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Traditionen und Stationen der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 1987 | APuZ 3/1988 | bpb.de

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APuZ 3/1988 Traditionen und Stationen der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 1987 Die deutsch-amerikanischen Beziehungen von 1945 bis 1987 Deutsch-sowjetische Beziehungen: Kontinuität und Wandel 1945 bis 1987 Deutschlandbilder — Akzentverlagerungen der deutschen Frage seit den siebziger Jahren

Traditionen und Stationen der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 1987

Christian Hacke

/ 34 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die mittlerweile vier Jahrzehnte umfassende Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bildet bereits eine eigene Tradition. Obwohl die Bundesrepublik exportorientiert und rohstoffabhängig ist und zugleich im ideologischen und machtpolitischen Kraftfeld zwischen Ost und West sich behaupten muß. ist das Verständnis der Bevölkerung für die außenpolitischen Probleme relativ gering. In diesem Überblick soll das Verständnis für die Leistung und für die Erfolgsgeschichte der Außenpolitik der Bundesrepublik vergrößert werden. Es sind nicht nur die Traditionen, die an der Schwelle der neunziger Jahre geschichtsbildend wirken, sondern die Bundesrepublik hat eine eigene politische Kontinuität entwickelt, die zunehmend an Gestaltungskraft, auch in der Außenpolitik, gewinnt.

I. Traditionen

Die Geschichte der Bundesrepublik dauert mittlerweile vier Jahrzehnte. Blickt man in einen vergleichbar langen Zeitraum vor 1949, so umfaßt dieser das Wilhelminische Reich, den Ersten Weltkrieg, die Weimarer Republik, das Dritte Reich, den Zweiten Weltkrieg, die Wirren der Nachkriegszeit und die Anfänge der Bundesrepublik. Was für ein Vergleich! Beherrschten Brüche und Katastrophen die deutsche Geschichte vor 1949. so ist sie seitdem durch eine außerordentlich hohe Kontinuität und Stabilität gekennzeichnet. Daß wir unseren geschichtlichen Blick durch Historikerstreits schärfen, ist richtig. Aber es tut not. beim Optiker eine Zweitbrille abzuholen, denn die Bundesrepublik besitzt mittlerweile eine eigene Geschichte von langer Dauer. In einigen Jahren wird sie älter sein als das Deutsche Reich als Kaiserreich. Aber die zeitgeschichtliche Aufarbeitung der vier Jahrzehnte Bundesrepublik steckt erst in den Anfängen. Das beständige, angenehme Klima von Demokratie und Wohlstand hat die Sinne und die Wahrnehmung für ihre Leistungen offenbar unempfindlich gemacht. Man wird zuweilen das Gefühl nicht los. als stellten sich viele Bürger die Bundesrepublik als eine Trauminsel vor. als ein materielles Schlaraffenland, ohne Gefühl für die äußere Umwelt, ohne Verständnis für die Außenpolitik. Arbeitsbesessen von montags bis freitags und freizeitbewußt am Wochenende und im Urlaub, erscheint Politik für viele als unmoralisches Geschäft „der da oben“. Außenpolitik nur als Händeschütteln mit Staatschefs anderer Länder oder als exotisches Ambiente für Urlaubs-oder Auslandsreisen.

Mangelndes Gefühl und fehlendes Interesse für die Außenpolitik der Bundesrepublik sowie eine wachsende Konzentration auf innenpolitische Themen Die nachfolgenden Betrachtungen sind eine Zusammenfassung aus /deiner in Kürze erscheinenden Gesamtdarstellung: Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Traditionen, Stationen und Perspektiven, Stuttgart 1988.

Der Fritz-Thyssen-Stiftung danke ich für diefreundliche Unterstützung. haben eine Verständnislücke entstehen lassen, die der politischen Kultur der Bundesrepublik und der komplexen Wechselwirkung zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen Außen-und Innenpolitik abträglich ist. Auch scheint es. daß an der Schwelle der neunziger Jahre viele den Überblick verloren haben hinsichtlich der außenpolitischen Grundsatzentscheidungen, der industriellen Verflechtungen und technologischen Durchbrüche, der transnationalen Beziehungen, der militärischen Bedrohung und politischen Entspannung, der Nuklearstrategie und der Zusammenhänge im westlichen Bündnis. Die Neigung, außenpolitische Fragen gutgläubig-moralisch zu beurteilen, statt nüchtern abzuwägen, sowie die Überfütterung durch weltpolitische Themen haben den Blick der Bürger, nach außen stumpf werden lassen. Einer gewissen Ratlosigkeit in der Außenpolitik folgte die Hinwendung zur Innenpolitik. Aber kein Land der Welt ist so abhängig von einer kooperativen und geschickten Außenpolitik wie die Bundesrepublik:

— Die Situation des geteilten Landes zwingt seit vier Jahrzehnten zu einer deutschland-und ostpolitischen Aufmerksamkeit, die nur wir Deutsche allein voll verstehen können.

— An der ideologischen Nahtstelle des Ost-West-Konfliktes bedarf die Bundesrepublik der außenpolitischen Unterstützung der westlichen Partner und Verbündeten.

— Die Sicherheit der Bundesrepublik kann nur im Rahmen des Nordatlantischen Bündnisses gewährleistet werden. Die ständige sicherheitspolitische Abstimmung ist deshalb zwingend.

— Die Garantie der USA. im Falle eines Krieges die Bundesrepublik auch mit Nuklearwaffen zu verteidigen. verweist auf die zentrale sicherheitspolitische Abhängigkeit der Bundesrepublik.

— Die exportorientierte und exportabhängige Wirtschaft der Bundesrepublik bedarf der internationalen Märkte und der Aufrechterhaltung eines liberalen Weltwirtschaftssystems.

— Umgekehrt zwingt der Mangel an eigenen Rohstoffen zu politischer Zurückhaltung gegenüber nicht-demokratischen oder totalitären Staaten, wenn unsere Wirtschafts-und Kapital-bzw. Rohstoffinteressen tangiert sind.

— Die internationale Konkurrenz mit der DDR hat sich seit Beitritt der beiden deutschen Staaten in die UNO am 18. September 1973 qualitativ und verfahrensmäßig verändert, bleibt aber in ihrem Kern bestehen. Dieser Faktor zwingt zu zusätzlichen außenpolitischen Überlegungen, die nur für geteilte Nationen zutreffen.

— Die historische Belastung des Dritten Reiches schließlich bleibt für die Außenpolitik der Bundesrepublik in den kommenden Jahren mitbestimmend. Dies gilt nicht nur für Israel und den Nahen Osten.

Die erfolgreiche Bewältigung dieser und anderer Aufgaben von 1949 bis 1987 zeigt, daß neben der Innen-auch die Außenpolitik der Bundesrepublik eine erstaunliche Erfolgsgeschichte ist. Es gibt in der neueren deutschen Geschichte nichts Vergleichbares. Erst im historischen Vergleich wird dies deutlich:

— Die Außenpolitik des Kaiserreiches, insbesondere die der Wilhelminischen Ära. versank in Anmaßung. Schuld und außenpolitischem Dilettantismus. Sie war auch Ausdruck übersteigerten Nationalinteresses. das im Ersten Weltkrieg in Haß um-schlug und die Nachkriegszeit vergiftete.

— Die Außenpolitik der Weimarer Republik im Spannungsfeld von kooperativer Westorientierung und machtpolitischer Revision ist eine besonders interessante Folie, um die großen Erfolge der Außenpolitik der Bundesrepublik hervortreten zu lassen. Der tragische Krisenbogen dreizehn deutscher Kanzler der Weimarer Republik — von Ebert bis Schleicher in nur vierzehn Jahren — steht in krassem Gegensatz zur Architektur der kontinuierlichen außenpolitischen Leistungen, die die sechs Bundeskanzler von Adenauer bis Kohl im Zeitraum von vier Jahrzehnten geschaffen haben. Der tragische Aspekt des Unterganges der Weimarer Republik und die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik belegen auf unterschiedliche Weise Otto Hintzes These, „daß der Geist der inneren Politik abhängig ist von den äußeren Existenzbedingungen eines Staates“

Innenpolitische Radikalisierung und wirtschaftspolitische Krisen, aber auch die Geringschätzung der Politik standen im Gegensatz zur Blüte der Weimarer Kultur und individueller Liberalität. Dabei wurde verkannt, daß auf der einen Seite Politiker um eine moderne liberale Demokratie westlichen Zuschnitts kämpften, deren rationale Argumente aber von nationalistischen und rassistischen Parolen unterspült wurden. Nichts Vergleichbares kennen wir für die Bundesrepublik.

— Die Außenpolitik des Dritten Reiches führte im Namen Deutschlands zur nationalen, europäischen und globalen Katastrophe. Während die Folgen für Deutschland und Europa weitgehend erkannt wurden, sind die globalen Konsequenzen dieser Katastrophe immer noch unserem Vorstellungsvermögen entzogen. Aber ohne Hitlers Politik sähe nicht nur Europa, sondern der Globus anders aus.

