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Die normativen Voraussetzungen der Umweltpolitik. Zur Wiederannäherung von Ethik und Politik | APuZ 27/1988 | bpb.de

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APuZ 27/1988 Die normativen Voraussetzungen der Umweltpolitik. Zur Wiederannäherung von Ethik und Politik Umweltpolitik in Europa -Möglichkeiten und Grenzen Grundfragen einer ökologisch ausgerichteten Wirtschafts-und Umweltpolitik

Die normativen Voraussetzungen der Umweltpolitik. Zur Wiederannäherung von Ethik und Politik

Horst Zilleßen

/ 33 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Von den Umweltpolitikern aller Parteien ist in der Vergangenheit immer wieder die Notwendigkeit einer Umweltethik hervorgehoben worden. Offenbar haben sie erkannt, daß die Politik wie das Verhalten des einzelnen ethischer Handlungsanleitungen bedarf, um Zukunft verantwortlich gestalten zu können. Klarheit über die grundlegenden umweltethischen Prinzipien ist dabei freilich leichter zu gewinnen, als sie in praktische Politik umzusetzen. Das liegt nicht nur an divergierenden Interessen, die mit dem Prozeß der Umsetzung unvermeidlich verbunden sind, sondern zunächst an einem Politikverständnis, das auf die Macht als Mittel der Politik fixiert ist und die Frage nach den Zielen der politischen Entwicklung in den Hintergrund drängt. Die Entwicklung der Politik wie des Politikverständnisses hat dazu geführt, daß das Machtstreben sich verselbständigt, der Machterwerb wird zum Selbstzweck, die anzustrebende Entwicklung des Gemeinwesens wird als das von selbst sich einstellende Ergebnis vernünftig geregelter Machtprozesse erklärt. Die freiheitsichernde Wirkung von Machtbalance und Machtkontrolle ist unbestritten, offen bleibt aber in umweltethischer wie umweltpolitischer Perspektive die Frage, ob der geregelte Prozeß des Interessen-oder Machtausgleichs allein langfristig die Lebensfähigkeit unseres Gemeinwesens, letztlich des Gemeinwesens „Erde“, zu erhalten vermag. Muß nicht der Machtprozeß durch eine Zielvorgabe gesteuert werden, um zu gewährleisten, daß nicht durch individuelle oder partielle Machtansprüche die Identität des Gemeinwesens gefährdet wird? f Die Betrachtung der bisherigen Umweltpolitik legt den Schluß nahe, daß umweltethische Einsichten und Einwände relativ belanglos geblieben sind. Daher sind die Voraussetzungen zu prüfen, die der Umwelt-ethik eine größere politische Wirksamkeit verleihen, sowie entsprechende Strukturen und Verfahren zu entwickeln, die gegenüber dem vorherrschenden Individualismus und Partikularismus eine „Besinnung auf das Ganze“ erzwingen.

I. Konjunktur der Ethik

Das Reden über Ethik ist gegenwärtig in Mode gekommen. Manche mag es überraschen, daß in einer hedonistischen Kultur, in der das elementare Verlangen nach Bedürfnisbefriedigung in eine gesellschaftlich anerkannte, jedenfalls praktizierte Genußsucht umgeschlagen ist, allenthalben ethische Fragen laut werden. Sie werden erstaunlicherweise nicht nur in kirchlichen Akademien oder in den Feuilletons großer Tageszeitungen aufgenommen, sondern auch von anerkannten Wissenschaftsorganisationen und sogar von politischen Gremien:

Im Oktober 1986 hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft ein Schwerpunktprogramm „Philosophische Ethik — Interdisziplinärer Ethikdiskurs“

beschlossen. Im November 1986 hat gar eine Runde von Ministern über Ethik diskutiert; die Konferenz der Gesundheitsminister der Länder gab in Berlin eine Entschließung über „Ethik in der Medizin“

heraus.

Gerade hatten wir gelernt, das die Philosophie der zynischen Vernunft zu einer radikalen Ironisierung der Ethik führe und dem auch zugestimmt, denn die praktische Politik liefert täglich Beispiele für diese Ironisierung, und nun erleben wir — trotz Hedonismus und Zynismus — eine neue Konjunktur der Ethik! Dies kann freilich so überraschend nicht sein, denn es ist nicht mehr als plausibel, daß die Grundfrage der Ethik „Was sollen wir tun?“ vermehrt gestellt wird in einer Zeit, in der der Mensch zwar fast alles tun kann, was er will, aber daher auch nicht mehr weiß, was er wollen soll. Die Freiheit, entscheiden zu können, ist die Voraussetzung von Ethik (dieser Satz gilt anthropologisch wie auch im Blick auf die jeweiligen konkreten Lebens-umstände), und je größer diese Freiheit ist, um so drängender und schwieriger wird logischerweise die Frage der Ethik. Dies auch deshalb, weil die Folgen dessen, was zu tun wir die Freiheit haben, dann um so unberechenbarer werden und also auch krisenhafte Entwicklungen einschließen können

Wenn heute gerade Politiker der Ethik das Wort reden, dann kann der Grund dafür sicher auch darin liegen, daß sie zwar das entsprechende Defizit in der Politik erkannt haben, aber dessen Ausgleich nur verbal und zur Beruhigung ihres schlechten Gewissens fordern, weil sie wohl wissen oder zu wissen meinen, daß die Politik sich durch ethische Einwände kaum beirren läßt. Es kann freilich auch sein, daß in der Politik tatsächlich die Einsicht zu wachsen beginnt, daß sie ethischer Impulse und Handlungsanleitungen in wachsendem Maße bedarf, wenn nicht die Freiheit, alles tun zu können, in Verantwortungslosigkeit umschlagen soll, die dann die Freiheit selbst bedroht.

Die Umweltpolitik liefert anschauliche Belege für den hier angesprochenen Zusammenhang. Bevor aber auf die tatsächliche oder anzustrebende Rolle der Umweltethik in der Umweltpolitik näher eingegangen werden soll, sind einige definitorische Bemerkungen vorauszuschicken. Sie sollen nicht nur der Klarheit der Gedankenführung dienen, sondern auch der Verständigung darüber, was und wer gemeint ist, wenn von Umweltethik und Umweltpolitik gesprochen wird.

II. Ethik und Umweltethik — Zur Begriffsklärung

Seit Aristoteles ist Ethik ein Teilgebiet der praktischen Philosophie, die das Denken auf Probleme der Praxis, des Handelns lenkt. Etymologisch ist Ethik sowohl mit Oo = Sitte, Brauch, das, was man tut, als auch 0o = Aufenthalt, Wohnung verwandt. „Ethik wäre demnach das umsichtige Bedenken des Aufenthalts des Menschen und des einem menschlichen Wohnen entsprechenden Verhaltens.“ Der ökologische Akzent dieser Definition könnte unmittelbar überleiten zu der Beschreibung von Umweltethik als eines neuen Anwendungsbereichs von Ethik in bezug auf Umwelt und Ökologie Für das Verhältnis von Umweltethik und Umweltpolitik muß aber hinzugefügt werden, daß Ethik die Alltagsfrage: „Was soll ich tun?“ in der Weise aufnimmt, daß sie nach dem fragt, „was das Verhalten des Menschen menschlich macht, nach Idee und Bestimmung des Menschen, sofern sie in seinem Handeln und Zusammenleben mit seinesgleichen zum Ausdruck kommt“

Diese Ergänzung ist deshalb wichtig, weil sie sowohl die anthropologische wie die soziale oder politische Komponente der Ethik deutlich macht. Ethik wirft immer die Frage nach dem Menschenbild auf, das dem menschlichen Handeln zugrunde liegt, und daher kann auch die Umweltethik diese Frage nicht ausklammem, wenn sie umweltpolitisch Position bezieht Ethik, die menschliches Handeln und Verhalten zum Gegenstand hat, ist darüber hinaus stets auf den sozialen und politischen Zusammenhang hin orientiert, in dem das Handeln geschieht. Individualethik und Sozialethik können zwar in systematischer Betrachtung voneinander getrennt werden, im praktischen Lebensvollzug wirkt Ethik jedoch immer im sozialen Zusammenhang. Diese enge Beziehung von Ethik und Politik ist nicht zuletzt durch die Entwicklung der Politik — worauf noch zurückzukommen sein wird — verlorengegangen. Beide, Ethik und Politik, galten einmal als Teilgebiete der praktischen Philosophie und in beiden spielte das Menschenbild eine zentrale Rolle

Ethik als die (wissenschaftliche) Reflexion auf ein geselltes Handeln hat es mit Wertorientierungen zu tun, über die gesellschaftliche Übereinkunft besteht und die durch ihre allgemeine Akzeptanz gesellschaftliches Zusammenleben ermöglichen. Es ist die Aufgabe der Ethik, diese Wertorientierungen, die sich im Lauf der Zeit wandeln, jeweils auf ihre aktuelle Trag-und Zukunftsfähigkeit hin sowie im Blick auf ihre Übereinstimmung mit grundlegenden ethischen Normen zu überprüfen. Die dabei zur Anwendung gelangenden ethischen Maßstäbe können religiös, philosophisch oder durch gesellschaftliche Traditionen begründet sein. In unserer Kultur sind christliche und philosophische Elemente — beide unter Einbeziehung griechischen und römischen Gedankenguts — eine untrennbare Verbindung eingegangen.

