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Politik und Sachverstand Zur Freiheit parlamentarischer Entscheidung in der wissenschaftlichen Zivilisation | APuZ 42/1987 | bpb.de

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APuZ 42/1987 Artikel 1 Zur Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips in der Demokratie Politik und Sachverstand Zur Freiheit parlamentarischer Entscheidung in der wissenschaftlichen Zivilisation Mehr direkte Demokratie? Volksbegehren und Volksentscheid im internationalen Vergleich

Politik und Sachverstand Zur Freiheit parlamentarischer Entscheidung in der wissenschaftlichen Zivilisation

Ulrich Lohmar

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Zusammenfassung

In der Neuzeit ist an die Stelle grundlegender Normen für alle oder wenigstens der Orientierung politischen Handelns an solchen Überzeugungen die politische Majorität als Legitimationsbasis für politisches Tun und Lassen getreten: Mehrheit statt Wahrheit. Die Wahrheiten verbergen sich in den Mehrheiten und Minderheiten, sie sind sozusagen zum Schlick der modernen Demokratien geworden, nicht mehr ihr allgemein verbindlicher Anker. Im traditionellen Verständnis war es Aufgabe des Staates, seine Handlungen gegenüber dem Volk und gegenüber einer wie immer gearteten öffentlichen Meinung durchzusetzen und eben dadurch den Anspruch auf politische Führung zu sichern. In den heutigen Demokratien ist es hingegen so. daß politische Entscheidungen sich umgekehrt weitgehend an der veröffentlichten Meinung orientieren, je nach dem Maß, in welcher Nähe sich politische Entscheider zu solchen öffentlichen Meinungsträgern befinden oder welche Bedeutung für die Willensbildung bei den Wählern sie ihnen zumessen. Die moderne Gesellschaft führte auch zu einer Emanzipation des Sachverstandes gegenüber politischen oder gesellschaftlichen Grundüberzeugungen. Berufliches Können und Wissen, auch Sachverstand im allgemeinen. haben sich von normativen Sinngebungen weitgehend gelöst. Jedenfalls ist diese Beziehung kein Gegenstand mehr für eine inhaltliche oder formale demokratische Legitimation. Sachverstand ist ein Produkt der Zunahme an Wissen und zugleich seiner Spezialisierung, aber auch die entscheidende Voraussetzung für die mögliche Kommunikation und Koordination spezialisierter Inhalte. Ihnen einen politischen Handlungsrahmen zu geben, bleibt eine entscheidende Führungsaufgabe, ganz gleich, welche der politischen Gruppierungen nun jeweils die Aufgabe der Regierung oder der Opposition übernimmt.

I. Politik

„Politik ist die Kunst, Menschen zur Begründung, Pflege und Bewahrung des sozialen Lebens miteinander zu verbinden.“ Dies meinte der Mönch Johannes Althusius im 15. Jahrhundert, und ich denke, man kann die vielköpfigen Bemühungen der heutigen Politischen Wissenschaft zu einer Beschreibung ihres Gegenstandes getrost beiseite lassen. Was der Mönch damals meinte, gilt auch jetzt noch. Gleichwohl haben sich natürlich seither manche Bedingungen grundlegend verändert, unter denen Politik Gestalt gewinnen kann.

Die erste prinzipielle Veränderung: Bis zur Neuzeit — also im alten Griechenland und Rom sowie im europäischen Mittelalter — suchte Politik ihre Legitimation aus konkurrierenden philosophischen Überzeugungen oder aus kirchlichen Normen zu gewinnen. Diese Normen waren dem einzelnen und der Gesellschaft vorgegeben. Politik war insoweit Ausführung gegebener moralischer Leitbilder oder einer in sich geschlossenen Moralvorstellung über den wünschenswerten Hergang des menschlichen und gesellschaftlichen Lebens. Abweichungen der Politik, einzelner oder einander befehdender Gruppen von solchen Leitvorstellungen bedeuteten nicht den Bruch mit solchen Vorgaben, sondern bestätigten nur die normativen Halteseile. Hexen etwa waren nicht einfach anders als fast alle anderen, sie wurden verbrannt, um die Norm vor Schaden zu bewahren.

Ganz anders verläuft die Legitimation politischen Handelns in den modernen Demokratien, ganz gleich, ob sie nun republikanisch oder monarchisch organisiert sind. Zwar kann sich auch in diesen politischen Gebilden der Bürger an seinen persönlichen gesellschaftspolitischen Überzeugungen oder Moralvorstellungen orientieren, aber durch die pluralistische Vielfalt unserer heutigen Gesellschaft kann keine dieser Glaubensvorgaben mehr den Anspruch erheben, gegenüber anderen privilegiert oder gar dominierend zu sein. Wir haben an die Stelle der geglaubten Wahrheit die nachzählbare Mehrheit gesetzt. Diese Mehrheit entscheidet nicht darüber, was wahr oder unwahr, was richtig oder falsch ist. sondern einfach darüber, was geschehen soll. Die Stimmen der Bürger werden bei uns nicht gewogen, sondern gezählt.

