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Zur Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips in der Demokratie | APuZ 42/1987 | bpb.de

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APuZ 42/1987 Artikel 1 Zur Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips in der Demokratie Politik und Sachverstand Zur Freiheit parlamentarischer Entscheidung in der wissenschaftlichen Zivilisation Mehr direkte Demokratie? Volksbegehren und Volksentscheid im internationalen Vergleich

Zur Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips in der Demokratie

Reinhold Zippelius

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die vergangenen Jahre brachten eine Welle demonstrativer Protestbewegungen gegen demokratisch beschlossene Gesetze und demokratisch legitimierte Verwaltungsmaßnahmen. Im Zusammenhang damit erhob sich erneut die Frage nach der Rechtfertigung demokratischer Mehrheitsentscheidungen. Dies geschah vor allem durch gehäufte Inanspruchnahme eines Widerstandsrechts — auch in der gemäßigten Form des „zivilen Ungehorsams“. Es wurde in Frage gestellt, daß Mehrheitsentscheidungen, die unmittelbar oder mittelbar durch institutionell ermittelte Mehrheiten legitimiert sind, auch dort noch die einzelnen bänden, wo es um Existenzfragen der Nation oder auch der einzelnen geht. Vor diesem Hintergrund werden zunächst die klassischen Versuche diskutiert, mit denen man das Mehrheitsprinzip zu rechtfertigen suchte, nämlich durch die Argumente. — daß die Mehrheit am ehesten zu einer vernünftigen Entscheidung gelange. — daß es der Stabilität einer Gemeinschaft diene, wenn diese der jeweils stärkeren Kraft, nämlich der Mehrheit, folge, — daß das Mehrheitsprinzip dem Ideal einer Selbstbestimmung aller so nahe komme, wie es die Realitäten erlauben, indem es der größtmöglichen Zahl eine größtmögliche Mitbestimmung biete. Zu untersuchen sind aber auch die Risiken des Mehrheitsprinzips und im Zusammenhang damit die Freiheitssicherungen gegen die Mehrheit und die Sicherungen gegen die Unvernunft und Manipulierbarkeit von Mehrheitsentscheidungen. Schließlich wird noch aufdie Frage eingegangen, welche Möglichkeiten eine Demokratie legitimerweise für solche Fälle offenhalten müsse. — in denen Minderheiten in sogenannten „Existenzfragen“ die mehrheitlich legitimierten Entscheidungen ablehnen oder — in denen einzelne von Grund auf das vorhandene politische System nicht akzeptieren.

I. Einleitende Bemerkungen

Die Geschichte ist erfindungsreich und verleiht oft alten, scheinbar ausdiskutierten Themen neue Aktualität. Die vergangenen Jahre brachten eine Welle demonstrativer Protestbewegungen gegen demokratisch beschlossene Gesetze und demokratisch legitimierte Verwaltungsmaßnahmen. Im Zusammenhang damit erhob sich erneut die Frage nach der Rechtfertigung demokratischer Mehrheitsentscheidungen. Dies geschah vor allem durch gehäufte Inanspruchnahmen eines Widerstands-rechts — auch in der gemäßigten Form des „zivilen Ungehorsams“, gerichtet gegen Gesetze und Maßnahmen, die durch die institutionell ermittelte Mehrheit der Bürger beschlossen oder mittelbar legitimiert waren. Sollen, so lautete hier die Frage, Mehrheitsentscheidungen auch dort noch die einzelnen binden, wo es um Existenzfragen der Nation oder auch der einzelnen geht, etwa dann, wenn umstritten ist, ob Mehrheitsentscheidungen eine politische Gemeinschaft einem Krieg näherbringen oder die Umweltzerstörung vorantreiben?

Die folgenden Überlegungen gelten nur der Frage, ob und mit welchen Argumenten die rechtliche Letztentscheidungskompetenz der Mehrheit des Staatsvolks zu rechtfertigen ist. Sie gelten insbesondere nicht bloßen Fragen politischer Klugheit. Zu dieser Unterscheidung sei hier nur soviel bemerkt: Auch wenn man unterstellt, daß die Mehrheit die Kompetenz haben solle, die rechtsverbindlichen Entscheidungen in einer Gemeinschaft zu treffen, kann politische Klugheit es dieser Mehrheit nahelegen, von ihrer Entscheidungskompetenz einen zurückhaltenden Gebrauch zu machen und auf Wünsche der Minderheit Rücksicht zu nehmen. Hängt doch die Stabilität und Effektivität einer Rechts-und Verfassungsordnung auf Dauer auch von ihrer Akzeptanz ab, d. h. davon, daß die unter ihr Lebenden — einschließlich der relevanten Minderheiten — bereit sind, sie auch ohne allgegenwärtigen Zwang zu befolgen, weil sie sich als annehmbare Ordnung darstellt. Fehlende Akzeptanz destabilisiert das politische System; und zwar sind die destabilisierenden Kräfte um so stärker, je größer, je dauerhafter und je engagierter die Gruppen sind, die sich weigern, die Entscheidungen der politischen Gemeinschaft anzunehmen. Schon aus Gründen der Staatsräson sollten diese Faktoren also so klein wie möglich gehalten werden.

Die Frage, ob und aus welchen Gründen der Mehrheit die Kompetenz zustehen sollte, rechtsverbindlich über Interessen-und Meinungskonflikte zu entscheiden, wird durch diese Überlegungen aber weder beantwortet noch überflüssig, und zwar für alle die Fälle nicht, in denen die Suche nach einem Kompromiß an Grenzen stößt, eine Entscheidung aber nicht zu umgehen ist: etwa dann, wenn darüber gestritten wird, welches die geeignetsten Mittel seien, um Frieden und Freiheit zu sichern.