Das, was unter ethischen Gesichtspunkten verantwortliches Handeln ist, wird im einzelnen stets strittig sein. Weithin Übereinstimmung herrscht aber in unserer Gesellschaft wohl darüber:

— Ethisch begründetes Handeln geht von der Voraussetzung aus, daß der Mensch unvollkommen ist und Fehler machen kann;

— es ist von der Einsicht getragen, daß der Mensch in einem geschichtlichen Zusammenhang steht, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verbindet;

— es ist durch den Willen gekennzeichnet, das Lebensrecht anderer Menschen grundsätzlich zu beachten und zu respektieren;

— es ist von der Bereitschaft bestimmt, Ergebnis und Erfolg des eigenen Tuns zu bedenken.

Eine diesen ethischen Grundprinzipien entsprechende Umweltethik hat das Handeln des Menschen in bezug auf die Umwelt unter folgenden Fragestellungen zu diskutieren:

— Was bedeutet es für die Art und den Umfang, mit welchen der Mensch sich seiner Umwelt „be- mächtigt“, daß seine Fähigkeiten begrenzt und sein Wissen unvollständig sind? Wo liegen die Grenzen der Machbarkeit, die Behutsamkeit gebieten sowie ein „normatives Übergewicht der Negativprognosen“ politisch sinnvoll erscheinen lassen? — Welchen Stellenwert haben Lebensrecht und Lebenschancen künftiger Generationen für gegenwärtiges Handeln, wenn wir berücksichtigen, daß wir unsere Gegenwart der Vergangenheit verdanken und daher allen Grund haben, unsere Gegenwart als die Vergangenheit der zukünftigen Generation zu begreifen? — Wieviel Lebensrecht ist der (außermenschlichen) Natur einzuräumen angesichts der Tatsache, daß der Mensch seine Verfügungsmacht über die Natur fortwährend ausweitet? Gibt es ein Lebens-recht der Natur ungeachtet ihrer Nutzbarkeit für menschliches Leben? — Wieviel Aufmerksamkeit widmen wir neben den gewollten Erfolgen den ungewollten Folgen unserer Eingriffe in die Natur? Sind wir uns der Tatsache bewußt, daß das Bedenken der Folgen der Reichweite unserer Eingriffe entsprechen und also global in dem Sinne sein muß, daß es räumliche wie zeitliche Grenzen überschreitet?

Es ist hier nicht der Ort, diese inhaltlichen Aspekte einer zeitgemäßen Umweltethik weiter zu entfalten Im vorliegenden Zusammenhang interessiert vor allem die Frage, wie ethische Prinzipien überhaupt politisch wirksam werden können, unter welchen Voraussetzungen Umweltethik die Umweltpolitik tatsächlich zu beeinflussen vermag. Gegenwärtig wird die Distanz von Ethik und Politik offenkundig, sobald man sich der ethischen Grundpositionen näher vergewissert. Die Entwicklung der Politik wie auch des Politikverständnisses spielt, wie erwähnt, hier eine entscheidende Rolle.

III. Anmerkungen zur Entwicklung des Politikbegriffs

Auf eine sehr allgemeine Weise wird heute Politik durch die Aufgabe definiert, das Zusammenleben von Menschen in einer arbeitsteiligen Gesellschaft so zu ordnen, daß das Leben jedes einzelnen gesichert und Weiterleben ermöglicht ist. Dementsprechend bildet der Staat die dauerhafte Organisation, die die Ordnungsfähigkeit der Gesellschaft in den Angelegenheiten begründet, die alle Staatsbürger gemeinsam betreffen. Als Teilbereich der Daseinssicherungsfunktion von Politik besteht die Aufgabe der Umweltpolitik dann darin, im Interesse der Lebensfähigkeit der Gesellschaft „Umwelteingriffe zu vermeiden, zu vermindern und eingetretene Umweltschäden zu beseitigen“

Diese Definition von Politik und Staat trifft ersichtlich keine Unterscheidung zwischen verschiedenen Formen von politischer Ordnung, etwa zwischen Demokratie und Diktatur. Daraus folgt nicht, daß die Unterschiede politisch unerheblich geworden wären, sondern daß sich ein Politikverständnis in den Vordergrund geschoben hat, das die Ziel-und Wertorientierung von Politik vernachlässigt. » Wenn generell unterschieden werden kann zwischen einem zweck-, einem mittel-und einem problembezogenen Politikbegriff dann dominiert gegenwärtig der mittelbezogene, der die Macht-frage zum Kernpunkt aller Politik erklärt und das Hauptinteresse auf Erwerb, Ausübung und Erhalt politischer Macht lenkt. Dieser Sichtweise steht der problembezogene Politikbegriff nahe, der sich auf die Frage der Konfliktregelung und Interessenabstimmung als allgemeines Problem wie in bezug auf konkrete Politikfelder konzentriert. Der zweck-oder zielbezogene Politikbegriff, der Politik auf die Verwirklichung von Gerechtigkeit und Freiheit sowie auf die Verantwortung bezieht, kommt eigentlich nur noch in Festtagsreden vor (Sonntagsreden wäre hier schon ein falscher Begriff, weil er eine zu große Häufigkeit anzeigen würde) — politisch wirksam wird er allenfalls in den sogenannten Grundwertekommissionen der Parteien. Am Rande sei hier vermerkt, daß diese Verengung des Politikverständnisses auf die Machtfrage sowie auf die Konflikt-und Interessenprobleme bei der weithin wenig geschichtsbewußten nachwachsenden Generation ein zunehmendes Desinteresse an Politik und eine abnehmende Unterscheidungsfähigkeit hinsichtlich der Formen politischer Ordnung bewirken könnte.

Die Schwierigkeiten im Verhältnis von Umwelt-ethik und Umweltpolitik, von denen im einzelnen noch die Rede sein wird, zeigen beispielhaft, daßunser Verständnis für ein die praktische Politik übergreifendes Ziel der politischen Ordnung, früher hätte man gesagt: für eine Staatsidee, unterentwickelt ist — wenn denn die politische Ordnung mehr leisten soll als die äußere Gewähr für unseren Hedonismus. Gerade im Umweltbereich gilt gegenwärtig zunächst und vor allem, daß Politik die Kunst des Möglichen ist, für deren Ausübung es einer besonderen Ethik grundsätzlich nicht bedarf.

IV. Die Trennung von Ethik und Politik

An dieser Stelle kann es für das Verständnis unserer Situation hilfreich sein, sich daran zu erinnern, wie es zu der grundsätzlichen Trennung von Ethik und Politik gekommen ist. Für Aristoteles war der Mensch ein zoon politikon, ein politisches oder staatliches Wesen, „dem die Konvergenz zum Staat als eine wesenhafte Seinsstruktur immer schon innewohnte“ Und wenn Perikies in seiner berühmten Leichenrede sagen konnte: „Hier (in Athen) hält man den, der sich nicht um Politik kümmert, nicht für einen guten Bürger, sondern für einen Philister“ dann entspricht dieses Verständnis in seinem Verpflichtungscharakter dem, was in der Bibel in dem Satz zusammengefaßt ist: „Suchet der Stadt Bestes“ (Jer. 29, Vers 7).