Der Grund dafür ist einfach: In einer Gesellschaft mit vielfältigen Grundüberzeugungen ist es nicht möglich, die Vorzugswürdigkeit der einen Über-zeugung gegenüber allen anderen zu beweisen, man kann sie allenfalls für sich und für Meinungsgenossen behaupten. Die Mehrheitsentscheidung mit dem gleichen Gewicht für jede Stimme ist also nichts anderes als die Spielregel eben dieser pluralistischen Gesellschaft, die uns die Möglichkeit genommen hat, verbindliche Normen prinzipieller Art für alle zu setzen. Dafür haben wir die Freiheit der eigenen Überzeugung gewonnen. Sie ist durch die Grundrechte unserer Verfassung verbrieft und kann uns auch durch eine Änderung des Grundgesetzes nicht genommen werden.

Aber der Wandel ist deutlich: An die Stelle grundlegender Normen für alle oder wenigstens der Orientierung politischen Handelns an solchen Überzeugungen ist die politische Majorität als Legitimationsbasis für politisches Tun und Lassen getreten: Mehrheit statt Wahrheit. Die Wahrheiten verbergen sich in den Mehrheiten und Minderheiten, sie sind sozusagen zum Schlick der modernen Demokratien geworden, nicht mehr ihr allgemein verbindlicher Anker.

Das macht für uns politische Entscheidungen zwar persönlich freier, aber gewiß nicht leichter. Die Freiheit der Gewissensentscheidung auch in politischen Fragen ist keine Lust, sondern eine Last. Ihr zu entkommen, ist neuerdings das Bemühen vieler alternativer Glaubensrichtungen, die sich wieder nach der behaglichen Nestwärme kollektiven Aufgehobenseins sehnen und dabei zugleich hoffen, dem moralischen Druck dieser Kollektive zu entgehen. Sie veranstalten deshalb auch keine Tage der Freiheit, sondern libertinäre Tage, wie kürzlich in Frankfurt am Main. Sie möchten den Kuchen der Grundrechte in der pluralistischen Demokratie zugleich aufessen und behalten. Nur: Das geht nicht.

Die zweite Veränderung: Sie bezieht sich auf das Verhältnis von Öffentlichkeit und Politik. In vordemokratischen Gesellschaften gab es eine Öffentlichkeit in unserem Sinne eigentlich überhaupt nicht. Sie konnte erst auf der Grundlage des neu-11 zeitlichen Freiheitsbewußtseins und der daraus abgeleiteten Meinungsfreiheit gebildet werden. Ihr wesentliches Merkmal ist die prinzipielle Unabhängigkeit von den Institutionen, die über Politik zu entscheiden haben. Bei uns sind das die Inhaber der politischen Führung in repräsentativen, also stellvertretend handelnden demokratischen Organen, in den Modellen der Basisdemokratie ist es die Wahlbevölkerung selber, die unmittelbar entscheidet, was immer jeweils unter dem schillernden Begriff „Basis“ verstanden werden mag. Am klarsten ist das noch in der Schweiz.

Gleichwohl hatte natürlich auch die vordemokratische Gesellschaft ein Gegenüber der Herrschenden: das Volk. Daran hat sich insoweit nichts geändert. Öffentlichkeit als Gegenüber der politischen Führung im Sinne der von politischen Entscheidungen betroffenen Bevölkerung oder im Sinne einer organisierten vierten Staatsmacht gegenüber den politischen Entscheidern ist durchaus zweierlei: Zwar können der frühere wie der heutige Staat gegenüber den Bürgern nicht auf ihr Gewaltmonopol verzichten, wenn eine Handlungsfähigkeit des Staates im ganzen gewährleistet bleiben soll. Nur: Im traditionellen Verständnis war es Aufgabe des Staates, seine Handlungen gegenüber dem Volk und gegenüber einer wie immer gearteten öffentlichen Meinung durchzusetzen und eben dadurch den Anspruch auf politische Führung zu sichern. In den heutigen Demokratien ist es hingegen so, daß politische Entscheidungen sich umgekehrt weitgehend an der veröffentlichten Meinung orientieren, je nach dem Maß, in welcher Nähe sich politische Entscheider zu solchen öffentlichen Meinungsträgem befinden oder welche Bedeutung für die Willensbildung bei den Wählern sie ihnen zumessen. Dies führt im Extremfall zu seltsamen Formen der Kameraderie zwischen politischen und bürokratischen Entscheidern auf der einen Seite und Journalisten auf der anderen Seite, wie man es bei dem Zusammenwirken der Mitglieder der Bundespressekonferenz mit den Mächtigen in Bonn tagtäglich beobachten kann. Dafür ist das Wort „Hintergrundgespräche“ erfunden worden, was nichts anderes bedeutet, als daß die Inhaber der Organe der veröffentlichten Meinung hin und wieder auf einen beachtlichen Anteil ihrer Freiheit der kritischen Berichterstattung verzichten, um schneller und „besser“ informiert zu sein als der Wettbewerber auf dem Meinungsmarkt. Davon unberührt bleibt die Aussage des Soziologen Robert Michels, der schon 1910 anmerkte, Politiker und Journalisten interessieren sich beide vor allem für aktuelle, sentimentale und sensationelle Informationen. Die einen wie die anderen brauchen den ständigen Reiz und beleben damit die Kulissen ihrer Betriebsamkeit.

