Entwicklungstendenzen der politischen Kultur bei Jungwählern
Rainer A. Roth
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Zusammenfassung
Nach den turbulenten Ereignissen des Jahres 1968 und der Aufbruchstimmung in der Anfangsphase der sozialliberalen Koalition zeichneten sich Tendenzen für einen Wertwandel ab, der manche die Befürchtung äußern ließ, wir könnten am Ende gar eine andere Republik erhalten. Mittlerweile scheinen jene Ansätze weithin versandet zu sein. Dennoch haben sich seither etliche soziopolitische wie sozioökonomische Rahmenbedingungen verschoben, so daß wir von einer postindustriellen Gesellschaft sprechen können. Nicht ganz unbeeinflußt blieben hiervon zweifellos auch die politischen Einstellungen, zumal jene der heranwachsenden Generation, insbesondere jene der Jungwähler. Dennoch hat die „stille Revolution“ nicht zu einem unaufhaltsamen Wandel weg von materialistischen Orientierungen und hin zu postmaterialistischen Werthaltungen geführt, wenngleich wir in den siebziger Jahren doch eine deutliche Abkehr gerade bei der jüngeren Generation von Pflicht-und Akzeptanzwerten und eine Hinwendung zu Selbstentfaltungswerten feststellen können. Derartige Umprägungen bzw. Gewichtsverschiebungen lassen sich auch für verschiedene andere Werthaltungen nachweisen. Es kann kein Zweifel bestehen, daß derartige Veränderungen nicht unbeträchtlich die politische Kultur insbesondere der Jungwähler beeinflussen. Konnte man in ihnen einst die Vorhut einer postmaterialistisch orientierten politischen Kultur vermuten, so deutet manches darauf hin, daß dieses Bild in den achtziger Jahren zum Teil beträchtlich zu relativieren ist, und zwar gerade dort, wo man formale Partizipations-und Loyalitätsbekundungen einer genaueren Analyse unterzieht. Wenn auch Kassandrarufe unangebracht erscheinen, so gilt es doch, auf Defizite, mögliche Fehlentwicklungen und Gefahren für die politische Kultur insgesamt aufmerksam zu machen.
Zwanzig Jahre nach den turbulenten Zeiten des Jahres 1968 ist das politische Szenarium der heranwachsenden Generation vergleichsweise ruhig. Die Wogen von damals haben sich geglättet, die Stürme gelegt, das Schiff unserer Gesellschaft steuert wieder — trotz vieler politischer Probleme — in ruhigerem Fahrwasser. Haben wir seither eine andere Republik mit einer anderen politischen Kultur erhalten? Wächst unsere gegenwärtige Jugendgeneration unter anderen Rahmenbedingungen auf und in eine andere politische Zukunft hinein, weil ihre Einstellungen und Handlungsmuster sich geändert haben? Zeichnet unsere heutige Jungwählergeneration eine andere politische Kultur aus oder sollten und müßten wir nicht auf Entwicklungen achten, die zur Sorge Anlaß geben könnten? Eine Fülle von Fragen, auf die in diesem Zusammenhang zweifellos nur in einem begrenzten Umfange Antworten zu finden sein werden.
I. Eine „stille“ oder „versandete“ Revolution?
In seinem Rückblick auf das Jahr 1968 sprach unlängst Ralf Dahrendorf von einer Revolution, die nie stattfand, und meinte: „Dem Aufschwung der Ideen folgte alsbald die Verharzung der tatsächlichen Verhältnisse.“ Erinnern wir uns: In der Auseinandersetzung um die Reformpolitik der sozialliberalen Koalition, in welche die Forderungen des studentischen Protestes nach Demokratisierung, Emanzipation, Liberalisierung, Entnormierung, Abbau von unbefragter Autorität, Rechte der Minderheiten, Freiräume für das Individuum und Chancengleichheit Eingang gefunden hatten, kam es zu heftigen Kontroversen über die Grundlagen unserer Demokratie insgesamt, deren Anerkennung bis dahin augenscheinlich völlig außer Zweifel gestanden hatte. Jene „Grundwerte-Debatte“ die sich hauptsächlich an der Straf-, Ehe-und Familienrechtsproblematik entzündet hatte, darüber hinaus aber auch Experimentierformen eines neuen Lebensstils anregte, zerriß förmlich einen Schleier, hinter dem sich nicht nur ein brüchig gewordener Konsens über die Fundamente unserer politischen Ordnung, sondern weithin auch unvereinbar gewordene Gestaltungsvorstellungen für ein politisch-gesellschaftliches Zusammenleben verbargen. Dieser Verlust der gemeinsamen Wertbasis — oder müssen wir eher von einem Bewußtwerden unterschiedlicher Wertüberzeugungen sprechen? — ließ fortan den Streit um den Staat als Garanten jener — vermeintlich — gemeinsamen Wertordnung kaum mehr verstummen. Dabei verkannte man vielfach, daß der pluralistische Staat bei seinen politischen Entscheidungen letztlich stets auf ein in der Gesellschaft als mehrheitsfähig vorhandenes Ethos angewiesen ist; oder wie Helmut Schmidt dies seinerzeit formulierte: „Wenn bestimmte ethische Auffassungen in der Gesellschaft nicht mehr vorhanden sind, dann verliert das Recht seine demokratische Legitimation. Der Staat kann ein nicht mehr vorhandenes Ethos nicht mehr zurückholen, und er kann ein nicht mehr vom Konsens der Gesellschaft getragenes Ethos nicht durch Rechtsnormen für verbindlich erklären.“
Abbildung 15
Tabelle 4: Entwicklung der Kirchganghäufigkeit 1953— 1983, in Prozent
Quelle: IfD-Allensbach 1983. 1953 1963 1973 1983
Tabelle 4: Entwicklung der Kirchganghäufigkeit 1953— 1983, in Prozent
Quelle: IfD-Allensbach 1983. 1953 1963 1973 1983
Im Jahre 1973 erschien Daniel Bells Studie über „Die nachindustrielle Gesellschaft“. Bell ging dabeivon der These aus. daß sich bis zum Ende dieses Jahrhunderts nicht nur in den USA. sondern vor allem in Westeuropa, aber auch in Japan und der Sowjetunion ein derart tiefgreifender Wandel der Sozialstruktur, der auf den politischen und kulturellen Bereich nicht ohne Einfluß bleiben könne, vollziehen werde, so daß die bisherigen Industrienationen danach als post-industrielle Gesellschaften zu gelten hätten Diese nachindustrielle Gesellschaft. auf die wir uns seit der Mitte dieses Jahrhunderts deutlich zubewegt haben, sah Bell — idealtypisch zwar, aber dennoch klar erkennbar — durch fünf Dimensionen geprägt: nämlich a) den Über-gang von einer güterproduzierenden zu einer Dienstleistungswirtschaft; b) den Vorrang einer Klasse professionalisierter und technisch qualifizierter Berufe; c) die zentrale Stellung von theoretischem Wissen als Quelle von Innovationen im gesellschaftlich-politischen Bereich; d) die Steuerung des technischen Fortschritts und eine entsprechend vorrangige Bewertung der Technologie, und schließlich e) die Schaffung und Nutzung einer neuen „intellektuellen Technologie“ Wir können in der Tat feststellen, daß sich die Bundesrepublik in den siebziger Jahren anschickte, einige dieser Dimensionen in ihrem „postindustriellen“ Ausprägungen zu erreichen.