Diese umfassende Verantwortung für „der Stadt Bestes“, die eingebettet war in den Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und von dort ihre Maßstäbe herleitete, wurde aufgelöst, als mit der frühkapitalistischen Entwicklung Politik und Wirtschaft eine so enge Verflechtung eingingen, daß das an den verfügbaren Mitteln orientierte ökonomische Denken Politik und Staat völlig durchdrang. Mit jener Verflechtung wurde der Erfolg des einen Bereichs zum Erfolg des anderen, die Mittel und Maßstäbe des Erfolgs glichen sich an, die Idee des Berechenbaren und Machbaren setzte sich durch, und zwar umso mehr, je mehr Mittel in Gestalt von wirtschaftlicher und politischer Macht angesammelt wurden — gefördert auch durch die sich entfaltende Naturwissenschaft und Technik. Auf dem geistigen Feld hatte Descartes dieser Entwicklung den Weg bereitet, der nicht nur mit seiner mechanistischen Weltansicht die Natur zum Objekt des Menschen und diesen zum Herrn und Besitzer der Natur erklärte, sondern auch einer rein rational-analytischen Denktechnik zum Durchbruch verhalf.

Politik wurde so schließlich zu einer Angelegenheit des berechnenden Intellekts, und infolgedessen bestand ihr vorrangiges Bestreben im Erwerb von Macht, denn diese versprach die Verstetigung des ökonomischen und damit auch des politischen Erfolgs. Die Suche nach „der Stadt Bestes“ wurde aufgegeben, es wurde als das gleichsam sich von selbst einstellende Ergebnis vernünftig geregelter Machtprozesse erklärt; die Einheit von Ethik und Politik war zerbrochen.

Diese Entwicklung, die Verselbständigung des Machtstrebens, erreicht in unserer Gegenwart ihren bisherigen Höhepunkt: Zunächst hat die Macht im Sinne von Verfügungsmacht des Menschen über seine Existenzbedingungen durch die Fortschritte in Naturwissenschaft und Technik ein bislang unerreichtes Ausmaß angenommen. Nicht zuletzt deshalb hat die Verselbständigung des Machtstrebens dann auch so umfassend die Politik ergriffen, denn die Verführungskraft der Macht, die dieser immer innewohnt, steigt mit ihrer „Mächtigkeit“. So ist denn das, was die politische Theorie als die wachsende Reichweite von Politik bezeichnet, nur die wissenschaftliche Umschreibung der stetigen Ausdehnung von Macht. Das prinzipielle Problem des Einflusses der Ethik auf die heutige Politik wird nun deutlich. Ethik, die nicht umhin kann, von einem bestimmten Menschenbild auszugehen — einem Menschenbild, das die menschlichen Unvollkommenheiten und Defekte, die Grenzen menschlichen Vermögens nicht verschweigen kann —, liegt quer zu einer Politik, die von Macht im Sinne des Machbaren fasziniert und auf sie hin fixiert ist und eher die Ausdehnung der Machbarkeit anstrebt als deren Begrenzung

Die Umweltpolitik liefert vielleicht den anschaulichsten Beleg dafür, daß wir das grundsätzliche Problem unseres verengten Politikverständnisses angehen müssen. Es existiert selbstverständlich nicht nur auf der begrifflichen Ebene, sondern bestimmt über das Denken konkretes politisches Handeln; aber erst muß sich unser Verständnis von Politik und den Aufgaben der Politik ändern, bevor die praktische Politik eine andere Richtung einschlagen kann.

Durch die dargestellte Verengung des Politischen wird die Frage nach den zu verantwortenden Zielen ausgeklammert. In den Lektionen der politischen Bildung haben wir gelernt, daß das Gesamtinteresse eines Gemeinwesens sich aus dem geregelten Prozeß (oder Konflikt) des Auf-und Gegeneinanderabstimmens von Einzelinteressen „ergibt“. Es lag daher nahe, das Mittel, mit welchem einzelne und Gruppen sich an diesem Prozeß beteiligen können, die Macht also, für das Schlüsselproblem der Politik zu halten; denn in der Tat — dadurch, daß die Macht des einen begrenzt wird durch die Macht des anderen, kann niemand seine Interessen absolut setzen: Der geregelte Machtprozeß sichert mit der politischen Freiheit zugleich auch die Beachtung der Interessen aller.

V. Machtprozeß und langfristiges Gesamtinteresse

Die Frage freilich drängt sich auf, ob dieser Prozeß nicht einer stärkeren ziel-und wertorientierten Ausrichtung bedarf. Mit der Ausdehnung der Verfügungsmacht des Menschen steigt das Machtpotential von Politik und greift in die Zukunft in einem Maße, das es fraglich macht, ob das langfristige Interesse unseres Gemeinwesens, letztlich des „Gemeinwesens Erde“, allein durch jenen geregelten Prozeß des Interessen-oder Machtausgleichs noch gewährleistet werden kann. Einerseits ist im Blick auf die Gegenwart, zu fragen, ob nicht — gerade auch durch die technologische Entwicklung — die Macht der Mächtigen, innergesellschaftlich wie international, so gewachsen ist und diese durch sie so insgesamt „verführt“ worden sind, daß das Vertrauen auf langfristigen Interessenausgleich durch Machtbalance und Machtkontrolle nicht mehr gerechtfertigt ist. Andererseits erhebt sich im Blick auf den Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft die Frage, ob nicht in jenem Machtprozeß vorwiegend die eher kurzfristigen Interessen der Lebenden zur Geltung gelangen, die Interessen künftiger Generationen aber keine oder kaum eine Rolle spielen, obwohl heute bereits über sie entschieden wird.

Die These dieser Ausführungen ist, daß diese Fragen zu bejahen sind. Dann aber ist die Forderung anzuschließen, daß wir zu einem umfassenden Politikverständnis zurückkehren, zu einer Wiedervereinigung von Ethik und Politik in einer Weise, die Max Webers Leidenschaft zur Sache der Politik

als Leidenschaft für das Ganze versteht und die stets offene Frage nach dem, was dem Ganzen dient, in den Mittelpunkt der politischen Diskussion stellt und daraus die Orientierung der Macht herleitet. Es ist im Grunde nichts anderes als das, was Hans Jonas die Pflicht der Freiheit nennt, die Idee der Verantwortung, die die Brücke schlagen kann „von der Nächstenethik zu dem Fernen, nur Vorgestellten . . ., das noch mit keiner Stimme zu uns sprechen kann — von dem aber bekannt ist, daß es in die Willkür unserer Macht geraten ist. Verantwortung sagt, daß es ihr darum anvertraut ist.“

Diese Verantwortung ist nicht das Ergebnis jenes Machtprozesses; sie muß — wie immer sie im konkreten Fall definiert ist — als Ziel vorgegeben werden und den Einsatz der Mittel, der politischen Macht, bestimmen. Von Politikern wird in einem solchen Zusammenhang gern Heinrich von Treitschke mit dem Satz zitiert: „Bevor die Politik moralischer werden soll, muß die Moral politischer werden.“ Sie wollen damit den Anschein erwecken, daß solche Forderungen unpolitisch seien, daß ethische Postulate die Besonderheiten und Zwänge des politischen Alltags berücksichtigen, auf das „politisch Machbare“ ausgerichtet sein müßten, das dann auf einmal eine andere, sehr begrenzte Dimension annimmt. Sie übergehen dabei, daß der Satz Treitschkes mit einer Erläuterung fortfährt und ganz anders zu verstehen ist, nämlich: „Die Moral muß politischer werden, wenn die Politik moralischer werden soll, das heißt, es müssen die Moralisten erst erkennen, daß man das sittliche Urtheil über den Staat aus der Natur und den Lebenszwecken des Staates und nicht des einzelnen Menschen schöpfen muß.“ Die Natur und die Lebenszwecke des Staates gehen weiter als die Interessen des einzelnen und die Interessen der Gegenwart — genau dies beschreibt das Defizit des allgemeinen Politikverständnisses heute ebenso wie der Politik im allgemeinen.Das auf die Macht als das Mittel von Politik sowie auf die Rolle von Machtkonflikten zugespitzte Verständnis von Politik hat die Frage nach den Zielen, um die es der Macht und in den Konflikten geht, weitgehend ausgeklammert. Gewiß war es für die Entwicklung des demokratischen Bewußtseins in unserer Gesellschaft unerläßlich zu akzeptieren, daß Politik durch konkurrierende Machtansprüche und entsprechende Konflikte gekennzeichnet ist, daß der das Gemeinwesen tragende Konsens nicht selbstverständlich und vorgegeben ist, sondern immer wieder neu hergestellt werden muß. Dabei geriet aber zu sehr in Vergessenheit, daß dies auf Dauer nur gelingen kann, wenn ein unangezweifelter Grundkonsens darüber besteht, daß die Lebensfähigkeit des Gemeinwesens die Regelung der Machtkonflikte steuern muß oder — anders formuliert — daß über die Durchsetzung individueller oder partieller Machtansprüche die Identität des Gemeinwesens, die das individuelle wie das gegenwärtige Leben übergreift, nicht gefährdet werden darf.