Im „Dreikampf“ 1945 bis 1949 zwischen Konrad Adenauer, Kurt Schumacher und Jakob Kaiser erkennen wir, daß dieser Kampf auch ein Ringen der außenpolitischen Traditionen war. Die beiden letzteren Politiker, die in der Politik und insbesondere in der Außenpolitik der Weimarer Republik Orientierung für die Zeit nach 1945 suchten, scheiterten. Jakob Kaiser versuchte, in den Wellenkämmen des Kalten Krieges eine politische Brücke zwischen Ost und West zu bauen, ging dabei aber unter Kurl Schumacher preßte die komplexen Realitäten der Nachkriegssituation in ein dogmatisch-sozialistisches Zwangskorsett. Seine Forderung nach Einheit und Sozialismus scheiterte am Ost-West-Gegensatz. Sein ethischer Imperativ der marxistischen Dialektik war für die Mehrheit der Deutschen nicht nachvollziehbar und widersprach vielen Realitäten. Schumachers militanter Anti-Kommunismus, sein dogmatischer Sozialismus, sein Anti-Kapitalismus und Anti-Amerikanismus machten die Deutschen ratlos. Seine bedeutendste Leistung bestand in der Bewahrung der Selbständigkeit der SPD und in der Ablehnung, diese mit der KPD in der SED aufgehen zu lassen. Aber eine realistische Außenpolitik, die. vor allem den neuen Entwicklungen seit 1945 Rechnung trug, hatte Schumacher ebensowenig wie Kaiser anzubieten.

Nüchtern-politologisch betrachtet, muß Außenpolitik im Lichte des folgenden Fragenkomplexes gesehen werden: Welche Interessen sind außenpolitisch durchsetzbar, und in welchem Umfang findet Außenpolitik im Innern Zustimmung? Außenpolitische Kompatibilität und innenpolitischer Konsens sind für alle Staaten zentral Sie erhalten für die Bundesrepublik eine besonders komplexe zusätzliche Dimension, weil im geteilten Deutschland ein permanenter geistiger und politischer Spannungszustand wirkt, den man in Anlehnung an Friedrich Meineckes Begriffe von der Staatsräson und dem nationalen Interesse klären kann In jedem ungeteilten Land kann das Begriffspaar „Staatsräson“ und „nationales Interesse“ zur Deckung gebracht werden, weil Staat und Nation eine Einheit bilden. Im geteilten Deutschland klaffen sie jedoch seit 1945 auseinander, ja. sie wurden zum Gegensatz. Die Staatsräson drängte die Bundesrepublik nach Westen: Unter dem Primat der Westbindung schuf die Außenpolitik eine feste und stabile Orientierung. die den Charakter der Bundesrepublik prägte. Gleichzeitig schien diese Politik in den Augen vieler dem nationalen Interesse Deutschlands abträglich, weil durch die Westbindung der Bundesrepublik die Teilung Deutschlands vertieft wurde. Die Westpolitik band die Bundesrepublik an und integrierte sie bzw. söhnte sie mit den westeuropäischen und atlantischen Demokratien aus. Sie minderte jedoch gleichzeitig die Chancen zur nationalen Wiedervereinigung Deutschlands und vertiefte den Graben über die Elbe-und Oder-Neiße-Linie hinaus.

Zusätzlich haben die bündnispolitischen Rahmenbedingungen der Westintegration die Qualität der Außenpolitik der Bundesrepublik verändert: permanente Absprachen. Kooperation und Koordination wurden notwendig und selbstverständlich. Die Bundesrepublik bestimmt nach Westen nicht allein Kurs und Geschwindigkeit auf der hohen See der internationalen Politik, sondern ist Teil des Geleitzuges atlantischer Demokratien. Außenpolitische Entscheidungen müssen stets abgestimmt werden.

In der Programmatik und Politik der führenden Parteien kommt der Außenpolitik der Bundesrepublik unterschiedliche Bedeutung zu. Die CDU war jahrzehntelang die klassische Partei der Westbindung und repräsentierte die Grundfeste der außen-politischen Staatsräson der Bundesrepublik. In den sechziger und siebziger Jahren zeigte sie jedoch entspannungspolitische Ohnmacht und Kritik, wurde aber unter Bundeskanzler Kohl zu der Partei, die die Deutschlandpolitik wieder dynamisierte.

Die SPD war seit 1949 primär in Sorge um das nationale Interesse. Das historische Stigma der Sozialdemokratie als Vaterlandsverräter machte sie nach 1949 besonders empfindlich für nationale Fragestellungen. Die Ostpolitik von Willy Brandt wurde zum herausragenden Merkmal der SPD der siebziger Jahre. Die historische Vernachlässigung von sicherheitspolitischen Themen durch die SPD wurde erst unter Bundeskanzler Schmidt wieder deutlich. Entspannungspolitische Arroganz bzw. ein ostpolitischer Alleinvertretungsanspruch geriet ab Ende der siebziger Jahre in Gegensatz zu offenkundiger entspannungspolitischer Erfolglosigkeit. Zusätzliche sicherheits-und rüstungskontrollpolitische Leichtsinnigkeiten führten mit zum Regierungsverlust der SPD und seit 1982, so scheint es, ins außenpolitische Abseits. An der Schwelle der neunziger Jahre hat die deutsche Sozialdemokratie keine außenpolitischen Alternativen anzubieten. Die Anti-Amerikanismus-Tendenzen in der SPD haben die SPD mit Blick über den Atlantik isoliert. Ihre Vorschläge in der Sicherheitspolitik gefährdeten eher die sicherheitspolitischen Interessen der Bundesrepublik. Ihre Vorstellungen zur westeuropäischen Integration blieben in Ansätzen stecken.

Die alte, bevorzugte Position der Sozialdemokratie in Osteuropa und vor allem in der Sowjetunion ist weiter im Schwinden. Außerdem war die SPD nicht in der Lage, ihre Kritik an SDI von einem emotionalen. unkritischen und rückständigen Romantizismus zu trennen. Die SPD hat auch im Bereich der Außenpolitik den entscheidenden Wandel in Technologie und Wirtschaft — nicht nur auf den Weltraum bezogen — unzureichend verstanden. Moralistische Tendenzen in der Außenpolitik und idealistische Abrüstungsvorstellungen wärmten zwar das eigene Herz, bewegten außenpolitisch jedoch nichts.

Im Parteienspektrum ist die FDP die interessanteste außenpolitische Formation. Sie wurde zum Garanten für kalkulierten Wandel bei entscheidenden Fragen. Als Garant für eine Gleichgewichtspolitik, die nach Westen und Osten den Spannungsbogen zwischen Staatsräson und nationalem Interesse konstruktiv nutzt, trat sie in den entsprechenden Zeitpunkten auf die möglichen Koalitionspartner SPD oder CDU/CSU zu und wirkte entscheidend auf die Außenpolitik der entsprechenden Regierungskoalition. Ohne die FDP wäre es nicht zur Ostvertragspolitik der frühen siebziger Jahre, aber auch 1982 nicht zur Regierung Kohl/Genscher gekommen. In dieser Koalition hat die FDP die entspannungspolitischen Kräfte in der Union, die ohne die Hilfe der FDP nicht gestaltungsfähig wären, gestützt. Kein Wunder, daß die CSU auch in außen-5 politischer Hinsicht die FDP koalitionsintern bekämpft. Die FDP ist der Garant für außenpolitischen Wandel. aber auch für Stabilität. Sie hat 1982 die außen-politische Orientierung der SPD nach links nicht mehr mitgetragen und dementsprechend mit der CDU/CSU eine Regierungskoalition gebildet, die die tragenden Elemente der Ostvertragspolitik fortführt. in der Sicherheitspolitik und in der Rüstungskontrollpolitik jedoch neue Akzente setzt. Die beiden großen Massenparteien sind für außenpolitische Kurskorrekturen, für schnelles Reagieren auf Wind und Stürme der internationalen Politik bisweilen zu träge. Die FDP ermöglichte bzw. erzwang 1961. 1969 und 1982 hier entscheidende außenpolitische Kursänderungen.

Nicht erst mit Außenminister Genscher hat das Auswärtige Amt eine eigene außenpolitische Tradition von Stabilität und Kontinuität entwickelt. Diese beginnt bereits mit Außenminister Schröder 1961, als sich die Autorität der Kanzlerdemokratie außenpolitisch unter Adenauer verzweigte. Seitdem hat sich die außenpolitische Entscheidungsgewalt des Bundeskanzlers verringert, ist der Entscheidungsbedarf weitflächiger strukturiert. Mehr Institutionen innerhalb des Landes, aber auch der Nachbarstaaten müssen an den Entscheidungen beteiligt werden. An der Schwelle der neunziger Jahre verfügt der Bundeskanzler nur noch über einen relativ geringen Teil an außenpolitischen Entscheidungen. über die er weitgehend autonom befinden kann. Weit über 90 Prozent der außenpolitischen Entscheidungen fallen im multilateralen Rahmen von NATO. EG. EPZ. im Rahmen des KSZE-Prozesses, im GATT und im Rahmen anderer multilateraler oder multinationaler Institutionen. Das bedeutet nicht, daß der Bundeskanzler, der Außenminister und andere keine wesentliche außenpolitische Entscheidungsgewalt mehr besitzen, aber die Art der Entscheidungsfindung hat sich verändert. Die Komplexität der außenpolitischen Themen, der Zeitfaktor und der Zwang zu koalitionspolitischen Absprachen haben zudem an Bedeutung gewonnen.

