Wirtschaft und Politik in der Tschechoslowakei Das Dilemma des Husäk-Regimes
Jin Kosta
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Zusammenfassung
Nachdem der Versuch der Systemreform in der ÖSSR durch eine militärische Intervention des Warschauer Pakts ein jähes Ende gefunden hatte, versuchte die neue sowjetkonforme Führung unter Gustav Husäk einen Kurs der wirtschaftlichen „Konsolidierung“ und politischen „Normalisierung“ zu verfolgen. Sie schloß mit der Bevölkerung einen (ungeschriebenen) „Kaufvertrag“, in welchem die herrschende Elite den Bürgern des Landes einen akzeptablen Lebensstandard gewährleistete und dafür die Hinnahme ihres Anspruchs auf Monopolherrschaft erreichte. Zwar erzielte das Regime bis Mitte der siebziger Jahre in der Wirtschaft eine Normalisierung und Wiederbelebung; der darauffolgende wirtschaftliche Abschwung stellte aber eine Verletzung des „Kaufvertrags“ dar, deren Ursache in den altbekannten Funktionsmängeln der Zentralverwaltungswirtschaft lag. Die Bevölkerung reagierte auf diese „Vertragsverletzung“ mit einer stärkeren Prononcierung allgemeinpolitischer Probleme und einer kritischeren Haltung gegenüber dem System. Das Husäk-Regime hielt auch noch Mitte der achtziger Jahre an der Devise fest, man müsse das System der zentralen Planwirtschaft zwar „vervollkommnen“, jedoch keineswegs radikal „reformieren“. Durch den Führungswechsel in der Sowjetunion erhielten die Probleme der ÖSSR eine neue Qualität, da einerseits Gorbatschows Postulate nach „Offenheit“ und „Umgestaltung“ der tschechoslowakischen Bevölkerung entgegenkommen und andererseits die Diskussion über Ausmaß und Inhalt notwendiger Wirtschaftsreformen eine neue Dimension erhalten hat. Zwar sind seit Gorbatschows Besuch im März 1987 auch in der ÖSSR vorsichtige Öffnungstendenzen erkennbar, aber der Erfolg einer wie auch immer gearteten Abkehr vom traditionellen, imperativen Planzentralismus wird mitbestimmt werden von der Antwort auf die Frage nach der Verbindung von Wirtschaftsreform und Demokratisierungsprozeß.
I. Einführung
Der 21. August 1968 setzte einem der bedeutsamsten Kapitel der tschechoslowakischen Geschichte ein jähes Ende Hatte das Bemühen um einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ im Prager Frühling des gleichen Jahres seinen Höhepunkt erreicht, so schien die von Moskau initiierte militärische Intervention der Warschauer-Pakt-Staaten eine Systemreform für unabsehbar lange Zeit zunichte gemacht zu haben. Die Installierung der sowjetkonformen Führung um Husäk, die mit der von Dubek Ablösung im April 1969 besiegelt war, geschah unter Bedingungen, die durch die folgenden, gegenüber dem Vorjahr völlig veränderten Sachverhalte gekennzeichnet werden können:
— Der historisch einmalige Konsens zwischen einer KP-Führung und der Mehrheit der Bevölkerung, der während des Einmarsches der Truppen des Warschauer Paktes seinen Höhepunkt gefunden , hatte, war in totale Feindseligkeit gegenüber dem „von fremden Gnaden“ residierenden Husk-Regime umgeschlagen.
— Gegen die Besatzungsstreitkräfte gab es kaum bewaffneten Widerstand — nicht zuletzt, nachdem Dubdek seine Landsleute zur Ruhe ermahnt hatte —, und auch die anfänglich wirksamen passiven Resistenzformen erlahmten allmählich; die um sich greifende Apathie der Menschen zeigte sich im Niedergang der Arbeitsmoral und damit der gesamtwirtschaftlichen Leistung.
— Die mit der Okkupation einhergehende allgemeine Unsicherheit hatte im Herbst 1968 panikartige Hamsterkäufe der Konsumenten ausgelöst die das ohnehin rückläufige Angebot weiter minderten. — Das Ungleichgewicht zwischen Güterangebot und kaufkräftiger Nachfrage vergrößerte sich darüberhinaus infolge von Lohnerhöhungen, nachdem die Politiker zunächst aus Angst vor eventuellen Arbeiterunruhen diversen Forderungen nachgegeben hatten.
— Säuberungen, Entlassungen und andere Formen der Repression gegen ehemalige Protagonisten der Reformbewegung — insbesondere gegen diejenigen, die nicht gewillt waren, Selbstkritik zu üben und „Irrtümer zu widerrufen“ —, Emigrationswellen, solange eine Ausreise möglich war: all das trug zum Gefühl der Ohnmacht und zur allgemeinen Resignation in der tschechoslowakischen Gesellschaft bei.
Angesichts dieser Situation wählte die neue Führung der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KP) eine Strategie der wirtschaftlichen „Konsolidierung“ und politischen „Normalisierung“ — so die offizielle Terminologie —, die den Eigeninteressen der Herrschaftssicherung entsprach. „Konsolidierung“ bedeutete die Wiederherstellung des ökonomischen Gleichgewichts als Ausgangsbasis für einen allmählichen Aufschwung, der eine bessere Befriedigung der Konsumbedürfnisse ermöglichen sollte. „Normalisierung“ hieß im Klartext die Restaurierung der Monopolherrschaft des Parteiapparats, euphemistisch als „führende Rolle der Partei“ bezeichnet.