II. Das Argument der Vernünftigkeit

Ein alter Versuch, das Mehrheitsprinzip zu rechtfertigen, liegt in der Erwartung, daß die Mehrheit am ehesten zu einer richtigen, vernünftigen Entscheidung gelange. Dies kann aber verständlicherweise nicht besagen, daß die jeweilige, möglicherweise sehr dünne Mehrheit gegenüber der jeweiligen Minderheit einen Vorsprung an Vernünftigkeit besäße. Das wäre mit der Konzeption der Demokratie unvereinbar, die darauf angelegt ist, daß die Minderheit von heute und ihre Meinungen die Chance haben, zur Mehrheit und Mehrheitsmeinung von morgen zu werden, was offensichtlich nicht heißen kann, daß Unvernunft zur Vernunft würde. Nicht eine vorübergehende Zufallsmehrheit Derfolgende Text stellte eine — auch in den Literaturhinweiscn — stark gekürzte Fassung der gleichnamigen Schrift dar, die als Publikation der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz Ende des Jahres erscheint. kann also die definitive Gewähr für die größere Vernünftigkeit einer umstrittenen konkreten Entscheidung bieten. Erhofft werden kann aber, daß der common sense, der in der Vielzahl der Menschen gesammelt ist, langfristig und aufs große Ganze gesehen, am ehesten zu vernünftigen Lösungen gelangt, vorausgesetzt, daß die Ansichten der Mehrheit sich in einem offenen Austausch der Argumente bilden; darin steckt auch das Vertrauen, daß dort, wo viele an der Meinungsbildung mitwirken, eine Vielzahl von Gesichtspunkten zur Sprache kommen kann, daß Irrtümer aufgedeckt und berichtigt und daß extreme Standpunkte korrigiert werden können. Nicht die jeweilige Zufallsmehrheit wäre, so betrachtet, Bürge der Vernünftigkeit, sondern der Prozeß einer offenen Bildung der öffentlichen Meinung, an der möglichst viele beteiligt sein sollen. In Begriffen unserer Tage könnte man dies so ausdrücken, daß die Probleme des Staates in einem Prozeß von „trial and error“ zu lösen seien, an dem alle teilhaben können und sollen und dessen — revidierbare — Entscheidungen vom Konsens der Mehrheit getragen würden. Mit diesen Vorbehalten mag dann der Satz des Aristoteles stehen-bleiben: die Menge könne vieles besser beurteilen als einer allein In diesem Sinne können insbesondere die Gedanken des Marsilius von Padua interpretiert und weitergedacht werden, wenn dieser schrieb: Alle oder die meisten hätten gesunden Menschenverstand, Vernunft und das richtige Streben nach dem, was für den Bestand des Staates notwendig sei Wenn das Volk nicht minderwertig sei, werde zwar jeder aus ihm ein schlechterer Richter sein als die Sachkundigen. Doch würden diese gemeinsam mit dem Volke besser oder wenigstens nicht schlechter urteilen als allein

Freilich bleiben manche Zweifel an der Vernunft-gläubigkeit: Erstens haben die einzelnen sehr unterschiedliche individuelle Zielvorstellungen und Wertungen, und es erscheint unmöglich, diese Unterschiede durch Vernunftgründe restlos auszuräumen, selbst dann, wenn jeder Gerechtigkeit erstreben würde. Zweitens stellt sich die Frage, ob die Mehrzahl der Menschen sich überhaupt vorwiegend vom Streben nach Vernunft und Gerechtigkeit leiten läßt oder eher vom Eigeninteresse. Strebt also die öffentliche Auseinandersetzung stärker zu einem gerechten Interessenausgleich oder eher dahin, den größtmöglichen Vorteil der meisten zu suchen, und zwar auch auf Kosten von Minderheiten? Ist eine Volksmenge vielleicht sogar weitgehend unfähig, ihre wahren Interessen zu erkennen? Zweifel daran, ob eine gerechte und vernünftige Gemeinschaftsordnung sich unvermittelt auf demokratische Mehrheitsentscheidungen gründen lasse, werden nicht zuletzt auch durch die Manipulierbarkeit und demagogische Verführbarkeit der Menschenmassen geweckt.

So ist die Reihe derer, die die Vernünftigkeit und Gerechtigkeit der Mehrheit bezweifelt haben, lang und ehrwürdig. Sie reicht, um nur einige Namen zu nennen, von Platon über Bodin, Goethe, Schiller und Tocqueville bis in unsere Tage In der Skepsis Goethes gegen die Kompetenz der Mehrheitsmeinung sammelte sich unbestreitbare Lebenserfahrung: „Nichts ist widerwärtiger als die Majorität; denn sie besteht aus wenigen kräftigen Vorgängern, aus Schelmen, die sich akkomodieren, aus Schwachen, die sich assimilieren, und der Masse, die nachtrollt, ohne nur im mindesten zu wissen, was sie will.“

III. Argumente aus der Idee des Konsenses

Es ist also nach zusätzlichen Argumenten zu suchen, die die Diskussion um das Mehrheitsprinzip weiterführen können. Grundlegende Argumente hat John Locke aus der Idee des Gesellschaftsvertrages gewonnen. Die Hauptgedanken dieser Idee waren: Die Gemeinschaftsordnung auf die Übereinstimmung der Mehrheit zu gründen, diene der Stabilität der Gemeinschaft und entspreche der ursprünglichen Freiheit und Gleichheit der Menschen.

