-Joachim Böhme, dem versammelten 10. ZK-Plenum (1985) zu berichten wußte, daß 1984 insgesamt 1660 Forschungsergebnisse der Universitäten und Hochschulen den Kombinaten übergeben werden konnten, davon 261 Aufgaben aus dem Staats-plan Wissenschaft und Technik dann haben diese Daten, bis auf ihre Legitimationsfunktion, vermutlich keinen besonderen Erkenntniswert: Da Pläne erfüllbar gemacht werden, gibt es auch kaum Pläne, die nicht erfüllt werden. Die schon im Planansatz einkalkulierte Anspruchslosigkeit der Aufgabenstellung in den Wissenschafts-und Technikplänen oder den operativen „Pflichtenheften“ sorgt dafür, „möglichst nur Entwick-lungs-und Forschungsaufgaben in den Plan aufzunehmen, die mit absoluter Sicherheit zum Termin erfolgreich abgeschlossen werden können“ Rund ein Drittel der Aufgaben der betrieblichen Wissenschafts-und Technikpläne liegt angeblich „unter dem internationalen Stand“. Nur 25 der 222 gesellschaftswissenschaftlichen Forschungsthemen, die für den Zeitraum 1981-1985 an der Berliner Humboldt-Universität festgelegt worden waren, wurden nach Auffassung der verantwortlichen Themenleiter als „Höchstleistungen“ konzipiert
Da Forschungs-und Entwicklungsprozesse auch inhaltlich (und nicht nur in der Bewertung, prozessual, organisatorisch usw.) durch eine hohe Komplexität gekennzeichnet sind, gibt es für die Phantasie keine Grenzen, wenn es darum geht, einzelne inhaltliche Komponenten auszudifferenzieren, Details als Projekte auszugeben oder alte Bestände unter einem neuen Gesichtspunkt zusammenzufassen. Und da sich aus jedem wissenschaftlichen Projekt mühelos mehrere solcher Abwandlungen konstruieren lassen, ist man auch im industriellen Entwicklungsbereich in DDR-Betrieben nicht verlegen, wenn statistisch und im materiellen Eigeninteresse die innovative Bilanz aufgebessert werden muß. Harry Maier, bis vor kurzem einer der führenden DDR-Soziologen auf dem Gebiet der Wissenschafts-und Innovationstheorie, nennt solche Verfahren neutral „kosmetische Innovationen“
Auf der Entstehungsseite ist die Erzeugung neuen technischen Wissens ein offener, noch unkonturierter Entwurf. In bezug auf seine möglichen Resultate ist es daher auch hochgradig risikobesetzt; in seinen Prozeßformen häufig ein spontaner, indeterminierter Verlauf. Im Prinzip kommt es damit zu einem unvermeidlichen Widerspruch zwischen den Handlungsbedingungen kreativer Spontaneität auf der einen und den Operationsbedingungen administrativer Steuerung auf der anderen Seite. Letztere tendieren notwendigerweise dazu, die risikobesetzte Kreativität in einen überschaubaren und kontrollierbaren Prozeß zu überführen. Setzen sich solche Tendenzen durch, dann führt das dazu, daß die kreativen und spontanen Komponenten des Inventionsprozesses aufgelöst und durch paßfähige Routinehandlungen ersetzt werden. Ein Wissenschaftler im Be-reich der Industrieforschung drückte diesen Sachverhalt so aus: „Für viel wichtiger halte ich in diesem Zusammenhang, daß eine Aufgabenstellung nicht schort den Lösungsweg vorschreibt, sondern durch die Beschränkung auf die Rand-und Rahmenbedingungen dem Ingenieur auch von dieser Seite her genügend Freiraum für Kreativität läßt. Mit dem Pflichtenheft muß also dem Erfinder geistiger Spielraum gegeben werden und seine Phantasien angeregt werden. Sonst werden mittelmäßige Leistungen vorprogrammiert.“
