Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung Indiens in den vergangenen zehn Jahren Zur Herausbildung einer heterogenen Mittelschicht | APuZ 23/1987 | bpb.de
Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung Indiens in den vergangenen zehn Jahren Zur Herausbildung einer heterogenen Mittelschicht
Joginder K. Malhotra
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Zusammenfassung
Indien stellt im wirtschaftlichen wie im gesellschaftlichen Bereich ein eigenes Entwicklungsmodell dar. Durch die langsame, aber kontinuierliche Entwicklung im Industrie-und Agrarsektor hat sich eine stabile Basis der nationalen Wirtschaft herausgebildet. Als Folge der dirigistischen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Maßnahmen der indischen Regierung und ihrer Rezeption durch die verschiedenen Teile der Bevölkerung entstand nach der diffusen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung der fünfziger und sechziger Jahre eine ausgesprochen heterogene Schicht des Kleinbürgertums. Sie ist heterogen von ihrer sozialen Herkunft her wie auch in ihren Denkrichtungen, dabei aber in ihren einzelnen Komponenten mit ihrer organisierten Basis verbunden. Sie läßt sich weder in das Prokrustesbett der Kasten hineinzwängen noch stellt sie ein künftiges revolutionäres Potential dar, sondern zeichnet sich eher durch ein eklektizistisches Muster aus, als eine Art Mischform der kapitalistischen und sozialistischen gesellschaftlichen Entwicklung. Um sich stärker zu etablieren, greifen ihre Komponenten zu jedem Mittel religiöser, kästen-oder klassenspezifischer Art und bilden damit die Ursache für viele Konflikte im heutigen Indien.
I. Einführung
Harmonie, Toleranz und Synthese kennzeichnen nach Tagore die indische Kultur. Sie geht zwar vom personalen Wertedenken aus, versteht dieses aber integrativ und multidimensional. Unter dem Aspekt der Vielfalt war deshalb auch das Sozial-system in der Lage, viele Immigrantengruppen zu assimilieren und eine wechselseitige Befruchtung der verschiedenen Religionen zu entwickeln Toleranz und Synthese säkularisierten die politische Kultur und legten die Grundlage für die Herausbildung von Kontinuität und Wandel der indischen Gesellschaft.
Abbildung 7
Tabelle 6:
Tabelle 6:
Die Zerstörung der „asiatischen Produktionsweise“ bzw. die Einsetzung von Großgrundbesitzern und die Errichtung einer einseitigen, auf die Bedürfnisse der Briten ausgerichteten Wirtschaftsstruktur entwickelten auch starke zentrifugale Kräfte. Sie äußerten sich bis in die Zeit der Unabhängigkeit hinein in regelrechten Bauernkriegen, und die Industrialisierung sowie die „Grüne Revolution“ sorgten erneut für regionale Disparitäten und eine einseitige Entwicklung zugunsten Weniger
Abbildung 8
Getreide/Hülsenfrüchte Produktion (in Millionen t)
Getreide/Hülsenfrüchte Produktion (in Millionen t)
Erst seit 1955, als sich die regierende Kongreßpartei zu einer „Social Pattem of Society“ verpflichtete, wurden wiederholt Entwicklungsprogramme zugunsten der armen Bevölkerung in Angriff genommen, die ihrerseits teilweise neue soziale Heterogenitäten hervorbrachten. Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Planung ist dabei weder einem kapitalistischen noch sozialistischen Weg gefolgt. Die diffuse Entwicklung ist dermaßen schwer zu analysieren, daß von fast jeder wissenschaftlichen Feststellung über Indien auch das scheinbare Gegenteil wahr sein könnte. Insgesamt gesehen ist es wohl nicht übertrieben festzustellen, daß die Probleme, die sich in der Führung und Formung gesellschaftlicher und politischer Prozesse in Indien aus der ungeheuren Vielfalt der Völker, Sprachen und Sozialsituationen für Planer und Politiker ergeben, noch komplexer sind als vergleichbare Probleme in der gesamteuropäischen Politik.
II. Wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungsprozesse
Abbildung 4
Arbeitende Bevölkerung (in Mio.)
Arbeitende Bevölkerung (in Mio.)
1. Diffuse wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung Die Wirtschaft Indiens hat sowohl kapitalistische als auch sozialistische Züge. In einer Art Dualpolitik versucht die indische Regierung, im Agrar-und Industriebereich die Produktion zu erhöhen und gleichzeitig durch dirigistische Maßnahmen eine „Social Pattem of Society“, eine soziale, nicht-sozialistischeGesellschaft zu verwirklichen. Im Industriebereich kontrolliert sie durch den riesigen Staatssektor die gesamte Industrieproduktion, aber nicht den Markt. Im Agrarbereich läßt sie den wohlhabenden Bauern (Bauernschaft) bei der Produktion freie Hand und entbindet sie von der Steuerpflicht. Gleichzeitig reguliert sie die Verkaufspreise durch ein staatliches Verteilungssystem (ca. 300 000 Ration/Fair Price Shops). Infolgedessen existiert neben dem zum Teil kontrollierten Markt für Agrar-und Industrieprodukte fast immer ein Frei-oder Schwarzmarkt.
Abbildung 9
Reservierung von Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst der Bundesregierung (Stand am 1. Januar 1983)
Reservierung von Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst der Bundesregierung (Stand am 1. Januar 1983)
Eine besondere Bedeutung kommt der „Self-Reliance“ zu, d. h.der Entwicklung aus eigener Kraft auf eine gewisse Autarkie im Agrar-und Industrie-bereich hin. Außenpolitisch bewirkt Self-Reliance, daß die indische Industrie zwar zunehmend vom Ausland unabhängig, gleichzeitig aber auf dem Weltmarkt konkurrenzunfähig wird.
Abbildung 10
Mitglieder (in Millionen) Aktienkapital
Mitglieder (in Millionen) Aktienkapital
Die Impulse zu dieser Politik, die aus der indischen Ideengeschichte heraus zu verstehen sind, wurden in der Verfassung verankert und gehen auch vom Planungsausschuß (Planning Commission) bzw. von den Fünfjahresplänen aus. Mahatma Gandhi und Jawaharlal Nehru scheuten, durch die Greuel der Stalin-Zeit abgeschreckt, eine radikale Enteignung von Grund und Boden, sorgten dafür aber durch dirigistische Maßnahmen für eine allmähliche Verbesserung der Lebensbedingungen der armen Bevölkerung. Dazu diente Gandhi die Aktivierung der Dorfbewohner durch Selbstverwaltungen und die Entwicklung einer selbstversorgenden Heimindustrie Nehru dagegen strebte eine moderne Industrie im Zeichen der Self-Reliance an. 2. Moderne industrielle Entwicklung a) Planung und Strategie Im Unterschied zum Agrarbereich erfolgte die Planung der Industrie im staatlichen wie privaten Sektor langfristig und systematisch. Produktion, Diversifizierung, Umfang und Fusion der Firmen vollzogen sich unter direkter Kontrolle der Regierung.
Abbildung 11
Tabelle 10: öffentliche Aufwendungen für sieben Fünfjahrespläne in Milliarden Rupien 1950-56
Tabelle 10: öffentliche Aufwendungen für sieben Fünfjahrespläne in Milliarden Rupien 1950-56
Während der Staatssektor für wichtige Schlüsselindustrien sowie für die Verarbeitungs-und Rüstungsindustrie die Verantwortung trägt, entwickelte sich im Privatsektor unter Anleitung des Planungsausschusses die Konsumgüterindustrie. In gewissen Fällen besitzt der Privatsektor auch eine komplementäre Funktion gegenüber dem Staats-sektor. Beide Sektoren sind gewerkschaftlich organisiert. Im Zeichen der Self-Reliance versuchte die indische Regierung kontinuierlich, über die STC (The State Trading Corporation) in fast jeder Dekade das Know-how in einem wichtigen Industriesektor zu erlangen Diese Politik der Import-substitution wurde mit wenigen Ausnahmen konsequent durchgeführt. Sie führte in den fünfziger Jahren unter anderem zum Bau von Staudämmen, in den sechziger Jahren zur Errichtung der Stahl-und Bergbauindustrie und in den siebziger Jahren zur Ölexploration und Verarbeitungsindustrie. Seit Beginn der achtziger Jahre bemüht sich Indien um eine hochentwickelte Technologie in den Bereichen Elektronik, Computer-und Fernmeldetechnik. Für die zweite Hälfte der achtziger Jahre haben die neueste Technologie in den Sektoren Energie, Elektrizität, Nachrichtenwesen, Transport und eine hochentwickelte Technologie im Bereich der Landwirtschaft Priorität. Dabei wurde durch den Abschluß von Verträgen mit verschiedenen Industrienationen versucht, die Abhängigkeit Indiens in den jeweiligen Industriesektoren in Grenzen zu halten. Eine ähnliche Politik verfolgte die Regierung in der Forschung. Hier erhielt sie Unterstützung durch Großbritannien bei der Einrichtung des Instituts für technologische Forschung (The Indian Institute for Technology, IIT) in Kharagpur, bei der Einrichtung weiterer Institute durch die Bundesrepublik Deutschland in Madras, durch Frankreich in Bombay, durch die UdSSR in Neu Delhi und durch die USA in Kanpur. Daneben gibt es Institute, die ausschließlich von der indischen Regierung eingerichtet wurden und die, abgesehen von eigenen Entwicklungen, das aus dem Ausland kommende Know-how „indisieren“. b) Stand der indischen Industrie Es ist Indien nach 40 Jahren gelungen, im Bereich der Zucker-, Jute-, Textil-, Zement-und Eisenbahnindustrie mehr oder weniger autark zu werden. Die Schlüsselindustrien, die Verarbeitungs-und Ölexplorationsindustrie sind, wenn auch mit Einschränkung, ebenfalls autark. In der Spitzentechnologie ist Indien dagegen weit weniger autark: mit 60% in der Elektronik, etwa 70% in der Waffen-herstellung und etwa 80 % in der Atom-und Raumfahrttechnologie.