Auf diese Identität wird in der Bundesrepublik weitaus weniger Wert gelegt als auf die Pluralität der Interessen und Interessengruppen, d. h. auf die gesellschaftliche Vielfalt. Dies ist aus mehreren Gründen durchaus verständlich: Nach der Pervertierung der Staatsidee durch den „totalen Staat“ der Nationalsozialisten lag es nahe, der gesellschaftlichen Vielfalt gegenüber der staatlichen Einheit einen besonderen Wert zuzuerkennen. Hinzu kam, daß mit der erwähnten Ausdehnung der Macht, die ja nicht zuletzt auch als die durch den Staatsapparat verwaltete Macht erlebt wird, in der Gesellschaft die Neigung wachsen mußte, dieser Macht mit eigenen Ansprüchen zu begegnen. Daran waren — wiederum verständlicherweise — gerade die gesellschaftlichen Großverbände interessiert, die mit Verweis darauf umso nachhaltiger ihre eigenen Interessen in den Vordergrund rücken konnten. Das gelang ihnen dann auch in einem Maße, daß im Blick auf den Staat heute festgestellt werden kann: „. . . angesichts des Drucks organisierter Interessen scheint der Staat in seinem eigenen Ethos überfordert zu sein“

Die die Politik und die staatliche Ordnung analysierende und darstellende Wissenschaft hat dieser Entwicklung des Politikverständnisses je länger desto weniger Widerstand geleistet. Es war einerseits mit ihr Verdienst, der politischen Bildung das Rüstzeug für eine rationale Erfassung, Durchdringung und Vermittlung von Politik geliefert und damit ihrerseits demokratisches Bewußtsein gefördert zu haben. Aber je mehr sich die Politische Wissenschaft auf die rationale, objektivierende, empirische Analyse konkreter Machtkonflikte und bestimmter Entscheidungsprozesse konzentrierte — also mit naturwissenschaftlichen Methoden und Instrumenten Geisteswissenschaft betrieb —, umso mehr verfehlte sie ihre Aufgabe als Humanwissenschaft. Sie interessierte sich immer weniger für die Frage der (guten) politischen Ordnung, für das Ziel des Gemeinwesens oder das Ethos des Staates. Politische Wissenschaft, die „modern“ sein will, arbeitet heute mit Fakten, erhebt Daten, befaßt sich mit Empirie. Es scheint, daß die gewachsene politische Wertschätzung der Naturwissenschaften die Politische Wissenschaft zumindest teilweise verführt hat, durch Übernahme der entsprechenden Methoden und Instrumente den Anschein einer mit „harten“ Fakten arbeitenden Wissenschaft erwecken zu wollen, um den Makel einer „Diskussionswissenschaft“ ablegen zu können (vielleicht auch, um besser Drittmittel für die Forschung einwerben zu können). „Die Natur und die Lebenszwecke des Staates“ (H. v. Treitschke) sind in den Schatten des wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses geraten, die Aktualitäten des politischen Alltags stehen im Vordergrund. Wie die Politik selbst fragt auch die Politische Wissenschaft heute weniger nach der Lebens-und Überlebensfähigkeit des Gemeinwesens als Ganzem als vielmehr nach den Interessen-und Machtkonflikten seiner Teile — sowohl der Parteien wie der großen Verbände.

VI. Zum Einfluß der Umweltethik auf die Entwicklung der Umweltpolitik

Betrachtet man vor diesem Hintergrund die Umweltpolitik und fragt nach dem Einfluß der obengenannten umweltethischen Fragestellungen, dann besteht die erste, grundsätzliche Erkenntnis aus dem Ablauf politischer Entscheidungsprozesse darin, daß dieser Einfluß relativ gering ist. Da die übergeordneten und langfristigen Ziele der Umweltpolitik im politischen Alltag selten erörtert werden, herrscht auch hier der Aktualitätsbezug der Politik vor. Das aber bedeutet: Es geht um konkrete Entscheidungen, die z. B. nach der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien vorher abgestimmt sind mit den einschlägigen Interessenverbänden, ihre innerparteiliche bzw. inter- fraktionelle „Mehrheitsfähigkeit“ ist berücksichtigt, die anderen betroffenen Ministerien haben „gegengezeichnet“, die betroffenen Behörden sind beteiligt worden, kurz: Die Macht der Bürokratien hat die Ethik an den Rand des politischen Geschehens gedrängt, die „Ministervorlage“ bestimmt die Politik des Ministers, weniger dessen ethische Einsichten und Überzeugungen.

Diese grundsätzliche Erkenntnis schließt nicht aus, daß umweltethische Positionen gleichwohl politisch wirksam geworden sind, wobei sich durchaus Abstufungen umweltethischen Einflusses feststellen lassen. Für die Umweltpolitik als solche — also für die Tatsache, daß in das Aufgabenfeld staatlicher Daseinsvorsorge seit etwa 1970 die Umweltpolitik neu aufgenommen worden ist — haben umwelt-ethische Diskussionsprozesse wahrscheinlich eine ausschlaggebende Rolle gespielt. Zwar ist die Intensität, mit welcher Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre der Umweltschutz öffentlich thematisiert worden ist, auch darauf zurückzuführen, daß Belastung, Gefährdung und Zerstörung der Umwelt subjektive Interessen berührten.

Manche Forderung nach konsequenter Umweltpolitik entstammte daher im Einzelfall sehr egoistischen Motiven, die nur umweltethisch eingekleidet wurden. Aber die grundsätzliche Frage der politischen Verantwortung im Umweltschutz ist erst in den Zusammenschlüssen der Bürgerinitiativen, in den Naturschutzorganisationen und nicht zuletzt auch in den Kirchen als ethische Herausforderung verstanden und diskutiert worden, bevor die politischen Parteien sie als politische Herausforderung akzeptierten

Daß in diesem Fall Ethik die Politik zu beeinflussen vermochte, hing ohne Zweifel mit dem Allgemeinheitsgrad der ethischen Forderung zusammen. Menschliches Leben zu schützen wird als so allgemeine und unabweisbare ethische Verpflichtung anerkannt, daß sie fast zwangsläufig politische Entscheidungen beeinflussen muß. Kein Politiker könnte es sich erlauben, eine offensichtliche Gefährdung menschlichen Lebens zuzulassen oder Maßnahmen zu deren Beseitigung zu verweigern.

Selbst bei einem verengten Politikverständnis wirken also unter dem Vorzeichen „Schutz des Lebens, Schutz der Gesundheit“ ethische Forderungen auf die Politik ein, da ihre Mißachtung die Zustimmungsfähigkeit der Politik und damit die Macht tangieren würde. Je konkreter freilich umweltethische Diskussionen sich auf bestimmte Politikfelder beziehen, um so geringer wird ihr politischer Einfluß auch dann, wenn es um ethische Grundpositionen geht. Wo diese mit allgemeinen politischen Zielsetzungen übereinstimmen, ist das Verhältnis noch unproblematisch. So deckte sich z. B. in der Energiepolitik die ethische Forderung, die Interessen zukünftiger Generationen zu berücksichtigen, mit der Forderung nach Energieeinsparung aus ökonomischen oder versorgungspolitischen Gründen. Die Politik konnte hier also die umweltethische Position übernehmen, um ihre eigenen energiepolitischen Ziele zustimmungsfähiger zu machen. Anders sieht es dort aus, wo die Befolgung (umwelt) ethischer Grundpositionen auf entgegenstehende Interessen, die sich mit dem Machtkalkül verknüpfen lassen, stoßen würde. In einem solchen Fall verliert selbst die allgemeine ethische Verpflichtung „Schutz des menschlichen Lebens“ unverzüglich an politischer Wirkung. Dies ist an der Diskussion um das Tempolimit leicht nachzuvollziehen. Daß sowohl die Häufigkeit und vor allem das Schadensausmaß von Verkehrsunfällen als auch die Höhe des Schadstoffausstoßes nicht zuletzt geschwindigkeitsbedingt sind, kann und wird wohl auch nicht bestritten werden. Gleichwohl ist hier die ethische Verpflichtung, die in anderem Zusammenhang auf breite Zustimmung stößt, bislang wirkungslos geblieben, weil ihre Mißachtung durch die Berücksichtigung entgegenstehender Interessen wählerwirksam und also machtrelevant begründet werden kann. Die ethische Diskussion hat aber hier wenigstens erreicht, daß die Politik reagiert, z. B.

mit Langzeituntersuchungen, Richtgeschwindigkeit und anhaltenden Erörterungen.