Die gegenwärtige Form parteistaatlicher Steuerungen bedingt daher, was der DDR-Soziologe Ladensack folgendermaßen beschreibt: „Teilweise muß überhaupt erst das Verständnis für das Wesen des Risikos und die unabdingbare Notwendigkeit, gerechtfertigte Risiken einzugehen, weiter vertieft werden ... Für verschiedene Leute, Leitungs-und Kontrollorgane ist Risiko vor allem ein Begriff mit negativem Inhalt. Taucht Risiko auf, werden sofort Maßnahmepläne zur Eliminierung des Risikos verlangt.“
Für das Personal der Forschungs-und Entwicklungsbereiche, wissenschaftlicher Institutionen u. ä. hat diese Tendenz zur Eliminierung des Risikos und der damit einhergehende Konventionalismus wissenschaftlich-technischer Lösungen auch nachhaltige motivationale Folgen. Denn gerade in dieser Beschäftigtengruppe ist das Bedürfnis nach Identifikation mit der Arbeit und nach selbständigen Leistungen, wie soziologische Untersuchungen übereinstimmend zeigen, besonders ausgeprägt. Bezeichnend ist etwa die Erwartungshaltung von Ingenieuren, die als Berufsanfänger davon ausgehen, daß ihre zukünftige Tätigkeit in hohem Maße schöpferische Komponenten aufweisen müsse Wenn jedoch, wie soziologische Einzeluntersuchungen belegen, „originelle Lösungen“, „unkonventionelle Arbeitsweisen“, das „Lösen schwieriger Probleme“ für die materielle und soziale Anerkennung dieser Intelligenzgruppe weitgehend bedeutungslos sind wenn in Einzelerhebungen mehr als 55% des Personals aus Forschungs-und Entwicklungsabteilungen bei ihrer Tätigkeit „nur geringe“ oder „keine“ Möglichkeiten zur schöpferischen Arbeit sehen dann müssen solche Be-dingungen zu Identitätskonflikten und Frustrationserfahrungen führen. Die Reizlosigkeit einer durchroutinisierten Arbeitswelt bedingt entsprechende Ausweichstrategien im Verhalten und in den Einstellungen. So wird häufig das unzureichende Leistungsverhalten gerade des Personals der Forschungs-und Entwicklungsbereiche kritisiert. Statt eindeutiger Leistungsorientierungen gäbe es, wie etwa die DDR-Soziologin Sailer zeigen kann, ausgeprägte Neigungen, sich in der Kollegialität und in befriedigenden Sozialkontakten der Forschungskollektive genügsam einzurichten Setzt man solche leistungsindifferenten Verhaltensformen zu den gleichfalls erkennbaren Motivationsmustern dieser Intelligenz-gruppe in Beziehung, dann liegt der Schluß nahe, daß sich in den Leistungsdefiziten nicht nur spannungslose Bequemlichkeit, sondern auch Tendenzen einer resignativen Anpassung ausdrücken.
VII. Innovation und Preissystem
Eigentlich müßten die verselbständigten Eigeninteressen der Wirtschaftseinheiten — ihre defensiven Praktiken — sowie die Fehlwirkungen der zentralistischen Steuerungsapparatur schlechthin auch betriebswirtschaftlich und gesamtökonomisch in Erscheinung treten. Das ist jedoch nicht oder nur sehr bedingt der Fall. Anders als unter Markt-und Konkurrenzbedingungen werden die Wirtschaftseinheiten für ineffiziente Produktionsmethoden, qualitativ mangelhafte oder technisch veraltete Erzeugnisse nicht unmittelbar durch ökonomische Nachteile wie etwa durch Verluste am Marktanteil, sinkende Erträge oder auch den Ruin bestraft. Mißwirtschaft, Entwicklungsstörungen oder fehlende Anpassungsprozesse werden vielmehr erst nach erheblicher zeitlicher Verzögerungsichtbar. Die Gründe hierfür liegen in der besonderen Wirkweise der wirtschaftlichen Steuerungsinstrumentarien, vor allem der Wert-und Preiskategorien, mit denen die wirtschaftlichen Aufwendungen und Erträge gemessen und bewertet werden können
Die Preise und ihre Aussagekraft sind seit jeher die Achillesferse der real-sozialistischen Plansysteme.