Abbildung 12
Landwirtschaft Dorfentwicklung
Landwirtschaft Dorfentwicklung
Der Schwerpunkt des Imports liegt heute im Bereich der Elektronik sowie der Kommunikations-und Waffentechnologie, der des Exports im Bereich der relativ entwickelten Investitionsgüter wie Textil-, Jute-und Werkzeugmaschinen-Fabriken, Kraftwerke, Dieselmotoren oder Produkte wie LKW, Busse, Kfz-Teile usw.
Abbildung 13
1. Steuereinnahmen zu Steuersätzen von 1979/80 und 1984/85 2. Beiträge öffentlicher Unternehmen 3. Marktanleihen 4. Kleinspareinlagen 5. Pensionsfonds 6. Anleihen bei Finanz-instituten (netto) 7. Verschiedene Kapitaleinnahmen 8. Auslandsressourcen 9. Zusätzlich mobilisierte Mittel 10. Defizitfinanzierung Gesamtressourcen
1. Steuereinnahmen zu Steuersätzen von 1979/80 und 1984/85 2. Beiträge öffentlicher Unternehmen 3. Marktanleihen 4. Kleinspareinlagen 5. Pensionsfonds 6. Anleihen bei Finanz-instituten (netto) 7. Verschiedene Kapitaleinnahmen 8. Auslandsressourcen 9. Zusätzlich mobilisierte Mittel 10. Defizitfinanzierung Gesamtressourcen
Zwischen 1985 und 1986 versuchte Rajiv Gandhi die Politik der Importsubstitution und der Auslandsinvestitionen zu liberalisieren Das betraf die Lizenzvergabe ebenso wie die Expansion der Betriebsgröße, die Diversifizierung der Produktion im Privatsektor und nicht zuletzt verbesserte Bedingungen für die Privatfirmen. Außenpolitisch bewirkten diese Maßnahmen die Herabsetzung der Untergrenze für Joint Ventures von 60 % indischer Beteiligung zur Zeit Indira Gandhis auf 50 % und bei der exportorientierten Industrie noch darunter. Die Auslandsfirmen können sich sogar an der expandierenden Ölindustrie beteiligen. Wider Erwarten haben diese Maßnahmen den Binnenmarkt nicht angekurbelt, denn auf diesen wirken sich auch die mäßigen Agrarpreise und nicht zuletzt die mangelhafte Kaufkraft des größten Teiles der Bevölkerung aus. In den letzten zwei Jahren haben die Liberalisierungsmaßnahmen, ohne den Wert der Exportwaren zu steigern, lediglich einseitig das Handelsdefizit erhöht, das 1986 bei ca. 6 Milliarden US-Dollar lag. Angesichts dieser negativen Handelsbilanz, die auch nicht durch Auslandsüberweisungen ausgeglichen werden kann, plädieren die Liberalen um Rajiv Gandhi heute nicht mehr wie bisher für eine Politik der offenen Tür Eine kleine sozialistische Elite fürchtet ohnehin den freien Markt.
c) Probleme der industriellen Entwicklung Im Bereich der Forschung wurde 1983/84 die Summe von insgesamt ca. 2 Milliarden DM (1 DM = 7, 15 Rupien) investiert Davon gab die Regierung für die allgemeine industrielle Entwicklung nur 8 %, für Raumfahrt 10 %, Atomenergie 12 % und für die Rüstungsindustrie 14% aus. Somit hinkt Indien — nach indischer Version Industrie-land Nr. 7 der Welt — im Bereich der Forschung weit hinter westlichen Industrienationen her % und für die Rüstungsindustrie 14% aus. Somit hinkt Indien — nach indischer Version Industrie-land Nr. 7 der Welt — im Bereich der Forschung weit hinter westlichen Industrienationen her 11) -Ein weiteres Problem liegt in der mangelhaften Kaufkraft des größten Teiles der Bevölkerung. Die von den Gewerkschaften organisierten Streiks führen jährlich zum Verlust von ca. 30 Millionen Arbeitstagen ) im Industriebereich. Die rigide Preispolitik der Regierung für Agrarprodukte — unvermeidlich im Hinblick auf die arme Bevölkerung —, d. h. die Beibehaltung der nicht ausbalancierten internen Terms of Trade, beeinträchtigt zusätzlich die Entwicklung der Industrie. Hinzu tritt die mangelhafte Interdependenz zwischen Klein-, Mittel-und Großindustrie. Außerdem wirken sich die externen schlechten Terms of Trade auf dem Weltmarkt sehr negativ auf die Investitionspolitik bzw. Entfaltung der indischen Industrie aus.
Im Ergebnis wuchs die moderne Industrie Indiens nur um ca. 4 %; sie beschäftigt heute etwa 8 Millionen Arbeitskräfte, d. h. nur 3 % von 265 Millionen Beschäftigten insgesamt. Die Wertschöpfung macht hier nur 16% des Bruttosozialproduktes (BSP) aus. Im Vergleich zu Brasilien und Südkorea präsentiert so die moderne indische Industrie eine weniger erfreuliche Bilanz. Andererseits hielten sich durch die Binnenmarktorientierung die Auslandsschulden, wenn auch an den günstigen Ausgangsbedingungen nach dem Zweiten Weltkrieg gemessen sehr hoch, im Vergleich zu Brasilien und Südkorea in Grenzen. Sie liegen heute bei ca. 25 Milliarden US-Dollar aus öffentlichen und Weltbank-Mitteln und ca. 3 Milliarden US-Dollar aus Privatinvestitionen. Indien hatte bis 1984 die drükkenden Auflagen der Weltbank nicht akzeptiert Indische Experten plädieren heute für die Umschuldung der bisherigen Zinstilgung und die Einstellung weiterer Entwicklungshilfe.
Trotz aller Versäumnisse der indischen Regierung bei Investitionen im Rahmen der Entwicklungshilfe und trotz der Engpässe in der industriellen Entwicklung läßt sich feststellen, daß die indische Industrie zwar sehr langsam, dafür aber kontinuierlich gewachsen ist und daß sie heute eine mehr oder weniger solide nationale Basis für die Wirtschaft Indiens darstellt.
3. Sozio-ökonomische Maßnahmen der Kongreß-Regierung a) Zurückliegende Maßnahmen mit aktueller Wirkung Die halbherzigen Landreformen der fünfziger Jahre — ohne rechtliche Absicherung der Interessen der Landarbeiter und der kleinen Parzellenbesitzer — hatten zwar die Getreideproduktion von 50 Millionen auf 70 Millionen Tonnen erhöht jedoch profitierten davon hauptsächlich die ehemaligen 20 Millionen Pächter. Das folgende CD-Programm (Community Development Programme) zur Schulung der Bauern für neue Anbaumethoden erhöhte zwar die Pro-Hektar-Erträge, schloß aber die arme Dorfbevölkerung vom Gewinn gänzlich aus. Einen kleinen Beitrag zugunsten der Landlosen leistete die Bewegung der „Landverschenkung“ (Bhoodhan Yajna), initiiert durch den Gandhi-Jünger Vinobha Bhave. Auch ein gigantisches Selbstverwaltungsnetz auf Dorf-, Block-und Bezirksebene unterstützte zwar die politische Partizipation der Dorfbewohner und erhöhte auch ihre Eigeninitiative, brachte aber letzten Endes nur geringe Verän-derungen in den Sozial-und Herrschaftsverhältnissen Millionen Pächter. Das folgende CD-Programm (Community Development Programme) zur Schulung der Bauern für neue Anbaumethoden erhöhte zwar die Pro-Hektar-Erträge, schloß aber die arme Dorfbevölkerung vom Gewinn gänzlich aus. Einen kleinen Beitrag zugunsten der Landlosen leistete die Bewegung der „Landverschenkung“ (Bhoodhan Yajna), initiiert durch den Gandhi-Jünger Vinobha Bhave. Auch ein gigantisches Selbstverwaltungsnetz auf Dorf-, Block-und Bezirksebene unterstützte zwar die politische Partizipation der Dorfbewohner und erhöhte auch ihre Eigeninitiative, brachte aber letzten Endes nur geringe Verän-derungen in den Sozial-und Herrschaftsverhältnissen 17).