Wenngleich Bell die kulturellen Fragen und die Probleme des Bewußtseinswandels nicht in den Mittelpunkt seiner Analyse stellte, sondern vielmehr davon ausging, diese würden durch den Wandel in der Sozialstruktur nicht determiniert so hielt er es andererseits geradezu für das Wesensmerkmal der angedeuteten Entwicklung, daß sich Gesellschaftsstruktur und Kultur in einem Maße voneinander absonderten, weshalb man heute (d. h. in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts) nicht mehr von einem integrierten Wertsystem sprechen könne. Der Kapitalismus habe seit den fünfziger Jahren unseres Jahrhunderts aufgehört, sich durch bzw. mit Prinzipien wie „Arbeit“ und „Eigentum“ zu rechtfertigen, sondern gebe sich seither zunehmend mit materiellen Statussymbolen und der Ausweitung von Vergnügungen zufrieden. „Ein höherer Lebensstandard und eine Lockerung der Sitten wurden nun als Zeichen persönlicher Freiheit gewertet und zum Selbstzweck erhoben.“ Dies alles verlangt für seine Rechtfertigung nach keiner transzendentalen Ethik mehr, sondern begnügt sich mit einer profanen Zweckrationalität. Nun lenkten ja insbesondere die Studentenunruhen der sogenannten „ 68er-Generation“ mit ihren spektakulären Aktionen gerade von der Beobachtung und Beachtung soziopolitischer Vorgänge hinter diesem Szenarium eher ab, als daß sie darauf aufmerksam gemacht hätten. Ronald Inglehart glaubte deshalb, im Jahre 1971 von einer „silent revolution“ (einer stillen Revolution) sprechen zu können, welche die westeuropäischen nachindustriellen Gesellschaften erfaßt und bereits deutlich verändert hätte. So konstatierte er: „Die Werte der westlichen Gesellschaften scheinen sich von einer beinahe ausschließlichen Betonung der materiellen und physischen Sicherheit in Richtung auf eine höhere Bewertung von immateriellen Aspekten des Lebens verlagert zu haben, wobei Themen wie Lebensqualität eine größere Bedeutung gewinnen und die Entwicklung eines weniger parochialen (= engtirnigen, um den Kirchturm kreisenden — R. R.), mehr kosmopolitischen Gefühls von politischer Identität begünstigt wird.“
Inglehart hat nun seine Beobachtungen auf die griffige Formel gebracht, die westlichen Industriestaaten befänden sich auf dem Weg von materialistischen zu postmaterialistischen Gesellschaften. Ursachen für diesen Wertwandel seien insbesondere ökonomische Unsicherheit und das Empfinden physischer Gefahren, also destabilisierende oder verunsichernde sozioökonomische Faktoren, die in den sogenannten „formativen Lebensphasen“ (d. h. in den ersten zwanzig Lebensjahren) einer Generation vorherrschten. Hieraus erkläre sich auch der noch relativ geringe Anteil der „Postmaterialisten“ in der Bundesrepublik (gegenüber den Niederlanden, Großbritannien und den USA). Dennoch könne man zwischen heranwachsender und älterer Generation bereits ein deutliches Auseinanderdriften (Materialisten versus Postmaterialisten: 16— 29jährige 32 Prozent zu 15 Prozent; über 70jährige 74 Prozent zu 2 Prozent) feststellen
Inglehart ging also davon aus, daß die lange relative Prosperitäts-und Friedensaera in den hochindustrialisierten Staaten Westeuropas zu wesentlichen und bleibenden Einstellungs-und Wertverschie-bungen insbesondere bei der jüngeren Generation geführt habe. Ihrer Qualität nach bewirkten diese Neuorientierungen einen Bedeutungsverlust sozialer Unterschiede und Konflikte, ebenso auch eine wachsende Geringschätzung traditioneller Institutionen (Autorität, Familie, Bürokratie, parlamentarisches System) und eine Lockerung von nationalen Bindungen („nationale Identität“); andererseits verstärkten sich jedoch supranationale Orientierungen (Europaidee), das Interesse an Lebensqualität (Umweltschutz) und Formen direkter politischer Partizipation in überschaubaren Initiativ-und Aktionsgruppen (Bürgerinitiativbewegung).