Im Grunde leistet die organisierte öffentliche Meinung in ihrem Verhältnis zu den politischen Entscheidern etwas Ähnliches wie die Beichtväter gegenüber den Sündern in der Kirche: Journalisten wie Politiker halten Abweichungen von ihren prinzipiell unterschiedlichen Aufgaben für unvermeidlich, aber „heilbar“. Das Hintergrundgespräch als säkularisierte Beichte erlaubt allen Beteiligten an diesen Anti-Glasnost-Veranstaltungen, in der öffentlichen Selbstdarstellung an der Reinheit des Glaubens festzuhalten: hier politische Entscheidung, dort kritische Öffentlichkeit. In Wirklichkeit aber versucht die organisierte veröffentlichte Meinung mit ihren Institutionen immer mehr, an die Stelle früherer normativer, für alle verbindlichen Grundüberzeugungen zu treten.

Eigentlich müßte es zu den demokratischen Besonderheiten gehören, daß zum Beispiel Nachrichten und Meinungen in einer Publikation für den Leser, Hörer oder Zuschauer erkennbar voneinander getrennt werden. Diese gute Sitte wird in den angelsächsischen Ländern immer noch überwiegend beachtet. In unserem Lande hingegen hat sich ein Meinungs-und Schreibtischtäter-Journalismus herausgebildet, dessen Ziel nicht die kritische Überwachung der Staatsorgane und die sachliche Information der Bevölkerung ist, sondern das Durchsetzen eigener politischer Glaubensparolen ohne Legitimation durch Mehrheiten. Dieser Kampf-Journalismus verlängert die Front-und Fragestellungen der Politik in den Raum der Medien hinein und erweitert sie zugleich um inhaltliche Dimensionen, die in der Politik keinen oder nur geringen Widerhall finden. Diesen Mangel gleichen die Kampf-Journalisten durch die Intensität ihrer persönlichen Überzeugungen aus, die sie wiederum zu Medien-kampfgruppen im Wettbewerb um die Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch die veröffentlichte zusammenführt.

Aus dem Gegenüber von Politik und veröffentlichter Meinung ist somit einerseits ein Miteinander, andererseits ein Gegeneinander zu Lasten des Gegenüber entstanden. Dem Bürger, auf die Meinungsfreiheit des Grundgesetzes für ihn pochend, wird dadurch die eigene Orientierung nicht leichter gemacht. Vernebelt wird die Szene zwischen Politik und veröffentlichter Meinung dabei noch zunehmend durch die Neigung der Politiker, sich bei den öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunkanbietern in den Aufsichtsgremien als Repräsentanten gesellschaftlich relevanter Gruppen einzunisten und von dort aus vor allem personalpolitische Hebel zur Nivellierung des Meinungsgeländes zwischen politischen Entscheidern und Rundfunkjournalisten anzusetzen. Wer etwas werden will, muß sich den Kopf der wichtigsten „Medienpolizisten" mehr zerbrechen als den eigenen. Sonst landet er in einem „Todwasserbereich“.

II. Sachverstand

In normativ geprägten Gesellschaften und ihrer politischen Führung gab es das Problem des Sachverstandes nur im praktischen Sinn des Wortes. Man brauchte Fertigkeiten als Kaufmann, Handwerker oder Bauer, aber die Antwort auf den Sinn des Lebens ergab sich aus den angebotenen normativen Grundüberzeugungen oder einer einzigen Normen-kultur.

Die moderne Gesellschaft hat auch dies verändert. Sie führte zu einer Emanzipation des Sachverstandes gegenüber politischen oder gesellschaftlichen Grundüberzeugungen. Berufliches Können oder Wissen, auch Sachverstand im allgemeinen, haben sich von normativen Sinngebungen weitgehend gelöst. Jedenfalls ist diese Beziehung kein Gegenstand für eine inhaltliche oder formale demokratische Legitimation.