Für die Außenpolitik der Bundesrepublik stellt sich also eine dritte Frage: Wie wird sie koalitionspolitisch innerhalb der Bundesregierung gehandhabt? Im Unterschied zu den USA. wo zwei Parteien die Regierung und Opposition stellen, rivalisieren in der Bundesrepublik auf Bundesebene vier Partei-gruppierungen: CDU/CSU. SPD. FDP und die Grünen. Da absolute Mehrheiten die Ausnahme bilden, sind Regierungskoalitionen zwischen zwei Parteien die Regel. Dabei gilt es zu berücksichtigen. daß auch innerhalb der Parteien starke Flügel miteinander konkurrieren: In außenpolitischen Fragen muß die SPD parteiintern mit einem starken linken Flügel rechnen, der antiamerikanisch, mit übertriebenem Entspannungsoptimismus, mit Vernachlässigung der sicherheits-und machtpolitischen Aspekte und mit Vorbehalten gegenüber der Westintegration. dafür aber stark national-gesamtdeutsch argumentiert. Innerhalb der CDU/CSU verweisen der Streit zwischen Atlantikern und Gaullisten in den sechziger Jahren, die internen Auseinandersetzungen zur Ostpolitik in den siebziger Jahren und die Gegensätze in der Sicherheitsund Entspannungspolitik, aber auch in der Menschenrechtspolitik der achtziger Jahre auf erhebliche Differenzen. Auch innerhalb der FDP gab es im Verlaufe der Jahrzehnte außenpolitische Richtungskämpfe. Die national-liberale Orientierung der FDP wurde Mitte der sechziger Jahre schwächer. Nach der Ablösung des Parteivorsitzenden Mende wurde unter der Führung von Scheel und Genscher die FDP zum ost-und entspannungspolitischen Schrittmacher der deutschen Parteien.

Hieraus ergibt sich, daß die Antwort auf die Frage, wie Außenpolitik koalitionspolitisch in der Bundesregierung gehandhabt wird, nicht einfach ausfallen kann. Neben den innerparteilichen Auseinandersetzungen kommt es zu Kontroversen zwischen den Koalitionspartnern. Fragt man nach der Kontinuität und dem Wandel in der Außenpolitik der Bundesrepublik. so genügt der Hinweis auf die Bundeskanzler und die beiden großen Parteien CDU/CSU und SPD nicht. Die FDP wurde mit Blick auf die Ost-und Deutschlandpolitik zum Scharnier, das den Wandel ermöglichte. Sie gab der Ost-und Deutschlandpolitik entscheidende Denkanstöße und animierte die großen Parteien zu neuen Überlegungen. War die FDP 1969 der ost-und deutschlandpolitische Vorreiter, so wurde sie 1982 zum skeptischen Mahner, als in der SPD entspannungspolitische Stagnation und sicherheitspolitische Illusionen sich verfestigten. So ist die FDP die klassische außenpolitische Partei der Bundesrepublik geworden. Außenminister Genscher kann als der Stresemann der Außenpolitik der Bundesrepublik bezeichnet werden.

Schließlich sollte daran erinnert werden, daß in der Außenpolitik nicht, wie Politologen gern behaupten. in der Regel Optionen, also verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung stehen, unter denen eine Regierung auswählen kann. Die Geschichte seit 1945 zeigt, daß die Außenpolitik der Bundesrepublik zunächst dem Diktat der Sieger unterlag. Der* Wandel Deutschlands vom mächtigen Subjekt zum ohnmächtigen und geächteten Objekt ließ keine außenpolitischen Optionen zu. Deutschlands tiefer Sturz 1945 aus den Höhen verblendeter Machtpolitik ist in seinem Ausmaß für uns heute kaum noch nachzuvollziehen. Die Entwicklungsgeschichte vom geistig, ökonomisch und politisch halbtoten „Trizonesien" zur Bundesrepublik, die heute als Weltmacht wider Willen bezeichnet werden könnte, gleicht da eher einem Wunder. Die Entstehungsgeschichte der Bundesrepublik auch in ihren außenpolitischen Weichenstellungen war nicht das Ergebnis bewußter politischer Entscheidungen allein. sondern wurde durch spezifische weltpolitische Konstellationen und Ereignisse Schritt für Schritt Wirklichkeit

Entwicklungsgeschichtlich war Deutschland 1945 weder für den Kommunismus eingestellt noch zur freiheitlichen Demokratie fähig. Die siegreichen Alliierten führten die Deutschen geteilt in die kommunistische Diktatur bzw. in die demokratische Freiheit. So gesehen wurden Konrad Adenauer in Bonn und Walter Ulbricht in Ost-Berlin zu den Vollstreckern von ausschließlich ideologisch und machtpolitisch motivierten Staatsgründungen, die keine historischen Wurzeln hatten. Zusammen mit der DDR bildet die Bundesrepublik die spektakulärste spiegelbildartige Neugründung von Staaten, deren spezifische Genesis auf dem Hintergrund des ideologischen und militärstrategischen Reißbretts des Kalten Krieges zu sehen ist.

So hat die Bundesrepublik zwar auch den Vernunft-charakter des Rationalstaates Preußen, aber geringere Bindungen an den deutschen Nationalstaat des 19. oder 20. Jahrhunderts. Auch die Bundesrepublik entstand, wie Preußen, aus der Katastrophe. Aber während Preußen den Nationalstaat noch nicht kannte, war er nach Hitler bereits wieder diskreditiert. Der Rationalstaat Preußen ließ sich in das europäische Kräftesystem des 18. und 19. Jahrhunderts einbinden. Genauso bildeten die beiden deutschen Staaten nach 1945 ein Stabilitätselement in Europa. Wenn man diesem Gedankengang folgt, so vermerkt man nicht ohne Ironie, daß Adenauer in preußische Traditionen eintrat, um Preußen zu überwinden.

Während die Bundesrepublik am Laufgitter und unter dem Schutz der NATO auf die Beine kam, geführt und unterstützt von den USA blieb der ostdeutsche Rationalstaat totalitär im Innern und nach außen abhängig und isoliert. Auch heute noch kennen die Menschen im östlichen Teil Deutschlands seit nun bald 60 Jahren keine andere Erfahrung als die der totalitären Staatsgewalt. Überspitzt ausgedrückt, hat sich Preußen in der Doppelgründung Bundesrepublik und DDR vollendet. In der Bundesrepublik finden wir die positiven altpreußischen Tugenden wie Toleranz, Pflichtbewußtsein und hohe Arbeitsmoral, aber auch Spuren von wilhelminischer Protzerei in Wirtschaft und Gesellschaft. Die DDR hingegen erscheint nur auf den ersten Blick in den vier Jahrzehnten durch die kommunistische Ideologie geprägt. In Wirklichkeit ist sie eine eigene Mischung aus problematischen preußischen Traditionen und Totalitarismus im sozialistischen Gewand: Preußentum und Sozialismus — diese Vision konservativer Denker der Weimarer Republik hat sich, wenn auch unter roter Fahne, in der autoritär-diktatorischen Staatsräson der DDR verwirklicht. Außenpolitisch konnte die DDR an die gemeinsamen preußisch-russischen Befreiungskriege gegen Napoleon anknüpfen und gewisse Traditionen, wenn auch auf problematische Weise, aufrichten. Sie werden durch ideologischen Kitt zusammengehalten.

Für die Außenpolitik der Bundesrepublik hingegen ergeben sich wenig Traditionen, die an Preußen anknüpfen. Die Bundesrepublik vollendete eine außenpolitische Linie, die zwar schon in der Weimarer Republik angelegt war. sich aber dort nicht entfalten konnte: außenpolitische Westorientierung und innenpolitische Demokratisierung als sich gegenseitig bedingende Faktoren. Hatte nach 1918 die außenpolitische Ohnmacht Deutschlands die Entfaltung der Demokratie im Innern erschwert, so vermochte nach 1949 die außenpolitische Verankerung der Bundesrepublik im Westen die demokratische Entwicklung im Innern zu festigen und zu fördern Rathenau und Stresemann hatten in der Westpolitik nicht nur Aussöhnung und Kooperation gesucht, sondern Zugang zu westlichen Märkten und Zutritt zum Welthandel. Was am Ende der Weimarer Republik zusammenbrach — die Bemühungen um Annäherung an den Westen, Prestigegewinn im atlantischen Rahmen, neue wirtschaftliche Chancen über ökonomische Kooperation im Weltmaßstab —, das wurde nach 1949 für den westlichen Teil Deutschlands Wirklichkeit.