Inglehart ist ob seiner Theorie eines allmählichen Wandels von materialistischen zu postmaterialistischen Werten zum Teil heftig kritisiert worden Wenngleich man viele seiner Befunde und Erklärungen als faszinierend und durchaus überzeugend akzeptieren kann, so liegt doch in der Grundstruktur seiner Theorie, daß sich nämlich jener Wertwandel in nachindustriellen Gesellschaften auf einem eindimensionalen Kontinuum vom materialistischen hin zum postmaterialistischen Pol vollziehe, die entscheidende Schwäche. Hieraus ergäbe sich letztlich ein unumkehrbares „Nullsummenspiel“ dergestalt, daß traditionelle Werte eines Tages gänzlich durch postmaterialistische Werte ersetzt würden.
Wenn man umgekehrt, trotz aller Anzeichen von zum Teil tiefgreifenden Veränderungen, letztlich dem „Fortbestehen industriebürgerlicher Vorstellungen und Wertsetzungen“ das Wort redet und jede „post-industrielle Abkunft“ leugnet, wie dies Walter Jaide tut, so wird damit das Problem an sich eher verschärft als einer Lösung zugeführt. In der gegenwärtigen Situation muß man jedoch zumindest die rapide angewachsene „Instabilität von Wert-Prioritäten“ ernsthaft zur Kenntnis nehmen. um den zur Diskussion stehenden Erscheinungen gerecht werden zu können.
In diesem Zusammenhang erscheint die Betrachtungsweise der Wert-Problematik durch Helmut Klages sehr hilfreich. Klages versucht nun zunächst einmal dem Terminus des Wertwandels seinen radikalen Anspruch, „eine Quasi-Konstante unserer gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse“ zu sein, dadurch zu nehmen, daß er diese offensichtlichen Veränderungen, die sich hauptsächlich in der jungen Generation etwa von der Mitte der sechziger Jahre bis zum Ende der siebziger Jahre in der Bundesrepublik vollzogen haben, als einen „Wertwandlungsschub“ bezeichnet. Dieser ist faktisch zu einem Ende gelangt, hat allerdings „veränderte Verhältnisse“ geschaffen, die insbesondere durch Kriterien wie Unsicherheit und Instabilität gekennzeichnet werden können.
Insofern wollen wir mit H. Klages unter „Wertwandel“ einen längerfristigen Trend der Veränderung hinsichtlich der Gewichtigkeit bestimmter Werte im Einstellungsgefüge der Bevölkerung (durchaus auch insgesamt) verstehen; dabei muß es sich aber um bedeutsame Werte, nicht nur um subkulturelle Modeerscheinungen handeln. Man sollte sich zudem vergegenwärtigen, daß das Aufkommen „neuer“ bestandskräftiger Werte kaum zu erwarten ist und bei dem Wertwandel in der Bundesrepublik auch nicht erfolgte. Damit ist diesem Vorgang auch das revolutionäre Element genommen, wenngleich wir uns hierbei in einen Gegensatz zu Elisabeth Noelle-Neumann begeben, die bewußt zur Interpretation dieser Veränderung die Kennzeichnung „revolutionär“ in Anspruch nahm.
R. Dahrendorf 19) hat recht, wenn er feststellt, daß sich der Blick der 68er-Generation von den neuen Horizonten alsbald den eigenen Interessen zu-wandte, die Forderung nach politischer Beteiligung in die Sehnsucht nach gesicherten Positionen um-schlug, und das Einrücken in entsprechende Wirkungskreise — zumal jenen des öffentlichen Dienstes — in die Übernahme der damit verbundenen Mentalitäten einmündete. Insofern vermag Dahrendorf im Jahre 1968, dem Jahr „der unauffindbaren Revolution“, nicht den Eintritt in eine neue Phase oder den Beginn der Postmoderne zu erkennen, sondern weit eher den — zugegebener- maßen durchaus dramatischen — Schlußpunkt unter die Nachkriegszeit.
Dennoch brachte das Jahr 1968 eine gewisse Zäsur, wenngleich deren Auswirkungen auch in den Folgejahren erst nach und nach deutlicher hervortraten.
Ein einfaches Zurückdrehen politischer Vorstellungen auf einen Status quo ante war zweifellos fortan nicht mehr möglich. Man mußte mit Verschiebungen und Neuorientierungen im Rahmen politischer Einstellungen künftig durchaus rechnen.
II. Veränderungen in der Struktur politischer Einstellungen
Abbildung 13
Tabelle 2: Wertschätzung von Selbstentfaltungsund traditionell empfundenen Erziehungszielen
Quelle: IfD-Allensbach 1983. 1967 1977 1983
Tabelle 2: Wertschätzung von Selbstentfaltungsund traditionell empfundenen Erziehungszielen
Quelle: IfD-Allensbach 1983. 1967 1977 1983
Wir können nun zweifellos in der Gesellschaft der Bundesrepublik — in der heranwachsenden Generation der Jungwähler zumal — seit den siebziger Jahren eine deutliche Wendung weg von sogenannten Pflicht-und Akzeptanzwerten hin zu Selbstentfaltungswerten feststellen. Unter Pflicht-und Akzeptanzwerten versteht man dabei vornehmlich jene Haltungen und Orientierungen, die den einzelnen in einem starken Maße auf gesellschaftliche Anforderungen und Notwendigkeiten verpflichten, ihn an ein „Ethos“ binden. In diesem Sinne wirken Pflicht-und Akzeptanzwerte sehr sozialintegrativ; der einzelne, der mit einem hohen Potential solcher Werte ausgestattet ist, fühlt sich von der gemeinsamen Aufgabe in die Pflicht genommen, er erfährt aber auch für seine Selbstachtung aus diesem Dienst für die Gemeinschaft starke Impulse und Befriedigung, und er vermag um der Sache willen eigene Bedürfnisse weitgehend zurückzustellen; andererseits entwickelt ein solcher Mensch gelegentlich eine hohe Sensibilität für Ungerechtigkeiten. wenn seine Leistungen nicht entsprechend gewürdigt werden; dann kann er sich in seiner Ehre gekränkt fühlen, weil er die Geringschätzung seines Einsatzes als Verrat an den dahinterstehenden Werten interpretiert. Die Tendenz zu dogmatischen Einstellungen mit all ihren Konsequenzen (Autoritätshörigkeit, Intoleranz, mangelnde Konfliktfähigkeit usf.) ist damit vorgeprägt.