Mitte der sechziger Jahre hatte die „Grüne Revolution“, bekannt auch als Düngemittel-, Saatguttechnologie oder angepaßte Technologie, eingesetzt. Ihre Erfolge bei der Erhöhung der Pro-HektarErträge sind bekannt, ihre Auswirkungen auf die gesellschaftliche Entwicklung jedoch umstritten. Mehr als ein Drittel der bebaubaren Fläche ist heute erfaßt, 38 Millionen Tonnen Getreide wurden insgesamt zusätzlich erzielt 18). Waren anfangs die Auswirkungen durch die Mechanisierung der Landwirtschaft, Verbilligung der Agrarprodukte und Verteuerung des Inputs 19) für die Landarbeiter und Parzellenbesitzer nur negativ, so besagen empirische Studien aus jüngster Zeit, daß sich der Lebensstandard der Landarbeiter durch den „trickle down effect“ inzwischen teilweise verbessert hat. b) Zur Unterscheidung der Kategorien der armen Bevölkerung Die erste Kategorie bilden die „Scheduled Castes“, SC (eingetragene Kasten hauptsächlich der soge-nannten Unberührbaren, von Mahatma Gandhi „Harijans“, Kinder Gottes genannt). Ihre Zahl wurde 1971 auf ca. 15 % der Gesamtbevölkerung geschätzt. Die zweite Kategorie bilden die „Scheduled Tribes“, ST (eingetragene Ethnien). Sie rekrutieren sich aus den Ureinwohnern (Adivasis), deren Bevölkerungsanteil auf ca. 7% geschätzt wird Sie leben hauptsächlich im Bundesstaat Madhya Pradesh und in den nordöstlichen Bundesstaaten bzw.den Unionsterritorien Assam, Meghalaya, Nagaland, Mizoram und Arunachal Pradesh. Diese Ethnien waren durch die rasche Industrialisierung — vor allem in der Region von Chhota Nagpur — besonders betroffen. Eine weitere Kategorie bilden andere rückständige Unterschichten, „Other Backward Classes", BC (wirtschaftlich rückständige Gruppen). 1963 haben die Bundesregierung und mehrere Länderregierungen außer Kriterien für die SC und ST zusätzlich wirtschaftliche Kriterien zur Identifizierung der rückständigen Unterschichten festgelegt. In manchen Bundesstaaten gehören zu dieser Kategorie der BC nomadische oder halbno-madische Gruppen sowie insbesondere Gruppen von armen Muslimen, Christen oder Sikhs, Bereits seit der Unabhängigkeit Indiens ist für die SC und ST eine Reservierungsquote der Stellen im öffentlichen Dienst und den Selbstverwaltungen von 18 % bzw. je nach Bevölkerungsanteil festgesetzt. Die Festlegung der Reservierungsquote für die BC bleibt den Länderregierungen überlassen. Sie liegt zwischen 15 und 50 %, Die SC und ST sind prozentual stark im Unterhaus (119 Sitze von 540 insgesamt), gering im öffentlichen Dienst (s. Tabelle) und wegen der Diskriminierung am schwächsten im Sozialbereich vertreten.
Indira Gandhi schuf nach ihrer Wiederwahl 1971, ihrer Wahlparole „garibi hitao“ (Beseitigt Armut) entsprechend, nach Konsultation der Ministerpräsidenten der Länder 1972 das Programm zur Festsetzung einer Höchstgrenze für den Besitz an Grund und Boden (Land Ceiling). Danach lag die Höchst-grenze bei 25 ha oder entsprechend mehr in unfruchtbaren Gegenden. 4, 3 Millionen Acres (1 Akre = ca. 0, 4 ha) wurden von der Regierung als unzulässiger Landbesitz deklariert, 2, 99 Millionen Acres den reichen Bauern weggenommen. Bisher wurden nur 2, 24 Millionen Acres an 1, 68 Millionen Familien von Landlosen verteilt
Von den oben genannten Kategorien abgesehen, ist seit 1971 eine neue umfassende Kategorie auf der Basis der Armutsgrenze (nach Kalorienbedarf oder Einkommen) eingerichtet worden Nach Statistiken der Regierung soll der Anteil der armen Bevölkerung von 48, 3 % (1977/78) auf 37 % (1983/84) gesunken sein Das Ziel der Regierung ist, bis 1990 diesen Anteil auf 26 % zu senken. 1984/85 existierten 273 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze (s. Tabelle). Wenn auch kritische Stimmen den unterhalb der Armutsgrenze lebenden Bevölkerungsanteil auf ca. 45 % schätzen, so vertreten indische Experten heute doch überwiegend die Meinung, daß die Zahl der Armen in den letzten Jahren gesunken ist. c) Regierungsmaßnahmen für die unterprivilegierten Schichten Um die arme Bevölkerung stärker zu erfassen, ergriff die Regierung seit der Unabhängigkeit eine Reihe von Maßnahmen, die sie seit 1971 und besonders seit 1975 kontinuierlich fortsetzte und intensivierte. Die Eindämmung der Infektionskrankheiten führte wie in der gesamten Dritten Welt auch in Indien zu einer Bevölkerungsexplosion Die jährliche Wachstumsrate der indischen Bevölkerung (s. Tabelle 1) stieg abrupt von 1, 3% (1951) auf 2, 1 (1961) und 2, 2 (1971) an. Zwar hatte die indische Regierung schon im Ersten Fünfjahresplan (1951—56) das Problem der Familienplanung in Angriff genommen und dafür die bescheidene Summe von 6, 5 Millionen Rupien vorgesehen, doch wurden sich die Politiker der Kongreßregierung des Ausmaßes des Problems erst 1963 bewußt: Nun wurden für die Zeit von 1966 bis 1969 ca. 700 Millionen Rupien bereitgestellt, mit deren Hilfe 4326 Kliniken und 22826 Subkliniken zur Bewältigung dieses Problems eingerichtet wurden. Der Fünfte Fünfjahresplan sah ein Budget von ca. 5 Milliarden Rupien vor 1982/83 beliefen sich die Kosten für „Family welfare" auf ca. 1, 2% der Gesamtinvestition, d. h. 2, 4 Milliarden Rupien -Die Maßnahmen betrafen Beratung, Schutzmaßnahmen, Sterilisation etc. Auch die Massenmedien beteiligten sich intensiv an der Kampagne, und besondere Bedeutung kam einer für die Sterilisation ausgesetzten Prämie (heute 15000 Rupien) zu. Obwohl bisher ca. 35 Millionen Menschen sterilisiert worden sind (1983 benutzten nur 25% der Verheirateten Verhütungsmittel) und die Bevölkerungszuwachsrate heute bei ca. 2 % liegt, kann das Ziel, sie bis 1990 auf 1 % zu senken, kaum erreicht werden. Trotz des Widerstands in der Bevölkerung aus persönlichen, sozialen oder wirtschaftlichen Gründen und der daraus resultierenden langsamen Entwicklung gilt die indische Kampagne der Familienplanung als eine der größten in der Welt
Schon seit der Erlangung der Unabhängigkeit vertraten Politiker wie Wissenschaftler den Standpunkt, daß die wirtschaftliche Planung nicht nur unter dem Aspekt des allgemeinen Wirtschaftswachstums verstanden werden dürfe Deshalb zieht sich die Idee des gleichzeitigen sozialen Fortschritts, also der Verbesserung der Lebensbedingungen des Großteils der Bevölkerung, wie ein roter Faden durch Ideengeschichte, Verfassung und Planung Indiens. Um eine Vorstellung von den Aktivitäten der Regierung zu vermitteln, werden hier die drei Bereiche Heimindustrie und Kleinbetriebe, Genossenschaften und Banken und das integrierte Programm zur Dorfentwicklung (Integrated Rural Development Programme, IRDP) exemplarisch vorgestellt.