Auch für Locke stellte die Gewährleistung von Rechtsfrieden und Rechtssicherheit eine wesentliche, wenn auch nicht die einzige Rechtfertigung einer Gemeinschaftsordnung dar. Insofern hielt er sich durchaus in der Linie der Hobbesschen Staatslehre. Funktionsfähig und stabil, meinte Locke, sei eine Gemeinschaft aber nur dann, wenn sie der jeweils stärkeren Kraft folge, und dies sei eben die Mehrheit: „Denn da eine Gemeinschaft allein durch die Zustimmung ihrer einzelnen Individuen zu handeln vermag und sich ein einziger Körper auch nur in einer einzigen Richtung bewegen kann, so muß sich notwendigerweise der Körper dahin bewegen, wohin die stärkere Kraft ihn treibt. Und eben das ist die Übereinstimmung der Mehrheit.“ Darum sei der einzelne durch seine Zustimmung zum Gesellschaftsvertrag „verpflichtet, sich der Mehrheit zu unterwerfen“ Freilich entsteht hier die Frage, ob die stärkste Kraft immer die Mehrheit sein müsse. Gibt es doch auch sehr stabile Despotien, die Ordnung und Frieden gewährleisten, ohne auf der Grundlage demokratischer Mehrheitsbeschlüsse zu handeln. Dem kann man entgegenhalten, daß zum mindesten auf längere Sicht die Stabilität und damit auch die Befriedungs-und Ordnungsfunktion eines politischen Systems nicht zuletzt auf dessen breite Akzeptanz gegründet seien; daß man, wie das Sprichwort sagt, nicht dauernd auf Bajonetten sitzen könne; die Wahrscheinlichkeit dafür, daß eine staatliche Ordnung akzeptiert werde, sei aber dort am größten, wo die Mehrheit herrsche Kann aber, so läßt sich weiterfragen, Akzeptanz nicht auch von Machthabern gelenkt und manipuliert werden? Wir brauchen jedoch diese Frage hier nicht zu vertiefen; denn eines steht jedenfalls fest: Die ordnungstiftende Kraft und Funktionsfähigkeit eines Systems, die selbst einem Konzentrationslagerregime zukommt, reicht für sich allein nicht schon zu dessen Rechtfertigung aus.

Dies hat bereits Locke gesehen. Nach dem Vertragsgedanken sollte die politische Ordnung zusätzlich gegründet sein auf die Freiheit und Gleichheit aller und auf die „Übereinkunft mit anderen, sich zusammenzuschließen und in einer Gemeinschaft zu vereinigen“ In einer auf freiwilligen Zusammenschluß freier und gleicher Menschen gegründeten Gesellschaft könne niemand Gewalt haben, dieser Gesellschaft Gesetze zu geben, „als durch ihre eigene Zustimmung und eine von ihr empfangene Ermächtigung“ Aber dieser Vertragsgedanke läßt sich nicht rigoros verwirklichen: Schon faktisch könnten nicht alle an allen Beschlüssen mitwirken; auch stünden Unterschiede der Meinungen und Interessen einer Einstimmigkeit zumeist entgegen. Eine Gemeinschaft wäre daher höchst instabil und könnte ihrer Ordnungsfunktion nicht genügen, wenn jedermanns Zustimmung zu jeder konkreten Entscheidung erforderlich wäre. Eine Verfassung, die Einstimmigkeit verlangte, hielte daher den Leviathan nicht lange am Leben diese Feststellung erfuhr eine historische Bekräftigung durch die destruktive Wirkung, die schon das liberum veto im polnischen Reichstag hatte. Kurz, die politische Wirklichkeit der Volksherrschaft muß hinter dem Leitbild des restlosen, auf alle Gegenstände zu erstreckenden Konsenses Zurückbleiben.

Wie läßt sich also das Vertrags-oder Konsensprinzip mit dem Erfordernis der Funktionsfähigkeit vereinbaren? Die Antwort lautet: Man kann grundsätzlich mit dem politischen System, in dem man lebt, einverstanden sein, ohne darum jeder einzelnen Entscheidung dieses Systems zuzustimmen. Rechtfertigende Grundlage für die Bindung des einzelnen ist dann das grundsätzliche Einverständnis mit dem politischen System und dessen Spielregeln, nicht seine Zustimmung zu jeder konkreten Einzelentscheidung, die innerhalb dieses Systems nach dessen Spielregeln getroffen wird. Schlüssig ist diese Gesamtkonzeption aber nur dann, wenn es in der Entscheidung jedes einzelnen steht, ob er diesem politischen Gemeinwesen grundsätzlich angehören will oder nicht. Welche Folgerungen sich hieraus ergeben, wird später zu zeigen sein.

IV. Insbesondere das Argument der gleichberechtigten Entscheidungskompetenz aller

Einer weiteren Untersuchung bedarf auch die Frage, worin das Konsensprinzip seine rechtfertigende Grundlage finde. Auf den Gedanken, daß alle Bürger eine gleichberechtigte Mitwirkungskompetenz in der politischen Gemeinschaft haben sollten, führte nicht nur die schon erwähnte natur-* rechtliche Idee einer angeborenen Freiheit und Gleichheit. Zum gleichen Ergebnis gelangte man auch, wenn man die Frage stellte, wer überhaupt moralisch kompetent sein könne, die Maßstäbe einer gerechten Ordnung menschlichen Zusammenlebens festzustellen. Gäbe es „heteronome“ Kriterien der Gerechtigkeit und richtigen politischen Handelns und könnten erlesene Köpfe besser als andere erkennen, was gerecht und vernünftig sei, so könnten sie auch berechtigt sein, hierüber verbindlich für alle zu entscheiden. Wäre hingegen die höhere Sachkompetenz irgendwelcher Autoritäten nicht zu erweisen, so müßte die Einsicht eines jeden für gleichberechtigt gelten. Man stößt also auf die alte Frage, ob das Gewissen jedes einzelnen die schlechthin letzte Instanz sei, zu der unser Bemühen um ethische Einsichten, auch um die gerechte Ordnung der mitmenschlichen Beziehungen, vordringen kann.