Deutlich anders wirkt die Dominanz von Selbstentfaltungswerten. Hier haben wir es mit einer Grundeinstellung zu tun.der es um eine entschiedene Abwehr von Außenanforderungen geht. Vorrang besitzen Zielsetzungen wie Kreativität. Autonomie und Selbständigkeit. Auf vermeintliche oder tatsächliche Einschränkungen derartiger Unabhängigkeitsbestrebungen erfolgt teilweise eine heftige Gegenreaktion. Man erfaßt nun diese Grundhaltung nur unzulänglich mit dem Etikett „Emanzipationsbestrebungen“; denn in diesem Trachten nach Selbstentscheidung und Ungebundenheit entfalten sich auch Partizipationsbereitschaften, denen es um die Ausweitung von Selbstentfaltungswerten (zum Teil sogar mit missionarischem Anspruch) geht.
Diese Wertverschiebungen schlagen nun zweifellos auf entscheidende gesellschaftliche Bereiche wie Erziehung, Familie, Arbeits-und Berufswelt durch und prägen damit auch grundlegende Einstellungen gegenüber dem politischen System, so daß wir dadurch auch Veränderungen in bezug auf die politische Kultur — insbesondere die Jungwählergeneration betreffend — annehmen können.
Die führenden Meinungsforschungsinstitute in der Bundesrepublik haben nun über Jahre hinweg immer wieder die Wertschätzung von Erziehungszielen zu erforschen gesucht, um damit Aussagen über einen eventuellen Wandel hinsichtlich der Persönlichkeitsstruktur machen zu können. So gelang es beispielsweise EMNID. in den Jahren 1951 bis 1976 recht deutliche Verschiebungen bezüglich der Werte „Selbständigkeit“ bzw. „Gehorsam und Unterordnung“ festzustellen, während „Ordnungsliebe und Fleiß“ als Erziehungsmaximen relativ konstant blieben Vergegenwärtigen wir uns einige weitere Daten hierzu, die das Institut für Demoskopie in Allensbach in den Jahren 1967— 1983 erhob Wir wählen hiervon sechs exemplarische Erziehungsziele aus:
Eine zugegebenermaßen grobe Interpretation läßt aus diesen Befunden doch einige Rückschlüsse zu, die die obigen Tendenzen bestätigen, allerdings auch darüber hinausgehende Erkenntnisse gewinnen lassen, und zwar in dem Sinne, daß sich die Selbstentfaltungswerte auf einem höheren Niveau „eingependelt“ haben und dabei einen Wert wie z. B. Toleranz positiv beeinflussen. Andererseits läßt sich erkennen, wie ursprünglich wohl eher als traditionell empfundene Erziehungsideale, etwa Höflichkeit und Ordentlichkeit, ihre „Talfahrt“ beendet, sich entweder stabilisiert haben oder eine neue Wertschätzung erfahren, weil sich die Verhältnisse — insbesondere in ökonomischer Hinsicht — merklich verändert haben. Und schließlich können wir feststellen, daß sich „Unterordnung und Bindungen“ — wenngleich auf deutlich niedrigerem Niveau — ebenfalls zu „beruhigen“ begonnen haben. Betrachten wir diese Problematik noch unter einem weiteren Aspekt, nämlich in bezug auf die unterschiedliche Bewertung von Lebensstilen durch Jugendliche und Erwachsene. Hierzu legte die Shell-Jugendstudie 1985 ein breites Datenmaterial vor indem sie die Ansichten heutiger Jugendlicher mit der Jugendgeneration von 1955, also der heutigen Altersgruppe zwischen 45 und 55 Jahren verglich. Danach sollten Jugendliche nach Ansicht der heranwachsenden bzw.der erwachsenen Generation heute besonders folgende Verhaltensweisen lernen (vgl. Tab. 3, S. 38).
Nach dieser Übersicht besitzen offensichtlich die dezidierten Selbstentfaltungswerte keine überragende Bedeutung mehr, sei es daß ein Sättigungsgrad eingetreten ist, oder daß dies die gegebenen, insbesondere ökonomischen Umstände nahelegen. Jugendliche und Erwachsene unterscheiden sich diesbezüglich kaum. Andererseits gedenken Ju-gendliche nicht in gleichem Maße auf jene „Bescheidungs-Niveaus“ einzuschwenken, die ihnen die Erwachsenengeneration vor allem in bezug auf Sozialbindung und materielle Anspruchshaltungen anempfehlen möchte. Am krassesten klafften jedoch die Vorstellungen dort auseinander, wo die Erwachsenen der heranwachsenden Generation mehr Disziplin und Leistung abverlangen möchten. Hier zeigt sich, daß die Jugendlichen offensichtlich nicht mehr so bereitwillig Pflicht-und Akzeptanz-werte auf sich nehmen wollen.
Dies könnte sich vielleicht ändern, wenn wir nun den Bereich „Arbeit und Beruf“ betrachten. Unser Wirtschaftssystem gründet in hohem Maße auf persönlicher Leistungsbereitschaft. Leistung erbringt der Mensch unter normalen Bedingungen indes vorwiegend dort, wo ihm dies um einer Sache oder Idee willen nötig erscheint oder wo es um die Befriedigung von persönlichen Bedürfnissen geht. Da der Kapitalismus die existentiellen Bedürfnisse weithin saturiert hat und herausfordernde neue Aufgaben nur bedingt gestellt sind oder bislang als solche noch nicht entsprechend wahrgenommen werden (Umwelt), erlahmte die traditionelle Leistungsbereitschaft in gleichem Maße wie auch die Akzeptanz-und Pflichtwerte verblaßten. Leistung dürfte künftig überwiegend nur noch dort aktiviert werden, wo die Befriedigung von Selbstentfaltungsbedürfnissen zur Disposition steht. Die Grundstruktur dieser Bedürfnisse bedingt aber eine andere Art von Leistung; eine Leistung die nicht produktiver, sondern — weitaus stärker — kreativer Art ist. Für den ökonomischen Einsatz wird Leistung „instrumentell“, d. h. nüchtern-kalkulierend in dem Sinne: Was muß ich erarbeiten, um meinen Lebensstandard halten zu können und mir das Maß an Freizeit und Lebensgenuß zu ermöglichen, das ich für wünschenswert erachte. Leistung verliert damit zunehmend die soziale Komponente und wird egozentrisch-privatistisch.