Die zweifellos schwierigere Aufgabe lag auf wirtschaftlichem Gebiet, denn hier war angesichts des bestehenden Nachfrageüberhangs eine Einkommensdrosselung notwendig. Eine günstige Voraussetzung für die „Normalisierung“ der politischen Verhältnisse — und letzten Endes auch für die „Konsolidierung“ im Sinne eines Lohn-und Prämienstopps — bildete die Mutlosigkeit breiter Bevölkerungsschichten, nachdem im Herbst und Winter sporadische Zeichen des Aufbegehrens (die Selbstverbrennung des Studenten Jan Palach und die Anteilnahme an seinem Begräbnis, die Demonstrationen anläßlich des Sieges über die Sowjetunion bei der Eishockey-Weltmeisterschaft, die zur definitiven Entmachtung Dubeks beitrugen, u. a. m.) schnell verblaßt waren
Den Machthabern war jedoch gleichzeitig klar geworden, daß Repressionen und Einschränkungen allein weder das angestrebte politische Machtgefüge sichern, noch den anvisierten wirtschaftlichen Genesungsprozeß längerfristig in Gang setzen würden. Eine auf lange Sicht ausgerichtete Strategie erforderte einen weiterreichenden Lösungsansatz. Der neue Kurs, der sich 1970 herauskristallisierte, konnte an die vorausgegangene Wirtschaftspolitik anknüpfen, der es mit relativem Erfolg gelungen war, die kaufkräftige Nachfrage einzuschränken. Dieser sozialökonomische Kurs kann mit Mlyn als ein (ungeschriebener) „Kaufvertrag“ bezeichnet werden, der zwischen dem herrschenden Establishment und den entmachteten Bevölkerungsmassen „abgeschlossen“ werden sollte. Dieses freilich nirgendwo explizit formulierte Abkommen bestand darin, daß die Führung der Gesellschaft ein „anständiges Lebensniveau“ gewährleisten sollte, während diese ihrerseits die Alleinherrschaft der führenden Elite respektieren mußte. Die zutreffende Formulierung des ehemals prominenten KP-Politikers und ZK-Sekretärs Mlyn, eines heute in Wien lebenden Politikwissenschaftlers, lautet: „Für ein anständiges Lebensniveau haben die sozialen Gruppen und die Einzelnen ihre Autonomie an die Partei und Regierung verkauft.“
Eine erfolgreiche Realisierung dieser Strategie hatte davon auszugehen, daß dem Konsum eindeutige Priorität vor der Akkumulation, der Nahrungsmittel-und Konsumgüterproduktion vor der Herstellung von Investitionsgütern und Grundstoffen, der Leicht-vor der Schwerindustrie eingeräumt werden mußte. Dies war eine conditio sine qua non, wenn der Lebensstandard nicht vernachlässigt werden sollte, wie dies in der Tschechoslowakei in den fünfziger Jahren in Anlehnung an das sowjetische
Akkumulationsmodell geschehen war. Die Erkenntnis, daß ein entsprechender Kurswechsel notwendig wurde, hatte sich zum Ende der sechziger Jahre auch in anderen Ländern des realen Sozialismus durchgesetzt — man denke etwa an den von Honecker eingeschlagenen Weg nach 1970. Von Anbeginn hätte jedoch die allerdings politisch schwierige Frage gestellt werden müssen, inwieweit die starke Einbindung der ÜSSR-Wirtschaft in den Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) und die daraus resultierenden sektoralen Strukturen für eine konsumorientierte Strategie hinreichende Spielräume frei ließen. Ein anderes Hindernis für eine effizientere Entwicklung der Wirtschaft sind der unverhältnismäßig hohe Verbrauch von Produktionsgütem sowie andere Mängel, die dem Funktionsmechanismus der zentralen Planwirtschaft eigen sind und die durch eine bloße Veränderung der Planziele — etwa zugunsten der Landwirtschaft und der Konsumgüterindustrien — nicht beseitigt werden können.
In den folgenden Abschnitten soll chronologisch nachgezeichnet werden, welche Wege die tschechoslowakische Partei-und Staatsführung in den vergangenen zwei Jahrzehnten eingeschlagen hat, um den „Kaufvertrag“ einzuhalten, welche Ergebnisse dabei erzielt wurden und auf welche Faktoren die jeweils erreichten Resultate zurückzuführen sind. Abschließend soll kurz der Frage nachgegangen werden, welche Reformchancen sich unter dem Einfluß der von Gorbatschow eingeleiteten Politik der „Glasnost" (Offenheit) und „Perestrojka“ (Umgestaltung) in der gegenwärtigen Tschechoslowakei abzeichnen.
II. Die frühen siebziger Jahre: wirtschaftliche Normalisierung und Wiederbelebung
Abbildung 2
der siebziger Jahre (jahresdurchschnittliches Wachstum in Prozent) Produziertes N ationaleinkommen Verwendetes Nationaleinkommen Industrieproduktion Agrarproduktion Arbeitsproduktivität Kapitalproduktivität Pro-Kopf-Konsum Arbeitseinkommen der Arbeiter u. Angestellten (real) 5, 7 6, 1 6, 7 2, 6 5, 4 0, 0 4, 2 3, 5 3, 7 2. 2 4, 5 1, 8 3. 4 -2. 4 1, 0 0, 7 Tabelle 2 Vergleichsdaten der ersten und zweiten Hälfte Indikator 1971-1975 Quelle: Statistische Jahrbücher der ÖSSR. 1976-1980
der siebziger Jahre (jahresdurchschnittliches Wachstum in Prozent) Produziertes N ationaleinkommen Verwendetes Nationaleinkommen Industrieproduktion Agrarproduktion Arbeitsproduktivität Kapitalproduktivität Pro-Kopf-Konsum Arbeitseinkommen der Arbeiter u. Angestellten (real) 5, 7 6, 1 6, 7 2, 6 5, 4 0, 0 4, 2 3, 5 3, 7 2. 2 4, 5 1, 8 3. 4 -2. 4 1, 0 0, 7 Tabelle 2 Vergleichsdaten der ersten und zweiten Hälfte Indikator 1971-1975 Quelle: Statistische Jahrbücher der ÖSSR. 1976-1980
Die restriktive Einkommenspolitik, die im Winter 1969/70 eingeleitet wurde, erfüllte die in sie gesetzte Erwartung. Drosselungen der Arbeits-und Sozial-einkommen bewirkten zwar 1970 eine spürbare Stagnation des privaten Konsums; dies war jedoch angesichts eines kräftigen Konsumbooms in der Reformperiode von 1966 bis 1968, die 1969 anhielt, zu verkraften. Bislang hat die parteioffizielle tschechoslowakische Historiographie verschwiegen, daß im Zeitraum, der zwischen der Einführung des marktorientierten Wirtschaftssystems 1966 und der Intervention von 1968 lag, die Menschen vom Aufschwung deutlicher profitierten als je zuvor nach dem Zweiten Weltkrieg
Vergleicht man die außerordentlich hohen volkswirtschaftlichen Wachstumsraten in den Reform-jahren von 1966 bis 1968 — das „produzierte Nationaleinkommen“ nahm im Jahresdurchschnitt laut Statistik um 7, 2 % zu — mit dem Wachstum, das in der ersten Hälfte der siebziger Jahre erzielt worden ist (jahresdurchschnittlich 7 %), dann ist zwar ein leichter Rückgang unverkennbar 5). Im Hinblick auf das extrem hohe Tempo der Vorperiode ist jedoch auch nach 1970 ein erheblicher Aufwärtstrend zu beobachten (vgl. Tab. 1). Es zeigte sich, daß der neue Kurs Früchte zu tragen begann. Schließlich gelang es, nicht nur das Nationaleinkommen deutlich zu steigern, sondern auch dessen Verwendung, stärker als dies in den fünfziger und frühen sechziger Jahren der Fall war, in Richtung Konsumtion zu lenken. So stieg der private Pro-Kopf-Verbrauch von 1971 bis 1975 um 4, 2% im Jahresdurchschnitt.