Eine frühe Vorstellung dieser Art fand sich bereits in der Lehre der Sophisten, daß „jeder einzelne Mensch für sich das Maß aller Dinge“ sei. „Das Schöne und Schlechte, das Gerechte und Ungerechte, das Fromme und Frevelhafte, was in diesen Dingen ein Staat für eine Meinung faßt und dann als gesetzmäßig feststellt, das ist es nun auch für jeden in Wahrheit; und in diesen Dingen ist nicht der eine weiser als der andere.“ Nichts sei also schon von Natur aus recht oder unrecht; „sondern, was gemeinsam vorgestellt werde, das werde immer dann wahr, wenn es dafür gehalten wird, und solange wie es dafür gehalten wird“ Hier finden wir also eine Ausprägung des Gedankens, daß die Gemeinschaftsordnung auf den Konsens zu gründen sei und daß dieser seine Quelle in den Vorstellungen der einzelnen habe. Wo aber nicht alle übereinstimmen, muß dieser Gedanke dahin führen, die notwendigen Regeln des Gemeinschaftslebensfaute de mieux auf den breitestmöglichen Konsens zu gründen.

In anderer philosophischer Perspektive führte später die Moralphilosophie Kants dazu, die Erkenntnisquelle praktischer Grundsätze in den einzelnen selbst zu suchen. Diese Philosophie entstand in einer geistesgeschichtlichen Lage, in der die Ausweitung interkultureller Berührungen die Vielfalt möglicher Weltanschauungen und Moralen vor Augen führte, in der aber auch religiöse Bürgerkriege den Glauben an eine autoritativ vorgegebene Weltanschauung und Moral erschüttert hatten. Im Streit der Konfessionen und Moralen mußte das, was der einzelne selbst nach seinem Vemunftgebrauch für gut und richtig erkennt, als letzte Grundlage gelten, zu der unser Bemühen um religiöse und moralische Einsicht vordringen kann. Kurz, das Gewissen jedes einzelnen — nämlich „die dem Menschen . . .seine Pflicht . . . vorhaltende praktische Vernunft“ — erschien jetzt als letzte uns zugängliche moralische Instanz. Das bedeutete zugleich, daß jeder eine dem anderen gleichzuachtende moralische Instanz ist, daß also jeder eine gleichberechtigte Beurteilungskompetenz und sittliche Würde hat und daß die sittlichen Bestimmungsgründe des Handelns keine heteronome Grundlage haben. Übertrug man diese Vorstellung aus dem Bereich der Individualmoral in den Bereich des rechtlich geordneten Zusammenlebens, so mußte sie zu dem Anspruch führen, daß alle in gleichberechtigter moralischer Kompetenz auch über die öffentlichen Angelegenheiten, insbesondere über die Fragen des Rechts und der Gerechtigkeit, mitzureden und mitzuentscheiden haben. Der schon ältere Gedanke, daß die politische Ordnung auf die Freiheit und Gleichheit aller gegründet sei, und die Vorstellung Rousseaus, daß auch in politischen Gemeinschaften jeder nur sich selbst gehorchen solle stellen sich so zugleich als die politische Kehrseite der Moral-philosophie Kants dar.

Dem Idealbild der sittlichen Autonomie und Vernünftigkeit entspräche es hierbei, durch vernünftige Auseinandersetzung zu einem ausnahmslosen Konsens zu gelangen. Kant war allerdings realistisch genug, dies nur als Leitbild, als „regulative Idee“ zu nehmen Auf den von Habermas beschworenen vernünftigen Diskurs, auf den „herrschaftsfreien Dialog aller mit allen“, auf den „eigentümlich zwangslosen Zwang des besseren Arguments“ allein läßt sich eine Gemeinschaftsordnung nicht gründen. Dies hat mehrere Ursachen: Selbst wenn alle Beteiligten sich nur von ihrem Gewissen leiten ließen, würden in Fragen der richtigen Gesellschaftsordnung die individuellen Überzeugungen oft auseinandergehen, so etwa in Fragen des Schwangerschaftsabbruchs oder der Sterbehilfe. Hinzu kommt, daß vernünftige Argumentation die Probleme der Sozialordnung nie vollständig in aller Breite ausdiskutieren könnte, weil die soziale Wirklichkeit unendlich komplex ist und ihre Probleme unerschöpflich sind. Eine Gemeinschaftsordnung kann auch schon deshalb nicht bloß auf die Überzeugungskraft vernünftiger Argumente gegründet werden, weil diese oft nicht ausreicht, die bessere Einsicht auch zur Wirkung zu bringen und sie gegen handfeste Interessen oder Voreingenommenheiten durchzusetzen.

Den erreichbaren Kompromiß zwischen dem Konsensgedanken und dem Bedürfnis nach friedenstiftender verbindlicher Entscheidung glaubt man im Mehrheitsprinzip gefunden zu haben: Indem man der größtmöglichen Zahl eine größtmögliche Mitbestimmung bietet, kommt man dem Ideal einer Selbstbestimmung aller so nahe, wie es die Realitäten erlauben. Die so gefundenen Entscheidungen sichern den Rechtsfrieden und ein geordnetes Zusammenleben nur dann, wenn sie für alle, auch für die Minderheit, verbindlich sind. Meinungsverschiedenheiten, gerade auch über Gerechtigkeitsfragen und politische Zielentscheidungen, nicht selten auch über zugrundeliegende Weltanschauungen bergen ein beträchtliches Konfliktpotential, das den Rechtsfrieden gefährdet und nicht selten zu Bürgerkriegen oder bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen führt.