Heimindustrie und Kleinbetriebe: Die Heimindustrie wurde von der Regierung vor allem in den siebziger Jahren durch neue Kreditmöglichkeiten stark unterstützt, um den Dorfbewohnern im Dorf selbst Arbeit zu verschaffen und Landflucht möglichst zu verhindern. Wenn die Regierung ihr Ziel auch nicht erreichte, so hielt sich die Landflucht im Vergleich zu anderen Ländern der Dritten Welt doch in Grenzen Die städtische Bevölkerung wuchs 1961 von 18, 26% der Gesamtbevölkerung auf 23, 74% im Jahr 1981 (Gesamtbevölkerung 1981: 684 Millionen) Die Zahl der jährlich vom Land in die Stadt Abwandernden betrug in diesem Zeitraum 1, 7 Millionen. Eine starke Abwanderung dagegen ist von der Klein-in die Großstadt zu verzeichnen
Die Heimindustrie (Khadi and Village Industry)
— ein progressiver Teil derselben wird auch „Cottage Industry“ genannt — umfaßt ca. 6 Millionen Betriebe mit ca. 20 Millionen Beschäftigten. Etwa drei Viertel dieser Betriebe kann im modernen Sinn kaum als „Betrieb“ bezeichnet werden, weil ihre Effizienz nicht größer ist als die eines landwirtschaftlichen Betriebes der Vergangenheit. Dazu gehören: Amber-Charkha-Betriebe (Spinnradbetriebe), kleine Webereien, Ölextraktion (eine Million Beschäftigte), Imkereien, Töpfereien etc.
Daneben bestehen größere und moderne Betriebe, vor allem Webstuhl/Textilindustrie (Handlooms)
und Seidenindustrie. Die ersteren gehören zur „Cottage Industry“ und umfassen ca. 1, 5 Millionen Webstühle. Die meisten dieser Betriebe, die Stoffe für die traditionelle indische Kleidung herstellen, arbeiten innerhalb von Genossenschaften und werden seit den fünfziger Jahren von einem Ausschuß (The All India Handloom Board) mit Krediten und Subventionen unterstützt. Die Seidenindustrie, die heute ca. 5 Millionen Menschen beschäftigt, produziert jährlich ca. 3 Millionen kg Seide und wird bereits seit 1949 von einem Ausschuß (Central Silk Board) unterstützt. Nach Japan, China, der UdSSR und Südkorea steht Indien in der Seidenproduktion an fünfter Stelle. Ein progressiver, weitgehend genossenschaftlich organisierter Teil der „Cottage Industry“ sowohl in großen Dörfern als auch Kleinstädten produziert Silberschmuck als wichtigen Exportartikel.
Die Kleinbetriebe (Small Scale Industry) sollten den Übergang von der Agrar-zur Industriegesellschaft bilden, die Investitionen für Arbeitsplätze niedrig halten und nicht zuletzt die Voraussetzungen für die Industrie einer neuen Größenordnung schaffen. Sie müssen registriert sein, zunächst unterhalb einer gewissen Investitionsgrenze bleiben, sind aber darüber hinaus keiner gesetzlichen Kontrolle ausgesetzt. Betriebe, die 1947 mit einem Kapital von einer halben Million Rupien starteten, haben heute eine Investitionsgrenze von ca. 3, 5 Millionen Rupien erreicht. Manche Betriebe leisten Zuarbeit für große Firmen. Die Kleinbetriebe erhalten günstige Bankkredite. Gegen die Konkurrenz schützt sie ein Alleinrecht auf die Herstellung bestimmter Produkte. Stellten sie 1967 nur 46 verschiedene Produkte her, so 1977 schon ca. 500 und 1980 über 800 Erzeugnisse Infolge der anhaltenden Dynamik müssen nun fast in jedem Jahr neue Höchstgrenzen für Kapitalinvestitionen ausgehandelt werden. 1978 waren in 282 000 Betrieben 3, 6 Millionen Menschen beschäftigt; dort wurden 38 % der gesamten industriellen Wert-schöpfung produziert
Genossenschaften und Banken: Die Genossenschaften (Cooperative Societies) erhielten erst zwischen 1960 und 1980 entscheidende Impulse, obwohl schon 1904 ein Gesetz zur Gründung von Genossenschaften erlassen worden war, um den Dorfbewohnern die Tilgung von Schulden zu ermöglichen. Obwohl die Zahl der Genossenschaften von 330000 1960/61 auf 290 000 1982/83 gesunken ist, hat sich ihre Mitgliederzahl nach Statistiken der Regierung verdreifacht, d. h. von 35 Millionen auf 120 Millionen Mitglieder Das Gesamtkapital erhöhte sich von 2, 2 Milliarden auf 23 Milliarden Rupien, also auf ca. 80000 Rupien Durchschnitts-kapital pro Genossenschaft; ihre Betätigungsfelder sind Milchwirtschaft, Hühnerzucht, Fischereibetriebe, Forstwirtschaft, Betriebe zur Seifen-HerStellung, Biogas etc. 1983 existierten allein 94089 Genossenschaften für Kreditwesen (Primary Agricultural Credit Societies) bei einer Mitgliederzahl von über 60 Millionen. Seit 1982 ist jeder Dorfbewohner automatisch Mitglied. Das heißt, die Angehörigen der SC, ST und BC können dadurch Kredite erhalten. Deshalb versuchte man in den Gebieten mit einem relativ großen Bevölkerungsanteil durch ST, die Organisierung der Genossenschaften voranzutreiben, bisher allerdings mit geringem Erfolg. Während die Heimindustrie besonders von Kreditgenossenschaften unterstützt wird, erhalten die „Cottage Industry“ und die Kleinbetriebe ihre Kredite meist von den Banken. Seit der Nationalisierung der Banken 1971 wurden Kredite zwar relativ großzügig vergeben, konnten aber die Dorfbevölkerung nur teilweise erreichen. Dies änderte sich, als 1982 Regionalbanken gegründet wurden, die speziell die Bedürfnisse der Dorfbewohner berücksichtigen. Die Hälfte der insgesamt 42000 Bankfilialen befindet sich in den Dörfern; ihre Zahl reicht im Vergleich zum hohen Prozentsatz der Dorfbevölkerung (78%) jedoch bei weitem nicht aus. Der jährliche Zins der Geldverleiher von 60 % und mehr relativiert den positiven Eindruck der finanziellen Infrastruktur für die Kleinbetriebe. Während der Indira-Regierung wurden zwar einige Schritte zur Verbesserung unternommen, der Erfolg stellte sich aber nur langsam ein.
Das integrierte Programm zur Dorfentwicklung: Eine konzertierte Aktion im Rahmen dieses Programms (Integrated Rural Development Programme, IRDP) wurde mit dem Sechsten Fünfjahresplan initiiert. Dabei lag die Betonung auf einer effizienten Koordinierung aller sektoralen Entwicklungsprogramme, die seit 1971 konzipiert und im Gange waren Der Fehler lag seinerzeit nicht in der technischen Vorbereitung des Programms, sondern — wie meist — bei der Durchführung Dank des IRDP wurden 320 Millionen Menschen in mindestens fünfköpfigen Familien bundesweit identifiziert, deren Jahreseinkommen geringer als 3500 Rupien ist, davon leben 260 Millionen in Dörfern. Dieses Programm sollte ganz Indien (d. h. alle Gebiete unter Blockverwaltungen) erfassen. Für alle Blöcke wurde im Sechsten Fünfjahresplan die gleiche Summe von je 3, 5 Millionen Rupien vorgesehen. Diese Gelder wurden ab 1980/81 je zur Hälfte von der Bundes-und der jeweiligen Landesregierung übernommen.