Drei Umstände dürften zu der relativ günstigen Entwicklung der tschechoslowakischen Volkswirtschaft in den frühen siebziger Jahren beigetragen haben -Erstens sind in der Landwirtschaft einige wichtige Reformelemente im Bereich der betrieblichen Entscheidungskompetenzen und Anreizinstrumente nach 1968 beibehalten worden. Dadurch konnte eine relativ gute Versorgung mit Agrarprodukten gewährleistet werden. Zweitens wirkte sich infolge des üblichen „time-lag“ erst jetzt die in den Reformjahren eingeschlagene Investitionspolitik aus, die den Konsumgüterindustrien Vorrang eingeräumt hatte. Dies war u. a. auch eine Folge der Marktsignale, auf die der Banksektor im Zuge der Reform zu reagieren begonnen hatte. Drittens verhielten sich Industrie-und Dienstleistungsbetriebe volkswirtschaftlich rationeller als in der Vorreformzeit des rigiden Planzentralismus, zumal dessen Wiederherstellung weder schlagartig noch in lupenreiner Form erfolgte. Darüber hinaus waren die außenwirtschaftlichen Rahmenbedingungen relativ günstig, da der Ölpreisschock von 1973 und dessen Folgen erst Mitte der siebziger Jahre die tschechoslowakische Wirtschaft erreichten.
Auch das politische System schien zu dieser Zeit, nicht zuletzt infolge des funktionierenden „Kaufvertrags“, stabilisiert worden zu sein. Freilich dürfte sich das Husäk-Regime durchaus bewußt gewesen sein, daß die überwiegende Mehrheit der tschechoslowakischen Gesellschaft seine Politik nicht aktiv, geschweige denn engagiert, unterstützte. Interessierte Beobachter stellten sich damals noch die Frage, ob die Führung der KP nicht mit der Zeit doch eine Art Kadär-Kurs einschlagen würde, eine Politik, die es infolge allmählich durchgeführter Teilreformen auf wirtschaftlichem Gebiet und einer gewissen Auflockerung des politischen Systems erreichen könnte, einen etwas festeren Konsens zwischen Führung und Gesellschaft zu bewirken. Doch Husäk wandelte sich nicht zu einem Kadär. Unsere Analyse wird zeigen, daß die anfänglichen günstigen Ergebnisse der wirtschaftlichen Entwicklung nicht aufrechterhalten werden konnten. Auf einem anderen Blatt steht, daß dem tschechoslowakischen Parteichef im Unterschied zu seinem ungarischen „Gegenspieler“ Eigenschaften fehlen, die einen von breiteren Bevölkerungskreisen akzeptierten Politiker kennzeichnen.
Berechnungen besteht darin, daß nur die materielle Produktion („produktive Leistungen“) in die Rechnung einbezogen, aber — der marxschen Arbeitswertlehre entsprechend — der Bereich der Dienstleistungen bei dieser Methode wertmäßig nicht erfaßt wird. Im Vergleich zur volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung in westlichen Industrieländern kann man feststellen, daß das Bruttosozialprodukt abzüglich der Abschreibungen (= Nettosozialprodukt) und abzüglich der Beiträge der nichtproduzierenden Bereiche dem „produzierten Nationaleinkommen“ etwa entspricht. — Alle in diesem Beitrag aufgeführten statistischen Daten sind Veröffentlichungen des Prager „Föderalen Statistischen Amtes“ entnommen. Wir nehmen dabei in Kauf, daß aufgrund methodischer Besonderheiten und systematischer Verzerrungen die Zahlen etwas überhöht sein können, da sie meist auf Meldungen der unter Erfolgsdruck stehenden Unternehmungen stehen. Dies dürfte die Einschätzungen dieses Beitrags, die den generellen Trend analysieren, nicht wesentlich beeinträchtigen.
III. Der wirtschaftliche Abschwung in den späten siebziger Jahren: eine Verletzung des gesellschaftlichen „Kaufvertrags“
Abbildung 3
(Veränderungen gegenüber dem Vorjahr in Prozent) Pro-Kopf-Konsum Arbeitseinkommen der Arbeiter und Angestellten (real) -1. 2 -0, 6 -0, 6 -1, 1 + 1, 5 + 0, 6 -2, 6 -2, 3 Tabelle 3 Indikatoren des Lebensstandards in den Jahren 1979-1982 Indikator 1978/79 1979/80 1980/81 Quelle: Statistische Jahrbücher der CSSR. 1981/82
(Veränderungen gegenüber dem Vorjahr in Prozent) Pro-Kopf-Konsum Arbeitseinkommen der Arbeiter und Angestellten (real) -1. 2 -0, 6 -0, 6 -1, 1 + 1, 5 + 0, 6 -2, 6 -2, 3 Tabelle 3 Indikatoren des Lebensstandards in den Jahren 1979-1982 Indikator 1978/79 1979/80 1980/81 Quelle: Statistische Jahrbücher der CSSR. 1981/82
Der erwähnte Ölpreisschock von 1973 und der explosionsartige Anstieg der Rohstoffpreise auf den internationalen Märkten erreichte die tschechoslowakische Volkswirtschaft erst mit einer gewissen Verzögerung Bis zum Jahr 1975 galten im Handel mit der Sowjetunion und den übrigen RGW-Ländern die Weltmarktpreise der späten sechziger Jahre. Nach der bis zu diesem Zeitpunkt gültigen Preisklausel wurden die durchschnittlichen Preise der internationalen (das heißt „kapitalistischen“) Märkte zugrunde gelegt, die dort im vergangenen Planjahrfünft (1966— 1970) erzielt worden waren. Erst 1975 wurde im RGW eine neue Regel vereinbart, der zufolge der von Jahr zu Jahr neu berechnete Fünfjahresdurchschnitt der Weltmarktpreise als Preisbasis dienen sollte. Durch diese „Abfederung“ des Anstiegs der Importpreise, welche die tschechoslowakischen Staatshandelsbetriebe ihren Hauptlieferanten, den sowjetischen Außenhandelsgesellschaften, zu zahlen hatten, verschlechterten sich die „terms of trade“ (die Relation der Ausfuhr-zu den Einfuhrpreisen) für die ÖSSR nicht „über Nacht“. Längerfristig betrachtet, war jedoch für das rohstoffarme Land der ungünstige Einfluß der Weltmarktbedingungen nicht aufzuhalten. 1980 mußte die ÖSSR fast ein Fünftel mehr Güter in den Ostblock exportieren, um von dort die gleiche Menge an Rohstoffen zu importieren. Noch drastischer verschlechterten sich die Austauschbedingungen mit dem Westen, der jedoch als Lieferant von Grundstoffen eine untergeordnete Rolle spielte.