Sie stellen den Schwachpunkt der zentralen Steuerungsmechanismen schlechthin dar, denn der größte Teil der Plankennziffern, an denen die Wirtschaftseinheiten sich orientieren, wird in Preisausdrücken vorgegeben oder (wie Gewinn, Nettoproduktion u.dergl.) auf der Grundlage von Preisen gebildet. Wenn nun die Preise die realen Aufwandsstrukturen und insbesondere die Aspekte Knappheit, Qualität und technisches Niveau nicht oder nur unvollständig widerspiegeln, dann können wirtschaftliche Leistungen formal als Ertragssteigerung und volkswirtschaftliches Wachstum ausgewiesen werden, hinter denen in Wahrheit ein schleichender Effizienzverlust und sinkendes Wachstum stehen.
Bis heute ist es in der DDR nicht gelungen, den Faktor Innovation — die Einführung neuer Erzeugnisse, Verfahren und Leistungen — adäquat in den Industriepreisen auszudrücken. Freilich stellen sich hier außerordentlich komplexe Kalkulations-und Bewertungsprobleme. Die neuen technischen Standards müßten durch komplizierte internationale Vergleiche ebenso ermittelt werden wie die Kosten und der potentielle ökonomische Nutzen. Und schließlich müßte die Preisbildung dazu führen, daß von ihr sowohl für die Hersteller als auch für die Käufer ein entsprechender Anreiz ausginge.
Jede noch so leistungsfähige Planbürokratie — in der DDR: das Amt für Preise — mit noch so weitreichenden Kontrollkompetenzen muß hier allein aus Komplexitätsgründen heillos überfordert sein. Allein die derzeitige Erzeugnis-und Leistungsnomenklatur der DDR umfaßt rund 80 000 verschiedene, bereits zusammengefaßte Erzeugnispositionen. Ein führendes Maschinen-bauunternehmen, wie das Kombinat Umformtechnik, verfügt über ein Erzeugnissortiment von 130 Maschinentypen in fast 1 000 Varianten. Die Erzeugnispalette des Kombinats „EAW“ (Elektro-Apparate-Werke), eines zentralen Unternehmens der Automatisierungs-und Gerätetechnik mit über 33 000 Beschäftigten, umfaßt sogar rund 50 000 Erzeugnisse!
So bestimmt zwar die derzeit gültige Kalkulationsrichtlinie für Industriepreise, daß bei Produktinnovation, für die ein zeitlich befristeter Extragewinn gewährt wird, die „wirtschaftliche Effektivität grundsätzlich für Einzelerzeugnisse nachzuweisen“ sei, aber das ist offenkundig leichter angeordnet als getan. Denn der allgemeine Zuwachs an Komplexität und Differenziertheit wirtschaftlicher Prozesse erzeugt eine Vielzahl von funktionalen Entscheidungsspielräumen (und damit auch Manipulationsmöglichkeiten) auf den nachgeordneten Ebenen, die sich jeder dirigistischen Steuerung und Kontrolle entziehen. Für die Betriebe und Kombinate scheint es häufige Praxis zu sein, bei der Preisfestsetzung Gebrauchswertsteigerungen nachzuweisen, die in Wahrheit fiktiv oder unter technischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten unerheblich sind Es ist sehr wahrscheinlich, daß beispielsweise durch solche Scheininnovationen an Erzeugnissen nunmehr auch die Plankennziffer Nettoproduktion in den Kombinaten, die seit 1981 bzw.
1983 zu den Hauptleistungskennziffern gehört, erheblichen Verzerrungen unterliegt. Denn mit den „neuen“ Produkten konnten höhere Preise (Extragewinne) kalkuliert bzw. drohende Preisabschläge wegen Veralterung unterlaufen und die betriebliche Nettoproduktion entsprechend übererfüllt werden
VIII. Mikroelektronik und Preisverfall
Eine der bedeutsamsten ökonomischen Wirkungen, die von der Expansion der Mikroelektronik ausgehen, ist die Entwertung konventioneller technischer Systeme und der rapide Preisverfall entsprechender Erzeugnisse.