Hilfeleistung durch Erwerb von Nutztieren: Dieses Programm läuft seit 1975 und vergibt an die als arm identifizierten Landarbeiter und Parzellenbesitzer (Marginal Farmers) Nutztiere wie Kühe, Büffel, Schweine, Schafe oder Hühner etc. zur Aufbesserung des Einkommens bzw.der Ernährung. Je nach Lebensstandard des Empfängers werden die Hälfte bis zu drei Viertel der Kosten als Kredit vergeben, der in tragbaren Raten zurückgezahlt werden soll. Bisher hat dieses Programm unter dem Titel SLPP (Special Livestock Production Programme) 21 Bundesstaaten und vier Unionsterritorien teilweise erfaßt. Das SLPP stieß auf heftigen Widerstand bei der Bauernschaft, die darin einen Prestigeverlust sah. Ein gravierender technischer Fehler liegt in dem Programm selbst, nämlich in dem großen Risiko für die armen Empfänger der Hilfe, wenn zum Beispiel ein wertvolles Tier stirbt Daher betont das Programm heute die Vergabe von Kleintieren. Trotz aller Mängel des Programms haben ca. 10 Millionen „Milchbauern-Familien“ insgesamt die Milchwirtschaft Indiens zwischen 1970 und 1986 verdoppelt und in einzelnen Bundesstaaten wie Maharashtra und Gujrat zur Überproduktion geführt
Programm für von Dürre bedrohte Gebiete: Dieses Entwicklungsprogramm existiert seit 1978/79, bekannt als DPAR (Drought Prone Areas Programme). Ziel ist: Produktionserhöhung von Getreide, rationale Nutzung von vorhandenen Wasserquellen, Konservierung von Feuchtigkeit, Aufforstung, Viehzucht und Futteranbau. Im Sechsten Fünfjahresplan wurde dafür ein Budget von 3, 5 Milliarden Rupien bereitgestellt. Das DPAR umfaßt nur 511 Blöcke in 13 Bundesstaaten. Intensität und Wirksamkeit dieses Programms sind noch schwer abzuschätzen. Programm zur Entwicklung der Wüstengebiete: Dieses Programm (Desert Development Programme, DDP) läuft seit 1977. Bisher wurden davon nur 126 Blöcke in 21 Bezirken erfaßt. Das Ziel ist dem des DPAR sehr ähnlich, jedoch mit dem Unterschied, daß hier ein Stromnetz für Bewässerungsanlagen vorgesehen ist. Das DDP bezieht sich auf ein relativ kleines Gebiet, und so wurde dementsprechend nur die Summe von einer Milliarde Rupien vorgesehen. Eine gewisse positive Einrichtung ist im Bundesstaat Rajasthan zu beobachten. Zentrale zur Entwicklung von kleinbäuerlichen Betrieben: Ein weiteres Programm, das SFDA (Small Farmer’s Development Agency) beabsichtigt, Kleinbauern mit weniger als 2 ha Land und Parzelleninhaber mit weniger als einem ha Land von schlechter Qualität mit Krediten zu unterstützen, von denen nur ein Teil zurückgezahlt werden muß.
Zentrale zur Entwicklung eines Treuhandgebietes: Diese Institution (Command Area Development Authority, CADA) ist eingerichtet worden, damit Großprojekte, die aus Nachlässigkeit der Regierung noch nicht fertiggestellt wurden, abgeschlossen werden können. Zwischen 1974 und 1978 haben sich 47 CADAs, zuständig für 14 Millionen ha Land, etablie CADAs, zuständig für 14 Millionen ha Land, etabliert; sie beschäftigen sich mit 60 Groß-projekten (Bewässerungsanlagen). Etwa 5 Millionen Kleinbauern und Parzelleninhaber sollen künftig davon profitieren. Das Programm umfaßt ca. 3 000 Blöcke. Die Effekte dieses Programms sind schwer einzuschätzen. Einige CADAs wie zum Beispiel im Bundesstaat Andhra Pradesh (Nagar Junasagar) und in Tamil Nado (Guntur) und das gemeinsame Projekt (Chambel) für Madhya Pradesh und Rajasthan lassen sich positiv beurteilen 46), während andere wie zum Beispiel das Projekt in Orissa (Mahanadi Delta) keine Verbesserung der Lage der armen Bauern oder Parzelleninhaber erkennen lassen. Das nationale Dorfbeschäftigungsprogramm: Der Sechste Fünfjahresplan stellte für dieses Programm NREP (National Rural Employment Programme) ein Budget von 16 Milliarden Rupien zur Verfügung. Das NREP sieht die Beschäftigung von mindestens 10% der Arbeitskräfte aus den Reihen der SC und ST und die Ausgabe von Nahrungsmitteln (1 kg Getreide) über das staatliche Verteilungssystem als Teil des Tageslohnes vor. Die Aktivitäten, die dieses Programm anstrebt, bewegen sich von Aufforstung bis zur Errichtung von Schulgebäuden und schließen das seit 1975 bestehende 20-Punkte-Programm Indira Gandhis ein.
Der indische Staat hat neben allgemeinen Maßnahmen zur Erhöhung der Agrar-und Industrieproduktion auch spezielle soziale und wirtschaftliche Maßnahmen zugunsten der unterprivilegierten Bevölkerung ergriffen. Solche Maßnahmen wären während der gesamten Kolonialzeit undenkbar gewesen. Die Schwierigkeit bei der Durchführung der geplanten Aktionen erhöht sich dadurch, daß sie mit demokratischen Mitteln implementiert werden sollen. Wenn die Entwicklungsprogramme der armen Bevölkerung auch noch wenig genutzt haben, so wurden die Absichten der Kongreß-Regierung von diesem Teil der Bevölkerung doch verstanden. Daraus erklärt sich auch die kontinuierliche Wiederwahl der Kongreßpartei mit wachsender Wählerschaft — und nicht nur, wie immer wieder behauptet wird, aufgrund von reinem Populismus. Nach Angaben der Regierung bzw.des Planungsausschusses hat sich durch das IRDP (Integrated Rural Development Programme) der Lebensstandard von ca. fünf Millionen armen Menschen von Jahr zu Jahr verbessert 47).
III. Gesellschaftliche Wandlungen
Abbildung 5
NSP in Milliarden Rupien (Rs)
NSP in Milliarden Rupien (Rs)
1. Entwicklung einer neuen heterogenen Schicht:
„Kleinbürgertum"
Als Folge der wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Maßnahmen, vor allem in den siebziger Jahren, hat sich eine neue heterogene Bevölkerungsschicht herausgebildet: heterogen in der sozialen Herkunft und in den Denkrichtungen. Während der eine Teil die alte Kastenhierarchie bzw. die alten sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse aufrechterhalten will, lehnt der andere sie ab Ihre Repräsentanten harmonisieren nur insofern, als sie in den Städten gemeinsam gegen die sozialen Mißstände, Benachteiligungen durch die Unternehmer oder den Verwaltungsapparat protestieren. Geht es aber um die Besetzung von Positionen im öffentlichen Dienst, so kämpfen sie gegeneinander. Ähnlich verhält es sich auf der Dorfebene. Die Autorität einer dominanten Kaste wird nicht mehr ohne weiteres akzeptiert, weil das „JajmaniSystem“ weitgehend nicht mehr existiert und Handwerker wie Weber, Tischler, Töpfer oder Schuster ihre Waren direkt auf dem Markt verkaufen und meist genossenschaftlich organisiert sind. Das Kastensystem, das seit je das Interdependenz-system der indischen Gesellschaft bildete, ist großen Spannungen ausgesetzt. Die Gründe dafür sind ein durch Erziehung erweitertes Bewußtsein und die Möglichkeit der Selbstdarstellung und Durchsetzung gewisser Forderungen über politische Partizipation im Sinne von breiter Beteiligung in Parteien, Gewerkschaften, Genossenschaften und Selbstverwaltungen. Der einzelne strebt jetzt eine individuelle und keine kollektive Mobilität an. In der Vergangenheit erfolgte der Wechsel von einer Kaste zur anderen über den Sanskritisierungsprozeß
Die neue heterogene Schicht, deren Umfang auf 25% bis 30% der Gesamtbevölkerung (ca. 200 Millionen) geschätzt wird läßt sich deshalb weniger mit den Kasten und Klassen vergleichen als viel eher mit der europäischen Schicht des Klein-bürgertums. Sie ist es, die vom modernen Erziehungs-und Gesundheitswesen wie auch den allgemeinen wirtschaftspolitischen Maßnahmen am meisten profitiert hat. In Gruppen gut organisiert, greift sie zu jedem denkbaren Mittel religiöser, kästen-oder klassenspezifischer Art, um weiter aufzusteigen. Dementsprechend holen sich die Gruppen für ihre Bedürfnisse auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene Unterstützung von allen Parteien, die ihnen als Volksparteien bundesweit verbunden sind
Die Schicht des Kleinbürgertums, der auch Regionalpolitiker zuzuordnen sind, rekrutiert sich aus ganz verschiedenen Berufen: akademischen Berufen, Beamten, Händlern, Geschäftsleuten, Bauern, ehemaligen Angehörigen der SC, ST und BC. Das Monatseinkommen dieser Schicht liegt pro Haushalt bei ca. 800 bis 5 000 Rupien in den Städten und bei ca. 500 bis 3 000 Rupien in den Dörfern. Allen ist gemeinsam, daß sie die direkte Existenzangst ablegen konnten, da sie durch ein regelmäßiges Monatseinkommen, materielle Rücklagen, eine Pension oder eine Lebensversicherung abgesichert sind. Typisch für diese Schicht ist auch das Konsumverhalten, das einen Imitationsprozeß erkennen läßt, auch wenn die einzelnen nur einige von vielen Prestigeartikeln besitzen: Uhr, Gas-oder Biogasherd, Radio oder Fernsehen, Fahrrad, Motorrad, Auto. Demzufolge expandiert der Konsumgüter-markt rapid, und zwar zwischen 10 bis 25 % jährlich