Meiner Meinung nach überzeichnete nun Elisabeth Noelle-Neumann auch hier die Tendenz, indem sie in diesem Zusammenhang von einer Proletarisierung des bürgerlichen Wertsystems sprach, die sie dadurch heraufziehen sah, daß Arbeitsunlust, Ausweichen vor Anstrengungen, abnehmende Risikobereitschaft, unmittelbare Bedürfnisbefriedigung, Egalitätsstreben, Status-Fatalismus und anderes mehr um sich griffen. Zugegeben, diese Haltungen konnten sich merklich ausbreiten, solange der Sozialstaat noch nicht an seine Grenzen gestoßen war bzw.den politischen Offenbarungseid leisten mußte. Zudem hat das Mehr an Freizeit nicht auch ein Mehr an freier Entfaltungsmöglichkeit gebracht. Als entscheidendes Argument gilt es allerdings festzuhalten, daß die traditionellen Arbeitstugenden nicht durch die aufgezeigten Haltungen ersetzt, sondern nur in ihrer Wirkung — wenn auch beträchtlich — zurückgedrängt wurden. Andererseits kann man gerade im ökonomischen Bereich eine eigenartige „Subjektivierung der Werte“ beobachten, die wiederum besonders stark die junge Generation erfaßt. Mit dem Eintritt in den Beruf trifft diese allerdings auf Bedingungen, die eine Anpassung zugunsten von Akzeptanz-und Pflichtwerten nahelegen. An dieser Übergangsstelle traten bzw. treten nun einige typische Entscheidungsmuster auf: Man sieht sich zur „Anpassung“ gezwungen, d. h. Pflicht-und Akzeptanz-werte erfahren eine subjektive Aufwertung. Oder in der Konkurrenz von Entfaltungs-und Pflichtwerten werden letztere instrumentalisiert, d. h. unter Kosten-Nutzen-Überlegungen dort aktiviert, wo sie erforderlich erscheinen. Schließlich kommt es auch — stärker als man dies früher beobachten konnte — zu Rückzugs-bzw. Ausstiegsbewegungen, um den Anforderungen der Pflicht-und Akzeptanzwerte auszuweichen Grundsätzlich zeichnet sich dabeijedoch eine neue Entwicklung ab. nämlich dergestalt. daß die einstmals generativen Wertkonflikte und Wertspannungen zu innerpersonalen Widersprüchen werden. Mit der Subjektivierung der Werte geht daher folglich auch eine weitere Relativierung ihres Gültigkeitsanspruches einher.
Dies führt neuerdings auch zu Kassandra-Rufen aus einer Richtung, von der man dies kaum erwartet hätte. So zeigte sich der Vorstandsvorsitzende der Deutschen-Ford-AG, D. Goeudevert sehr besorgt über den Verlust traditioneller ethischer Werte, der zu einer Einstellung des „Konsums als Lebenszweck“, verbunden mit einem Mangel an Fairneß, Solidarität und Verläßlichkeit, geführt habe. Es sei nötig, daß die Menschen ihre eigene Verantwortung wieder ernst nähmen und die Schuld an negativen Erscheinungen nicht nur den anderen zuschöben. Goeudevert sprach in diesem Zusammenhang von einer „Ideologiekrise“, die weite Teile der Gesellschaft erfaßt hätte und einer gedeihlichen — zumal wirtschaftlichen — Entwicklung auf Dauer äußerst abträglich sei.
Noch deutlicher läßt sich eine derartige Entwicklung auf dem Gebiet religiöser und moralischer Einstellungen nachzeichnen. Einen sehr formalen Indikator, aber einen ersten Einstieg in diese Problematik, stellt zweifellos die Entwicklung der Kirchgang-häufigkeit dar: Nach Erhebungen des Instituts für Demoskopie in Allensbach bezeichneten sich als regelmäßige Kirchgänger:
Deutlich erkennen wir einen einschneidenden Rückgang der Kirchganghäufigkeit in beiden großen Konfessionen; die Prozentanteile der jungen Generation nehmen dabei noch drastischer ab als die Vergleichswerte im Konfessionsdurchschnitt. Wenngleich wir aus diesen Zahlen nicht automatisch auf einen Religionsverlust breiten Ausmaßes schließen können, so gilt doch zweifellos, daß man hierin eine massive Ablehnung der norm-und sinn-setzenden Autorität und Instanz „Kirche“ festhalten muß. Mit ihrem traditionellen Wertsystem und ihrer hierarchischen Autoritätsstruktur gerieten offensichtlich die Kirchen in besonderem Maße in Konflikt und Widerspruch zu den auf Selbstfindung und Selbstentfaltung ausgerichteten Bedürfnissen des „modernen“ Menschen. Da in diesem Zusammenhang weder Engagement noch Protest grundlegende Änderungen versprachen, nahmen viele die kaum noch durch soziale Sanktionen bedrohte Gelegenheit wahr, sich der Autoritäts-und Normsetzungsinstanz „Kirche“ (ohne weithin die formelle Mitgliedschaft aufzukündigen) zu entwinden