Die Freiheit bleibt jedoch unter der Herrschaft des demokratischen Mehrheitsprinzips nicht ungeschmälert: Weil die Mehrheit verbindlich entscheiden muß, muß die überstimmte Minderheit notgedrungen ihren Preis an individueller Selbstbestimmung bezahlen. Dies zu bestreiten, wäre ebenso unrealistisch wie unredlich. Es gibt Ideologien, die diese unvermeidliche Einbuße an individueller Freiheit leugnen wollen. Die bekannteste von ihnen ist die Lehre Rousseaus, nach dessen Staatsvorstellung der Gemeinwille das gemeinsame Interesse aller repräsentiere. Wer gegen den durch die Mehrheit ermittelten Gemeinwillen gestimmt habe, habe sich geirrt und werde durch die Gesamtheit nur dazu „gezwungen, frei zu sein“ Alle Tyranneien, die sich auf das uneingeschränkte Recht eines völkischen Gemeinwillens gründen, sind Erben dieses unklaren Gedankens.

Nur wenn man das unvermeidliche Opfer an Freiheit, das die Gemeinschaft erfordert, ohne Beschönigung in den Blick treten läßt, wird man auch bestrebt sein, dieses Opfer in Grenzen zu halten, insbesondere Mindestpositionen der Freiheit durch Grundrechte zu gewährleisten und Einschränkungen der Freiheit nach den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbotes zu begrenzen. So las man bereits im Federalist: „In einer Republik ist es von großer Wichtigkeit, nicht nur die Gemeinschaft gegen die Unterdrückung ihrer Regierung zu schützen, sondern auch einen Teil der Gemeinschaft gegen die Ungerechtigkeiten des anderen Teiles zu sichern.“

V. Freiheitssicherungen gegen die Mehrheit

Die zu lösende Aufgabe lautet also: Es sind Mindestpositionen individueller Freiheit zu sichern, ohne damit die Gemeinschaftsordnung zu gefährden; sie würde aber gefährdet, wenn den einzelnen ein jederzeit aktualisierbares „Souveränitätsrecht“ gegenüber der Mehrheit zustünde, wie dies verschiedentlich behauptet wurde.

Um den Rechtsfrieden und die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft nach den Regeln der Demokratie und damit des Mehrheitsprinzips zu erhalten, ist es also zwar nötig, daß einzelne oder Minderheiten sich nicht aus eigener Kompetenz über die mehrheitlich beschlossene Gemeinschaftsordnung hinwegsetzen dürfen. Jedoch bleibt es mit der Ordnungsfunktion der demokratischen Gemeinschaft vereinbar, daß, nach den Festsetzungen der Mehrheit selbst, Mindestpositionen der einzelnen definiert und für unantastbar erklärt werden. Dies geschieht insbesondere in Gestalt verfassungsrechtlicher Grundrechtsgarantien.

Die Legitimität von Mehrheitsentscheidungen findet aber noch eine grundsätzlichere Grenze: Das demokratische Mehrheitsprinzip gründet sich auf den Gedanken, daß jeder eine dem anderen gleichzuachtende moralische Instanz sei; wenn dies zutrifft, dann dürfen Mehrheitsentscheidungen legitimerweise nicht diese fundamentale Prämisse, auf der sie selbst beruhen, aufheben. Dies bedeutet, daß Mehrheitsentscheidungen prinzipiell begrenzt sind durch das Gebot, die Menschenwürde und die mit ihr verbundene fortdauernde, gleichberechtigte Mitwirkungskompetenz eines jeden zu achten und zu erhalten. Folgerichtigerweise erklärt daher das Bonner Grundgesetz Demokratie und Menschenwürde, die wie zwei Seiten einer Münze zusammengehören, zu schlechthin unantastbaren Grundlagen des Verfassungssystems und entrückt sie jeder Mehrheitsentscheidung (Art. 79 Abs. 3 GG).

VI. Sicherungen gegen die Unvernunft und Manipulierbarkeit der Mehrheitsentscheidungen

Nicht nur gegen die Tyrannei der Mehrheit hat man sich gewandt und gegen sie Freiheitssiche-rungen errichtet. Auch die Unvernunft und Mani-pulierbarkeit der Mehrheitsentscheidungen ist ein zu diskutierendes Faktum. Diesem Thema kann man eine prinzipielle und eine gemäßigte Fassung geben.

Die prinzipielle Fassung würde auf eine schon behandelte Frage zurückführen und besagen: Die Menschen hätten grundsätzlich eine ungleiche Einsichtsfähigkeit in praktischen Fragen; diese sei mit einem gleichen Mitbestimmungsrecht nicht vereinbar. Dieser Einwand bleibt indessen die Antwort schuldig auf die entscheidende Frage, an welchen jenseits des persönlichen Gewissens liegenden Kriterien sich messen ließe, wessen praktische Einsichten und Entscheidungen die besseren und gerechteren wären.

Der Vorbehalt gegen die „Unvernunft der Menge“ kann aber auch in gemäßigter Fassung erscheinen. Hier würde nicht bestritten, daß das Gewissen jedes einzelnen die letzte Instanz bleibt, zu der das Bemühen um praktische Einsichten vordringen kann. Wohl aber wird erstens davon ausgegangen, daß die einzelnen sich in ihrem Handeln und Entscheiden faktisch nicht stets nach ihrem Gewissen, sondern oft nach ihren Interessen richten, zweitens davon, daß die Ansichten der einzelnen auch durch Gründe „aufgeklärt“, reflektiert und der Vernünftigkeit nähergebracht werden können. Im einzelnen folgt daraus:

Es ist notwendig, den Mängeln vordergründiger Mehrheitsentscheidungen abzuhelfen, insbesondere der Gefahr vorzubeugen, daß demokratische Entscheidungen an bloßen Privatinteressen, manipulierten Meinungen und Tagesstimmungen ausgerichtet werden. Zu diesem Zweck müssen die demokratischen Entscheidungen „abgeklärt“ werden, d. h., das demokratische Prinzip bedarf einer Ergänzung durch Institutionen und Grundsätze, die dazu dienen, die Entscheidungen der Vernünftigkeit näherzubringen: Hierzu müssen diese Entscheidungen nach rechtsstaatlichen „Spielregeln“ und Grundsätzen gefunden werden, und zwar durch Institutionen, die möglichst unparteiisch entscheiden und deren Rollen so verteilt sind, daß sie sich gegenseitig kontrollieren. Ein in solcher Weise institutionalisierter Verfassungsprozeß entfernt sich notgedrungen von dem Ideal der identitären Demokratie, daß alle staatlichen Entscheidungen vom Willen der Bürgermehrheit getragen sein sollten, überläßt dieser aber die Pauschalabrechnung am Ende der Legislaturperiode.