Die ungünstigen Einflüsse der Außenwirtschaft zeigen die in Tab. 1 zusammengefaßten Daten. Das Hauptproblem der tschechoslowakischen Wirtschaftsentwicklung war jedoch nicht durch externe Faktoren bedingt. Auch andere Volkswirtschaften, die auf Rohstoffeinfuhren und auf Ausfuhren von Fertigprodukten angewiesen sind, waren in den siebziger Jahren mit der gleichen Schwierigkeit konfrontiert: sowohl entwickelte Industrieländer, wie Staaten der Europäischen Gemeinschaft, als auch Länder auf einem etwas niedrigeren und deshalb eher vergleichbaren Entwicklungsniveau, wie etwa Spanien und Portugal oder auch die asiatischen Schwellenländer. Diese Länder hatten die extern bedingten Probleme weit besser bewältigt als die ÖSSR. Woran es dem tschechoslowakischen Wirtschaftssystem mangelte, war die erforderliche Anpassungsfähigkeit, Flexibilität, Innovationsbereitschaft, die notwendige Effizienz des Ressourceneinsatzes. Daß es sich dabei um Mängel handelt, die dem System der zentral-administrativen Planwirtschaft eigen sind, war gerade in der Tschechoslowakei zwei Jahrzehnte zuvor eingehend diskutiert und belegt worden.
Die in Tab. 2 gegenübergestellten Vergleichszahlen belegen die rückläufige, äußerst ungünstige Entwicklung, die die zweite Hälfte der siebziger Jahre von der ersten unterscheidet. Während die Wachstumsrate des produzierten Nationaleinkommens noch mit etwa 3, 7 % — obwohl unterhalb des Plansolls — anstieg, nahm das zur konsumtiven und investiven Verwendung verfügbare Nationaleinkommen mit 2, 2% deutlich weniger zu. Diese Differenz resultiert aus den bereits erwähnten stark expandierenden Exportlieferungen, deren Ertrag zur Zahlung der verteuerten Importe aufgewendet werden mußte und das „verwendete Nationaleinkommen“ entsprechend schmälerte. Weitere Daten deuten ferner darauf hin, daß sich das Wachstums-tempo der landwirtschaftlichen Produktion — bei erheblichen jährlichen Schwankungen — bedrohlich verlangsamte. Nach plausiblen Aussagen von Experten sind nicht — wie oft seitens der Führung behauptet — witterungsbedingte Mißernten für die abnehmenden Erträge verantwortlich, sondern institutioneile Ursachen: Orthodoxen Ideen verhaftet, verordnete die Administration die Zusammenlegung von Genossenschaften und Staatsgütern. Diese Konzentrationsprozesse führten zu einer verstärkten Zentralisierung von Entscheidungen und schwächten die ökonomischen Leistungsanreize. Zudem wurden privatwirtschaftliche Aktivitäten, wie der Anbau auf Privatparzellen und die kleingewerbliche Viehhaltung der Genossenschaftsbauern, stark reduziert. Diese wurden zwar zuvor nur in begrenztem Ausmaß betrieben, waren jedoch zur Versorgung der Bevölkerung mit Obst, Gemüse, Fleisch und anderen Produkten von erheblicher Bedeutung
Auf die Ergebnisse der wirtschaftlichen Entwicklung haben die beiden wichtigsten Effizienzindikatoren, die Arbeits-und Kapitelproduktivität, entscheidenden Einfluß. Seit Jahren heißt es in der parteioffiziellen Sprache, die tschechoslowakische Volkswirtschaft müsse den „extensiven“ Wachstumspfad verlassen, um den Weg der „intensiven“ Entwicklung sicherzustellen. Die Forderung nach dem „Übergang vom extensiven zum intensiven Wachstum“ bedeutet aber nichts anderes, als die verfügbaren Ressourcen — Arbeit, Material, Energie, Sachkapital — weit effizienter einzusetzen.
Die Produktivität der entscheidenden Produktionsfaktoren — Arbeit und Kapital — muß deutlich angehoben werden. Die entsprechenden Produktivitätsindikatoren in Tab. 2 zeigen jedoch die gegenteilige Tendenz: Die Arbeitsproduktivität wuchs zum Ende der siebziger Jahre langsamer als zu Beginn des Jahrzehnts, die Entwicklung der Kapitalproduktivität geriet in der zweiten Hälfte sogar in den Minusbereich. Dies zeugte neben anderen Indizien vom Fortleben altbekannter Funktionsmängel der Zentralverwaltungswirtschaft, wie zum Beispiel abnehmende Konkurrenzfähigkeit tschechoslowakischer Exportprodukte, unzureichende Anpassungsfähigkeit an den erforderlichen Strukturwandel infolge knapper werdender Ressourcen, Innovationsträgheit der Betriebe, Versorgungslücken bei Produktionsgütern und bei Konsumwaren
Bedrohlich wurde die Lage für die politische Führung erst, als die Kumulierung der externen und der hausgemachten, das heißt systembedingten Verluste den Lebensstandard der Bevölkerung spürbar beeinträchtigte. Diese Situation spitzte sich in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre zu, wie die Daten des Pro-Kopf-Konsums und der Arbeitseinkommen zeigen. Eine länger andauernde Stagnation der materiellen Versorgung mußte den Machthabern als Warnsignal erscheinen: Der ungeschriebene, jedoch immer präsente Sozialvertrag zwischen Führung und Bevölkerung war nicht mehr intakt.
Die Reaktion des Husäk-Regimes auf wirtschaftspolitischem Gebiet blieb nicht aus, sie war jedoch halbherzig. Es war kein „Kadärismus“, der praktiziert wurde, weder im ökonomischen noch im politischen Bereich Die repressiven Herrschaftsformen richteten sich nunmehr gegen eine Minderheit von Oppositionellen und Dissidenten. Die 1977 entstandene „Charta 77“, eine Gruppe kritischer Bürger, vorwiegend Intellektuelle, rief die Regierung zum Dialog auf, mahnte die politische Führung, die bestehenden Gesetze des Landes und die Verpflichtungen gegenüber dem Ausland — insbesondere die Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in Helsinki vom 1. August 1975 — einzuhalten. Selbst diese keineswegs militant, sondern streng legalistisch orientierte Gruppierung wurde rücksichtslos verfolgt: beruflich, „juristisch“, durch mehrjährige Haftstrafen für einzelne Mitglieder.