Die meisten Asylanten gehören dieser Schicht des Kleinbürgertums an. Ihre Wertvorstellung ist eindeutig westlich orientiert, bedingt durch das englische Erziehungssystem in Indien. Diese Schicht des Kleinbürgertums bildet den Kern aller sozialen, regionalen und politischen Unruhen in Indien: Ihr Hauptziel ist ihr weiterer sozialer, wirtschaftlicher und politischer Aufstieg, ohne Rücksicht auf Erleichterungen für die arme Bevölkerung. 2. Pluralität der Konflikte Indien ist kein an herkömmlichen Kriterien zu messender Staat im soziologischen Sinne und läßt sich daher nur schwer definieren. Mit seiner Vielfalt der Religionen, Sprachen und Rassen ist der indische Staat ein Kontinent. Nur die Bundesstaaten und Unionsterritorien innerhalb der föderalistischen Struktur und die Fundamente einer vielfältigen Kultur sichern sein Bestehen. Oft werden teleologische Fakten der Konflikte Indiens übersehen, die sich vor allem unter dem Aspekt einer zunehmenden politischen Partizipation erklären lassen. Diese wird durch demokratische Institutionen wie Presse, Parteien und Selbstverwaltungen auf lokaler, regionaler und auf Bundesebene unterstützt. Da grundsätzlich alle Parteien mit dem bestehenden politischen System einverstanden sind und an den allgemeinen Wahlen teilnehmen, sind auch Konflikte, wie sie in manchen Bundesstaaten vorkommen, für die Nation insgesamt nicht als Bedrohung anzusehen. Weitere Konflikte werden nicht zu vermeiden sein, und die Politiker und die Parteien haben sich teilweise darauf eingestellt. a) Punjab-Konflikt Der Konflikt im Punjab entwickelte sich ursprünglich zwischen der Bauernschaft und der Indira-Regierung. Er hatte jedoch nur eine auslösende Funktion. Folgende Faktoren hatten ihn programmiert: Durch die kapitalistische Landwirtschaft hatten sich im Punjab die Besitzverhältnisse, im Gegensatz zum übrigen Indien stark zugunsten der Bauernschaft verändert; die Spannung zwischen der Bauernschaft und den Land-und Gastarbeitern (aus anderen Bundesstaaten) hatte seit 1975 stark zugenommen; der Einfluß der Gewerkschaften und der kommunistischen Partei war gewachsen; die Akali-Dal-Partei, die Partei der Bauernschaft, hatte bei den letzten Wahlen im Punjab (1972) ein Viertel der Stimmen der Sikhs gewinnen können; Maßnahmen der Indira-Regierung wie die Festsetzung der Höchstgrenze an Grund und Boden, Einschränkung der föderalistischen Verhältnisse und nicht zuletzt die aufgezwungene Kampagne der Sterilisation zur Zeit des Notstands verschärften die Lage. Dadurch wuchs die Furcht bei der Bauernschaft (vorwiegend Sikhs), ihren sozialen, wirtschaftlichen und politischen Status zu verlieren. Sie sah ihre Rettung in einer religiösen Untermauerung des eigentlichen Konflikts. Den ersten religiösen Konflikt zwischen Sikhs und der „Narankari-Sekte" (zu deren Mitgliedern Hindus wie Sikhs zählen) unterstützte die Bauernschaft, wodurch die Lebensfähigkeit der Sekte empfindlich geschwächt und ein Keil zwischen Sikhs und Hindus getrieben wurde. Dadurch gewann die radikale Gruppe der Sikhs mit dem religiösen Führer Bindrawala an Selbstsicherheit. Nach dem Tod Bindrawalas bei dem Sturm auf den goldenen Tempel in Amritsar 1982 übernahmen die Extremisten die Führung; sie rekrutierten sich teils aus Mitgliedern der Studentenunion (All India Sikh Student Federation, AISSF), teils aus den Anhängern der radikalen Vereinigung der „Dal Khalsa“
Obwohl inzwischen die gemäßigte Akali-Dal-Partei unter dem Ministerpräsidenten Bamala (nach dem Tod von Longowal) die politische Führung übernommen hat und eine gewisse Beruhigung zwischen der Bundes-und Landesregierung eingetreten ist, wird von Seiten der extremistischen Gruppen die Landesregierung nicht akzeptiert, sondern sie halten am Ziel eines separaten Staates „Khalistan" fest, um politische Positionen selbst einzunehmen. Über den demokratischen Weg der Wahlen haben die Extremisten keine Chancen, weil die Bauernschaft sie heute nicht mehr unterstützen würde. So erhalten gegenwärtig Landwirte mit großem wie auch kleinerem Besitz von den Extremisten Drohbriefe, durch die die Bauern erpreßt werden sollen
Allein aus Gründen der sozialen Verflechtungen, vor allem aber wegen vielfältiger verwandtschaftlicher Beziehungen zwischen Sikhs und Hindus und nicht zuletzt wegen der Millionen in anderen Bundesstaaten Indiens lebenden Sikhs, ist das Ziel eines separaten Staates kaum realisierbar. Nach den statistischen Daten sind die Sikhs im Verhältnis zu ihrem prozentualen Bevölkerungsanteil in Indien (ca. 2%) im wirtschaftlichen wie auch politischen und militärischen Bereich überproportional vertreten, von einer Diskriminierung kann deshalb keine Rede sein. b) Konflikt um die Reservierungsquote im Bundesstaat Gujrat Diese oft als Kastenkonflikt bezeichnete Auseinandersetzung um den Anteil der niedrigen Kasten SC, ST und BC an den Reservierungsquoten brach bei den Länderwahlen im März 1985 neu aus, als Ministerpräsident Solanki, selbst der BC angehörend, deren Quote von 10 % auf 28 % erhöhte; der Anteil der SC und ST lag bereits bei 20 %. Proteste der Patels, einer reichen Kaste dieses Bundesstaates Gujrat, gegen diese Erhöhung führten schließlich zum Rücktritt Solankis und zur Zurücknahme der Erhöhung, die nun den Protest der BC provozierte. Als Ergebnis der verschiedenen Regierungsmaß-nahmen zum Schutz vor allem der SC, ST und BC und ihrer Interessen hauptsächlich durch eine Reservierungsquote in den meisten Institutionen, entstand eine Gruppe von Intellektuellen aus diesen niederen Kasten. Sie kämpft in ganz Indien, so zum Beispiel in den Bundesstaaten Maharashtra, Uttra-Pradesh, Tamil Nado oder Kerala um ihre Rechte und protestiert, mit Unterstützung der einen oder anderen Partei, gegen die Machthierarchie der höheren Kasten. Einige Bundesstaaten haben eine relativ hohe Reservierungsquote für die SC, ST und BC durchgesetzt: Karnataka 60%, Kerala 58% und Tamil Nado 68%. Andere Bundesstaaten liegen weit zurück. Der Janata-Regierung gelang es zum Beispiel nicht, im Bundesstaat Bihar für die BC eine Quote von nur 30 % durchzusetzen. Hinter solchen Konflikten steht ein neues Selbstbewußtsein der SC, ST und BC, das sie sehr kritisch gegenüber den höheren Kasten macht. Als ehemals Unterprivilegierte möchten sie die ihnen zustehenden Reservierungsquoten wahrnehmen, die sie nach jahrtausendelanger Ausbeutung und Diskriminierung durch die höheren Kasten als hart erkämpftes Recht betrachten. Gegen diese „Bevorzugung“, die auch neue soziale Ungerechtigkeiten durch Preisgabe des Leistungsprinzips hervorruft, wehren sich wiederum die Angehörigen höherer Kasten. Diese Konflikte sind jedoch dafür symptomatisch, daß manche Gruppen aus den SC, ST und BC allmählich ihre wirtschaftspolitische Marginalität verlassen haben. c) Konflikte in anderen Bundesstaaten Assam-Konflikt: Seit der Entstehung von Bangladesh sind Millionen von Bangladeshis in den Bundesstaat Assam geflüchtet. Diese Flüchtlinge schufen Probleme. Abgesehen davon, daß sie mit ihren Arbeits-und Wirtschaftsmethoden der einheimischen Bevölkerung überlegen sind und ein Entfremdungselement darstellen, befürchtet die neue politische Elite Assams zu Recht, daß die Flüchtlinge die Kongreßpartei wählen würden. Das hätte zur Konsequenz, daß die einheimische bzw. Regionalpartei (Assam Gana Parishad) bei den Wahlen eine Niederlage erleiden würde. Nach dem Abkommen zwischen der Bundesregierung und der AGP 1985, das den Flüchtlingen nach 1971 eine Teilnahme an den Wahlen untersagte, gewann die einheimische Partei (AGP) mit Hilfe der Studenten die Landeswahlen im Dezember 1985
Konflikt in Uttra Pradesh: Die Konflikte in diesem Bundesstaat sind verschiedenartig. Zur Zeit der Janata-Regierung konnte die Bauernschaft ihren Machtbereich erweitern, indem sie zum Beispiel in der Nähe der Stadt Agra den Angehörigen der SC ihre ihnen von der Indira-Regierung zugewiesenen Landstücke gewaltsam wieder entriß Zu solchen Zwischenfällen kam es auch in den Bundesstaaten Bihar und Madhya Pradesh.