So gut wie keine politische Bedeutung besitzen ethische Positionen in der Regel dort, wo sie auf ein Politikfeld treffen, das durch parteipolitische Positionen und auch durch wirtschaftliche Investitionen fest umrissen und eingezäunt ist. Als Beispiel können die Reaktionen der Bundesregierung auf die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl dienen. Obwohl das raum-und zeitübergreifende Ausmaß der Katastrophe offenkundig die oft diskutierte ethische Frage drängend aktuell machte, ob nicht bestimmte technologische Entwicklungen den Menschen in seiner Verantwortungsfähigkeit definitiv überfordern, weil der Mensch nicht so vollkommen, so unfehlbar ist, wie z. B. die Kerntechnik es erfor9 dert, ließen die politisch Verantwortlichen auch nicht den Schatten eines Zweifels an einer einmal für richtig erklärten Politik erkennen. In einer Situation, in der Umweltethik zumindest ein umwelt-politisches Nachdenken hätte bewirken müssen, beharrten sie auf einem frage-und einwandimmunen „Weitermachen“.

Der Fall „Tschernobyl“ soll hier nicht zu einem Beweis für die ethische Verwerflichkeit oder auch nur für den politischen Irrtum der Kernenergie hochstilisiert werden. Das Richtig oder Falsch der Kernenergiepolitik steht hier nicht zur Diskussion. Viele Politiker waren und sind sicher auch heute noch überzeugt (vielleicht heute mehr als im Früh-sommer 1986), daß die Gefahren aufgebauscht worden sind. Der Fall „Tschernobyl“ verbindet sich vielmehr mit der Erfahrung, daß die Politik unter besonderen Bedingungen umweltethischen Einfluß auch dann nahezu total abblockt, wenn sie offensichtlich — bis in den Alltag hinein spürbar — ethisch herausgefordert ist.

Was unter umweltethischen Aspekten als Reaktion zu erwarten gewesen wäre, hätte nicht eine Abkehr von der bisherigen energiepolitischen Linie sein müssen, aber wenigstens die Bereitschaft, diese zu überprüfen, das Eingeständnis von Zweifeln, auch von Grenzen des eigenen Wissens — letztlich die Preisgabe jeder ostentativen Selbstgewißheit. Nichts dergleichen ist geschehen! Glaubten die politisch Verantwortlichen, den Bürgern die eigenen Zweifel und das Eingeständnis der Grenzen des eigenen Wissens nicht zumuten zu können oder hatten sie keine Zweifel? Unter dem Gesichtspunkt einer demokratisch zu verantwortenden wissenschaftlich-technischen Zivilisation wäre das eine so schlimm wie das andere

VII. Voraussetzungen und Vorschläge für ein neues Verhältnis von Umweltethik und Umweltpolitik

Die geschilderten Erfahrungen beschreiben ein Verhältnis von Umweltethik und Umweltpolitik, das schwierig zu nennen schon fast euphemistisch wäre. Dennoch sollten sie nicht zu Resignation verleiten, sondern die Frage nahelegen, wie denn Ethik und Politik im Umweltbereich, aber auch generell, wieder einander angenähert werden können. Mögliche Antworten sind da zu suchen, wo Ethik und Politik prinzipiell aufeinander treffen können: im politischen Handeln von Menschen. Das bedeutet, es geht um das Handeln des einzelnen als Bürger und Wähler, um das Handeln der Gewählten, also der mit besonderer politischer Verantwortung ausgestatteten Politiker sowie um die politischen Strukturen und Verfahren, die politisches Handeln des Bürgers wie des Politikers bestimmen und prägen. 1. Bürger und Gemeinwesen Die hier geforderte Wiederannäherung von Ethik und Politik ist in einer Demokratie nur möglich, wenn das Selbst-und das Politikverständnis des einzelnen Bürgers die Voraussetzungen dafür bieten.

Erst wenn diesem klargeworden ist, daß er seinen Egoismus und Partikularismus eingrenzen muß, weil er nur als Teil eines Ganzen, als Ich mit einem Du als Gegenüber existieren kann, und wenn er aus diesem Selbstverständnis Politik als das begreift, was der Polis, dem Staat, also dem Gemeinwesen insgesamt und damit auch seinen Interessen als sozialem Wesen dient, kann Politik über die unausweichliche Interessen-und Konfliktorientierung hinaus wieder eine stärkere Wert-und Zielorientierung finden -Denn die Ausrichtung der Politik der Gewählten ist in Grundpositionen abhängig von den Präferenzen der Wählenden. (Daß diese wiederum wesentlich beeinflußt werden können durch . die Politik der Gewählten, erlegt diesen eine besondere Verantwortung auf.)

In umweltethischer Perspektive ist also zunächst wichtig, daß eine Verständigung und Vergewisserung über das der Politik zugrundeliegende Menschenbild beginnt. Dies ist — wie oben vermerkt — ein aller Ethik immanentes Thema. Es ist im vorliegenden Zusammenhang deshalb von besonderer Bedeutung, weil die Ausblendung oder Abwertung des Sozialen in seiner Raum und Zeit übergreifenden Dimension zugunsten eines gegenwartsbezoge- nen Individualismus und Partikularismus umwelt-politisch höchst problematische Konsequenzen hat: Sie führt zu einer ebenfalls Raum und Zeit übergreifenden Geltung des St. -Florian-Prinzips nach dem Motto: „Wir genießen unseren Wohlstand und verschieben seine negativen Folgen und Probleme in andere Regionen und auf nachkommende Generationen.“ Politische Erziehung, politische Bildung und Weiterbildung müssen dieses Thema aufgreifen, die Engführung des Politikbegriffs auf die Mittel (Macht, Institutionen) und die Probleme (Interessenkonflikte) überwinden, indem sie diese rückbeziehen auf Sinn und Ziel des Gemeinwesens. Es ist diese Einsicht in die sozialen und politischen Zusammenhänge menschlicher Existenz, die Wissen und Gewissen (griechisch: syneidesis = Zusammen-schau) miteinander verknüpft und politische Ethik ermöglicht. Für das Verhältnis von Umweltethik und Umweltpolitik folgt daraus, daß das Wissen um den genannten Zusammenhang erweitert werden muß um die Kenntnis der natürlichen Existenzbedingungen oder Lebenszusammenhänge: die Vertiefung ökologischen Wissens ist für jeden einzelnen ein umweltethisches Gebot Erst aus diesem Wissen heraus ist ökologisch gewissenhaftes Handeln möglich. So gesehen ist Umweltethik eine notwendige Voraussetzung von Umweltpolitik. 2. Ethische Anforderungen an den Umweltpolitiker und politische Anforderungen an die Umweltethik

Es leuchtet unmittelbar ein, daß diese Verbindung von Wissen und Gewissen im Sinne einer Zusammenschau von Individualität und Sozialität sowie von sozialen und natürlichen Bedingungen menschlicher Existenz zwingend erforderlich ist, wenn von verantwortlicher Politik und verantwortlicher Umweltpolitik die Rede sein soll. Die hier vorgetragenen ethischen Positionen können also insofern für die praktische Politik bedeutsam werden, als sie den gewählten Politiker gerade angesichts seiner besonderen Verantwortung auffordern, sich in seinem Amt der genannten Existenzbedingungen des Menschen immer wieder zu vergewissern, sein Wissen über diese Bedingungen zu vertiefen und dann aus einem so geschärften Gewissen heraus praktische Politik zu betreiben.

Diese Aufforderung der Ethik richtet sich an den Politiker mit der Entschiedenheit einer conditio sine qua non: Wie soll der einzelne seine Rolle als Staatsbürger, seine Verantwortung gegenüber dem Ganzen neu definieren lernen, wenn die gewählten Träger der Staatsmacht den Anschein erwecken, als ob für sie der Teil wichtiger sei als das Ganze, die Partei wichtiger als der Staat? Das schlechte Beispiel der vielen den Staat unter die Parteiräson stellenden Politiker macht die Wiederannäherung von Ethik und Politik so schwierig — aber auch so nötig.