Die heftigen Konkurrenzkämpfe innerhalb der westlichen Elektronikbranche werden durch die Verwertung immer neuen technologischen Wissens ausgetragen. Das führte zu einer bislang unbekannten Hektik der Erzeugnisinnovation im Zyklus von ein bis zwei Jahren und zu dramatischen Wertverlusten bei den jeweils vorangegangenen Produktgenerationen.
Eiri leistungsstarker Bürocomputer erfüllt Mitte der achtziger Jahre bereits die technischen Standards einer Datenverarbeitungsanlage vor zehn Jahren. Die universelle Anwendbarkeit von frei programmierbaren Mikrocomputern für jede Art von Informationsverarbeitung bedingt heute bereits ein Einsatzgebiet, das von der Werkzeugmaschine bis zum Automobil, vom Haushaltsgerät bis zum Industrieroboter reicht, von den noch umfassenderen Anwendungsmöglichkeiten einfacher mikroelektronischer Komponenten gar nicht erst zu reden. Anfang der achtziger Jahre wurde geschätzt, daß etwa 5% der zu diesem Zeitpunkt absehbaren 20 000 Anwendungsmöglichkeiten der Mikroelektronik technisch und ökonomisch erst erschlossen seien. Das bedeutet, daß sich die Spirale aus verkürzten Innovationszyklen, einer technologisch expansiven Struktur-umwälzung und rascher Potentialentwertung wahrscheinlich für einen nicht absehbaren Zeitraum noch weiter fortsetzen wird.
Eine Volkswirtschaft wie die der DDR unterliegt damit einer doppelten Zangenbewegung: Einerseits ist sie aufgrund der systembedingten Innovationsschwäche nicht in der Lage, weder das Tempo noch die technischen Standards der Welt-marktentwicklung mitzuhalten, andererseits wirkt sich auf ihre Standarderzeugnisse und konventionellen Potentiale ein progressiver Preisverfall aus, der mit der Breitenwirkung der Mikroelektronik tendenziell auf das gesamte Wirtschaftsgeschehen ausstrahlt Jene 256-KilobitSpeicherchips, die im Kombinat Mikroelektronik 1986 zur Serienproduktion anstanden, erreichten zum Zeitpunkt ihrer westlichen Markteinführung 1984 noch einen Stückpreis von 150, — DM. 1985 war das Preisniveau bereits auf 9, — DM abgesunken. Bei den bislang von diesem Kombinat hergestellten 64-Kilobit-Speicherchips sank der Preis von 150, — DM (1979) auf 3, — DM (1985) Salopp ausgedrückt: Die mikroelektronischen Speicher, die die DDR 1986 herzustellen vermag, sind gemessen am internationalen Preis-niveau bereits nichts mehr wert. Personalcomputer, wie das seit 1985 verfügbare Erzeugnis aus Sömmerda, kosteten zu Beginn der achtziger Jahre mit vergleichbaren technischen Merkmalen als System (einschl. Monitor, Drucker, Tastatur) etwa 10 000, — DM. Bereits 1986 sind solche Geräte als System je nach Ausführung für DM 2 000, — und sogar noch weniger erhältlich. Selbst leistungsstarke professionelle Mikrocomputer mit 16-Bit-Prozessoren und hohen internen Speicherkapazitäten, die dem vergleichbaren Arbeitsplatzcomputer von Robotron (seit 1985 verfügbar) gerätetechnisch überlegen sind, unterlagen allein seit Jahresbeginn 1986 Preissenkungen von bis zu 38%! Wie die mikroelektronische Entwicklung auf andere Wirtschaftszweige übergreift, kann beispielsweise auf dem Maschinenbausektor beobachtet werden. Traditionell ist dieser Bereich eine industriell hochentwickelte Domäne der DDR-Wirtschaft. Zusammen mit dem Fahrzeugbau macht