Da das in unserer Welt vorhandene Wissen sich beträchtlich ausgeweitet hat und in einem raschen Tempo ständig neues Wissen hinzukommt, haben wir mit Leibniz und Goethe vermutlich die letzten Menschen hinter uns gelassen, die das Wissen ihrer Zeit noch in sich präsent hatten. Das Schicksal arbeitsteiligen Wissens hat uns alle ereilt. Jeder von uns übersieht nur noch einen Bruchteil vorhandenen Wissens und ist gerade deshalb auf die sachliche Verläßlichkeit aller anderen ebenso angewiesen wie diese auf ihn. Mit anderen Worten: Der Sachverstand als Hort verläßlichen Teilwissens ist in seiner unendlichen Vielfalt zu Brückenpfeilern der arbeitsteiligen Gesellschaft geworden. Sachverstand ist ein Produkt der Zunahme an Wissen und zugleich seiner Spezialisierung, aber auch die entscheidende Voraussetzung für die mögliche Kommunikation und Koordination spezialisierter Inhalte von Sachverstand. Eine allgemeine Elite, soweit sie auf Wissen und Können beruht, gibt es nicht mehr, weil das Ganze erst aus der Summe seiner Teile entsteht.

Dies zieht nach sich, daß sich die Sachverständigen eines Spezialgebietes von ihrem Lebens-Know-how her einander näher fühlen als anderen, die von anderem wiederum mehr wissen und verstehen. Es entsteht eine neue, sozusagen „natürliche“ Nähe zwischen den Menschen, die gemeinsam von einer Sache mehr Ahnung haben als andere. Man nennt sie Sachverständige, Experten, Spezialisten, und neuerdings schiebt sich sogar der Computer als Hoffnungsträger in diese Landschaft hinein, obwohl er eigentlich nur als ein erweitertes Gedächtnis und als „technischer Butler“ gedacht war und brauchbar ist.

Die Experten verbindet nicht nur gemeinsames Wissen und aufeinander beziehbare Fertigkeiten, sondern zumeist auch eine verbindende Sprache.

Sie wissen eben, was genau gemeint ist, wenn einer von ihnen etwas vorbringt. Grenzüberschreitend ist uns die Fähigkeit zu einer allgemein verbindlichen Sprache — bis auf unsere Mundarten und das Hochdeutsch — abhanden gekommen. So steht etwa der „Defensivsprache“ der Juristen die „Formel-“ und „Zahlensprache“ der Naturwissenschaftler und Techniker gegenüber, und zwischen beiden kann die „Modellsprache“ der Ökonomen und der Betriebswirte nicht vermitteln. Unter dem Wort „System“ zum Beispiel versteht etwa ein Biologe etwas völlig anderes als ein Politiker, ein Chemiker wiederum anderes als ein Ingenieur. Die Einlagerung unterschiedlicher Inhalte in gleiche Worte macht den präzisen und allgemeinen Umgang damit schwer. Esperanto als einen Ausweg aus dieser Situation zu wählen, war ein ebenso liebenswerter wie hoffnungsloser Versuch und blieb überdies auf den verbalen Teil unserer Sprache beschränkt.

So verbindet der Sachverstand heute zum Beispiel Gruppen politischer Entscheider in Parlamenten, Staatsbürokratien oder auch im Journalismus. Wirtschaftsjoumalisten etwa und Ökonomen im Parlament oder in der staatlichen Administration haben einander mehr für sie Belangvolles mitzuteilen als ihrem jeweiligen täglichen Funktionsumfeld in der Bürokratie, im Parlament oder im Journalismus. Sachverstand verbindet und schafft zugleich die Voraussetzung dafür, daß die „Außenwelt“ von dem Schatz gemeinsamen Wissens der jeweiligen Experten meist nur das erfährt, was diese Sachwissenden für mitteilenswert halten, wenn sie die Zeit und Gelegenheit dazu für gekommen halten.

Für ein Parlament ist der spezialisierte Sachverstand ein besonderes Problem. Einerseits erlaubt der Brückenschlag unter den jeweiligen Experten die Aufrechterhaltung eines Minimums an sachbezogenen Umgangsformen, etwa in den parlamentarischen Ausschüssen. Andererseits aber bedeutet die Nähe der jeweiligen Experten zueinander, daß die ihnen jeweils in allen Fraktionen gegenüberstehende große Majorität der jeweiligen Nichtexperten in einen permanenten Argumentationsnotstand gegenüber wechselnden Experten gerät.