Nach 1933 bzw. 1945 war die Tradition einer an Mitteleuropa orientierten deutschen Gleichge-wichtspolitik verloren gegangen. Wer sie wiederzubeleben suchte, wie Jakob Kaiser, scheiterte. Nur wenige Außenseiter der Weimarer Republik, die die klassische Gleichgewichtspolitik in Richtung Westbindung weiterentwickeln wollten, haben Traditionslinien geschaffen, an die man nach 1949 anknüpfen konnte. In der geistigen und politischen Elite von Weimar gab es nur wenige, die eine profilierte Westorientierung Deutschlands und zugleich die Demokratisierung im Innern als Parallel-aktion begrüßten. Unter gewissen Vorbehalten kann man hier Thomas Mann. Emst-Robert Curtius. Friedrich Meinecke. Ernst Troeltsch und Max Weber als geistige Großväter der demokratischen Westbindung der Bundesrepublik bezeichnen. Die weitsichtige Überlegung, daß „die Welt, in der Deutschland seine Heimstätte zu suchen hat, ein angelsächsisches Weltsystem sein wird“, war in Weimar die Ausnahme, wurde aber 40 Jahre später zur Grundlage für die Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland.

Es war tragisch, daß Deutschland nicht schon nach dem Ersten Weltkrieg willens und fähig war, nüchtern zu erkennen: „mit einer weltpolitischen Rolle Deutschlands ist es vorbei: die angelsächsische Weltherrschaft ist Tatsache ... die russische Knute haben wir abgewendet. Dieser Ruhm bleibt uns. Amerikas Weltherrschaft war so unabwendbar wie in der Antike die Roms nach dem Punischen Krieg. Hoffentlich bleibt es dabei, daß sie nicht mit Rußland geteilt wird. Dies ist für mich Ziel unserer künftigen Weltpolitik, denn die russische Gefahr ist nur für jetzt, nicht für immer beschworen.“

Der Kampf um die außenpolitischen Traditionen wurde nach 1945 innerhalb der CDU vordergründig zwischen Konrad Adenauer und Jakob Kaiser ausgetragen. In Wirklichkeit dominierte das amerikanische Konzept der Eindämmung über die klassische. aber gescheiterte Gleichgewichtsdiplomatie des alten Europas, zu der sich unter günstigen Bedingungen auch die Sowjetunion nach 1945 bekannt hätte. Dabei war Otto Hintzes Einsicht von 1926 nach 1945 zwanghafte Realität geworden: „Wir sind kein freies und wehrhaftes Volk mehr, und die Grundvoraussetzungen aller Politik sind damit verändert . . . Der Geist der inneren Politik (ist) abhängig von den äußeren Existenzbedingungen eines Staates. Unsere äußeren Existenzbedingungen sind heute derart, daß auswärtige Politik nur in sehr engen Grenzen überhaupt möglich und jedenfalls des militärischen Nachdrucks völlig beraubt ist. Wir sind im wesentlichen aus einem Subjekt zu einem Objekt der Weltpolitik geworden. Von der gedanklichen Westorientierung zur politischen Westbindung — das ist der entscheidende Schritt von der Weimarer Republik über das Feld der Katastrophe zur Bundesrepublik. Die Westbindung in der Außenpolitik der Bundesrepublik war die zum Teil unfreiwillige Vollendung dessen, was geistig nach 1919 nur von Außenseitern formuliert wurde. Erst im eisigen Klima des Kalten Krieges, das ist das Paradoxe, zog in die Wohnstuben der Westdeutschen die angenehme Wärme von Demokratie ein. Durch die Westbindung wurden Freiheit, Demokratie, Wohlstand und Sicherheit verwirklicht und selbstverständlich. War die Bundesrepublik zu Beginn außenpolitisch und moralisch von minderem Status, so gelang es Adenauer, sie zum Mitbegründer eines westeuropäisch-demokratischen Staaten-systems zu machen. Stabilisierend wirkte außerdem, daß — im Unterschied zur Zeit nach 1919 — nach 1949 die Entwicklung des materiellen Wohlstands die Demokratie im Westen Deutschlands stabilisierte.

Gesamtdeutsche Sirenen rührten zwar national-politische und auch machtpolitische Sehnsüchte, hätten damit aber Freiheit und Wohlstand gefährdet. Hatte doch die Außenpolitik der Bundesrepublik im westeuropäischen Integrationsrahmen und in der atlantischen Verflechtung nicht nur ökonomisch, sondern auch sicherheitspolitisch gesehen einen festen Rahmen in neuer Größenordnung geschaffen. Dieses tragende Mittelstück — politische Entspannung, wirtschaftliche Prosperität und militärische Sicherheit —, das für die außenpolitische Entwicklung der Weimarer Republik fehlte, konnte ab 1949 nach Westen hin entwickelt werden

In gewisser Weise wurde damit die Bundesrepublik durch die Westorientierung für alte Nationalisten „undeutsch“. Sie wurde, um ein unglückliches Wort von Werner Sombart umzukehren, vom Helden zum Händler Diese wirtschaftsorientierte und unpolitische Haltung nach dem Zweiten Weltkrieg war auch Ausdruck von „Katerstimmung eines Berserkers.der seinen Machtrausch ausgeschlafen und sich hinfort zum friedlichen Geldscheffeln ent-schlossen hat Die ausgeprägte wirtschaftspolitische Dimension in der Außenpolitik von Erhard bis. Kohl wurde zum Schlüssel deutscher Weltgeltung. Auch der Kalte Krieg der frühen zwanziger Jahre zwischen der Weimarer Republik und Frankreich steht in krassem Gegensatz zur schnellen und umfassenden Aussöhnung zwischen den alten Erzrivalen nach 1949. Heute sind die deutsch-französischen Konsultationen, ist die deutsch-französische Abstimmung zum zentralen Kugellager westeuropäischer Politik und zu einer tragenden Achse des Atlantischen Bündnisses geworden. Zwischen 1962 und 1987 trafen sich die Bundeskanzler und die französischen Staatspräsidenten fünfzigmal zu Gesprächen. Was man in der Weimarer Republik nicht erreichte, wurde in der Außenpolitik der Bundesrepublik Wirklichkeit; die deutsch-französische Rivalität wurde in das Fahrwasser der Kooperation und Freundschaft gelenkt. Zusätzlich beugte Adenauer mit dem deutsch-französischen Vertrag von 1963 einer französisch-sowjetischen Annäherung vor. Der Bau eines anti-kommunistischen europäischen Dammes wurde damit ebenfalls gestärkt. Die Westpolitik Konrad Adenauers wurde zum bestimmenden Stilelement und zum Ausdruck einer liberal-demokratischen politischen Kultur, die vor 1945 distanziert betrachtet worden war. Es war tragisch für die Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhunderts. daß die Versuche einer Westorientierung in der Weimarer Republik so erfolglos blieben.

II. Stationen

1. Der Primat der Westbindung bei Konrad Adenauer Adenauer personifizierte ein politisches Patriarchat in geglückter Mischung von Konservatismus und Demokratie, wie einige Weitsichtigen es für die Weimarer Republik gewünscht hatten: „Die größte und gesundeste Demokratie der Welt. Nordamerika. (ist) überaus lehrreich durch ihren Gegensatz. Dort ist die Demokratie konservativ und ohne jedes verewigte Revolutionsdogma ... Sie behandelt ihre eigenen verfassungsrechtlichen Grundlagen mit dem allerkonservativsten Respekt, wohl wissend. daß gerade für eine Demokratie das von der allerhöchsten Bedeutung ist und sie allein gegen Anarchie und Leichtsinn schützt ... In dieser Hinsicht wollen wir das Ideal einer konservativen Demokratie aufrichten.“ Auch die anderen politischen Prämissen von Konrad Adenauer — die Ablösung von Preußens Vorherrschaft. die Balance zwischen Föderalismus und Zentralismus beim Staatsaufbau der Bundesrepublik — tauchten schon bei einigen Außenseitern der Weimarer Republik auf. Adenauers Erfahrungen schlugen eine Brücke von der Bundesrepublik zurück zur Weimarer Republik bis in die Wilhelminische Epoche. Andererseits legte er durch die Westbindung Deutschlands Zukunft auf Jahrzehnte fest.