der Maschinenbausektor rund ein Fünftel der industriellen Gesamterzeugung der DDR aus und stellt damit neben der ebenfalls traditionell hochentwickelten chemischen Industrie den wichtigsten Industriebereich überhaupt dar. So ist es denn volkswirtschaftlich von erheblicher Bedeutung, wenn beispielsweise konventionelle Erzeugnisse des Maschinenbaus in ihren Welt-marktpreisen auf das niedrigste Niveau seit dreißig Jahren abgesunken sind. Erzeugnisse wie Werkzeugmaschinen ohne mikroelektronische Ausrüstungen, insbesondere ohne freiprogrammierbare Steuerungen, erzielen zu Weltmarktbedingungen nicht einmal mehr ihre einfachen Herstellungskosten Zumindest im Schlüsselbereich des Werkzeugmaschinenbaus waren aber Ende 1985 nur 30% der Erzeugnisse in ihren Funktionen „wesentlich“ — was immer das heißen mag — durch mikroelektronische Aggregate bestimmt Das entspräche in etwa dem Weltmarktniveau von 1981. Anders ausgedrückt: 70% der Erzeugnisse dieses Sektors sind vermutlich auf den westlichen Märkten nicht oder nur mit erheblichem Verlust absetzbar. Zahlen über die internationale Spitzenstellung der DDR als Exporteur von Werkzeugmaschinen (angeblich an sechster Stelle) täuschen über die entscheidende Tatsache hinweg, daß der größte Teil dieses Exports in den RGW-Bereich geht. Hier ist die DDR nach der Sowjetunion auch der größte Hersteller von Werkzeugmaschinen.
Solche technologisch bedingten Entwertungsprozesse werfen grundlegende Fragen nach der realen Leistungsfähigkeit der DDR-Wirtschaft auf.
Darüber lassen sich angesichts fehlender Daten allerdings nur Vermutungen anstellen. Zutreffend dürfte zumindest die Annahme sein, daß ein erheblicher Teil des volkswirtschaftlichen Wachstums, zu dem maßgeblich Sektoren wie der Maschinenbau und in jüngster Zeit die elektronische Industrie beigetragen haben (vgl. Tabelle 2) — gemessen an der internationalen Preis-LeistungsEntwicklung —, de facto nur auf dem geduldigen Papier der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik stehen. Daß aber diese internationalen Marktentwicklungen trotz staatlichem Außenhandelsmonopol zeitverschoben und indirekt auch auf das Wirtschaftspotential der DDR durchschlagen (etwa durch sinkende Export-chancen oder sich verschlechternde Terms of trade), wird selbst von Fachwissenschaftlern in der DDR nicht mehr in Frage gestellt. Im Gegenteil: Realistische Leistungsbewertungen des technischen Niveaus von Erzeugnissen und ihres ökonomischen Nutzeffekts seien, wie neuerdings argumentiert wird, vor allem ihre Exportchancen und Verwertungsbedingungen auf dem (nicht-sozialistischen!) Weltmarkt
IX. Die Ökonomisierung der Forschung
Seit 1983 hat man in der DDR durch eine Reihe von Maßnahmen versucht, den Innovationsprozeß zu effektivieren. Dazu gehören vor allem die bereits erwähnten „Pflichtenhefte“ — die im Grunde nichts anderes sind als verbindliche operative Planungskonzepte für wissenschaftlich-technische Leistungen — und Maßnahmen zur Ökonomisierung von Forschungs-und Entwicklungsarbeiten. Ein wesentlicher Gedanke bei letzteren bestand darin, den Kauf und Verkauf wissenschaftlich-technischer Leistungen auf eine betriebswirtschaftliche und vertragliche Grundlage zu stellen. Zu diesem Zweck sind die