Inzwischen hatten sich in der tschechoslowakischen Gesellschaft neue Formen einer „Schwejkmentalität“ ausgebildet. Während der einfache Arbeiter seine Leistungskraft für „zweitwirtschaftliche“ Aktivitäten sparte, paßten sich Angestellte sowie Pach-und Führungskräfte an altbekannte Rituale an: Wettbewerbsverpflichtungen am Arbeitsplatz, Teilnahme an Umzügen, Präsenz bei Versammlungen und verordneten Schulungen — dies war das eine Gesicht, das der Devise „je höher mein Posten, desto emsiger das vorgegaukelte Engagement“ folgte; Schwarzarbeit und Nebeneinkünfte in Grauzonen, Mogeleien im Berufsleben und Bestechungen in der Privatsphäre, ein Sich-Zurückziehen in die „chata“ (das Wochenendhäuschen) und die Stammkneipe — so sah das andere Gesicht der Bürger aus. Dieses zweite Gesicht wurde übrigens im Sinne des „Kaufvertrags“ von der Führung durchaus akzeptiert, freilich nur so lange und so weit, wie es politisch ungefährliche Formen behielt. Daß dieses pharisäerhafte Verhalten großer Teile der Bevölkerung, das ihnen vom Regime abverlangt wurde, mit einer Demoralisierung im Lande einherging, liegt auf der Hand.
Um die unbestrittene Ineffizienz des Wirtschaftssystems zu überwinden, erließ die Regierung der ÖSSR Anfang 1980 einen umfassenden „Maßnahmenkatalog zur Vervollkommnung des Systems der planmäßigen Leitung der Volkswirtschaft nach dem Jahre 1980“, der zum 1. Januar 1981 in Kraft treten sollte. Bereits seine Bezeichnung deutet an, worum es dabei ging: Beabsichtigt war keine grundlegende Abkehr vom System der imperativen Planung wie in Ungarn, sondern eine eher „kosmetische“ Verfeinerung der altbekannten Instrumente: der verbindlichen Plankennziffern, der monetären Planerfüllungskriterien, der entsprechenden Leistungsan-reize. In der Fachliteratur ist immer wieder dargestellt worden, daß eine derartige „Vervollkommnung“ der Zentralverwaltungswirtschaft sowjetischen Typs ihre entscheidenden Mängel kaum beheben kann. Im folgenden soll geprüft werden, ob sich diese These auch im Hinblick auf die Entwicklung der tschechoslowakischen Wirtschaft in den achtziger Jahre bestätigen läßt. .
IV. Die Wirtschaft in den achtziger Jahren: Krise und Wiederbelebung auf niedrigem Niveau
Abbildung 4
Tabelle 4 Effizienzindikatoren der tschechoslowakischen Volkswirtschaft 1983-1985 (Veränderungen gegenüber dem Vorjahr in Prozent) Arbeitsproduktivität Materialintensität 1) Fondsintensität 2) + 1. 8 + 0, 6 + 2, 5 + 2, 8 -1. 7 + 1. 3 + 2, 5 -0, 6 + 1. 9 Indikator 1982/83 1983/84 1984/85 ) materielle Vorleistungen je Einheit des produzierten Nationaleinkommens.
2) Kapitalstock je Einheit des produzierten Nationaleinkommens.
Quelle: Föderales Statistisches Amt der ÖSSR. kadho 1986. isla pro
Tabelle 4 Effizienzindikatoren der tschechoslowakischen Volkswirtschaft 1983-1985 (Veränderungen gegenüber dem Vorjahr in Prozent) Arbeitsproduktivität Materialintensität 1) Fondsintensität 2) + 1. 8 + 0, 6 + 2, 5 + 2, 8 -1. 7 + 1. 3 + 2, 5 -0, 6 + 1. 9 Indikator 1982/83 1983/84 1984/85 ) materielle Vorleistungen je Einheit des produzierten Nationaleinkommens.
2) Kapitalstock je Einheit des produzierten Nationaleinkommens.
Quelle: Föderales Statistisches Amt der ÖSSR. kadho 1986. isla pro
Ohne den Konjunktur-und Wachstumsverlauf zu Beginn der achtziger Jahre im einzelnen zu analysieren (vgl. dazu Tab. 1), soll in Tab. 3 die Entwicklung des Lebensstandards um die Wende von den siebziger zu den achtziger Jahren betrachtet werden.
Die Folgen des ökonomischen Niedergangs der tschechoslowakischen Volkswirtschaft, der sich bereits in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre abgezeichnet hatte und in den Jahren 1981 und 1982 seinen Tiefpunkt erreichte (vgl. auch Tab. 1), lassen sich mit Hilfe der beiden Indikatoren des Lebensstandards — des privaten Konsums und der Realeinkommen der Lohn-und Gehaltsempfänger — nur annähernd verdeutlichen. Diese erfassen nicht, wie sehr die Verbraucher unter Sortimentlükken, Qualitätsmängeln, Dienstleistungsdefiziten zu leiden hatten; völlig unberücksichtigt bleibt ferner die generelle Rückständigkeit weiter Bereiche der Infrastruktur: des quantitativ sowie vor allem qualitativ unzureichenden Wohnungsbestandes, des unbefriedigenden Transport-und Verkehrswesens, der tristen Siedlungsstruktur in Stadt und Land
Ein besonders trauriges Kapitel bildet die Umweltzerstörung, die nahezu allerorts, ganz besonders aber in Nordwestböhmen, der Region des massenhaften Braunkohleabbaus, und in Nordmähren, einem der Zentren des Schwermaschinenbaus um Ostrau, der Natur sowie der menschlichen Gesundheit irreparable Schäden zugefügt hat. Um dies nur an einem Beispiel zu verdeutlichen: 1982 hatte die Emission von Schwefeldioxid in der SSR etwa 220 kg je Einwohner, in der Bundesrepublik Deutschland 49 kg betragen; bezogen auf je 1 km 2 Fläche lag die Emission in der Tschechoslowakei bei 27 t gegenüber t in der Bundesrepublik Deutschland.