Schon der Zugang zu den Parlamenten wird durch die arbeitsrechtliche und vor allem zeitökonomische Situation der Bewerber um parlamentarische Mandate stark beeinflußt. Vor allem daran liegt es, daß der Anteil von Angehörigen des öffentlichen Dienstes unter den Abgeordneten unserer Parlamente ständig anwächst. Sicher lassen sich eine Menge Brücken in das parlamentarische System einbauen, etwa für die Verbindung zwischen den einzelnen Expertengruppen im Rahmen einer allgemeineren parteipolitischen oder staatspolitischen Zielfindung. Doch das Salz in der Suppe ist und bleibt doch der Politiker, der sich die Verbindung zum Wurzelwerk der Gesellschaft erhalten hat und von daher eine kritische Distanz auch zu seinem eigenen Expertenwissen behält. Die Reproduktion des öffentlichen Dienstes im parlamentarischen Gewand, die sich von Legislaturperiode zur nächsten seit Jahrzehnten bei den Landtagen und beim Bundestag verstärkt, ist leider keine geeignete Antwort auf das Problem, wie unterschiedliche Arten und Zielrichtungen von Sachverstand zum allgemeinen Wohl der Gesellschaft aufgehoben bleiben können. Hier liegt eine der Schnittstellen zwischen gutgemeinter und guter Politik im Sinne der Dimensionen, auf die der Mönch Johannes Althusius uns hinweist. Wie bei einem Hausbau müssen auch in den Beziehungen von Politik und Sachverstand die Proportionen stimmen.

III, Wissenschaftliche Zivilisation

Politik, veröffentlichte Meinung, Sachverstand — sie alle ereignen sich im Bezugsrahmen dessen, was Helmut Schelsky die „wissenschaftliche“ Zivilisation genannt hat. Im alten Griechenland und Rom waren die philosophischen Staatsdenker diejenigen, die dem Gang des Lebens ihre Melodie vorzugeben versuchten. Im Mittelalter waren es die Theologen, die der Realität ihre Wahrheit nahe-bringen wollten. Und seit dem vorigen Jahrhundert sind es nun die Naturwissenschaften und die Ingenieurwissenschaften, deren Ergebnisse und Produkte unser Leben weitgehend bestimmen. Als Beispiele dafür stehen vor allem für unseren Alltag das Fernsehen, die „Pille“, die Agrarchemie, die Pharmazie, die Kernenergie. Dies alles sind Resultate der wissenschaftlichen Zivilisation, deren Pulsschlag und Fortschritt wiederum von Naturwissenschaften und Technik bestimmt wird. Verglichen mit politischen Programmen von Parteien, Handlungsanweisungen von Parlamenten und Regierungen oder Verbandsstrategien haben solche Produkte der wissenschaftlichen Zivilisation unser konkretes Leben in den letzten Jahrzehnten sehr viel weitgehender verändert. Sie sind dabei keineswegs Ergebnisse einer politischen Zielsetzung gewesen, sondern kamen einfach mehr oder weniger über uns. Es ist beinahe wie bei einer Domino-Reihe: Erst bringen Naturwissenschaft und Technik neue Produkte hervor, darauf reagiert die Ökonomie, dann die gesellschaftlichen Organisationen, schließlich die Politik und erst am Schluß das Ausbildungswesen und unsere Rechtsordnung. Gegenwärtig entsteht jeweils zuerst Technik, dann Erfahrung und am Ende Recht. Das aus Erfahrung Gelernte sollte aber schneller in das Recht aufgenommen werden, ohne dadurch neue technische Entwicklungen zu behindern. Technik und Politik begegnen einander gegenwärtig auf unterschiedlichen Ebenen der Sprache, der Motivation und der Zielsetzung. Deshalb laufen die Auseinandersetzungen um neue Wissenschaft und Technik oft nach falschen Konfliktmodellen ab. Technik ist die ständige Konfrontation von gegenwärtig Realisiertem mit neuem Möglichen, sie ist der Übergang des Gewußten in das Gestaltete. Die Tradition von Technik besteht also darin, Tradition in Frage zu stellen.

Deshalb kann Technik als solche auch weder Vertrauen noch Mißtrauen begründen. Demokratische Alternativ-Entscheidungen sind nur über die Verwendung von Technik und Wissenschaft, nicht über deren Erkenntnisstand möglich.