Wichtige Grundsätze vernünftiger Entscheidungsfindung pflegen schon in den rechtsstaatlichen Verfassungen niedergelegt zu sein. Schon dadurch, daß solche Verfassungen in Distanz zu den politischen Tagesquerelen mit dem Willen zum Grundsätzlichen beraten und ausgearbeitet werden und daß in dieser Absicht Grundfreiheiten, Gewaltenbalancen und rechtsstaatliche Verfahrensprinzipien festgelegt werden, wird ein wichtiger Faktor der Vernünftigkeit in den politischen Prozeß eingeführt.

Zu den rechtsstaatlichen Verfassungsgrundsätzen pflegt insbesondere das Prinzip zu gehören, daß staatliches Handeln sich nach dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit, also nach generellen Regeln zu vollziehen habe. Auf diese Weise verwirklicht sich der Gedanke Kants, daß Entscheidungsmaximen jedenfalls nur dann richtig sein können, wenn sie verallgemeinerungsfähig sind. Zugleich kommt in wichtigen Hinsichten hierdurch der Grundsatz der Gleichbehandlung zur Geltung.

Zudem ist es eine verfassungsrechtliche Spielregel der pluralistischen Demokratie, daß über die in der Gesellschaft zu findenden Kompromisse eine offene und womöglich von Vernunftgründen geleitete Auseinandersetzung stattzufinden hat: In freiem, offenen Wettbewerb zwischen den sich begegnenden sozialen Kräften, Interessen und Meinungen sollen sich die Ziele der Gemeinschaft klären und wandeln. In diesen Auseinandersetzungen soll ein optimaler und gerechter Kompromiß, auch unter Einbeziehung der Interessen und Meinungen der Minderheiten, angestrebt werden. Rechtsstaatliche Sicherungen offener Auseinandersetzungen und öffentlicher Kontrollen liegen insbesondere in der Gewährleistung von Meinungs-, Versammlungsund Vereinigungsfreiheit, aber auch in der Gewährleistung der Öffentlichkeit parlamentarischer und gerichtlicher Verhandlungen und überhaupt im Publizitätsgebot für staatliches Handeln. Dadurch wird insbesondere sichergestellt, daß einmal getroffene Entscheidungen kritisiert und einer Korrektur zugänglich gemacht werden können und daß das politische Geschehen insgesamt als ein offener Prozeß von „trial and error“ abläuft. Gerade der Verzicht auf den Wahrheitsanspruch der Mehrheitsentscheidungen und damit verbunden das Recht der politischen Minderheiten, solche Entscheidungen zu kritisieren und auf deren Änderung hinzuwirken (s. o. Kapitel V), erhöht die Akzeptanz der Mehrheitsentscheidungen auch für die Minderheiten, die ihnen nicht zugestimmt haben

Sodann verbessert vor allem das Repräsentativsystem die Rationalität und Kontrollierbarkeit der Entscheidungen und die Distanz gegenüber einem konkreten Interessenengagement. Schon eine institutionalisierte Gewaltenkontrolle setzt voraus, daß das Volk nicht als diffuse Masse handelt, sondern daß verschiedene Entscheidungsinstanzen ausgegliedert sind, die die Gesamtheit repräsentieren. Nur unter dieser Bedingung ist es technisch überhaupt möglich, ein System einer organisatorischen Gewaltenbalance und Gewaltenkontrolle aufzurichten. Nur unter dieser Bedingung können auch eine unabhängige Gerichtsbarkeit und eine mit Fachbeamten besetzte Bürokratie geschaffen werden, d. h. Einrichtungen, die in einer größtmöglichen Distanz zu den Interessen stehen, über die sie entscheiden. Durch diese Einrichtungen wird aber nicht nur „Rollendistanz“ erstrebt. Durch sie kann auch die ausgedehnte Sachkunde, mit der eine komplexe Industriegesellschaft zu verwalten und zu regieren ist, in geordneter Arbeitsteilung in die Staatstätigkeit eingeführt werden.

Wo die staatlichen Akte der Kontrolle von Gerichten unterliegen, wird auch hierdurch die Staatstätigkeit nachdrücklich in die Bahnen des Rechts und vor allem des verfassungsrechtlich Begründbaren und Haltbaren gelenkt; daher vollziehen sich die Auseinandersetzungen der Interessen und Meinungen zum Teil im Gewände rechtlicher Argumentationen, im übrigen in dem Rahmen und in den Spielräumen, die durch das Recht abgesteckt sind.

So bildet das Repräsentativsystem ein wichtiges Instrument, um darauf hinzuwirken, daß die Staatsgeschäfte in kontrollierter Weise geführt und daß mit Sachkunde und Sachlichkeit rechtliche und politische Konzeptionen gefunden werden, die sich über die Regungen und Torheiten des Augenblickes erheben. Hierdurch soll zugleich ein stabilisierender Faktor im Wandel der Tagesmeinungen geschaffen werden. Und nicht zuletzt soll eine staatsmännische Komponente in die Demokratie eingebracht werden.