Die parteioffizielle Propaganda stellt das ansehnliche Konsumniveau, das in der tschechoslowakischen Gesellschaft erreicht worden ist, häufig anhand von Verbrauchs-und Ausstattungsdaten der privaten Haushalte heraus. Wie in der KP-Presse kürzlich zu lesen war, habe 1985 der Pro-Kopf-Verbrauch von Fleisch 85, 8 kg, von Milch und Milchprodukten 248 kg, von Eiern 341 Stück ausgemacht, auf 100 Haushalte seien 145 Kühlschränke, 125 Fernsehgeräte, 49 Personenkraftwagen entfallen 12). Diese und weitere Daten belegen, daß der private Verbrauch in der ÖSSR, quantitativ betrachtet, auf vielen Gebieten mit dem Konsum-niveau in westlichen Industrieländern vergleichbar ist. Obwohl unter diesen Bedingungen Tschechen und Slowaken wegen ihrer materiellen Versorgungslage nicht auf die Barrikaden gehen, stellen sich die Bürger der ÖSSR etliche Fragen, die von der Parteipropaganda nicht zufriedenstellend beantwortet werden können
— Wie fällt der Vergleich mit Ländern aus, die am Ende des Zweiten Weltkriegs eine ähnliche Stufe der wirtschaftlichen Entwicklung erreicht hatten wie die Tschechoslowakei?
— Wie steht es um Gütersortimente, um die Qualität der Erzeugnisse, um Produktneuerungen, um die technischen Standards der Waren? Warum fehlt es an Ersatzteilen, warum funktioniert der Kundendienst, wenn überhaupt, mehr schlecht als recht? -Welche Möglichkeiten bestehen, ins Ausland zu reisen? Wie sieht das kulturelle Angebot aus — etwa im Bereich der Literatur und Kunst? Welche materiell gesicherten Freizeitmöglichkeiten stehen den Bürgern zur Wahl?
-Wie groß muß das Arbeitspensum nicht nur eines, sondern mindestens zweier Familienmitglieder sein, wenn das Konsumniveau gewährleistet werden soll? Wie lange muß man arbeiten, um insbesondere aufwendigere Anschaffungen wie Autos oder Wohnungen, die heute vielfach als Eigentumswohnungen privat finanziert werden, erwerben zu können?
-Welche Hoffnungen bestehen, daß die erwähnten Mängel auf den Gebieten der Infrastruktur und der Umweltbelastung beseitigt werden, wie dies in der letzten Zeit durch die politische Führung versprochen wird?
Die Fragen verraten Mißtrauen und Skepsis. Vieles deutet darauf hin, daß nicht nur unter Experten — wie in der Fachpresse täglich nachzulesen ist —, sondern auch in Teilen des Establishments die kritischen Töne allmählich zunehmen. Dennoch wird in parteioffiziellen Kommentaren behauptet, seit 1983 sei die Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung wiedergewonnen worden, schließlich habe man in drei aufeinanderfolgenden Jahren ein Wirtschaftswachstum von 3% erreicht (vgl. Tab. 1). Von entscheidender Bedeutung ist jedoch, daß selbst auf der Basis der offiziellen Statistik — die hier nicht näher problematisiert werden soll — der „extensive“, das heißt unwirtschaftliche Einsatz der verfügbaren Ressourcen in den Jahren des „mäßigen Aufschwungs“ von 1983 bis 1985 (vgl. Tab. 4) nicht überwunden werden konnte.
Die bescheidene Steigerungsrate der Arbeitsproduktivität, deren niedriges Niveau ohnehin eingestanden wird, die mäßigen Einsparungseffekte beim Materialverbrauch, der weit höher ausfiel als das Plansoll vorsah, sowie der gestiegene Kapitaleinsatz für die gleiche Produktmenge — all das zeigt den Mißerfolg, das Ausbleiben des „Übergangs vom extensiven zum intensiven Wachstum“. Ungeachtet verschiedener mahnender Stimmen in wissenschaftlichen Zeitschriften, hielt das Husk-Regime noch 1986 an der Devise fest, man müsse das System der zentralen Planwirtschaft zwar „vervollkommnen“, jedoch keinesfalls radikal reformieren. Die chronischen Schwächen des Systems, die eine spürbare Verbesserung der Versorgung mit Konsumgütem auch nach 1983 nicht zuließen (vgl. Tab. 1), blieben unbeachtet. Ignoriert wird nach wie vor auch die offensichtliche Unzufriedenheit breiter intellektueller Kreise — vieler Künstler, Geisteswissenschaftler, der naturwissenschaftlich-technischen Intelligenz —, die trotz aller Artikulationsschranken auf unterschiedliche Weise, sei es verdeckt und „durch die Blume“ in der publizierten Literatur und im Theater, sei es offen im Selbstverlag (Samisdat) außerhalb des offiziell geduldeten Publikationsbetriebes freie Meinungsäußerung fordern. Daß in einer solchen Lage Gorbatschows Postulate nach Offenheit und Umgestaltung den Wünschen und Aspirationen vieler Tschechen und Slowaken entgegenkommen, liegt auf der Hand.
V. Die Reformchancen: Triebkräfte und Barrieren
Um die gegenwärtigen Reformchancen in der SSR abschätzen zu können, ist ein Rückblick auf die im Herbst 1968 zu Ende gegangenen Reform-jahre hilfreich. Vor einem Jahrzehnt hat der Autor die zwiespältige Lage, in der sich die Prager Füh-rung befand, wie folgt gekennzeichnet: „Während die ökonomische Funktionsfähigkeit mehr Dezentralisierung, Flexibilität und außenwirtschaftliche Offenheit verlangt, gebietet die Aufrechterhaltung des Machtmonopols der Funktionärsbürokratie nach wie vor zentralistisch-autoritäre Entscheidungsstrukturen und eine gewisse Abgeschlossenheit der Binnenwirtschaft gegenüber der Außenwelt . . . Das Dilemma, vor dem die Prager Partei-und Staatsführung steht, lautet, entweder an den starren bürokratischen Strukturen festzuhalten und die in diesem Fall unausweichliche Funktionsschwäche des ökonomischen Systems in Kauf zu nehmen oder ein Mindestmaß an Demokratisierung zuzulassen, um wenigstens die drängendsten ökonomischen Probleme lösen zu können. Es ist anzunehmen, daß diese Frage vorerst nicht in Prag, sondern in Moskau beantwortet werden muß.“
Dieses Dilemma besteht für das Husäk-Regime auch in der gegenwärtigen Situation. Die führenden tschechoslowakischen Politiker seiner Generation — die heute Sechzig-und Siebzigjährigen — sind selbst dann „Gefangene“ ihrer Machtinteressen, wenn sie, wie dies möglicherweise bei einigen von ihnen der Fall ist, die Notwendigkeit einer System-reform vom Typ Ungarns eingesehen haben. Waren es doch gerade sie, die seinerzeit unter der Vorherrschäft Breschnews die Protagonisten des Prager Frühlings verdammt hatten, um ihre eigene Machtübernahme zu rechtfertigen. Eine radikale Umgestaltung des Systems, deren Stoßrichtung derjenigen des Prager Frühlings zumindest ähneln müßte, kann somit kaum von der alten Führungsmannschaft initiiert und realisiert werden. Erst nach einem Generationenwechsel könnte eine durchgreifende Systemreform in Gang kommen.