Ein religiöser Konflikt zwischen Hindus und Muslims, der auf die Intensivierung der Sterilisationsmaßnahmen zur Zeit des Notstandes zurückgeht, hat in der letzten Zeit viele Unruhen ausgelöst.
Hatten sich die Muslims den Maßnahmen weitgehend entzogen — wie auch die Christen —, worauf die Hindu-Fundamentalisten nun einseitig die Hindu-Bevölkerung von den Maßnahmen betroffen sah, verschärfte sich der Konflikt zwischen Muslims und der Kongreßregierung, als der Imam Sayid Abdullah Bokhary (Moschee Jama Masjid Delhi)
bei den Wahlen 1977 der Kongreßpartei jede Unterstützung von Seiten der Muslims versagte.
Muslime und Christen fühlten sich andererseits benachteiligt, als die Desai-Regierung 1978 auf Initiative der konservativen Jana-Sangh-Partei Gesetze zur Stärkung der Hindu-Position und -Kultur durchbringen wollte. Die Gesetze sollten die Konvertierung von Hindus zum Christentum oder Islam und das Schlachten von Rindern in ganz Indien verbieten Mehr noch: Während Indira Gandhi über den marxistischen Erziehungsminister Nural Hasan versucht hatte, eine objektive Kultur-geschichte Indiens für Schule und Universität schreiben zu lassen, was zum Teil auch in die Tat umgesetzt wurde, veranlaßte die Desai-Regierung die Abfassung einer einseitig am Hinduismus orientierten Kulturgeschichte Einige Publikationen sind als Glorifizierung der Hindus und kritische Darstellung der Muslim-Herrscher erschienen. Obwohl die Gesetze wegen der starken säkularisierten Kräfte nicht verabschiedet wurden, sensibilisierten solche Versuche vor allem die muslimische Minorität. Proteste und Gegenproteste sind die Folge. Dies wird deutlich am Beispiel des Moschee/Tempel-Konflikts in Ayodhya im Bundesstaat Uttra Pradesh (Babri Masjid/Rama Janma Bhumi Tempel) Hinter diesem Konflikt stehen die kon-servativen Kräfte aus beiden Lagern, die bei einer gewissen Kompromißbereitschaft eine Lösung finden könnten
Gorkha-Konflikt in Westbengalen: Die Gorkhas, die hauptsächlich die indische Armeelite der Fallschirmspringer bilden, aus Nepal stammend, und seit Generationen in Westbengalen ansässig, streben einen eigenen Bundesstaat an. Der Hauptgrund liegt in ihrer wirtschaftlichen Diskriminierung. Der Führer der Vereinigung GNLF (Gorkha National Liberation Front), Subash Gheising, wirft der Regierung vor, sie unterstütze ausschließlich die neuen Immigranten aus Nepal auf Kosten der altansässigen Gorkhas. Seine Forderung ist nach dem Abkommen zwischen Nepal und Indien nicht berechtigt aber auch das Verhalten der Bundesregierung ist nicht konsequent: Sie spielt die Gorkhas gegen die marxistische Landesregierung in Westbengalen aus. Obwohl die Landesregierung gegenüber den Gorkhas zu gewissen Konzessionen bereit wäre, möchte sich die neue politische Elite der Gorkhas zu einer unabhängigen Regionalkraft in einem eigenen Bundesstaat entwickeln. 3. Begleitende politische Entwicklung Auch wenn die heterogene Schicht manche Veränderungen in den politischen Institutionen seit den siebziger Jahren bewirkt hat, bleibt die Triade der föderalistischen Demokratie, des Säkularismus und des indischen Sozialismus nach wie vor bestimmend.
Jawaharlal Nehru, der erste indische Ministerpräsident (1947— 1964), versuchte die Bundesregierung durch bedeutende Minister zu stärken und nahm viele Regionalpolitiker wie G. B. Pant, C. D. Desmukh oder Morarji Desai in sein Kabinett auf. Mit ihrer Hilfe konnte er die Entwicklungsprogramme teilweise realisieren, die den einfachen Dorfbewohnern zugute kamen
Nach dem Tod Nehrus und der darauffolgenden zweijährigen Regierungszeit von Lai Bahadur Shastri (1964— 1966) verselbständigten sich die Politiker auf Bundes-und Länderebene, und die Lobby der wohlhabenden Bauern gewann an Einfluß. Bis Anfang der siebziger Jahre wurden nur wenige Entwicklungsprogramme durchgeführt, und die Idee der Dezentralisierung der Industrie war von ihrer Verwirklichung weit entfernt. Die in den rückständigen Gebieten eingesparten Gelder wurden in den Metropolen investiert
Nach dem Tod von Shastri wurde Indira Gandhi als Kompromißkandidatin vom rechten Flügel der Kongreßpartei zur Ministerpräsidentin gewählt. Mit Hilfe des Ministers Jagjivan Ram und den „Jungtürken“ wie Chandra Shekhar (heute Präsident der Janata Partei) und Mohn Dharia konnte sie ihre Machtbasis innerhalb der Kongreßpartei erweitern Nach den Parlamentswahlen von 1971 gewann sie auch die meisten Ländenegierungen 1972 für ihre Partei zurück und schaltete somit die meisten Rivalen aus. Sie nationalisierte 14 Großbanken, um das integrierte Dorfentwicklungsprogramm (10-Punkte-Programm) finanzieren zu können, schuf die Fürstenapanagen ab und führte über den neuen marxistischen Erziehungsminister Narul Hasan eine säkularistische Kulturpolitik ein. Auch das Industrialisierungsprogramm, das von der Bundesregierung direkt geplant war, konnte zum Teil auf Kosten der Entwicklungsprogramme relativ erfolgreich durchgeführt werden.
1975 rief Indira Gandhi den Notstand aus. Politische Unruhen wegen der unzureichenden Entwicklungsprogramme und der bescheidenen Reservierungsquote für die Unterprivilegierten, verstärkt durch die Oppositionsparteien mit J. P. Narayan an der Spitze, hatten sich von Bihar und Maharashtra aus weiter verbreitet. Indira konnte den Notstand, den sie zur Beendigung der politischen Krise für notwendig hielt, mit Hilfe der zum Teil neu geschaffenen Institutionen aufrechterhalten MISA (The Maintenance of Internal Security Act), RAW (Research and Analysis Wing), CBI (Central Bureau of Investigation), die Bundespolizei (ca. 600000 Mann) und das Sekretariat des Ministerpräsidenten. Auch wenn der Notstand großen Teilen der armen Bevölkerung Erleichterungen brachte und Indira Ghandhis Popularität dadurch beträchtlich anstieg, wuchs die Opposition bei den Wahlen des „Hindi-Gürtels“ wegen der konsequen-ten Sterilisationskampagne: Die Quittung kam bei den Wahlen von 1977.
Zwischen 1977 und 1979 stellte die Großkoalition der Janata Partei mit Morarji Desai und Charan Singh die Regierung Wenn sie auch das Verhältnis zwischen der Bundesregierung und den Länder-regierungen teilweise wiederherstellten, so verstärkten sie aber die Lobby der Bauernschaft und haben dem Säkularismus durch ihre einseitig hinduistisch orientierte Gesetzgebung und Kulturpolitik sehr geschadet. Die Kontinuität des Fünfjahresplans wurde durch zwei Jahrespläne unterbrochen. Trotz des überwältigenden Wahlsieges von 1980 für die Kongreßpartei und der Liberalisierungstendenzen konnte Indira Gandhi einzelne wichtige Probleme nicht mehr in den Griff bekommen, wie zum Beispiel die in Assam oder im Punjab. Nun sollte die weiche „clean hand“ des politisch unerfahrenen Rajiv Gandhi, nachdem er unter dramatischen Umständen, der Ermordung seiner Mutter 1984, übergangslos an die Regierung gekommen war, die Beziehungen zwischen der Bundesregierung und den Länderregierungen von vertikalen Strukturen befreien und gleichzeitig die Lösung der anderen Probleme des Landes in Angriff nehmen. Bei den Parlamentswahlen von 1984 konnte die Kongreßpartei mit 78 % der Sitze einen bisher nicht dagewesenen triumphalen Sieg erringen. Die Wahlanalyse ergab, daß die Wähler von ihm und der Kongreßpartei die Wahrung der nationalen Einheit, eine effiziente Verwaltung und die Eindämmung der Inflation erwarteten Sympathie für die ermordete Mutter und Mitgefühl für den Sohn kamen hinzu.