Forschungspotentiale und vergleichbaren Einrichtungen auf die Prinzipien der sogenannten wirtschaftlichen Rechnungsführung umgestellt worden Das heißt, diese Institutionen sollen als selbständig wirtschaftende Einheiten die Eigenfinanzierung ihrer Kosten sicherstellen und planmäßige Gewinne erwirtschaften. Weitere Regelungen, die Ende 1985 verfügt wurden, dehnen die Grundsätze einer ökonomischen und an Effektivitätszielen ausgerichteten Forschungsarbeit auf die Einrichtungen der Akademie der Wissenschaften und des Hochschulwesens aus. Konkrete Leistungsverträge und die Finanzierung entsprechender wissenschaftlicher Leistungen durch die Kombinate sollen zukünftig den Schwerpunkt der Forschungsarbeit im Akademie-und Hochschulbereich bilden
Man kann anhand verschiedener Hinweise in der Fachliteratur davon ausgehen, daß bislang kaufmännische Gesichtspunkte im Bereich von Forschung und Entwicklung eine weitgehend untergeordnete Bedeutung besaßen In den entsprechenden Einrichtungen arbeitete man gewöhnlich anhand wissenschaftlich-technischer Themen die Vorgaben aus den Plänen „Wissenschaft und Technik“ ab. Wirtschaftliche Aufwands-und Ertragskalküle bildeten hierbei als Orientierungspunkt schon insofern eine Quantite negligeable, als die Anwender wissenschaftlicher Erzeugnisse — vornehmlich die Wirtschaftseinheiten — ja auch ihrerseits keine hinreichend wirksamen Rentabilitätskriterien besaßen (und auch heute noch nicht besitzen). So stellt sich natürlich die Frage, ob sich an dieser mangelnden Nutzen-orientierung durch die Anwendung der wirtschaftlichen Rechnungsführung in Forschungseinrichtungen etwas ändern wird.
Die Donquichotterie dieser jüngsten Steuerungsmaßnahmen wird schon allein daraus ersichtlich, daß betriebswirtschaftliche Kalküle in Forschungs-und Entwicklungseinrichtungen nur insoweit als greifen das wirtschaftliche Gesamtsystem nach denselben Grundsätzen verfährt. Solange bei den Betrieben und Kombinaten aber solche Wirtschaftlichkeitskriterien selbst brüchig bleiben, nur verzerrt wirken oder gänzlich unwirksam sind, gibt es auch keinen triftigen Grund dafür, weshalb man von der bisherigen Praxis im Forschungs-und Entwicklungsbereich abgehen sollte. Im Zweifelsfalle werden auftragsgemäß durchgeführte Pseudoinnovationen, bedarfsfremde Fehlentwicklungen und ungenügende technische Leistungen mit buchhalterischem Geschick auf Heller und Pfennig abgerechnet
Aller Wahrscheinlichkeit nach dürfte die Maßnahme nicht einmal zu einer größeren Kosten-transparenz geführt haben. Gerade auf diesem Gebiet werden die bisherigen Unzulänglichkeiten des Preissystems voll zur Wirkung gelangen.
Denn die Produzenten von Forschungsleistungen sollen, wie die Anordnung bestimmt, nunmehr ihre Kosten kalkulieren und auf dieser Grundlage — zuzüglich des normativ festgelegten Gewinns — entsprechende Preise bilden. Anbieter und Käufer entsprechender Forschungsleistungen müssen sich dabei vertraglich auf die vorläufigen Kosten-und Preisgrenzen einigen. Spitzenleistungen und gezielte Überbietungen können sogar mit Extragewinnen mit 50% oder 100% des normativen Gewinns honoriert werden, die allerdings zum größten Teil (70%) in der Verfügung der jeweiligen Forschungseinrichtung verbleiben.