Seiner Politik ist es zu verdanken, daß nach 1945 und vor allem nach 1949 irrationaler Nationalismus in Deutschland nicht wieder aufflammte. In der Außenpolitik praktizierte Adenauer auf patriarchalische Weise Erziehungsdemokratie. Die Westintegration bot nicht nur Souveränität. Sicherheit. Schutz für die demokratische Ausgestaltung der Bundesrepublik, sondern zeigte Dimensionen auf. von denen Deutschland vor 1945. ja auch vor 1914, nur träumen konnte. Die deutsche Fähigkeit im Welthandel, im Management. Arbeitsdisziplin, unternehmerische Initiative, technologischer Erfindergeist und eine positive Grundeinstellung zur freien und sozialen Marktwirtschaft zeigen, daß in der Bundesrepublik „protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ konstruktiv Zusammenwirken. Zu Recht bemerkt Hans-Peter Schwarz: „Die Konsolidierung der Demokratie in der Ära Adenauer führte den empirischen Nachweis, daß es dabei auf die Demokratisierung der Wirtschaft nicht ankommt. Die viel beklagte Restauration des Kapitalismus hat die Demokratie nicht gefährdet, sondern sicherer gemacht. Sie hat ein Maximum an ökonomischer Effizienz und damit eine zuvor unvorstellbare Verbesserung des Massenwohlstandes entfesselt . . . Die Sozialdemokraten hatten der Verbindung von Adenauerscher Integrationspolitik mit dem binnen-und außenwirtschaftlichen Liberalismus Ludwig Erhards nicht viel entgegenzusetzen.“

Ludwig Erhards Wirken erinnert daran, daß die soziale Marktwirtschaft nicht nur innenpolitisch verstanden werden darf. Sie schuf auch die Möglichkeit des Wiedereintritts Deutschlands in den Weltmarkt unter den Bedingungen eines liberalen Welthandels. Erhard dachte und handelte auch als Bundeskanzler internationalistisch, hatte aber — seine Europapolitik beweist dies — unverhohlene Skepsis gegenüber den supranationalen Zielsetzungen der Westintegration. Auch dem Gemeinsamen Markt gegenüber hegte er Vorbehalte; er fürchtete hier protektionistische Tendenzen. Die Entwicklung in den achtziger Jahren zeigt, daß Erhards Skepsis nicht unbegründet war. Auch welt-wirtschaftspolitisch hat Bundeskanzler Erhard in vielerlei Hinsicht recht behalten: Die Wirtschaftspolitik der Staaten ist nationalistischer und protektionistischer geworden. Seine Warnung, daß der Wohlstand nicht zum platten Materialismus degenerieren dürfe, sondern zur Basis freierer Entfaltung der gesellschaftlichen und politischen Kultur werden müsse, bleibt ebenfalls aktuell Die Hall-stein-Doktrin konnte in der Weltpolitik vor allem deshalb wirkungsvoll angewandt werden, weil neben der demokratischen Attraktivität die wirtschaftspolitische Kraft der Bundesrepublik überzeugte. So gesehen, hatte Erhard die wirtschaftspolitischen Grundlagen für den internationalen Alleinvertretungsanspruch der fünfziger und sechziger Jahre gelegt. 2. Die Konzentration auf die Ost-und Deutschlandpolitik unter den Bundeskanzlern Kiesinger und Brandt Auch wenn seine Amtszeit als Bundeskanzler nur knapp drei Jahre ausmachte, so vermittelte Kurt Georg Kiesinger den Deutschen ein verändertes politisches WertgefühL Kiesinger war der erste Kanzler der CDU.der mit Blick nach Osten erkannte. daß eine schonungslose Neueinschätzung nottat. Erst durch ihn — zugegebenermaßen auf Druck der SPD — wurde hier der Weg frei für eine Politik der kleinen Schritte. Die Unionsparteien verdanken Kurt Georg Kiesinger das Bewußtsein für eine eigene entspannungspolitische Tradition, die auf Grundgedanken von Jakob Kaiser zurückgeführt werden kann. Die Ostpolitik wurde gedanklich und terminologisch anspruchsvoller, aber noch fehlte der konzeptionelle Guß.

Kiesinger repräsentierte die Bundesrepublik großbürgerlich-lässig und selbstbewußt. Er gehörte zu den wenigen führenden Politikern in der Union, die sich von Konrad Adenauer nichts bieten ließen. und der. als der Konflikt unabwendbar war. eher in der Provinz sein eigener Herr sein wollte als in Bonn auf Ministerposten zu warten. Diese Außenseiterexistenz.der Verzicht auf eine Hausmacht in Bonn, und die Fähigkeit, abzuwarten, haben sein souveränes Denken und Handeln als Bundeskanzler geprägt. Ihn umgab ein Hauch von Unabhängigkeit. Die Ost-und Deutschlandpolitik der sozialliberalen Regierungskoalition wurde ab 1969 möglich, weil sich die internationalen Rahmenbedingungen verändert hatten. Es gab schon in Ost und West einen Willen zur Entspannung, aber es gab noch keine Entspannungspolitik. In Ost und West war man sich noch nicht darüber im klaren, ob und wie man die unterschiedlichen Interessen in ein Konzept gießen könnte. Auch wußte man noch nicht, mit welchen Methoden und Mitteln mit der anderen Seite eine Entspannungsstruktur würde entwickelt werden können. Es ging also nicht nur um die substantielle Problematik im Ost-West-Verhältnis, sondern auch um die Unsicherheiten bei der diplomatischen Vorgehensweise, um ein „Management der Detente“ zu ermöglichen

Nach der Ratifizierung der Ostverträge im Mai 1972 und mit der Inkraftsetzung des Berlin-Abkommens am 3. Juni 1972 rückte die Bundesrepublik in eine Schlüsselposition der amerikanisch-sowjetischen Entspannungsbemühungen, weil sie die Skepsis der Regierung Nixon und das Drängen der Sowjetunion überbrücken und für eigene Interessen zu nutzen vermochte. Das Treffen von Bundeskanzler Brandt und Parteichef Breschnew im September 1971 in Oreanda auf der Krim symbolisierte die neue, gewachsene Position der Bundesrepublik im Entspannungsgeflecht zwischen Ost und West. Gesprächs-verlauf und Ergebnisse zeigten den Versuch der Sowjetunion, die Bundesrepublik für ihre eigenen Ziele einzusetzen. Breschnews Versuch, das Berlin-Junktim umzudrehen, scheiterte jedoch. Deshalb markierte Oreanda auch den Punkt, an dem deutlich wurde, daß die Bundesrepublik von nun an nicht mehr als Objekt, sondern als handelndes Subjekt die Ost-West-Politik mitgestalten würde. Oreanda markierte kein neues Rapallo, sondern — wenn dieser Vergleich überhaupt möglich ist — den Wunsch nach einem Ost-Locarno, das heißt nach Aussöhnung und Kooperation.

Die Ostpolitik der Regierung Brandt/Scheel war weniger Reflex oder Reaktion auf die Politik der Regierung Nixon sondern vielmehr Ausdruck eines neuen Selbstbewußtseins der Bundesrepublik Deutschland, die — nach der Aussöhnung mit dem Westen und nach der Wiedergutmachung gegenüber Israel — nun die Normalisierung gegenüber den Staaten in Osteuropa und der DDR selbstbewußt und vorbildlich praktizierte. Lediglich unter taktischen Aspekten, wie z. B. unter dem Gesichtspunkt der hohen Anlaufgeschwindigkeit, hatte die Ostpolitik der Bundesrepublik nicht nur im Osten, sondern auch im Westen Widerstände und Skepsis zu überwinden. Gleichwohl stand der Wandel der Bundesrepublik vom Mitmacher zum Schrittmacher in Europa, ihr Aufstieg zur europäischen Entspannungsvormacht im Einklang mit den grundlegenden Prämissen des westlichen Bündnisses.

Die Stagnation in der Ost-und Deutschlandpolitik gegen Ende 1973 markiert zugleich neue Schwerpunkte in Brandts außenpolitischen Überlegungen. Ihm genügte es nicht mehr, „die klassischen Motivierungen von Streitigkeiten zu untersuchen: territoriale Ansprüche, ideologische Herrschaftsprobleme. Versuchungen imperialistischer Dominanz. Schwächen der Sicherheitssysteme. Erschütterungen des Gleichgewichts ... es gibt Gewalttätigkeit durch Duldung, Einschüchterung durch Indolenz, Bedrohung durch Passivität. Totschlag durch Bewegungslosigkeit“ — dies wollte Brandt ändern. Vor den ost-und deutschlandpolitischen Schwierigkeiten flüchtete er in die weltpolitische Vision der Versöhnung und Gerechtigkeit. So gesehen, war sein Rücktritt im Mai 1974 außenpolitisch konsequent. 3. Der Eintritt der Bundesrepublik in die weltpolitische Dimension unter Helmut Schmidt Bundeskanzler Helmut Schmidt repräsentierte ein neues Deutschland, von dem man in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur hätte träumen können: eine im Innern — trotz terroristischer Aktivitäten — gefestigte und nach außen selbstbewußte Bundesrepublik. Schmidt mußte nicht mehr politische Anerkennung moralisch erarbeiten. Das hatten vor ihm Konrad Adenauer im Westen und Willy Brandt im Osten getan. Er mußte das außenpolitische Erbe in Zeiten der Krise zusammenhalten und, wenn möglich, vergrößern. Schmidt suchte deshalb die ökonomischen Gefahren für die Bundesrepublik. die von Weltwirtschaftskrisen und politischen Pendelschwüngen der USA ausgingen, zu bannen. Ferner wollte Schmidt die ostpolitische Flanke der Bundesrepublik vor Supermachtkonfrontationen oder sowjetischem Machtgewinn schützen.