Es ist nun sicherlich nicht der Rückgang der religiösen Bindungen allein, der einen erheblichen Einfluß auf die Einstellungen zu Ehe und Familie ausübte; sondern hier kulminierten förmlich alle bislang skizzierten Wertwandlungstendenzen. Nach dem Verblassen fester Wertorientierungen wurden Ehe und Familie genauso den „individuellen Lebensplanungskalkülen“ (H. Klages) unterworfen, wie dies anderen Lebensbereichen längst vorab wiederfahren war. Ehelosigkeit und hinausgeschobenes Heiratsalter als Verlängerung einer außerfamiliären Jugendphase, Kinderlosigkeit als Freisein von verpflichtenden Bindungen im sozialen Alltag und „eheähnliche Verhältnisse“ als Privatisierung der Partnerbeziehungen lassen sich als Ausdruck „unantastbarer Persönlichkeitsautonomie“ interpretieren. Ehe und Familie verloren ihreStabilitätselemente als „Keimzelle der Gesellschaft“ und wurden unverkennbar in den Dienst der Zuneigungsund Entfaltungsbedürfnisse gestellt. Aus dieser Grundhaltung gehen eine Reihe weiterer Verhaltensweisen hervor: Man gedenkt, sich Rückzugs-und Ausstiegsmöglichkeiten offen zu halten; Kinder werden zu Belastungen von Konsum-und Unabhängigkeitschancen; Wertinhalte werden neu definiert. Ich möchte dies exemplarisch in Anschluß an H. Klages für den Wert „Liebe“ skizzieren. Ein durch Pflicht-und Akzeptanzwerte bestimmter Mensch versteht „Liebe“ sehr viel mehr als Ausdruck eines starken Gefühls der Zusammengehörigkeit, in der man das Leben miteinander teilen möchte; bereit ist, für den anderen da zu sein, sich für ihn aufzuopfern, ihm treu zu sein. Demgegenüber werden wir bei einem Träger mit ausgeprägten Selbstentfaltungswerten eher auf ein Verständnis von „Liebe“ treffen, das das Gefühl eines großen Erlebnisses beinhaltet; wofür man sich die Erwiderung dieses Gefühles im Sinne einer subjektbezogenen emotionalen Bereicherung oder Erfüllung erhofft; man möchte sich mit dem Partner glücklich, geborgen und frei von Alltagsbeschränkungen fühlen und seine Frustrationen abladen können, indem man sich gemeinsam aus den sozialen Zwängen und Unerquicklichkeiten zurückziehen kann.
Derartige Einstellungen bleiben auf Dauer, auch wenn sie primär individualistisch ausgerichtet sind, nicht auf den einzelnen beschränkt, sondern tangieren das Gesamtgefüge der zwischenmenschlichen Beziehungen; sie werden politisch relevant und bestimmen damit die politische Kultur unserer Gesellschaft insgesamt. Wenngleich derartige Einstellungsänderungen vorrangig in der jüngeren Generation anzutreffen sind, kann damit nicht automatisch darauf geschlossen werden, daß sich ein solcherart modifiziertes Potential, einer Lawine gleich, bislang gültigen gesamtgesellschaftlich verteilten Einstellungen überlagern würde; vielmehr ist anzunehmen, daß sie wie eine Welle die traditionelle politische Kultur überspülen, sich zum Teil mit ihr vermischen und dann selbst auslaufen dürfte.
III. Auswirkungen auf die politische Kultur
Abbildung 14
Tabelle 3: Bewertung von Lebensstilen durch Jugendliche und Erwachsene
Der Begriff der „politischen Kultur“ hat seit seiner Einführung in die wissenschaftliche Diskussion durch Gabriel Almond im Jahre 1956 eine rasche Verbreitung erfahren, die seiner analytischen Entfaltung nicht immer förderlich war. Ich möchte ihn deshalb eher in seinem ursprünglichen Verständnis verwenden und mit . politischer Kultur 1 die Gesamtheit aller politisch relevanten Einstellungen in einer Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit erfassen Nun ist es unmöglich, diese Gesamtheit politischer Einstellungen hier auszubreiten; wir müssen uns deshalb wiederum auf einige besonders kennzeichnende Orientierungsmuster beschränken.
Zunächst läßt sich ganz allgemein in den Jahren von 1952 bis 1983 ein erheblicher Anstieg des Interesses für Politik feststellen (von 27 Prozent auf 58 Prozent); am steilsten verläuft die Kurve bis etwa 1973, dann stabilisiert sie sich auf relativ hohem Niveau. Nun zeigt es sich, daß die Werte der jungen Generation nur im Zeitraum von der Mitte der sechziger bis zur Mitte der siebziger Jahre über jenen des Bevölkerungsdurchschnittes liegen; dies stellt jene Phase dar, in welcher politische Einstellungen am tiefgreifendsten umgeprägt wurden. Für die Träger von Seibstentfaltungswerten, wie diese sich hauptsächlich in der sogenannten 68er Studenten-und Schülergeneration vertreten fanden, war politisches Interesse der Motor, um mit bislang relativ unbekannten, unkonventionellen Methoden und Aktivitäten politisches Geschehen zu beeinflussen. Zu Recht hat Max Kaase dieser „unruhigen Generation“ ein „links-liberales Demokratieverständnis“ bescheinigt; links-liberal deshalb, weil es vorwiegend auf personale Beteiligung und Aktion hin angelegt war, um Selbstentfaltungsvorstellungen verwirklichen zu können. Bezeichnenderweise entwickelte sich für diese neue politische Partizipationsbereitschaft auch eine überproportionale „Organisationsfreudigkeit“, die das politisch-soziale Engagement insbesondere in „idealistisch orientierte Selbsthilfeorganisationen“ lenkte. Vor allem diese Art der politischen Aktivität erschien Trägern von Pflicht-und Akzeptanzwerten zunehmend als ein ins Unkontrollierbare sich verselbständigendes Unruhepotential. Als dann jedoch auch der Staat (sozialliberale Koalition seit 1969) seine Reformpolitik verkündete, mehr Demokratie wagen und mehr Lebensqualität schaffen wollte, wurde auch die bislang dem Wertwandlungsschub mehr oder weniger verständnisvoll zuschauende „schweigende Mehrheit“ in den Bann dieser Auseinandersetzung geschlagen. Diese Aufbruchstimmung dauerte indes nur solange an, bis die „Grenzen des Wachstums“ deutlich erkennbar und spürbar wurden (Ölkrise. Grenzen des Sozialstaates, Umweltschutz, Friedenssicherung).