Mit zunehmender Geschwindigkeit des sozialen Wandels, der eben durch wissenschaftlichen und technischen Wandel ausgelöst wird, entstehen in den modernen Industriegesellschaften hin und wieder Irritationen. Man fragt sich, ob das alles so gut sei, was da von der wissenschaftlichen Zivilisation in unser Leben eingeschleust worden ist. Das Tempo des wissenschaftlich ausgelösten und technisch realisierten Wandels setzt gewachsenes Wissen und gebildete Erfahrung bei vielen Menschen während ihres Berufslebens ganz oder teilweise außer Kraft. Das gilt auch für politische Entscheider im Parlament oder in der staatlichen Administration. Dadurch werden solche Menschen in ihrem sozialen Selbstbewußtsein getroffen und unsicher gemacht. Gleichwohl tun sie weiter ihre Arbeit, gerade so, als ob deren Rahmenbedingungen noch genauso wären wie vor zehn oder zwanzig Jahren. Eine zunehmende Entfernung von neuen Wirklichkeiten ist die Folge davon, bestenfalls aber eine oft verspätete Einarbeitung in veränderte Wirklichkeitsmuster. Die Zeitspanne zwischen der Erfindung oder Entdeckung neuer Innovationsmöglichkeiten und ihrer Verwirklichung wird dabei immer kürzer. Autoproduktion, Haushaltsgeräte und erst recht die Informationstechnologien sind Beispiele dafür.

Die erwähnte Domino-Reihe offenbart die entstandene Kluft zwischen politischer Entscheidung einerseits und dem Einbruch immer neuer Schübe von Seiten der wissenschaftlichen Zivilisation andererseits. Das Beispiel der Kernenergie zeigt, daß jahrzehntelang die Diskussion darüber den Experten in den Ministerien und im Parlament überlassen wurde, die sich wiederum auf der Ebene des Sachverstandes mit ihren Gesprächspartnern in der Wirtschaft verständigten. Erst nachdem die Bürgerinitiativen das Thema in seiner politischen Virulenz erkennbar gemacht hatten, nahm sich die organisierte Politik dieses Themas an. Wie schwierig dies in Form einer rationalen Diskussion zu durchdringen ist, zeigte das mehrtägige Ringen zwischen Anhängern und Kritikern der Kernenergieverwendung, die seinerzeit auf Einladung der niedersächsischen Landesregierung in Hannover miteinander diskutierten. Frühzeitiger reagierten Bundesregierung und Bundestag zum Beispiel auf die neuen Entwicklungen in der Gen-und Biotechnik. Hier wird zum erstenmal rechtzeitig der Versuch gemacht, mögliche Einbrüche von Seiten der Wissenschaft in unser Leben an gesellschaftspolitischen Grundüberzeugungen und klaren Zielkriterien zu orientieren.

Die wissenschaftliche Zivilisation setzt die politischen Entscheider, aber auch die gesamte Bevölkerung mehr als in früheren Zeiten einem erhöhten Risiko aus, weil weder die politischen Entscheider noch die Bevölkerung über die Fähigkeit zu einer ausgebildeten Beurteilung aller Vorgänge verfügen. Der Anteil der Naturwissenschaftler und Techniker in den Landesparlamenten und im Bundestag ist zum Beispiel nach wie vor gering, so daß eine sprachliche und inhaltliche Verständnisbarriere gegenüber den Schüben der wissenschaftlichen Zivilisation aus eigener Kraft und aufgrund eigener Ausbildung nur von wenigen überwunden werden kann. Die vielen Versuche, eine Technologie-Folgenabschätzung im Bundestag zu etablieren, zeigen die Schwierigkeit des Problems. Eher komplex sind auch die Erfahrungen, die die Amerikaner mit entsprechenden Versuchen im letzten Jahrzehnt gemacht haben. Man mag die eine oder die andere Form eines solchen „Technology Assessment“ bevorzugen — mir scheint es zunächst und vor allem darum zu gehen, bei den politischen Entscheidern insgesamt ein Bewußtsein dafür zu schärfen, daß die Vorgaben aus den Entwicklungsschüben der wissenschaftlichen Zivilisation für unsere Gesellschaft von ganz ausschlaggebender Bedeutung sind. Diese Einsicht ist eine Bedingung dafür, mögliche Risiken wissenschaftlich und technisch bedingter Entwicklungen frühzeitig zu erkennen, zu beschreiben und in den Griff zu nehmen.

Die Politik in unserem Lande hat sich zu sehr auf die Verteilung von irgendwas an irgendwen konzentriert, zu wenig jedoch auf die Gestaltungsspielräume, die von Seiten der Wissenschaft und Technik immer aufs neue angeboten werden. Zu Beginn der siebziger Jahre sah es einmal so aus, daß alle Parteien in unserem Lande diese herausragende Bedeutung des Produktivitätsfaktors Wissenschaft auch programmatisch erfaßt hätten. In allen Wahl-manifesten bei der Bundestagswahl 1972 stand die Wissenschaft ganz oben an. Die Parteien haben dann aber mehr oder weniger alle vor den Schwierigkeiten der konkreten Kooperation mit Wissenschaft und Technik kapituliert, so daß diese Bereiche heute wieder wie ein Appendix in den Parlaments-und Regierungsstrukturen herumhängen.