Der persönliche Nutzen für das Forschungs-und Entwicklungspersonal bleibt streng begrenzt und wird gegebenenfalls über entsprechende Extra-gratifikationen in Höhe von bis zu 300, — Mark je Beschäftigten aus den Prämienfonds der Forschungseinrichtung finanziert. Darüber hinaus können jedoch im Bedarfsfälle auch zusätzliche Leistungsanreize gewährt werden. Bei den Mitarbeitern der Akademie der Wissenschaften und Hochschulen Hegt der Spitzensatz aller Prämien-zahlungen derzeit bei maximal 1 200, — Mark je Vollbeschäftigtem Aber worin bestehen die gerechtfertigten Kosten von Forschungsleistungen? Und wie hoch ist ihr ökonomischer Nutzen, der eigentlich in Gewinn-und Extragewinnzuschlägen zum Ausdruck kommen müßte? Zu Recht wird auch in DDR-Publikationen darauf hingewiesen, daß solche Kosten-Nutzen-Kriterien nur sehr begrenzte Aussagen über den ökonomischen Wert und die gesellschaftliche Bedeutung einer wissenschaftlich-technischen Neuerung zulassen Gerade bei Forschungsleistungen, wenn sie den Namen verdienen, handelt es sich in der Regel um Original-produktionen, für die es definitionsgemäß keine Vergleiche gibt. Kostenrechnungen kalkulieren hier lediglich den individuellen Aufwand, mehr nicht. Ihr ökonomischer Nutzen erschließt sich wiederum keineswegs aus den anfallenden Aufwendungen. Beispielsweise sind die fachlichen Fähigkeiten des Forschungspersonals ein entscheidender, nicht quantifizierbarer Faktor für die möglichen Ergebnisse. Ein von Helmholtz oder Einstein entspricht nicht zehn zweitklassigen Physikern — auch dann nicht, wenn die ma-teriellen Aufwendungen für Gehälter, Ausstattung usw. jeweils die gleichen wären. Ferner gibt es gerade auf dem Gebiet von Forschung und Entwicklung keine lineare Beziehung zwischen ökonomischem Aufwand und Ertrag. Nutzlose Forschungsleistungen können erhebliche Mittel verschlingen, während relativ geringe Forschungsaufwendungen zu Ergebnissen führen mögen, deren Verwertungsmöglichkeiten in keiner Relation zu den ursprünglichen Kosten stehen.
Praktisch gesehen haben denn auch die bisherigen Erfahrungen mit der „wirtschaftlichen Rechnungsführung“ in Forschungseinrichtungen zu keinen nennenswerten Effekten geführt Da die Käufer wissenschaftlich-technischer Leistungen zumeist kaum die Berechtigung der Kosten beurteilen können und die Preisfestsetzungen administrativen Charakter haben, berechnen die Forschungseinrichtungen eben das, was bei ihnen an Kosten anfällt und versuchen —je nach Motivation und Interessenlage recht oder schlecht — zu liefern, was ihnen aufgetragen wurde.
X. Bewertung und Ausblick
Die strukturellen Innovationshemmnisse sind offenkundig nicht auf eine einzige Ursache zurückzuführen. Vielmehr zeigt sich eine Kombination von Einflußfaktoren, die sich in ihrer Wirkung wechselseitig verstärken: Das Herrschafts-und Steuerungssystem bedingt das Gefüge defensiver Verhaltensstrategien und Interessenlagen. Diese wiederum können sich mit wachsender Verflechtung und Differenziertheit gesellschaftlicher Prozesse über den Mechanismus der Steuerungsinstrumentarien durchsetzen. Es entsteht ein fortwährender Kreislauf, der sich auf immer neuen Stufen wie eine sich nach oben erweiternde Spirale fortsetzt: Das Steuerungssystem erzeugt Fehlwirkungen, die Fehlwirkungen reproduzieren sich in dysfunktionalen Wirtschaftspraktiken, das System reagiert mit einer Reparaturpolitik an den Steuerungsmedien — so etwa die Ökonomisierung der Forschungsarbeit — und der Kreislauf beginnt aufs neue.
Es ließe sich in der historischen Bestandsaufnahme zeigen, daß dieser Funktionszusammenhang aus kumulativen Fehlwirkungen im Prinzip bereits mit dem Aufbau der zentralistischen Planungs-und Leitungsstrukturen in Gang gesetzt wurde was hier jedoch nicht weiter interessieren soll. Entscheidend ist vielmehr, daß dieser fehlerhafte Kreislauf nunmehr in einem weitgehend veränderten Szenario von Umweltbedingungen, in einer veränderten Konstellation abläuft und damit eine neue Qualität erzeugt. Was unter den Bedingungen der fünfziger und sechziger Jahre noch ohne gravierende Schäden verkraftbar erschien, weil scheinbar nur isolierte Wirtschaftssektoren in Mitleidenschaft gezogen wurden, wird unter den Bedingungen einer technologischen und insbesondere der mikroelektronischen Revolution zur Bestandsfrage des politischen Systems.