Dies konnte nicht ohne Auswirkungen auf das Staatsvertrauen bzw. die Systemzufriedenheit der Bevölkerung bleiben. Auch hier zeigten sich unterschiedliche Tendenzen: Während die Träger von Selbstentfaltungswerten (überwiegend die jüngere Generation) hauptsächlich deswegen zunächst den etablierten Parteien und dann auch dem politischen System Legitimation entzogen, weil sie in ihrem politischen Partizipationsstreben an unüberwindliche Barrieren stießen (Kernkraftwerke und technische Großprojekte konnten nicht verhindert werden; tiefgreifende Bewußtseinsänderungen in der Bevölkerung — Friedensbewegung, Umweltschutz — blieben aus), rührte der Vertrauensschwund der „schweigenden Mehrheit“ bzw. insbesondere der Träger von Pflicht-und Akzeptanzwerten stärker aus der Enttäuschung über das „Versagen des Staates“, weil er die sozialen Leistungen und Sicherheiten (siehe Arbeitslosigkeit, Rezession, Steuerprogression u. a.) nicht mehr in befriedigendem Maße gewährleisten bzw. gewähren konnte. Die politische Kultur wurde „brüchig“
Diese Brüchigkeit scheint in besonderem Maße darin erkennbar zu sein, daß ein Großteil der heranwachsenden Generation — darunter viele Jungwähler — offensichtlich weithin nur formaldemokratische Lippenbekenntnisse abgibt, die tiefer gehende kognitive, affektive und evaluative Reflexionen und Verankerungen allenfalls nur bedingt erkennen lassen. Diese Aussage sollen mit einigen empirischen Befunden aus einer eigenen regionalen Jugendstudie untermauert werden, um damit gleichsam in einer aktualisierenden Momentaufnahme auf einige konkrete Probleme der politischen Kultur der Jungwähler aufmerksam zu machen.
Nach dieser Untersuchung bekundeten 62, 3 Prozent der Befragten, daß sie sehr bzw. überwiegend mit dem Funktionieren unseres politischen Systems zufrieden wären; waren unsere Probanden indes arbeitslos oder schätzten sie die wirtschaftliche Zukunft pessimistisch ein, so sank dieses Zufriedenheitsniveau bereits deutlich ab Die Systemzufriedenheit nahm ferner auch dann beträchtlich ab, wenn das politische Anomiepotential wuchs —: daß man überhaupt oder überwiegend keinen Einfluß darauf hätte, was die Regierung tue, das meinten immerhin zwei Drittel (65, 7 Prozent) unserer Befragten. Ebenso äußerten sich unsere Jungwähler mit dem Funktionieren unseres politischen Systems um so unzufriedener, je weniger sie sich für Politik überhaupt interessierten bzw. je weniger informiert sie sich in politischen Dingen einschätzten
Bedenkt man jene relativ niederen Grade an politischem Interesse, politischer Informiertheit bzw. politischer Kompetenz, so scheint in der Tat die oben bekundete Systemzufriedenheit auf sehr tönernen Füßen zu stehen. Fügen wir noch zwei Mosaiksteine hinzu, nämlich je einen exemplarischen Befund für materialistische bzw. postmaterialistische Einstellungstendenzen Jungwähler, denen stärker an der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung gelegen war, zeigten sich danach eher zufrieden; jene Befragte aber, die sich mehr Einfluß auf die Regierungsentscheidungen wünschten, äußerten sich deutlich unzufriedener mit dem derzeitigen Funktionieren unseres politischen Systems.
Nun stellt zweifellos die Systemzufriedenheit einen wichtigen Aspekt der politischen Kultur insgesamt dar. Darüber hinaus sollten wir — neben einer Reihe anderer Problembereiche — unsere Aufmerksamkeit aber auch auf Einstellungen richten, die zwischenmenschliches Vertrauen, Bereitschaft zur Gewalt, Potentiale zu radikaler Gesellschaftskritik. Tendenzen zur Aufhebung des Parteienplu- ralismus, aber auch die Fähigkeit, Konflikte oder Kritik auszuhalten bzw. zu meistem, beinhalten oder signalisieren. Auch hierbei geht es in erster Linie nicht so sehr um die Summe derartiger Potentiale, sondern vielmehr um eventuelle Belastungen für die politische Kultur insgesamt.
Unsere Gesellschaft von Grund auf für verrottet und einer radikalen Erneuerung bedürftig, hielten demnach etwa 16 Prozent unserer befragten Jungwähler; daß es in jeder Demokratie — so auch der unseren — Konflikte gäbe, die man nur mit Gewalt lösen könnte, davon zeigten sich etwa ein Viertel (27, 8 Prozent) überzeugt. Über die Hälfte unserer Befragten (54, 8 Prozent) stimmten dem Statement — wenn auch in unterschiedlicher Stärke — zu, daß die Auseinandersetzungen zwischen den Interessengruppen und ihre Forderungen an die Regierung dem Allgemeinwohl schadeten. Nicht überraschen konnte es uns daher, wenn ein Viertel (26, 5 Prozent) die Auffassung unterstützte, wir sollten wieder eine einzige starke Partei haben, die die Interessen aller verträte. Derartige „Sehnsüchte nach einem starken Staat“ resultieren sicherlich auch aus einem mangelnden zwischenmenschlichen Vertrauen. auf Grund dessen man zur Kooperation bereit und zur Konfliktaustragung auf rationaler Basis fähig wäre. Denn nur 14 Prozent unserer Befragten waren geneigt, ihren Mitmenschen mehr oder minder uneingeschränkt zu vertrauen; 36, 1 Prozent machten ihr Vertrauen von den Umständen abhängig, während 47, 9 Prozent lieber vorsichtig sein wollten bzw. glaubten, nicht vorsichtig genug sein zu können.