Gerade der Bereich der Umweltpolitik, der in besonderer Weise auf das Gemeinwesen als Ganzes in der Abfolge der Generationen gerichtet ist, zeigt anschaulich, daß dringend geboten ist, was Helmut Herles im Hinblick auf die Vorgänge in Kiel so formuliert hat: „Die Politiker müssen den politischen Betrieb wirklich ändern und dürfen darüber nicht nur salbungsvolle Reden halten, wenn etwas Schlimmes passiert ist.“

Etwas Schlimmes geschieht mit unserer Umwelt alle Tage, und so kann, ja muß eine Umweltethik, die an der Bewahrung der Schöpfung heute und morgen, letztlich an globaler Überlebensfähigkeit orientiert ist, den Politiker anleiten, sein Selbstverständnis zu überprüfen, die parteipolitische Partikularisierung seines Denkens wenigstens als Problem zu erkennen, auch wenn er sie nicht aufgeben kann. Umweltethische Diskussionsprozesse können der Politik neue Impulse dafür geben, auf die Fragen nach den ihr zugrundeliegenden Werten und Zielen sensibler zu reagieren, die Pflicht des Wissens, aber auch die Begrenztheit desselben und damit auch des Gewissens, d. h.der Verantwortungsfähigkeit, einzusehen, dies öffentlich zuzugestehen und daraus die Konsequenz zu ziehen, sich bei der Anwendung politischer und technischer Macht Zurückhaltung aufzuerlegen

Solche Einsichten und Einstellungen entstammen nicht der Ratio von Politik, sowenig wie es rein rational zu begründen ist, warum die Politik der Gegenwart die Interessen derer, die noch gar nicht leben, mitbedenken soll. Nur die Ethik kann der Politik eine solche Orientierung geben.

Mit der bloßen Formulierung ethischer Einsichten und umweltethischer Konsequenzen ist es freilich nicht getan, auch wenn sie manchem in der Politik eine Orientierungshilfe oder einen Anstoß zum Nachdenken zu geben vermögen. Im Hinblick auf die Wiederannäherung von Ethik und Politik umfaßt die Pflicht des Wissens vielmehr auch die notwendigen Kenntnisse über den politischen Prozeßselbst; das heißt, umweltethische Folgerungen undI Forderungen müssen von konkretem Wissen um den umweltpolitischen Entscheidungszusammenhang ausgehen. Diese Bedingung gilt bei jeder einzelnen umweltpolitischen Entscheidung; sie gilt gewiß auch dann, wenn grundsätzlich einer Verbesserung des Verhältnisses von Umweltethik und Umweltpolitik das Wort geredet wird.

Daraus sind an dieser Stelle vier Folgerungen zu ziehen:

— Die grundlegenden umweltethischen Einsichten und Erkenntnisse sind über den Streit zwischen anthropozentrischem oder ökozentrischem Ansatz hinauszuführen und in politikfähige Grundprinzipien zu übertragen. Nur dann, wenn wenigstens im Grundsatz Klarheit darüber herrscht, was umwelt-ethisch geboten ist, kann Umweltethik umweltpolitisch wirksam werden.

— Diejenigen, die sich als einzelne oder Gruppen, als Gremien oder Institutionen um diesen umwelt-ethischen Grundkonsens bemühen, müssen diesen wieder und wieder in die öffentliche Diskussion bringen. Politik ist eine res publica, eine öffentliche Angelegenheit, und für sie ist das relevant, was öffentliche Aufmerksamkeit erlangt oder erheischt.

Folglich sind sowohl die allgemeinen Fragen des Politikverständnisses als auch die vielen konkreten Probleme der Umweltpolitik in ihren ethischen Aspekten stets und ständig öffentlich zur Diskussion zu stellen.

— Wenn Politik die Kunst des Möglichen ist, dann ist der Kompromiß deren wesentliche Ausdrucksform. Wer also Umweltethik in die Umweltpolitik einbringen will, muß sich der Tatsache bewußt sein, daß die Absolutheit der Ethik an der Relativität der Politik letztlich nur scheitern kann. Diese Einsicht zwingt zur Nüchternheit; die Umweltpolitik sollte daher nicht gleich umweltethisch „verdammt“ werden, wenn sie hinter den Forderungen der Umwelt-ethik zurückbleibt. Deren Aufgabe besteht auch und gerade dann darin, beharrlich der Umweltpolitik die Richtung zu weisen und ihr zugleich den Antrieb zu geben, in den alltäglichen Konflikten immer wieder zu versuchen, den umweltethisch gesetzten Zielen zu folgen.

— Wer die Einflußgrößen innerhalb des politischen Prozesses realistisch einschätzt, muß zu dem Ergebnis gelangen, daß darin Umweltpolitik eine vergleichsweise nachrangige Rolle spielt. Die entscheidenden Akzente setzen eher Wirtschafts-und Sozial-, Innen-und Außenpolitik. Da aber jener Prozeß nicht nur von Institutionen und Strukturen bestimmt wird, sondern nicht zuletzt auch von Personen, folgt daraus für das hier gesetzte Ziel: Es bedarf einer unbeirrbaren Koalition von Umweltethi-kern und Umweltpolitikem! Weitaus größer als der Dissens zwischen diesen beiden Seiten — so sehr er sie im Einzelfall auch beunruhigen oder sogar empören mag — ist derjenige z. B. zwischen Umweltpolitik und Wirtschaftspolitik. Daher müssen die umweltpolitisch Handelnden sich jenseits aller Einzelkonflikte der grundsätzlichen Unterstützung durch die umweltethisch Argumentierenden sicher sein. Sie brauchen diese Unterstützung politisch und psychologisch, um die Konfliktbereitschaft entwickeln zu können, die erforderlich ist, um trotz der vielen politischen Niederlagen auf den Weg des geringsten Widerstands zu verzichten und das beharrliche Bohren der harten Bretter zu beginnen, die gerade in der Umweltpolitik den Weg zum Ziel versperren 3. Vorschläge zur Veränderung und Ergänzung von politischen Strukturen und Verfahren Die Frage nach dem Einfluß der Ethik auf die Politik kann schließlich nicht ausreichend beantwortet werden, wenn dabei nicht die Strukturen und Verfahren bedacht werden, in denen und durch die dieses Handeln geschieht. Sie beeinflussen das Handeln und Verhalten des Bürgers ebenso wie das des Politikers und sind heute angesichts der geforderten Ethik der Verantwortung für eine entfernte Zukunft dem „Zweifel an der Zulänglichkeit der repräsentativen Regierung“ ausgesetzt, den neuen Anforderungen gerecht werden zu können.

Nach dem gegenwärtigen Stand unserer politischen Erkenntnis ist eine Alternative zur repräsentativen Demokratie nicht in Sicht. Also sind deren Strukturen und Verfahren daraufhin zu überprüfen, welche möglichen Veränderungen ein höheres Maß an umweltethischer Verantwortung zu gewährleisten vermögen. Im folgenden sollen vier Vorschläge zur Diskussion gestellt werden, die sich auf die hier erörterten Grundprobleme beziehen. (1) Wenn das grundsätzliche Problem im Verhältnis von Ethik und Politik darin zu sehen ist, daß die Politik durch das kurzfristige Nutzenkalkül des einzelnen Bürgers bestimmt und der interessengelei-tete Machtprozeß darauf ausgerichtet ist, dann ist zu fragen, wie die egoistischen Verhaltensorientierungen abgebaut werden können zugunsten von solidarischen gegenüber Mitwelt, Umwelt und Nachwelt. Dafür ist offenbar mehr erforderlich als nur ein moralischer Appell. Hier geht es vor allem darum, daß der einzelne Einblick erhält in die Zusammenhänge, die die Befriedigung seiner Interessen an die Befriedigung der Interessen aller binden. Der politische Mandatsträger, der für sich beansprucht, mehr als zumindest der Normalbürger dem Gemeinwohl verpflichtet zu sein, wird damit ja nicht den Anspruch erheben wollen, ein besserer, klügerer, weitsichtigerer Mensch zu sein als dieser. Er kann aber darauf verweisen, daß er eine andere Lebenspraxis besitze, die ihn dazu zwinge, vorausschauend und gemeinwohlorientiert Ziele zu bestimmen und Entscheidungen zu fällen. Oft fügt er dann hinzu, daß vieles, was er aus einem übergeordneten Gesamtinteresse für notwendig halte, nicht realisierbar, weil in der Bevölkerung nicht „mehrheitsfähig“ sei.