Herrschaftssicherung — unabhängig vom Charakter der politischen Ordnung — ist längst zu einer Frage der Verwertung wissenschaftlich-technischer Ressourcen geworden. Auf diesen Umstand hat der Staatsrechtler Ernst Forsthoff bereits zu Beginn der siebziger Jahre hingewie-sen Von der Fähigkeit eines Systems, dies unter vergleichsweise optimalen Bedingungen zu leisten, hängt in entscheidendem Maße der ganze Rest gesellschaftlicher Daseinsbedingungen und Zukunftschancen ab: der gesellschaftliche Wohlstand, die Loyalität der Bevölkerung, die notwendigen Ressourcen zur innen-und außenpolitischen Gestaltung, Rang und Einfluß einer Gesellschaft innerhalb der Weltarbeitsteilung. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß sich bedeutende Fachwissenschaftler in der DDR und vermutlich auch Teile des politischen Führungspersonals über diese Sachzusammenhänge völlig im klaren sind Nicht zuletzt darin gründet ein mächtiges Potential zur sozialen und institutionellen Erneuerung: Denn einerseits steht die politische Machtelite um ihrer eigenen Überlebenschancen willen unter dem Zwang, das politische System den veränderten Technikbedingungen anzupassen. Zum anderen gibt es gerade im Bereich der naturwissenschaftlich-technischen Intelligenz (aber keineswegs nur bei ihr) ein umfassendes Bedürfnis nach Freisetzung innovativer Potenzen
Es besteht mithin die Chance, daß sich ein äußerlicher struktureller Zwang mit einem überreifen Gedanken — der Reform des politischen Systems — zusammenschließt und daß dieser Zusammenschluß seine zahlreichen sozialen Träger und interessierten Nutznießer besäße. Dies ist zumindest eine Möglichkeit der zukünftigen Entwicklung, die die Gegenwart ebenso bereithält wie andere. Ein zweites erkennbares Szenario erscheint allerdings gemessen am heutigen Stand der Dinge wahrscheinlicher: die konstitutionelle Refortnunfähigkeit des Regimes.
Aus der Logik der strukturell bedingten Innovationsdefizite ergibt sich, daß der Ansatzpunkt jeder Neugestaltung darin bestehen müßte, den dysfunktionalen Zusammenhang aus Steuerungssystem, verfestigten Interessen und Steuerungsmedien in seiner Gesamtheit zu durchbrechen.
Dafür jedoch finden sich in der zeitgenössischen DDR-Diskussion keinerlei Anhaltspunkte. Im Gegenteil: Geradezu typisch scheint es, wenn Erich Honecker noch auf der 10. ZK-Tagung der SED (1985) hervorgehoben hat, daß am derzeitigen System der zentralen staatlichen Planung und Leitung nicht gerüttelt werde Noch massivere Zeichen setzte der XL Parteitag der SED, der — offenkundig mit Seitenblick auf die Ansteckungsgefahr der Gorbatschowschen Reform-diskussion -— ganz ausdrücklich eine struktur-konservative Politik der Bestandswahrung festschrieb und die Errungenschaften der bisherigen Entwicklung hervorhob
Ist man also mit Blindheit geschlagen und die Innovationskrise daher zwangsläufig? Es liegt nahe, gerade in einem zentralistisch verkrusteten Regime, sich eher im alltäglichen Gebrauch der eingespielten Herrschaftsmaschinerie zu erschöpfen als das definitive Risiko einer grundsätzlichen Reform des Institutionensystems einzugehen.
Fred Klinger, Dr. rer. pol., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin. Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Osteuropa-und DDR-Forschung.
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