Die Handlungen der vom Volk gewählten Repräsentativorgane und der von diesen geleiteten Staatsorgane bleiben aber an die ZustimmungsbÖreitschaft der Mehrheit des Volkes „rückgekoppelt“, solange ein Mehrparteiensystem besteht, das die ernsthafte Chance eines Parlaments-und Regierungswechsels einschließt. Diese Bindung an die Konsensbereitschaft der Mehrheit wirkt als sehr realer Zwang, besonders augenfällig bei den Regierungen und Parlamenten, die in fortwährender Auseinandersetzung mit der Opposition und mit der öffentlichen Meinung ihre Entscheidungen rechtfertigen müssen. Nur wenn sie auf diese Weise die Billigung der Mehrheit der Bevölkerung gewinnen, haben sie in einem Mehrparteiensystem die Chance, bei der folgenden Wahl ihre Entscheidungskompetenz erneuert zu erhalten. In der Zwischenzeit haben sie aber nicht nur die Möglichkeit, sondern sogar den staatsmännischen Auftrag, gegen irrationale und manipulierte Tagesstimmungen ihren besseren Sachverstand zur Geltung zu bringen, mit der Chance, bis zur nächsten Wahl die Mehrheit zu überzeugen, und mit dem Risiko, dies nicht zu vermögen. Auf diese Weise bleibt die Einsichtsfähigkeit und die Einsichtsbereitschaft der Mehrheit die letztgültige Abrechnungsgrundlage, aber mit Faktoren, die die Mehrheitsentscheidung kultivieren und der Vernünftigkeit näherbringen können.

Auch die rechtsstaatliche repräsentative Demokratie kann aber nicht gewährleisten, daß Gerechtigkeitsfragen ausschließlich auf der Grundlage des Rechtsgewissens der meisten und nicht auch auf der Grundlage persönlicher Interessiertheit oder manipulierter Anschauungen und Stimmungen entschieden werden. Zudem bringt das Repräsentativsystem seinerseits Machtstrukturen hervor, die in den Dienst einseitiger Interessen gestellt werden können Im ganzen überwiegt jedoch die Chance, daß im gewaltenteiligen Rechtsstaat ein ausgewogener, vernünftiger Interessenausgleich immerhin gefördert, der Anteil unsachlicher Einflüsse beträchtlich vermindert und die Entscheidungen dem Rechtsempfinden der Mehrheit soweit angenähert’ werden, wie dies unter den Bedingungen menschlicher Unzulänglichkeit möglich ist.

Dieses Konzept einer repräsentativen Demokratie beinhaltet eine Absage an alle selbsternannten Besserwissenden, die in Anspruch nehmen, als eine Gegenautorität Entscheidungen in Frage zu stellen, die nach den Regeln der demokratischen Repräsentation getroffen sind. Wer in Anspruch nimmt, den wahren Willen und das bessere Ich des Volkes zu repräsentieren, muß den Beweis hierfür in institutionalisierter Weise antreten, er muß die Überzeugungskraft seiner Argumente im öffentlichen Meinungsstreit einsetzen und erproben, mit der Chance und dem Risiko, daß diese sich in den kommenden Wahlen auswirken oder auch nicht auswirken.

VII. „Souveränitätsrechte“ gegen die Mehrheit?

Demgegenüber hat man in jüngster Zeit geltend gemacht, das politische System der Demokratie, einschließlich des Mehrheitsprinzips, beruhe auf einem Basiskonsens, der Grenzen habe. Diese seien dort erreicht, wo durch die Mehrheitsentscheidung eine Minderheit „sich in fundamentalen Interessen wie denen an Überleben, Sicherheit, Freiheit, Glück, Menschenwürde, lebenswerte Umweltbedingungen usw. betroffen wähnt“ Der Basis-konsens billige die Mehrheitsentscheidung als Methode der Konfliktschlichtung nur für die Normal-lage, nicht aber auch für die Existenzfragen

Dieser Ansicht ist aber folgendes entgegenzuhalten: Der bürgerliche Friede kann nur dann gesichert werden, wenn gerade auch in „Existenzfragen“ eine verbindliche Entscheidung in einem geordneten Verfahren getroffen wird. Ja gerade in solchen Fragen erscheint es noch dringender, das Verfahren einer geregelten Konfliktschlichtung einzuhalten, als in den „Normallagen“, für deren untergeordnete Konflikte man nicht so leicht einen Bürgerkrieg führen wird. Mit anderen Worten: Wenn eine souveräne Entscheidungsinstanz im politischen Gemeinwesen benötigt wird und ihre Rechtfertigung in der Friedenssicherung hat, dann bedarf es ihrer in besonderem Maße gerade auch, um über den „Ausnahmefall" zu entscheiden.

Es bleibt nur die Frage: Quis judicabit? Lehnt man die demokratische Antwort ab, daß die Entscheidung auf der Grundlage des breitestmöglichen Konsenses getroffen werden solle, so kann eine alternative Antwort nur lauten, daß die Entscheidung einzelner oder einer Minderheit maßgeblich sein sollte, und zwar solcher Personen, die von sich behaupten dürften, einsichtiger zu sein als die anderen. Solch eine autoritäre Entscheidung der Besser-wissenden, die die Mehrheit einer Minderheit unterwerfen würde, ist für ein demokratisches Staats-verständnis nicht akzeptabel. Zudem gefährdet sie den Bürgerfrieden; denn sie läßt anderen die Möglichkeit, für ihre abweichenden Vorstellungen gleichfalls die bessere Einsicht in Anspruch zu nehmen. Dieser Weg führt in Fragen, die für existenz-wichtig gehalten werden, entweder in einen „Glaubenskrieg“ oder in die „Glaubensherrschaft“ derer, denen es gelingt, der übrigen Gemeinschaft ihre Vorstellungen aufzuzwingen.