Die Produktivkraft Wissenschaft zum Kernstück etwa eines Infrastruktur-Kabinetts zu machen, ist in Japan sehr viel weitgehender verstanden und genutzt worden als bei uns. So war es zum Beispiel auch eine Bankrotterklärung der dominierenden Fraktionen des Deutschen Bundestages, über Jahre den Ausschuß für Forschung und Technologie den Grünen zu überlassen, und dies jetzt immer noch mit dem Ausschuß für Bildung und Wissenschaft zu tun. Nichts verrät deutlicher die aus mangelnder Übersicht, Unbehagen und traditioneller Orientierung gespeiste Abneigung unserer führenden Regierungs-und Oppositionsfraktionen, sich auf das Thema wissenschaftliche Zivilisation in seiner realen Bedeutung ernsthaft einzulassen. Hier liegt einer der entscheidenden Engpässe im Bewußtsein der politischen Führungsgruppen, gerade wenn man die Klammern zwischen Politik und Sachverstand verstärken will.

Im Hinterland unserer Gesellschaft wird die rationale Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Zivilisation mehr und mehr dadurch zur Seite geschoben, daß kleine oder große Gruppen in der Bevölkerung einfach erklären, sie hätten vor diesem oder jenem Angst. Niklas Luhmann, der Bielefelder Soziologe, hat auf den Zusammenhang zwischen unserer rationalen politischen Argumentationskultur und dem Einbruch des Quasi-Arguments Angst deutlich hingewiesen. Angst kann man ja weder beweisen noch widerlegen, man kann sie nur haben oder nicht haben. Wenn aber Angst an die Stelle des Austauschs von Argumenten und Gegenargumenten tritt, dann wird damit die reale und rationale Beurteilungschance auch der wissenschaftlichen Zivilisation untergraben. Wir bewegen uns in genau diesem Maße auf eine irrationale politische Kultur zu, in der Wissenschaft durch Aberglauben ersetzt werden soll. Es handelt sich bei dem Angriff dieser Alternativen nicht nur um einen Vorstoß gegen die Industriegesellschaft, die ja das sichtbare äußere Gewand für die Produkte der wissenschaftlichen Zivilisation darstellt. Der Rückzug auf geglaubte Formeln ist vielmehr zugleich ein Angriff auf eben diese rationale wissenschaftliche Zivilisation im ganzen — ebenso wie auf eine politische Kultur, die trotz ihrer gelegentlichen demagogischen Verwerfungen und ihrer kleinen und großen Peinlichkeiten daran festhält, daß politische Entscheidungen das Ergebnis des Abwägens zwischen Gründen und Gegengründen sein sollten, wobei selbstverständlich Grundüberzeugungen, handfeste Interessen oder Taktik in solche Entscheidungen und Strömungen einfließen. Und weil das so ist, wird das Ringen um eine stabile deutsche Demokratie immer zugleich auch eine Auseinandersetzung mit dem Irrationalismus in Politik und Wissenschaft bedeuten. Den Deutschen vor allem ist es nie gut bekommen, wenn sie ihre politischen Köpfe durch die Tiefe des eigenen Gemüts ersetzt haben.

IV. Freiheit parlamentarischer Entscheidung

Angesichts der Situation, in der Politik und Sachverstand in der wissenschaftlichen Zivilisation einander gegenüberstehen und aufarbeitsteilige Weise zugleich miteinander verflochten sind, gehörte Mut dazu, daß sich eine große Gruppe von Bundestagsabgeordneten in der letzten Legislaturperiode an den Versuch herangewagt hat, die Arbeitsweise des Parlaments auf den Stand der Zeit zu bringen.

Es war ja wohl kein Zufall, daß sich an dieser parlamentarischen Aktion, die in der neuen Legislaturperiode fortgeführt werden soll, weder die Dompteure noch die Redelöwen beteiligt haben, sondern eher solche Mitglieder des Parlaments, deren Erfahrung, Phantasie und Durchhaltevermögen sie zu diesem gemeinsamen Tun veranlaßt haben. Es ist zu hoffen, daß viele der neu gewählten Abgeordneten des Bundestages sich an dieser Arbeit beteiligen, denn ein gewisses Maß an Naivität gehört wohl auch dazu, die manchmal unübersteigbar erscheinenden Hürden des parlamentarischen Alltags positiv überwinden zu wollen. Jedenfalls finde ich es, von der einseitigen sozialen und beruflichen Zusammensetzung des Parlaments einmal abgesehen, immer noch eines der besten Zeichen für die Vitalisierung des Parlamentarismus in einer demokratischen Gesellschaft, daß von Wahlperiode zu Wahlperiode doch immerhin jeder dritte bis vierte Abgeordnete zum erstenmal nach Bonn kommt. Dieser Schub der personellen Erneuerung ist jedenfalls ausgeprägter als bei den staatlichen Administrationen oder den großen Gebilden in der Wirtschaft, wenn man deren Führungsetagen zum Vergleich heranzieht. Gewiß: Neue Besen kehren nicht immer besser als die alten, aber der Wettbewerb zwischen beiden belebt auch die Politik.