Helmut Schmidts Blick über die europäischen Grenzen hinaus blieb im deutschen Interesse ökonomisch orientiert. Den amerikanischen Anspruch auf weltweite Unteilbarkeit der Entspannung beobachtete er mit Skepsis, fürchtete er doch, daß bei amerikanisch-sowjetischen Turbulenzen die Westeuropäer und zumal die Westdeutschen in den Sog globaler Spannungen geraten könnten. Schmidts Persönlichkeit, seine Sachkenntnis in internationalen Fragen, seine Gleichgewichtsdiplomatie und seine Berechenbarkeit waren ausschlaggebend dafür. daß die Bundesrepublik zu einer Weltmacht zweiter Ordnung aufstieg. Der alte Gegensatz zwischen dem Wirtschaftsriesen und dem politischen Zwerg — dieser deutsche Homunkulus der Nachkriegszeit — war verschwunden. Dank Willy Brandts Ostpolitik und aufgrund eigener Leistungen in den verschiedenen Welt-und Energiekrisen der siebziger und frühen achtziger Jahre hatte Schmidt die ökonomische Großmacht Bundesrepublik auch politisch auf eine globale Ebene angehoben. Begünstigt wurde dieser Prozeß dadurch, daß die westlichen Partner Machteinbußen hinnehmen mußten, hingegen die Bundesrepublik unter Schmidt mit vielen Krisen in der Welt besser fertig wurde.

Während der Amtszeit Helmut Schmidts wurden die internationalen Sicherheitsprobleme komplexer: Ökonomische, politische, militärische, terroristische und ökologische Fragen schufen zum Teil kompliziert miteinander verknüpfte Sicherheitsdimensionen, die in ihren Wechselwirkungen die Schwierigkeiten verschärften -Schmidts sicherheitspolitisches Trauma war weniger ein sowjetischer Angriff, sondern vielmehr wirtschaftliche Depression und eine Welt ohne Märkte für die export-abhängige Bundesrepublik. Deshalb war er auch bereit, hohe Preise zu zahlen, wenn es darum ging, die wirtschaftliche und politische Rolle der Bundesrepublik in den bilateralen Beziehungen, in der Europäischen Gemeinschaft, im atlantischen Rahmen. im Ost-West-Geflecht oder global zu stützen bzw. zu vergrößern.

Helmut Schmidt personifizierte Max Webers politisches Credo von der protestantischen Verantwortungsethik eindringlich: „Wer weiß, daß er so oder so. trotz allen Bemühens, mit Versäumnis und Schuld belastet sein wird, wie immer er handelt, der wird von sich selbst nicht sagen wollen, er habe alles getan und alles sei richtig gewesen. Er wird nicht versuchen. Schuld und Versäumnis den anderen zuzuschieben; denn er weiß: Die anderen stehen vor der gleichen unausweichlichen Verstrickung. Wohl aber wird er sagen dürfen: Dieses und dieses haben wir entschieden, jenes und jenes haben wir aus diesen oder jenen Gründen unterlassen. Alles dies haben wir zu verantworten.“ Max Webers Vorstellung vom europäischen Menschen, seine kritischen Beobachtungen über Bürokratie und Kapitalismus wurden von Schmidt instinktiv oder bewußt formuliert und personifiziert Bei Schmidt wurde deutlich, daß geistige Traditionen von Wirtschaft. Staat und Gesellschaft der Bundesrepublik bis zurück ins Kaiserreich reichen. Schmidt repräsentierte einen Politikertypus, der. wenn er Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts regiert hätte, die deutsche Geschichte vielleicht auf ein anderes Gleis hätte setzen können.

Durch Entspannung nach Osten und durch Wahrnehmung der Bündnispflichten nach Westen wurde die deutsche Außenpolitik unter Bundeskanzler Schmidt zu einer internationalen Ausnahmeerscheinung. Während seiner Kanzlerschaft verschmolzen Westpolitik und Ostpolitik, die vormals als unvereinbar gegolten hatten, zu einer Einheit auf neuer Ebene, die eine selbstbewußte Staatsräson der Bundesrepublik erst möglich machte. Mit dem Aufbau des dritten Pfeilers, einer ausbalancierten Energiekrisen-Diplomatie. brachte Schmidt die Bundesrepublik in eine zentrale Rolle in der Weltwirtschaftspolitik: „Bei der Gestaltung des Finanzsystems der Welt sind wir ein erstklassiger Partner ... in einer solchen Frage ist natürlich die Bundesrepublik Deutschland eine Weltmacht.“

Schmidt hat Außenpolitik selbstbewußt im Rahmen der Gegebenheiten durchgeführt. Die damaligen Machtverschiebungen von den USA in die Haupt-städte Westeuropas wurden von ihm klug genutzt. Er personifizierte deutsche, ja auf eigene Weise preußische Politik im westeuropäischen Gewand. Zwischen Ost und West hatte er in Phasen schwerster Krisen zu vermitteln versucht, ohne die Westbindung der Bundesrepublik infrage zu stellen. Er symbolisierte für ein knappes Jahrzehnt außenpolitische Stabilität und Verläßlichkeit während einer turbulenten globalen Entwicklung. Kein Kanzler in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands hat sich so um Aufrechterhaltung der Balance zwischen Sicherheit und Entspannung bemüht wie er. aber keiner hat auch vor den Entwicklungen in der eigenen Partei so kapitulieren müssen wie er. Er scheiterte, weil seine maßvolle Form erwachenden deutschen Nationalbewußtseins von einer Welle diffuser. emotionaler Vorstellungen zu Sicherheit und Entspannung in seiner Partei überrollt wurde. Es scheint so. als ob er am Ende seiner Kanzlerschaft keine Kraft mehr besaß, sich gegen die rücksichtslose Demontage seiner Person und Politik zu wehren. Eine neue Unduldsamkeit gegenüber den USA wie gegenüber der Allianzpolitik im allgemeinen wurde in der SPD erkennbar. Umgeben von nur wenigen Getreuen stand Helmut Schmidt beim NATO-Doppelbeschluß schließlich allein in seiner Partei.

Ähnlich wie Julius Leber auf dem Magdeburger Parteitag der SPD 1929 seinen Genossen zu bedenken gab. daß eine Republik, in der es zwischen dem Heer und der Arbeiterklasse eine unüberbrückbare Kluft gebe, unmöglich Bestand haben könnte, kritisierte Bundeskanzler Schmidt die pazifistischen und illusionistischen Tendenzen in der SPD der siebziger und achtziger Jahre. Vom pazifistischen Schlachtruf von 1928: „Keine Panzerkreuzer, sondern Brot für unsere Kinder!“ führte ein Bogen zum Wahlslogan von 1987: „Statt Krieg der Sterne — Frieden auf Erden“. So einfach schien das. so irreführend war es. •

Für einige Jahre konnte Schmidt den außenpolitischen Radius der Bundesrepublik enorm ausdehnen. vielleicht sogar überdehnen. Seine diplomatischen Fähigkeiten, sein Mut. in Krisen kraftvoll und gemeinsam mit anderen Partnern zuzupacken, machten ihn zum globalen Krisenmanager: Zuerst im Rahmen der Weltwirtschaftsgipfel, dann nach der Doppelkrise Iran/Afghanistan, als er die Sprachlosigkeit der „zwei neurotischen Riesen“ überbrücken wollte. Schließlich hatte er sich außen-politisch übernommen, wich innenpolitisch vor unpopulären Tendenzen zurück und scheiterte parteipolitisch. Die drei Leitlinien für Außenpolitik — außenpolitische Kompatibilität, innenpolitischer Konsens und parteipolitische bzw. koalitionspolitische Geschlossenheit — zerbrachen 1982 in der Regierung Schmidt/Genscher. 4. Zwischenbilanz der Außenpolitik der Regierung Kohl Die außenpolitische Konstellation war an der Jahreswende 1982/83 für die Regierung Kohl/Genscher ungünstig: Die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen hatten sich seit dem Machtantritt von Ronald Reagan beständig verschlechtert. Reagan suchte ideologische Konfrontation, rüstete mächtig nach und versuchte . vor allem, die westeuropäischen Verbündeten auf diese Konfrontationspolitik gegenüber der Sowjetunion einzuschwören. Kohl gelang überraschend schnell ein erstaunlicher Balanceakt: Auf der einen Seite gewann er das Vertrauen der Regierung Reagan und verbesserte die deutsch-amerikanischen Beziehungen, die durch schleichende Neutralismustendenzen und Anti-Amerikanismus in der führenden Regierungspartei bis 1982 negativ beeinflußt worden waren. Mit wenigen geschickten Gesten verbesserte Kohl die bilateralen Beziehungen zwischen Bonn und Washington: andererseits war jedoch unübersehbar, daß hinter konzilianter Rhetorik Bundeskanzler Kohl die originären sicherheits-und entspannungspolitischen Interessen der Bundesrepublik, wie sie sich im Verlaufe der siebziger Jahre entwickelt hatten, auch gegen den Widerstand der USA zu sichern suchte.