Offenbar verfügt er also über Erfahrungen, die nicht durch bloße Information ersetzt, sowie über Einsichten in Zusammenhänge, die nicht nur intellektuell vermittelt werden können. Es ist die Lebenspraxis der Politik, die er dem Normalbürger voraus hat, und daher bietet ein größeres Maß an politischer Beteiligung des Bürgers die Chance, der Politik eine neue Zielorientierung zu verleihen. Im Prozeß der politischen Beteiligung können kurzfristige und langfristige, individuelle und soziale Bedürfnisse und Ziele in ihrem Zusammenhang sichtbar und Solidarität als Norm plausibel werden (2) Die Intensivierung der Bürgerbeteiligung an politischen Entscheidungsprozessen muß aus den dargelegten Gründen generell als umweltethisch und umweltpolitisch sinnvoll eingeschätzt werden. Sie ist es vor allem dann, wenn die Politik vor grundlegenden Entscheidungen mit langfristigen Wirkungen steht, die nicht revidierbar und deren negative Folgen möglicherweise nicht korrigierbar sind. Bürgerbeteiligung dient hier nicht in erster Linie der Legitimation von Mehrheitsentscheidungen, obwohl auch das ein nicht unwesentlicher Aspekt ist. Sie bietet vor allem die Gewähr dafür, daß die umweltethischen Gesichtspunkte im Entscheidungsverfahren berücksichtigt werden. Insofern gilt gerade für die Umwelt-und Technologie-politik der Satz: „Zur rechtzeitigen Abschätzung von Fortschrittsfolgen ist Vielstimmigkeit eine Grundvoraussetzung.“

Zur Realisierung dieser Zielsetzung kann auf den Vorschlag von Wienholtz zurückgegriffen werden: Bei umweit-oder technologiepolitisch wichtigen Entscheidungen des Parlaments sollten komplementäre Konsensprozesse durchgeführt werden, die über eine Volks-Enquete auf Initiative eines Drittels der Parlamentsmitglieder oder — auf Landesebene — über ein fakultatives Referendum zu einer von der Verwaltung vorgelegten Planung direktdemokratische Elemente in den Entscheidungsprozeß einbringen (3) Dieser Vorschlag leitet in seiner Bezugnahme auf die letzthinnige parlamentarische Verantwortung über zu dem, was man den politisch institutionalisierten Zwang zur Besinnung auf das Ganze nennen könnte. Im politischen Alltag stellt sich diese Besinnung oft nicht von selbst ein, meist bedarf es besonderer Ereignisse, wie sie beispielsweise die Namen „Tschernobyl“ und „Kiel“ signalisieren, um die Politik dazu zu bewegen. Im Normalfall der Politik besteht in bezug auf die langfristigen Folgen von Entscheidungen weithin eine strukturelle Verantwortungslosigkeit: Bei dem Konflikt zwischen dem Folgenbewußtsein der Politiker und ihrem politischen Nutzenkalkül siegt die politische Systemrationalität des „Überlebens im Amt“

Für die Annäherung von Ethik und Politik und damit für die Stärkung der Verantwortlichkeit der Politiker bietet daher der Vorschlag zur Einrichtung einer ständigen Kommission des Deutschen Bundestages zur Abschätzung und Bewertung von Technikfolgen in Verbindung mit einer ständigen wissenschaftlichen Einrichtung beim Bundestag eine große Chance. Die damit intendierten Institutionen und Verfahren vermögen jenes Maß an Besinnung auf die langfristigen Folgen bestimmter Entscheidungen für das Gemeinwesen zu erzwingen, das jedenfalls für den hier in Rede stehenden Themenbereich ein neues Verhältnis von Umwelt-ethik und Umweltpolitik ermöglicht -

(4) Mit den bisher vorgestellten Veränderungsvorschlägen kann freilich nicht sichergestellt werden, daß nicht die Politik sich über die mit Hilfe der genannten Verfahren einzubringenden umweltethischen Erwägungen einfach hinwegsetzt, sich zwar kurz besinnt, aber dann doch tut, was sie meist zu tun pflegt — das, was unter Abwägung aller Interessen politisch opportun ist. Damit ist nicht gesagt, daß Politik von blankem Opportunismus gekennzeichnet sei. Politik bedeutet immer Abwägung von Interessen, und dabei dominieren nun einmal die kurzfristigen und materiellen, nicht zuletzt deshalb, weil sie am besten organisiert sind.

Unter diesen Bedingungen könnte eine größere strukturelle Verantwortung dadurch etabliert werden, daß „die alte Frage nach der Macht der Weisen oder nach der Kraft der Ideen im politischen Körper“ mit der Einrichtung eines Gremiums, eines Senats oder einer Kammer, beantwortet wird, das bei grundlegenden umweit-und technologiepolitischen Entscheidungen des Parlaments das Recht eines aufschiebenden Vetos besitzt. Auf diese Weise würde das Parlament gezwungen, Prozesse des Nachdenkens über die Folgen und der Besinnung auf das Ganze durchzuführen. Das Veto könnte mit einer Verpflichtung zur öffentlichen Diskussion des Für und Wider der beabsichtigten Entscheidung sowie der Maßgabe verbunden werden, erst durch eine daran anschließende erneute Abstimmung im Parlament aufgehoben werden zu können. Die Mitglieder dieses Gremiums sollten berufen werden, nicht bestimmten Interessenverbänden verpflichtet und auch nicht den Zwängen und Bindungen einer Parteizugehörigkeit unterworfen sein

Auf weitere Einzelheiten wie Art der Zusammensetzung und Amtsdauer oder die Rahmenbedingungen der Entscheidungen eines solchen Gremiums soll hier nicht weiter eingegangen werden. Entscheidender als diese Einzelheiten oder der Vorschlag selbst ist, daß er die Notwendigkeit anzeigen soll, der technischen Phantasie, die uns in die derzeitige Situation geführt hat, eine soziale und politische Phantasie an die Seite zu stellen mit dem Ziel, die verlorengegangene Einheit von Ethik und Politik wiederzugewinnen.

Dieses Ziel wird nie ganz erreicht werden können.

Dies gilt auch für das Verhältnis von Umweltethik und Umweltpolitik; jene wird diese immer wieder herausfordern, sie wird sie auch immer wieder überfordern — und sie muß dies tun, weil Ethik ein Sollen formuliert, dem das Sein nur punktuell, gleichsam in seinen Höhepunkten völlig zu entsprechen vermag. Für die Erhaltung der Umwelt, für die Erhaltung von Leben auf dieser Erde wird es darauf ankommen, ob die Umweltpolitik sensibler als bisher auf die Herausforderungen der Umwelt-ethik reagiert und die Überforderung auch als solche empfindet — anstatt auf sie mit der Überheblichkeit der „Realpolitik“ zu antworten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, Frankfurt 1983, S. 35: „Von ganz unten, aus der deklassierten städtischen Intelligenz, und ganz oben, aus den Spitzen des staatsmännischen Bewußtseins, dringen Signale in das seriöse Denken, die von einer radikalen Ironisierung der Ethik und der gesellschaftlichen Konvention Zeugnis ablegen, gewissermaßen als seien die allgemeinen Gesetze nur für die Dummen da, während um die Lippen der Wissenden jenes fatal kluge Lächeln spielt.“

  2. Die These von Odo Marquard, die moderne Welt sei mehr Nichtkrise als Krise, weil in ihr Störungen kompensiert seien, z. B.der Trend zur Technifizierung durch den kompensierenden Trend der Historisierung, vermag zwar die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften zu begründen; aber das von ihm intendierte Ja zur Moderne wäre eher leichtfertig, wenn seine Kompensationsthese zu einem Maßstab für unseren Umgang mit der Technik gemacht würde. Vgl. Odo Marquard, Verspätete Moralistik. Bemerkungen zur Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. März 1987, S. 33.

  3. Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Hrsg.), Überleben und Ethik, München 1976, S. 10 (Vorwort des Hrsg.).

  4. Vgl. das Stichwort „Umweltethik“ in: Gotthard M. Teutsch, Lexikon der Umweltethik, Göttingen-Düsseldorf 1985, S. 108. Ökologie kann als Lehre vom Gesamthaushalt der Natur verstanden werden; vgl. ebd., S. 80.

  5. Wolfgang Trillhaas, Art. „Ethik“, in: Evangelisches Staatslexikon, hrsg. von Hermann Kunst und Siegfried Grundmann, Stuttgart 1966, Sp. 443.