Eine Einschätzung der Aussichten für eine systemverändemde Reform in der Tschechoslowakei muß zudem die außenpolitische Komponente, das heißt insbesondere die politische Entwicklung in der Sowjetunion, dem Machtzentrum des Ostblocks, berücksichtigen. In dieser Hinsicht muß unser heutiges Urteil differenzierter ausfallen als die zitierte Einschätzung in der Mitte der siebziger Jahre. Die entscheidende Lehre der tschechoslowakischen Ereignisse von 1968, die reformwillige Kreise in den kleineren Ländern Osteuropas berücksichtigen mußten, bestand in der Erkenntnis der Reform-grenzen, die den Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes durch die sowjetische Führung und insbesondere durch die „Breschnew-Doktrin“ von der begrenzten Souveränität der im Machtbereich der UdSSR lebenden Völker gesetzt worden waren. Diese Grenzen werden bei einem Vergleich der Entwicklung in Ungarn und der SSR besonders deutlich: Der „Neue ökonomische Mechanismus“ Ungarns, eine marktorientierte Wirtschaftsreform, die die Grundpfeiler des politischen Herrschaftssystems nicht in Frage stellte, wurde toleriert. Eine im ökonomischen Bereich analog konzipierte Veränderung des Lenkungs-und Entscheidungssystems in der Tschechoslowakei stieß in dem Augenblick auf Widerstand, als die wirtschaftliche Dezentralisierung in eine politische Demokratisierung umschlug, wie dies im Prager Frühling geschah. Daß die Prager Demokratisierungsansätze nicht auf eine Kopie westlicher parlamentarischer Demokratien hinausliefen, wurde sowjetischerseits nicht zur Kenntnis genommen. Moskau sah das entscheidende Kriterium für die Toleranzschwelle in der Bedrohung des Machtmonopols der Parteiapparate. Werktätigen-räte in den Betrieben, autonome Interessengruppen außerhalb der Eingriffssphäre der Parteibürokratie, freie Gewerkschaften, Künstlerverbände, eine parteiunabhängige Presse markieren nach der „Logik“ der Parteiherrschaft unüberwindliche Reformschranken.
Die Ära Breschnew gehört der Vergangenheit an, die Epoche, die sich im Sowjetblock anbahnt, ist untrennbar mit dem Namen Michail Gorbatschows verbunden. Es wäre jedoch sicherlich verfehlt, wollte man daraus den Schluß ziehen, daß in der Sowjetunion wie auch in den übrigen Ostblockländem im kulturellen und politischen Bereich in einem Klima der „Glasnost“ eine revolutionäre „Perestrojka“, das heißt eine weitreichende Transformation des ökonomischen und politischen Systems, unmittelbar bevorsteht. Derartige Erwartungen sind in zweifacher Hinsicht unangebracht.
Erstens ist trotz der zweifelsfreien Absicht von Gorbatschow und der ihm nahestehenden Gruppe sowjetischer Politiker, mit den alten Verhältnissen Schluß zu machen, in der Sowjetunion selbst noch kein umfassendes, systemveränderndes Konzept in Sicht, ebensowenig für den „Wirtschaftsmechanismus“ — heute das geflügelte Wort, mit dem das wirtschaftliche Lenkungssystem bezeichnet wird — wie auch für die politischen Institutionen von der lokalen bis hin zur Unionsebene. Selbst wenn es gelingen sollte, konsistente Gesamtentwürfe für einen weitreichenden Umbau des Systems zu entwickeln, Was wenig wahrscheinlich ist, bliebe die schwierige Frage, wie diese Konzepte in der Praxis verwirklicht werden können. Dabei darf nicht übersehen werden, daß es in der politischen Administration zahlreiche Gegner einer weitreichenden Änderung des politischen und ökonomischen Systems gibt, die die Umsetzung eines Reformprogramms zusätzlich erschweren dürften.
Zweitens muß die blockweite Wirkung der gegenwärtigen sowjetischen Politik betrachtet werden. Trotz der bislang nur partiellen Maßnahmen, die noch keine systemverändemden Lösungskonzepte darstellen, wäre schon viel erreicht, wenn auch in allen Partnerländern der UdSSR an den alten Verhältnissen schonungslos Kritik geübt würde. Manches, was Gorbatschow bereits durchgesetzt hat — die Zulassung privatwirtschaftlicher Aktivitäten in den Städten, die Einführung marktähnlicher Anreizformen in der Landwirtschaft, die Selbstfinanzierungsexperimente in der Industrie, ein im Juli 1987 verabschiedetes Gesetz über die staatlichen Betriebe würde trotz etlicher Halbherzigkeiten und Inkonsequenzen einen großen Schritt vorwärts bedeuten. Auch die bescheidenen Ansätze zu einer „Demokratisierung“ in Form von neuen Wahlverfahren mit konkurrierenden Kandidaten, Mitbestimmungsformen usw. sind für sowjetische Verhältnisse bemerkenswert. Ganz zu schweigen von den beeindruckenden Entwicklungen auf kulturellem Gebiet, in Literatur, Film und Theater, sowie in den SozialWissenschaften. Die einzelnen KP-Führungen haben auf die Entwicklung in der Sowjetunion unterschiedlich reagiert: Für Honekker sind die Maßnahmen, die in der UdSSR gefordert und teilweise bereits umgesetzt worden sind, in der DDR längst realisiert. Die Kadär-Führung sieht sich in ihrer Politik bestätigt, doch fordern kritische ungarische Reformer konsequentere weiterführende Reformen. Es ist jedoch zu fragen, ob Gorbatschow und die ihm nahestehenden sowjetischen Reformer mit der gleichen Vehemenz eine Umgestaltung in den übrigen Blockländern befürworten oder gar durchzusetzen versuchen wie im eigenen Land.
Die Stoßrichtung der Kritik Gorbatschows zielt auf die Defekte, die das alte zentralistisch-autoritäre ökonomische und politische System kennzeichnen. Logischerweise bezieht sich damit die Forderung nach einer radikalen Reform grundsätzlich auf jede Gesellschaft, in der dieser Systemtypus herrscht. Es ist deswegen nicht anzunehmen, daß Gorbatschow auf Dauer eine Konservierung der alten Verhältnisse in irgendeinem Land des „realen Sozialismus“ befürwortet. Dies bedeutet jedoch keineswegs, daß der sowjetische Generalsekretär gewillt wäre, gegenüber den übrigen KP-Führungen das ohnehin schwere Ringen um die Reform in seiner Heimat durch intensive Bemühungen um eine Einflußnahme auf die Bruderparteien zusätzlich zu komplizieren — ganz abgesehen von der sicherlich begrenzten Durchsetzungsmacht, die die Sowjetunion gegenüber den übrigen KP-Führungen gegenwärtig besitzt. Mag die Haltung Kadärs dem sowjetischen Parteiführer eher zusagen als die Position Honeckers oder gar Ceaujescus — außenpolitische Loyalität, ökonomische Stabilität und eine politisch halbwegs „ruhige“ Lage, die das Bild von der DDR in der sowjetischen Führung bestimmt, dürften zumindest kurzfristig für Gorbatschow wichtiger sein als ein radikaler Reformkurs.