Aber die Art und Weise, wie die Regierung Kohl/Genscher mit den außenpolitischen Problemen umging. hatte sich entscheidend verändert. Schmidt hatte zum Teil mit unnötiger Härte amerikanische Politik kritisiert und zu wenig Verständnis für die emotionale und innenpolitische Seite der amerikanischen Außenpolitik entwickelt. Kohl hingegen erkannte schnell, daß das amerikanische Selbstwertgefühl, das außenpolitisch in den siebziger Jahren schwer gelitten hatte, durch wenige emotionale Gesten positiv verändert werden konnte. Anders als Schmidt, der bisweilen mit dem Säbel rasselte, argumentierte Kohl in Washington mit dem Florett. Die Regierung Kohl/Genscher leistete bei der Nachrüstung einen herausragenden Beitrag zur Bündnistreue und zur Absage an Bestrebungen, nationale oder neutrale Alleingänge bzw.den Austritt aus der NATO zu propagieren. Auch hatten Kohl und Genscher seit Oktober 1982 die Regierung Reagan zu einem Gipfeltreffen mit der sowjetischen Führung gedrängt. Aber das Regime der alten Männer Breschnew/Andropow/Tschernenko. die innerhalb einer kurzen Zeit verstarben. machte einen kontinuierlichen Aufbau der amerikanisch-sowjetischen. aber auch der deutsch-sowjetischen Beziehungen unmöglich.

Zum herausragenden Erfolg aber wurde die Deutschlandpolitik der Regierung Kohl/Genscher. In den knapp sechs Jahren hat die Regierung Kohl/Genscher eine Dynamik der Deutschlandpolitik entwickeln können, die vorher als Utopie abgetan worden wäre. Dies gelang ihr durch Berechenbarkeit und durch ein eindeutiges Bekenntnis zur westlichen Bündnispolitik, wie sie im Harmel-Bericht von 1967 festgelegt wurde: Auf der Grundlage gesicherter Verteidigungsfähigkeit den Dialog und die Zusammenarbeit mit den Staaten in Mittel-und Osteuropa aufzubauen.

Die Regierung Kohl/Genscher konnte beweisen, daß der Wechsel von einer sozialdemokratisch zu einer christlich-demokratisch geführten Regierung die Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten nicht verschlechterte; durch Kontinuität und Berechenbarkeit wurde vielmehr eine Wende zum Besseren erreicht. Wandel wird erkennbar in der Betonung der freiheitlichen, rechtlichen und bündnispolitischen Verankerung der Ost-und Deutschlandpolitik. Keine schwammigen gesamtdeutschen Perspektiven, kein buchhalterisches Aufrechnen, keine hölzerne Rhetorik, die das Trennende gewunden vermeidet, sondern selbstbewußtes und maßvolles Auftreten ohne Polemik haben seit 1982 überwogen. 38 Jahre nach der Gründung der beiden deutschen Staaten wurde zum erstenmal der führende Repräsentant der DDR mit allen protokollarischen Ehren in der Bundesrepublik empfangen. Diese faktische Anerkennung der DDR als unabhängiger und gleichberechtigter deutscher Staat durch die Bundesrepublik Deutschland markierte eine historische Zäsur in der Deutschlandpolitik. Es war auch ein großer parteipolitischer Erfolg für Helmut Kohl. Die Partei, die durch die Ostvertragspolitik in die schärfste Krise ihres außenpolitischen Selbstverständnisses gestürzt worden war, konnte von Kohl erfolgreich über den entspannungspolitischen Rubikon gezogen werden. Es gelang hier Bundeskanzler Kohl relativ schnell, aus dem Schatten seiner Vorgänger Brandt und Schmidt herauszutreten. Verläßlichkeit und Berechenbarkeit wurden zum herausragenden Merkmal seiner Außenpolitik.

III. Zusammenfassung

Im historischen Vergleich mit Preußen, dem Kaiserreich.der Weimarer Republik und dem Dritten Reich ist die außenpolitische Bilanz der Bundesrepublik eindrucksvoll. Gleichzeitig wirken die außenpolitischen Traditionen weiter fort Die vier Jahrzehnte bundesrepublikanischer Außenpolitik haben aber auch gezeigt, daß die Bundesrepublik eine eigene außenpolitische Tradition entwickelt hat und diese weiter an Prägekraft gewinnt. Dabei hat sich die außenpolitische Staatsräson unseres Staates gewandelt. Im Ursprung auf den Provisoriumscharakter der Bundesrepublik zugeschnitten, hat gerade ihre Außenpolitik den Wandel vom Pro-13 visorium zum Definitivum gefördert. Die Westbindung bleibt das außenpolitische Grundgesetz und prägt die außenpolitische Staatsräson entscheidend. Zusätzlich hat im Verlauf der siebziger Jahre die Bundesrepublik ein eigenes Entspannungsinteresse entwickelt. Was früher eine außenpolitische Option unter vielen war, ist heute eine nationalpolitische Notwendigkeit geworden, die dann auf breitem innenpolitischen Konsens ruht, wenn sie mit Realismus und Augenmaß betrieben wird. Gleichzeitig markierte die Vertragspolitik nach Osten vermutlich den letzten Akt souveräner Außenpolitik der Bundesrepublik. Zunehmend wird auch in der Ostpolitik im bündnispolitischen Geleitzug gefahren.

Die Bundesrepublik ist für die Staaten Osteuropas und vor allem für die Sowjetunion zum zentralen westlichen Ansprechpartner geworden, also die westeuropäische Entspannungsvormacht. Hinzu kommt, daß im Zuge der Ostpolitik die Bundesrepublik sich zum wichtigsten Wirtschaftspartner der sozialistischen Staaten entwickelt hat. Gab es in den fünfziger Jahren keine Ostpolitik, sondern nur eine Rhetorik des Roll Back und eine sogenannte Magnettheorie, die das kommunistische System zum Einsturz bringen sollten, so ist bei der Ost-und Deutschlandpolitik der siebzigerJahre Aussöhnung und nüchternes Interessenkalkül bestimmend geworden.

Die militärische Bedrohungsanalyse hat sich gewandelt. Ging man in den fünfziger Jahren von einer direkten militärischen Bedrohung durch die Sowjetunion bzw.den Warschauer Pakt aus. so ist seit den siebziger Jahren die Forderung nach militärischem Gleichgewicht nicht durch Kriegsgefahr begründet, sondern durch die Gefahr der politischen Erpreßbarkeit im Falle von politischen Krisen. Im Zuge der Ostpolitik wurde zugleich eine Renaissance der Mitteleuropa-Tradition in der Außenpolitik der Bundesrepublik erkennbar, die zum Teil durch übersteigertes Harmoniebedürfnis flankiert wurde und vergessen läßt, daß auch Entspannungspolitik sich nicht an den harten Realitäten der Macht vorbei entwickeln läßt. • Herausragendes Kennzeichen des außenpolitischen Wandels ist das Ausgreifen in die Weltpolitik: Die Bundesrepublik hat seit den siebziger Jahren nicht nur ein vertragliches Netz nach Osten, sondern ein dicht gewebtes Netz im weltpolitischen Maßstab aufgebaut. Auch im Stil ihrer Außenpolitik hat die Bundesrepublik längst die Provinzialität der fünfziger Jahre hinter sich gelassen. Kosmopolitische Selbstverständlichkeit dominiert. Auch die Attraktivität machtpolitischer Attribute hat sich verändert: Die Bundesrepublik beharrt im Unterschied zu den fünfziger Jahren nicht auf nuklearer Mitbestimmung, sondern betont ihren nicht-nuklearen Status. Abgesehen von der bipolaren Nuklear-Aristokratie besitzt die Bundesrepublik dabei zumindest ebensoviel weltpolitischen Einfluß wie alle anderen Nuklearmächte. Blicken wir in den historischen Rückspiegel, so stellen wir fest, daß die Bundesrepublik weltpolitisch weiter gekommen ist, mehr Ansehen gewonnen hat, mehr Einfluß besitzt als beim nervösen wilhelminischen Streben nach einem Platz an der Sonne oder zu Zeiten der Weimarer Republik.

Im Verhältnis zur DDR ist außenpolitisch Wandel eingetreten unter dem Aspekt, daß beide Staaten in der UNO vertreten sind. Die Bundesrepublik hat auch der DDR den Weg frei gemacht für diplomatische Beziehungen mit allen Ländern der Welt. Trotzdem ist unübersehbar, daß das DDR-Regime im Weltmaßstab nicht mithalten kann. Die Bundesrepublik hat zwar politisch und rechtlich den Alleinvertretungsanspruch weitgehend aufgegeben; politisch-moralisch aber klaffen in den Augen der globalen Staatengemeinschaft Welten zwischen den beiden Teilen Deutschlands. Die moralische Fürsorgepflicht der Bundesrepublik mag sich nicht mehr expressis verbis auf die Wiedervereinigung beziehen — aber neben der Fürsorgepflicht ist die Geltendmachung des Rechts auf Selbstbestimmung, auf Verwirklichung der Menschenrechte ungebrochen.