  6. In dem Abschnitt „Umweltschutz als ethische Verpflichtung“ betonen dagegen Hartkopf/Bohne: „Wir wollen uns ... in den philosophischen Streit um das anthropozentrische Weltbild nicht weiter einmischen.“ Dieser Satz ist doppelt problematisch. Einmal deshalb, weil mit dem anthropozentrischen Weltbild untrennbar ein bestimmtes Menschenbild verbunden ist, dessen ethische Relevanz so übergangen wird, und weil zum anderen mit der Formulierung „philosophischer Streit“ der Eindruck erweckt wird, als habe dieser Streit nur philosophische, im Sinne von akademische, aber keine politische Bedeutung. Vgl. Günter Hartkopf/Eberhard Bohne, Umweltpolitik, Bd. 1, Opladen 1983,

  7. Vgl. Wilhelm Hennis, Politik und praktische Philosophie, Neuwied 1963, S. 56: „Beides gehört untrennbar zusammen: Wo die Bestimmung des Menschen verkannt wird oder offen bleibt, da müssen auch Sinn und Bestimmung des Staates offen bleiben: allenfalls seine Mittel’ bleiben, ihn zu bestimmen“.

  8. Vgl. Günter Hartkopf/Eberhard Bohne (Anm. 6), S. 69.

  9. Vgl. dazu u. a. Klaus Michael Meyer-Abich, Wege zum Frieden mit der Natur. Praktische Naturphilosophie für die Umweltpolitik, München 1984.

  10. Günter Hartkopf/Eberhard Bohne (Anm. 6), S. 57.

  11. Vgl. Karl Rohe, Stichwort „Politikbegriffe“, in: Wolfgang W. Mickel (Hrsg.), Handlexikon zur Politikwissenschaft, München 1986, S. 350 f.

  12. Wilfried Röhrich, Politik als Wissenschaft, Opladen 1986, S. 36.

  13. Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, 11/40.

  14. Dieses Grundverständnis von Politik gilt prinzipiell auch dort, wo in den Bekundungen der Politiker die Politik den Charakter einer Verwaltung des (Geld) mangels anzunehmen scheint.

  15. Max Weber hatte in seinem Vortrag „Politik als Beruf“ drei Eigenschaften des Politikers aufgeführt: Leidenschaft — Verantwortungsgefühl — Augenmaß; vgl.ders., Gesammelte politische Schriften, Tübingen 19713, S. 545.

  16. Hans Jonas, „Wir sind der Natur gefährlicher geworden, als sie es uns jemals war“, Rede anläßlich der Verleihung des Friedenspreises 1987 des Deutschen Buchhandels, hier zitiert nach: Frankfurter Rundschau, Nr. 236 vom 12. Oktober 1987 (Dokumentation).

  17. Heinrich von Treitschke, Politik, 1. Bd., Leipzig 1899, S. 105.

  18. Günther Maluschke, Das Menschenbild und das Problem der „Werte“ in der Sicht der Politischen Philosophie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 28/87, S. 13.

  19. Auch Hartkopf und Bohne betonen, daß die politischen Parteien das Umweltthema nicht aus eigener Initiative aufgegriffen hätten. Sie erwähnen aber als Initiator neben den hier Genannten an erster Stelle die Exekutive; vgl. dies. (Anm. 6), S. 136 f. Raschke vertritt demgegenüber die These, „daß wesentliche politische Veränderungen im letzten Jahrzehnt durch Basisbewegungen, nicht aber von Parteien und Verbänden und die von ihnen bestimmten Parlamente, Regierungen und Staatsverwaltungen verursacht worden sind“; vgl. Joachim Raschke, Politik und Wertwandel in den westlichen Demokratien, in: Aus Politik und Zeit-geschichte, B 36/80, S. 24.

  20. Nur wenige Politiker scheinen bereit zu sein, so zu formulieren wie der niedersächsische Umweltminister Werner Remmers: „Zur Glaubwürdigkeit unser . . . Politik gehört der beständige Zweifel . . ., ob es nicht noch andere, für das Gemeinwohl zuträglichere Lösungen mit noch weniger unbeabsichtigten Nebenfolgen gibt“; vgl. Erklärung der Niedersächsischen Landesregierung zum Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl, Niedersächsischer Landtag, 11. Wahlperiode, 21. Plenarsitzung am 29. April 1987.

  21. Vgl. Klaus Hornung, Überleben in Freiheit. Entscheidungsfragen politischer Ordnung an den „Grenzen des Wachstums“, in: Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Anm. 3), S. 136: „ . . .der . Interessent'in unserer Brust bedarf des . Bürgers'in unserem Kopf, der an das Gemeinwesen als Ganzes und an die Kette der Generationen zu denken und sich daher , staatsbürgerlich'zu verhalten vermag“.

  22. Vgl. dazu auch Beat Sitter, Wie läßt sich ökologische Gerechtigkeit denken?, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik, (1987) 3, S. 281.

  23. Helmut Herles, Anlaß zur Selbstprüfung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. Oktober 1987, S. 1.

  24. Vgl. Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt 1984, S. 55: „Angesichts des quasi-eschatologischen Potentials unserer technischen Prozesse wird Unwissen über die letzten Folgen selber ein Grund für verantwortliche Zurückhaltung — als das zweitbeste nach dem Besitz von Weisheit selbst.“

  25. Vgl. Max Weber, Politik als Beruf (Anm. 15), S. 560:

  26. Hans Jonas (Anm. 24), S. 55. Auch der ehemalige Vorsitzende der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zur Technologiefolgenabschätzung, der CDU-Abgeordnete Josef Bugl, stellte fest: „Die Anwendung von Wissenschaft und Technik mit ihren Auswirkungen auf die Natur und die biologischen Grundlagen menschlichen Lebens ist zu einer politischen Grundsatzfrage von neuartiger Dimension geworden“; vgl.ders., Rede anläßlich des Symposiums „Das Parlament und die Herausforderung durch die Technik“, ver•vielfältigtes Manuskript, Berlin 1986, S. 6.

  27. Vgl. dazu im einzelnen Horst Zilleßen, Selbstbegrenzung und Selbstbestimmung. Über die politischen Voraussetzungen für einen neuen Lebensstil, in: Karl Ernst Wenke/Horst Zilleßen (Hrsg.), Neuer Lebensstil — verzichten oder verändern?, Opladen 1978, S. 122 ff.

  28. Günter Altner, Verantwortung für die Schöpfung im politischen Alltag, in: Evangelische Akademie Bad Boll (Hrsg.), Versöhnung zwischen Ökologie und Ökonomie. Frieden mit der Natur, Protokoll Nr. 11/87, Bad Boll 1987, S. 62.

  29. Vgl. dazu Ekkehard Wienholtz, Verfassung und Technologie, in: Die öffentliche Verwaltung, (1985) 4, S. 136 ff.

  30. Vgl. Carl Bohret, Technikfolgen und die Verantwortung der Politik, Berlin 1986, S. 12.

  31. Auf Einzelheiten kann im vorliegenden Zusammenhang nicht eingegangen werden; vgl. dazu Deutscher Bundestag, Bericht der Enquete-Kommission „Einschätzung und Bewertung von Technikfolgen; Gestaltung von Rahmenbedingungen der technischen Entwicklung“, Drs. 10/5844, Bonn 1986 sowie Carl Bohret, Technikfolgen und Verantwortung der Politik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 19— 20/87.

  32. Hans Jonas (Anm. 24), S. 55 f.

  33. Dieser Vorschlag, den der Verf. erstmals im Oktober 1986 in einem Vortrag vor der Österreichischen Rektoren-konferenz in Wien zur Diskussion gestellt hat. geht einen entscheidenden Schritt weiter als der von Konrad Adam, welcher eine ähnliche Regelung für die Institutionalisierung von Technologiefolgenabschätzung vorsieht: „Ein kleiner Kreis von unabhängigen Personen, keiner Partei zugehörig und keinem Verband verpflichtet, dazu namentlich bekannt und für ihr Votum auch persönlich haftbar, sollte der alten Forderung gerecht werden können, das Wissen mit Gewissen zu verbinden“, vgl.ders., Wissen und Gewissen. Technikfolgenabschätzung: Chance oder Marotte?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. Dezember 1987, S. 25.

Weitere Inhalte

HorstZilleßen, Dr. rer. pol., geb. 1938; 1963— 1969 Mitarbeiter im Sozialethischen Ausschuß bzw. (seit 1966) Sozialwissenschaftlichen Institut der Evangelischen Kirchen im Rheinland, Velbert; 1970— 1980 Leiter des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bochum; 1980— 1986 Präsident der Universität Oldenburg; dort jetzt Professor für Umweltpolitik und Umwelt-planung. Veröffentlichungen: zahlreiche Veröffentlichungen zu Fragen der politischen Ethik, der Partizipation (insbesondere von Bürgerinitiativen) sowie der Umwelt-und Energiepolitik.