In der SSR war noch Ende 1986 eine bemerkenswert vorsichtige und reservierte Haltung gegenüber der sowjetischen Reformdiskussion zu beobachten.
Erst kurz vor dem Besuch des sowjetischen Generalsekretärs im März 1987 änderte sich der Ton, mit dem in den tschechoslowakischen Parteigremien und Massenmedien die Umgestaltungsdebatte apostrophiert wurde. Die parteioffizielle Phraseologie ähnelte nunmehr auffallend den von Gorbatschow verwendeten Äußerungen und Formulierungen.
Wenn verschiedene Anzeichen nicht trügen — so etwa spontane positive Reaktionen der Bevölkerung, als sich der sowjetische Politiker unter die Prager Einwohner mischte —, dann änderte sich kaum etwas am Mißtrauen der meisten Bürger gegenüber der eigenen Führung; von der neuen Generation sowjetischer Politiker erwartete man dagegen im Frühjahr 1987 Druck auf Veränderungen im eigenen Land. Mittlerweile scheinen derartige Erwartungen nur noch in geringerem Maß vorhanden zu sein.
Die tschechoslowakischen Politiker der „Anti-Duböek-Generation“
geben bisher wenig Anlaß zu der Annahme, daß es ihnen darum geht, die herrschenden Verhältnisse radikal umzugestalten. Dies gilt insbesondere für den politischen und den kulturellen Bereich. Schwieriger sind die Diskussionen zur „Umgestaltung des Wirtschaftsmechanismus“ zu . beurteilen, die in Expertengremien geführt werden.
Die in diesem Beitrag ausführlich dargestellten Systemmängel der Planwirtschaft sind Teilen der politischen Führung letztlich doch bewußt geworden.
Nicht nur oppositionelle Nationalökonomen, die seit den Säuberungen der Jahre 1969/70 ihre kritischen Auffassungen überhaupt nicht oder nur noch sporadisch publizieren können, sondern auch andere tschechoslowakische Wirtschaftswissenschaftler plädieren mitunter für weitreichende, zum Teil auch marktwirtschaftlich orientierte Lösungen.
Mittlerweile arbeitet eine von der Regierung berufene Expertengruppe an einem Maßnahmenpaket, das bis Ende dieses Jahres fertiggestellt werden soll Die entsprechenden Regelungen sollen bei der Vorbereitung des neuen Fünfjahrplans für den Zeitraum von 1991 bis 1995 berücksichtigt werden.
Die beiden Dokumente zur „Umgestaltung“
sowie veröffentlichte Stellungnahmen von Mitgliedern der Expertengruppe deuten darauf hin, daß sich eine stärkere Abkehr vom traditionellen, imperativen Planzentralismus zunehmend durchzuset-zen scheint. Viele Formulierungen klingen allerdings widersprüchlich und inkonsistent; die bisherigen Veröffentlichungen enthalten Überbleibsel ansonsten überholter Denkmuster. Meist ist nicht von marktwirtschaftlichen Lenkungsformen, sondern von verstärkten „Ware-Geld-Beziehungen“ die Rede. Dies kann zweierlei bedeuten. Entweder plädieren die Autoren für eine marktorientierte Reform, halten es aber nicht für opportun, vom Marktmechanismus zu sprechen, da diese im Prager Frühling verwendete Bezeichnung den Vorwurf hervorrufen könnte, man wolle den damaligen Konzepten und deren Urhebern — allen voran Ota ik — nachträglich Recht geben. Oder es wird doch ein konzeptioneller Gegensatz zum Ausdruck gebracht: „Ware“ und „Geld“ sind dann wie in der DDR Kategorien, mit deren Hilfe die verbindlichen Plankennziffern effektiver erfüllt werden sollen als zuvor. In diesem Fall würden die Grundprinzipien des zentralistisch-imperativen Planungssystems nicht in Frage gestellt.
Es ist nicht auszuschließen, daß das vorbereitete Reformpaket einige, vielleicht sogar wesentliche
Elemente enthalten wird, die der ungarischen marktwirtschaftlich konzipierten Systemreform ähneln. Wie konsequent auch immer die Abkehr vom administrativen Planzentralismus der traditionellen realsozialistischen Provenienz sein wird — die beiden folgenden Fragen, mit denen Ungarn gegenwärtig konfrontiert ist, werden sich auch in der Tschechoslowakei stellen: — Kann eine Wirtschaftsreform ohne die Preisgabe ideologischer Tabus — etwa der Unvereinbarkeit von Sozialismus und Privateigentum oder der Unzulässigkeit von Kapitalmärkten — die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen? — Wie weit können, ja müßten politische Reformen gehen, wenn der Erfolg der Wirtschaftsreform nicht gefährdet werden soll?
Die Antwort auf diese Fragen wird auch über den künftigen Erfolg der tschechoslowakischen Wirtschaftspolitik und über Umfang und Ausmaß einer ökonomischen und politischen Umgestaltung des Landes mitentscheiden.
Heinrich Georg (Jifi) Kosta, Dr. rer. pol., geb. 1921 in Prag; 1962— 1968 Mitarbeiter des Ökonomischen Instituts der Akademie der Wissenschaften, Prag; von 1971 bis zur Emeritierung am 1. April 1987 Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere sozialistische Wirtschaftssysteme, an der Universität Frankfurt a. M. Veröffentlichungen u. a.: Sozialistische Planwirtschaft. Theorie und Praxis, Opladen 1974; Abriß der sozialökonomischen Entwicklung der Tschechoslowakei, Frankfurt 1978; (zus. mit J. Meyer) Volksrepublik China. Ökonomisches System und wirtschaftliche Entwicklung, Frankfurt-Köln 1976; (Hrsg. zus. mit J. Huber) Wirtschaftsdemokratie in der Diskussion, Köln-Frankfurt 1978; Wirtschaftssysteme des realen Sozialismus, Köln 1984; (zus. mit P. Gey und W. Quaisser) Sozialismus und Industrialisierung, Frankfurt 1985.
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