Auch wenn die deutsche Frage im Kem ungelöst geblieben ist, so hat sie sich in der Fragestellung verändert: Die Gretchenfrage, ob Wiedervereinigung möglich ist. erscheint anachronistisch. Nicht Wiedervereinigung, sondern das Recht auf Selbstbestimmung ist langfristig entscheidend. Der Blick für Gemeinsamkeiten im Nationalbewußtsein hat trotz der Gegensätze an Intensität gewonnen. Politisch hat es bisweilen den Anschein, als ob beide Deutschlands sich gegenseitig unterstützen. Dies war noch bis zu Beginn der siebziger Jahre undenkbar. Diese Interessen werden durch neue gemeinsame Herausforderungen im Umweltschutz oder bei der Abrüstung intensiviert. Aber der harte Kern der deutschen Frage bleibt ungelöst, solange Unterdrückung und Fremdbestimmung jenseits der Elbe fortwirken.

Seit Beginn der siebziger Jahre hat mit der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) der westeuropäische Regionalismus für die Außenpolitik der Bundesrepublik an Bedeutung gewonnen. Über die EPZ sucht die Bundesrepublik mit den westeuropäischen Partnern weltpolitische Verantwortung. Die Bundesrepublik hat auf diesem Wege in Abstimmung mit den Partnern an kosmopolitiB scher Orientierung gewonnen. Dieser weltpolitische Rang der Bundesrepublik, besonders in der wirtschaftspolitischen Dimension, zwingt gleichzeitig zu mehr Vorsicht. Die zu balancierenden Bälle sind wertvoller, aber auch fragiler und vor allem zahlreicher geworden.

An der Schwelle der neunziger Jahre ist die Bundesrepublik ein Garant des Friedens in Europa und der Stabilität im Weltwirtschaftssystem. Sie trägt die Hauptlast der Verteidigung Westeuropas, ist der wichtigste europäische Partner im NATO-Bündnis und stellt hier den größten Anteil für die konventionelle Verteidigung in Europa. Sie ist das Land mit der wichtigsten Volkswirtschaft und eine der Führungsmächte der Europäischen Gemeinschaft. Sie bleibt ein Land, das aufgrund seiner geopolitischen Lage, der exponierten Stellung Berlins und seiner Verbindung zu den Deutschen in der DDR verpflichtet ist. ihre internationale Kraft und den entspannungspolitischen Willen zum Ausgleich und zur Friedenssicherung zu nutzen. Sie arbeitet am Bau einer globalen Entspannungsbrücke zwischen den USA und der Sowjetunion mit. Nicht Nuklearstatus, sondern wirtschaftliche Kraft und zivilisatorische Attraktivität machen ihre Wirkung aus.

Es ist zugleich Schicksal wie Chance der Deutschen, daß Staatsräson und nationales Interesse auch in der Zukunft konstruktiv ausgeglichen werden müssen. Dazu brauchen wir Patriotismus, moralische Sensibilität und verantwortungsethische Machtpolitik. Dann wird sich die Bundesrepublik auch in Zukunft in der Welt behaupten, wird ihr außenpolitisches Format reifen und weiter politische Anziehungskraft ausstrahlen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Otto Hintze. Soziologie und Geschichte. Göttingen 1982. S. 200.

  2. Jakob Kaiser. Wir haben Brücke zu sein: Reden und Schriften, hrsg. von Christian Hacke. Köln 1988.

  3. Wolfram F. Hanrieder. Compatibility and Consensus: A Proposal For the Conceptual Linkage of External and Internal Dimensions of Foreign Policy. in: American Political Science Review. (1967) 4. S. 971— 982.

  4. Friedrich Meinecke. Die Idee der Staatsräson in der Neueren Geschichte. München-Berlin 1929. Zur Konzeptualisierung des Begriffspaars „Staatsräson“ und „nationales Interesse“ mit Blick auf die Ost-und Deutschlandpolitik siehe: Christian Hacke. Soll und Haben des Grundlagenvertrags, in: Deutschland Archiv. (1982) 12. S. 1282— 1304. Zu früheren Überlegungen siehe: Hans-Peter Schwarz. Die Politik der Westbindung oder die Staatsräson der Bundesrepublik, in: Zeitschrift für Politik. (1975) 4. S. 307-337, und Waldemar Besson. Die Außenpolitik der Bundesrepublik. Erfahrungen und Maßstäbe. München 1970. Auch Werner Link hat diese Gedanken aufgegriffen: Die außenpolitische Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland, in: M. Funke/H. -A. Jacobsen/H. -H. Knütter/H. -P. Schwarz (Hrsg.), Demokratie und Diktatur (Festschrift für K. D. Bracher). Düsseldorf 1987. S. 400-416.

  5. Vgl. hierzu Christian Hacke. Die Ost-und Deutschland-politik der CDU/CSU. Wege und Irrwege der Opposition seit 1969. Köln 1975.

  6. Vgl. hierzu Hans-Peter Schwarz. Die Ära Adenauer 1949— 1957. und ders.. Die Ära Adenauer 1957— 1963. Stuttgart 1981 und 1983.

  7. Dieses Bild stammt von Manfred Knapp. Sorgen unter Partnern. Zum Verhältnis zwischen den USA und der Bundesrepublik Deutschland. Hannover 1984. S. 70.

  8. Oswald Spengler. Preußentum und Sozialismus. München 1919.

  9. Vgl. hierzu Peter Krüger. Die Außenpolitik der Republik von Weimar. Darmstadt 1985. S. 297 ff.

  10. So Max Weber, zit. nach: Marianne Weber. Max Weber, ein Lebensbild. Tübingen 1926. S. 648.

  11. Otto Hintze. Soziologie und Geschichte (Anm. I). S. 202.

  12. Vgl. hierzu H. Boockmann/H. Schilling/H. Schulze/M. Stürmer. Mitten in Europa. Deutsche Geschichte. Berlin 1984.

  13. Werner Sombart. Händler und Helden. Patriotische Besinnungen. München-Leipzig 1915. Für den Hintergrund: Klaus Schwabe. Wissenschaft und Kriegsmoral. Die deutschen Hochschullehrer und die politischen Grundfragen des Ersten Weltkrieges. Göttingen 1969.

  14. Dieses Bild stammt von Hans-Peter Schwarz: Die Rollen der Bundesrepublik in der Staatengesellschaft, in: K. Kaiser/R. Morgan (Hrsg.). Strukturwandlungen der Außenpolitik in Großbritannien und der Bundesrepublik. München 1970. S. 237.

  15. Ernst Troeltsch. Die deutsche Demokratie, in: ders.. Spektator-Briefe. Tübingen 1924. S. 311 ff. Ebenso wichtig: Ernst Troeltsch. Deutscher Geist und Westeuropa. Tübingen

  16. H. -P. Schwarz. Die Ära Adenauer 1957— 1963 (Anm. 6). S. 341.

  17. Vgl. Klaus Hildebrand. Von Erhard zur Großen Koalition 1963— 1969. Stuttgart 1984. Knapp, aber anformativ: Volkhard Laitenberger. Ludwig Erhard. Der Nationalökonom als Politiker. Göttingen 1986.

  18. Philip Windsor. Germany and the Management of Detente. London 1971.

  19. Vgl. Christian Hacke. Die Ära Nixon/Kissinger. Konservative Reform der Weltpolitik 1969— 1974. Stuttgart 1983.

  20. Rede von Willy Brandt vor der UNO-Vollversammlung am 26. September 1973. zit. nach: Die Internationale Politik 1973. Dokumente. München 1974. S. D 680.

  21. Vgl. hierzu Wolfgang Jäger/Werner Link. Republik im Wandel. Die Ära Schmidt 1974— 1982. Stuttgart 1987.

  22. Helmut Schmidt. Regierungserklärung vom 20. Oktober 1977 auf dem Höhepunkt der terroristischen Aktivitäten in der Bundesrepublik.

  23. Vgl. hierzu die Rede von Helmut Schmidt bei der Entgegennahme des Theodor-Heuss-Preises: Gesinnung und Verantwortung in politischer Sicht, vom 21. 1. 1978 in München. ahgedr. in: Bulletin des Presse-und Informationsamtes der Bundesregierung. Nr. 8. 27. 1. 1978.

  24. Vgl. hierzu: David P. Calleo. Legende und Wirklichkeit der deutschen Gefahr. Bonn 1981.

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Christian Hacke. Dr. phil.. geb. 1943; seit 1980 Professor für Politikwissenschaft/Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr Hamburg. Veröffentlichungen u. a.: Die Ost-und Deutschlandpolitik der CDU/CSU — Wege und Irrwege der Opposition seit 1969. Köln 1975; Die Ära Nixon-Kissinger 1969— 1974. Konservative Reform der Weltpolitik. Stuttgart 1983; Von Kennedy bis Reagan. Grundzüge der amerikanischen Außenpolitik 19601984. Stuttgart 1984; Amerikanische Nahost-Politik. Kontinuität und Wandel von Nixon bis Reagan. München 1985; (Hrsg.) Jakob Kaiser. Wir haben Brücke zu sein . . . Reden und Schriften. Köln 1988.