Bisher gelang es der Rajiv-Regierung, die Inflationsrate auf einem niedrigen Niveau (ca. 7%) zu halten. Die Einführung von fünf Arbeitstagen in der Woche (1985) dient der Schaffung von meht Arbeitsplätzen. Für die Dorfentwicklungsprogramme wurden die Gelder um 60% erhöht. Rajivs Industrieprogramm, das Indien ins 21. Jahrhundert leiten soll, wird sich dagegen kaum realisieren lassen. Auch die Reform des indischen Verwaltungssystems hat zwar einige Korrekturen gebracht, den Kern aber noch nicht getroffen. Ebenfalls zeigte die ausgesprochen konziliante Politik Rajivs gegenüber den Länderregierungen bis jetzt keine nennenswerten Resultate. Wenn Rajiv die Probleme von Assam, Kashmir, Punjab oder Westbengalen der jeweiligen Landesregierung überließ, so wird dies nicht als Stärke des Föderalismus verstanden, sondern eher als Schwäche der Bundesregierung.
Dabei hat sich im Laufe der Jahre ein Machtkampf zwischen den nationalen und regionalen politischen Eliten herausgebildet. Die regionale Elite mobilisiert Regionalparteien, um den langen Umweg über die Kongreßpartei abzukürzen. Ihre Forderungen richten sich auf mehr Autonomie, Schaffung eines eigenen Bundesstaates bis hin zu einem von Indien unabhängigen Staat. Mehr Autonomie würde Rajiv sicherlich gewähren, die Schaffung eines eigenen Bundesstaates sogar bedingt zulassen, die Spaltung Indiens wird er aber mit allen Mitteln verhindern. Um den gefährlichen Konsequenzen des Machtkampfs zwischen nationalen und regionalen politischen Eliten zu begegnen, denken einzelne Politiker seit dem Notstand über ein reformiertes politisches System der Präsidialdemokratie nach
IV. Zusammenfassung und Ausblick
Abbildung 6
NSP Landwirtschaft Industrie Pro-Kopf-Verbrauch
NSP Landwirtschaft Industrie Pro-Kopf-Verbrauch
Im ländlichen Bereich führte die Regierung in den fünfziger Jahren Landreformen durch und baute Selbstverwaltungen auf Bezirks-, Block-und Dorf-ebene auf, ohne jedoch die Feudalelemente ganz beseitigen zu können. Dies kam vor allem den ehemaligen Pächtern zugute, weil auch die Getreide-
Produktion gleichzeitig erhöht wurde. Seit den sechziger Jahren wurden durch die „Grüne Revolution“, die vorwiegend den wohlhabenden Bauern nützte, ca. 40 Millionen Tonnen Getreide zusätzlich produziert. Ein „trickle down effect“ dieser Maßnahmen ist an manchen Orten nicht zu übersehen.
Im Industriebereich kam in der Planung des Industrialisierungsprogramms neben dem Privatsektor von Anfang an dem Staatssektor besondere Bedeutung zu. Entsprechend konsequent wurde das Industrialisierungsprogramm unter dem Zeichen der „Self-Reliance" bzw. als Entwicklungsstrategie der Importsubstitution durchgeführt. Die dirigistischen Maßnahmen der Regierung haben im Laufe der Zeit fast die gesamten Schlüsselindustrien im Staatssektor aufgebaut und eine Infrastruktur für den Privatsektor vorbereitet. Sie haben damit eine nationale Basis der Industrie geschaffen und manchen Unternehmen in Indien die Entwicklung zu multinationalen Unternehmen ermöglicht.
Wenn diese Regierungsmaßnahmen auch die Fundamente der heutigen Wirtschaft gelegt haben, so sind sie doch, von erziehungs-und gesundheitspolitischen Maßnahmen abgesehen, an der armen Bevölkerung zum großen Teil vorbeigegangen. Erst in den siebziger Jahren und vor allem nach der Nationalisierung der Großbanken (1972) war es zum Teil möglich, eine partielle Dezentralisierung der Industrie vorzunehmen und regionale Entwicklungsprogramme einzuleiten. Die Schwierigkeit bei der Durchführung der geplanten Maßnahmen lag und liegt darin, daß sie mit demokratischen Mitteln implementiert werden sollen. Auch die Auswertung einzelner Maßnahmen ist bei dieser sozial, ethnisch und religiös sehr heterogenen Gesellschaft nicht leicht. Dasselbe Problem kompliziert die Rolle eines Regionalpolitikers, der den nationalen Institutionen seine Treue bezeugen und gleichzeitig sich von lokalen Interessen leiten lassen muß.
Trotz vieler Fehleinschätzungen und Unzulänglichkeiten bei der Planung und Implementierung der Entwicklungsprogramme haben die Regierungsmaßnahmen manche Teile der unterprivilegierten Schichten auf dem Land erreicht. Dies ist am verhältnismäßig langsam verlaufenen Urbanisierungsprozeß und an der relativ geringen Einkommensdiskrepanz zwischen den je 20% der untersten und obersten Gruppen der Gesellschaft abzulesen.
Als Folge der dirigistischen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Maßnahmen und ihrer Rezeption durch die verschiedenen Teile der Bevölkerung entstand nach der diffusen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung der fünfziger und sechziger Jahre in den siebziger Jahren die ausgesprochen heterogene Schicht des Kleinbürgertums. Dieses Phänomen wird in den Untersuchungen sowohl konservativer als auch marxistisch orientierter Soziologen und Anthropologen oft übersehen. Die Konservativen versuchen immer noch, die indische Gesellschaft in das „Prokrustesbett“ der Kasten hineinzuzwängen und nehmen „Konfliktund Konkurrenzlosigkeit“, wichtige Strukturelemente der Kastengesellschaft, als gegeben an, während die Gesellschaftsszene eher das Gegenteil aufweist. Die Wissenschaftler aus dem sozialistischen Lager sehen in der indischen Gesellschaft ohne Berücksichtigung der verschiedenen staatlichen Maßnahmen nur zunehmende soziale Ungerechtigkeiten und demzufolge ein künftiges revolutionäres Potential. Dabei überschätzen sie den politischen Einfluß der Arbeiterschaft. Diese kämpft zwar über Gewerkschaften um bessere Lebensbedingungen, ist aber aufgrund ihrer Sozialdistanz zur Dorfbevölkerung weit davon entfernt, die Avantgarde der politischen Entwicklung zu sein. Darüber hinaus formieren die Interessen der Arbeiterschaft sich dort, wo diese einen hohen Bevölkerungsanteil aufweist, nicht etwa im Sinne von Radikalismus. Das zeigt sich zum Beispiel darin, daß in den Bundesstaaten Maharashtra oder Gujrat, wo fast 50% der Bevölkerung Arbeiterfamilien angehört, kaum ein Politiker der kommunistischen Partei gewählt wurde. Bei den Landtagswahlen in Westbengalen (März 1987) wurden sogar Politiker der Kongreßpartei und nicht der kommunistischen Partei (Marxist) in den überwiegend von Arbeitern bewohnten Gegenden gewählt.
Aufgrund der parallelen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung zeichnet sich ein „eklektizistisches Muster“ ab, also eine Art Mischform der kapitalistischen und sozialistischen Gesellschaftsentwicklung. Das Kleinbürgertum bzw. die neue Schicht ist heterogen von ihrer sozialen Herkunft her wie auch in der Denkrichtung und heute in ihren einzelnen Komponenten mit ihrer organisierten Basis verbunden. Die ihr Angehörigen greifen durch die erhöhte politische Partizipation zu jedem denkbaren Mittel religiöser, kästen-oder klassenspezifischer Art, um sich stärker zu etablieren. Diese neue Schicht wird künftig an Umfang eher zunehmen. Sie hat bereits in den siebziger Jahren Veränderungen innerhalb der politischen Institutionen bewirkt, übt heute den entscheidenden Einfluß auf die Konsumgüterindustrie aus und wird künftig den politischen Alltag wesentlich mitbestimmen.
Joginder Kumar Malhotra, Dr. phil., Studium der Sozialwissenschaften an der Freien Universität Berlin, Promotion 1975. Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg. Veröffentlichungen u. a.: Die blockfreie Bewegung in der internationalen Politik, 1982; Befreiungsbewegungen in den Ländern der Dritten Welt, 1985; Bangladesh: Kampf ums bloße Überleben (im Erscheinen).
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