Wie stellt sich unter diesen Prämissen die Lage einer von der Mehrheit überstimmten Minderheit dar, falls diese zu der Ansicht gelangt, sie könne der mehrheitlich gestalteten Gemeinschaftsordnung grundsätzlich nicht folgen, kurz, wenn sie sich dem „Basiskonsens“ nicht oder nicht mehr anschließen will? Hier harrt eine früher gestellte Frage der Antwort: Soll legitimerweise das Mehrheitsprinzip auch für den „Grundkonsens“ selber gelten?

Die Antwort muß zweigeteilt sein: Für den Beschluß der Staatsverfassung kann nicht die Zustimmung ausnahmslos aller gefordert werden, wenn man über bestehende Meinungsverschiedenheiten hinweg zu einer funktionsfähigen staatlichen Ordnung gelangen will.

Zugleich soll aber niemand gegen seinen Willen gezwungen werden, in einem politischen System zu leben, mit dem er von Grund auf nicht einverstanden ist. In jedem auf Konsens gegründeten, also wahrhaft demokratischen Gemeinwesen muß darum grundsätzlich jeder das Recht haben, diese staatliche Gemeinschaft zu verlassen. Das ist die staatsphilosophische Wurzel der Freizügigkeit, die in ihrem notwendigsten Gehalt also eine Auswanderungsfreiheit sein muß. Wenn diese von freiheitlich-demokratischen Staaten eingeräumt wurde, so bedeutete das verfassungsgeschichtlich die Abkehr von einer Verfassungsordnung, in der die Obrigkeit sich anmaßte, über Menschen wie über ein Besitztum zu verfügen und sie als Ausbeutungsobjekte und Zubehör zu behandeln. Die Auswanderungsfreiheit ist die äußerste Probe darauf, ob ein Staat noch den elementarsten Teil der politischen Selbstbestimmung seiner Bürger achtet: nämlich die Freiheit, sich von einem Staat, den er im ganzen nicht akzeptiert, loszusagen. Insoweit kann und muß also der alte Vertrags-und Konsens-gedanke, der ursprünglich das Einverständnis eines jeden bedeutet, seinen ursprünglichen Sinn bewahren.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die Stabilität und Befriedungsfunktion des politischen Gemeinwesens spielt auch unter dem Gesichtspunkt der Legitimität eine Rolle; insoweit ist später (III) auf sie zurückzukommen.

  2. Aristoteles. Politik. 1281b. 1286 a.

  3. Marsilius von Padua. Defensor Pacis. I Kap. 13 § 3.

  4. Ebenda. I Kap. 13 §§ 4. 7.

  5. Platon, Staat, S. 487ff.. Staatsmann, S. 297ff.; J. Bodin, Sechs Bücher über den Staat, deutsch von B. Wimmer, Bd. II. 1986. S. 396ff.; F. Schiller. Demetrius. I 1. Vers 461 ff.; A.de Tocqueville. Über die Demokratie in Amerika, 1. Buch, 1835, II Kap. 7; J. Binder. Philosophie des Rechts. 1925, S. 301 f.

  6. J. W. Goethe. Maximen und Reflexionen.

  7. J. Locke. Two Treatises of Government, II § 95.

  8. Ebenda. II § 96.

  9. So bereits Marsilius (Anm. 3). 19§§ 5 ff.

  10. J. Locke (Anm. 7). II § 4. 95; vgl. auch U. E. Gut. Grundfragen und schweizerische Entwicklungstendenzen der Demokratie. 1983. S. 62ff.

  11. J. Locke (Anm. 7). II § 134. vgl. auch § 149.

  12. Ebenda. 11 § 98.

  13. Protagoras, nach Platon, Theaitetos. 152. 172.

  14. I. Kant. Die Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, 1797. S. 37f., vgl. auch S. 98f.

  15. J. J. Rousseau. Contrat social, I 6.

  16. I. Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: Kleine Schriften zur Geschichtsphilosophie, 1959. S. 95.

  17. J. Habermas/N. Luhmann. Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie?. 1971, S. 137. 164.

  18. J. J. Rousseau (Anm. 15). IV 2, 1 7; vgl. auch U. E. Gut (Anm. 10), S. 98 ff.

  19. Federalist. Nr. 51. vgl. auch Nr. 10.

  20. Vgl. BVerfGE 69, 345ff.

  21. Vgl. R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 19859), §§ 23 I 3. II 1; 26 III. V 2. VI 4; 42 III 3.

  22. B. Guggenberger/C. Offe. An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie. 1984. S. 13.

  23. Ebenda, S. 16 f.

  24. Das positive Recht demokratischer Staaten pflegt gleichwohl aus schwerwiegenden Gründen — etwa zum Vollzug einer verwirkten Strafe — Ausnahmen vorzusehen, vgl. § 7 des Paßgesetzes i. d. F. v. 19. 4. 1986 (BGBl. I. S. 537).

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Reinhold Zippelius, Dr. jur. habil., geb. 1928; 1956— 1963 im bayerischen Ministerialdienst; 1963 o. Professor und Vorstand des Instituts für Rechtsphilosophie und Allgemeine Staatslehre an der Universität Erlangen; 1985 o. Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz. Veröffentlichungen u. a.: Wertungsprobleme im System der Grundrechte, 1962; Allgemeine Staatslehre (Politikwissenschaft), 19859; Das Wesen des Rechts, 19784; Juristische Methodenlehre, 19854; Gesellschaft und Recht, Grundbegriffe der Rechts-und Staatssoziologie, 1980; Einführung in das Recht, 19782; Rechtsphilosophie, 1982; Geschichte der Staatsideen, 19855; Die Bedeutung kulturspezifischer Leitideen für die Staats-und Rechtsgestaltung, 1987; (zus. mit Theodor Maunz) Deutsches Staatsrecht, 198526.