Der Bundestag sollte sich bei seinen Reformdiskussionen nicht in eine Debatte um die Scheinalternative drängen lassen, ob er nun in Zukunft mehr mit modernen Informationstechnologien arbeiten will oder nicht. Das zu tun, halte ich für eine Selbstverständlichkeit, aber die Menge gespeicherten Wissens in Computern etwa ersetzt selbstverständlich nicht die originäre politische Meinungsbildung, die dadurch bestenfalls gefördert werden könnte. Der Computer ist kein Ersatz für unser Urteilsvermögen, sondern eine Stütze unseres Gedächtnisses, weil wir auch für relevante politische Entscheidungen eine große Summe von Einzelinformationen heranziehen müssen, die wir in unserem eigenen Gedächtnis nicht ständig präsent halten können. Dafür ist der Computer gedacht, nicht als eine eigenständige „Parlamentsfraktion“ technischer Dominanz über den Menschen.

In diesem Sinne halte ich auch die Beziehungen zwischen Sachverstand und Politik nicht für ein Problem, das durch eine Art Modell-Lösung sozusagen objektiv beschreibbar oder lösbar wäre. Es ist möglich, sinnvoll und notwendig, die Grundprobleme deutlich zu machen, die sich zwischen Politik und Sachverstand entwickelt haben und möglicherweise in Zukunft ergeben werden. Was daraus konkret gestaltet wird, bleibt aber immer Sache der handelnden Menschen, also der politischen Entscheider in ihrer Vielfalt in den politischen Institutionen, in den Gehäusen der veröffentlichten Meinung, in den Gehegen des Sachverstandes und der wissenschaftlichen Zivilisation, die uns alle umgibt und prägt. Fraktionen und Parteien sollten mehr Aufgeschlossenheit und Mut aufbringen, Menschen zur Übernahme von politischer Verantwortung zu bewegen, die diesem komplexen Gebilde moderner Politik gewachsen sind. Es erscheint mir ein wenig verspätet, etwa Fraktionen nach linken oder rechten Flügeln abzutasten oder bevorzugt darauf zu achten, welche Interessen in den großen Parteien mehr Gewicht haben als andere. Über dem Zählen unserer Anhänger dürfen wir die Gewichte der wissenschaftlichen Zivilisation nicht übersehen, die unser Leben tatsächlich weitgehend prägen. Ihnen einen politischen Handlungsrahmen zu geben, bleibt eine entscheidende Führungsaufgabe, ganz gleich, welche der politischen Gruppierungen nun jeweils die Aufgabe der Regierung oder der Opposition übernimmt. Jenseits von Würde oder Weihe bleibt dies eine staatstragende, gemeinsame Aufgabe aller, die nicht vergessen haben, daß die Teile des Ganzen, die Parteien, unser aller Haus stützen müssen. Nur dann ist das Ganze schließlich mehr als die Summe seiner Teile.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Ulrich Lohmar, Dr. sc. pol., geb. 1928; o. Univ. -Professor; Studium der Rechts-und Sozialwissenschaften an den Universitäten Köln, München, Hamburg und Münster; 1957 bis 1976 Mitglied des Deutschen Bundestages und elf Jahre davon (1965— 1976) Vorsitzender des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft bzw. für Forschung und Technologie; 1969 bis 1984 Ordinarius für Politische Wissenschaften in Duisburg und Paderborn; seit 1976 Vorsitzender der Stiftung für Kommunikationsforschung, einem Forum für Wirtschaft, Wissenschaft und Politik in Bonn. Veröffentlichungen u. a.: Wirksamkeit und Ansehen in Berufsberatung und Arbeitsvermittlung im Urteil Jugendlicher, Köln 1952; Innerparteiliche Demokratie, Stuttgart 1963; Deutschland 1975, München 1965; Wissenschaftsförderung und Politikberatung, Gütersloh 1968; Demokratisierung in Deutschland, Gütersloh 1969; Die Koalition der Zukunft — Demokratie und Wissenschaft in der Industriegesellschaft, München 1972; Wissenschaftspolitik und Demokratisierung, Düsseldorf 1973; Staatsbürokratie München 1975; Die Ratlosen. Vom Dilemma der Jungen, der Erwachsenen und der Alten, Düsseldorf 1980; Auf den Spuren der Zeit, Köln 1987.