Bei alledem beruhigt es wenig, wenn wir die Jungwähler, die Arbeit haben, in der Regel deutlich positiver eingestellt fanden. Gerade das Faktum der Arbeitslosigkeit erwies sich in diesem Zusammenhang als spürbar belastendes Element für die Entfaltung einer gedeihlicheren politischen Kultur. In diesem Zusammenhang kam auch dem Bildungsniveau eine beachtenswerte Bedeutung zu: Mit steigender Bildung nahm auch die Bereitschaft zu. anderen Vertrauen entgegenzubringen; gleichzeitig wiesen jene Jungwähler das Ansinnen entschiedener zurück, in der Demokratie Konflikte mit Gewalt lösen zu wollen; ebenso wurde jene radikale gesellschaftskritische Einstellung mit größerem Nachdruck abgelehnt; ferner verfiel das Statement, die Auseinandersetzungen der Interessengruppen schadeten dem Gemeinwohl, einer überzeugende-ren Distanzierung, und schließlich konnten wir mit zunehmendem Bildungsniveau erkennen, daß unsere Jungwähler unreflektierten Tendenzen zu einem Einparteiensystem deutlich einen Riegel vor-schoben. Derartige Befunde sind zweifellos erfreulich. Sie unterstreichen die wichtige Bedeutung einer gediegenen politischen Bildung; wir dürfen uns aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese Befunde primär auf einem solideren rationalen Reflexionsniveau Zustandekommen. Mit anderen Worten: Die kognitive Verankerung von entsprechenden Informationen und Einstellungen ist für die politische Kultur unabdingbar, aber alleine nicht hinreichend. Wir müssen zu affektiven Bindungen und Werthaltungen vorstoßen und diese mit den kognitiven Einsichten verknüpfen, wenn wir eine demokratische politische Kultur erreichen und sichern wollen. Daß wir hiervon zum Teil noch weit entfernt sind, mögen einige Befunde verdeutlichen.
Betrachten wir in diesem Zusammenhang die — an sich — unverfängliche Aussage: „Ich bin stolz darauf, Deutscher zu sein.“ Zunächst stellten wir dabei mit ausgeprägterem Nationalstolz eine sehr deutliche „Rechts“ -Orientierung auf dem politischen „Links-Rechts-Kontinuum“ fest. Ebenso unübersehbar wiesen jene stärker national-gesonnenen Jungwähler ein geringeres Bildungsniveau auf. Daß nun gerade diese Jungwähler sich stärker mit dem Funktionieren unseres politischen Systems zufrieden zeigten, setzt wohl ein erstes Alarmsignal, da wir es hierbei offensichtlich mit einem stärker affektiven Nationalstolz zu tun haben, dem offensichtlich die kognitiv-reflektierende Komponente in beträchtlichem Maße abgeht.
Noch deutlicher lassen sich die bisherigen Aussagen untermauern, wenn wir zur Kenntnis nehmen müssen, daß jene Jungwähler mit ausgeprägterem Nationalstolz entschiedener den Ruf nach einer einzigen starken Partei unterstützen, die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung mit Vorrang auf ihre Fahnen schreiben, ferner auch die Lösung von Konflikten mit Gewalt entschiedener befürworten und schließlich in geradezu fataler Uneinsicht der Auffassung zustimmen, „als Deutscher halte ich zu meinem Land, selbst dann, wenn hier etwas geschieht, das gegen meine persönliche Überzeugung geht“ Bei diesen Jungwählern konnten wir umgekehrt nun ein geringeres politisches Interesse, ein höheres Anomiepotential, zudem eine entschiedenere Ablehnung von Partizipationsmöglichkeiten und -aktivitäten sowie beispielsweise auch die stärkere Ausprägung traditioneller Rollenmuster gerade im Hinblick etwa auf die gesellschaftliche Stellung der Frau feststellen.In deutlichem Gegensatz stand hierzu die politisch sehr relevante Einstellung der Kritikfähigkeit. Jene Jungwähler mit ausgeprägterer kritischer Grund-orientierung wiesen die eben angeführten besorgniserregenden Ansichten doch nachdrücklicher zurück, zeigten sich politisch stärker interessiert und besser informiert und votierten deshalb auch entschiedener für eine aktive politische Partizipation, zumal sie ein deutlich geringeres Anomiepotential aufwiesen. Andererseits ließen diese Jungwähler in gewissem Umfang eine geringere Zufriedenheit mit dem Funktionieren unseres politischen Systems erkennen
Ziehen wir aus dem Dargelegten ein Resümee: Wenn wir uns mit Entwicklungstendenzen und Problemen der politischen Kultur — zumal der Jungwähler — auseinandersetzen, so genügt es nicht, auf deren Wahlverhalten und deren Wahlbeteiligung alleine abzuheben, so wichtig derartige Bereiche und Faktoren auch sein mögen. Zweifellos befinden sich die Jungwähler noch auf dem Weg zu ihrer politischen Identität, wie das U. Feist zutreffend formuliert hat. Damit aber keine „verunsicherte Generation“ oder gar eine „Jugend ohne Zukunft“ heranwächst, muß man möglichst das gesamte Spektrum der politischen Kultur im Auge haben; leider fehlt es hierzu allzu häufig an einem hinreichenden empirischen Datenmaterial, das speziell auch unter diesem politikwissenschaftlichen Analyseanliegen aufbereitet werden kann.
Wir stellen in der heranwachsenden Generation, wobei wir uns hierbei insbesondere für die Jungwähler interessierten, bei allen durchaus auch zu registrierenden positiven Entwicklungen in bezug auf die politische Kultur immer wieder doch auch besorgniserregende Potentiale von politischem Desinteresse und politischer Uninformiertheit fest, die dann etwa auch das hohe Maß an bekundeter Systemzufriedenheit doch relativ kritisch erscheinen lassen. Bei einer tiefer gehenden Analyse erkennt man dabei, daß offensichtlich weiten Kreisen dieser jungen Staatsbürger die — zugegebenermaßen — nicht einfachen politischen und gesellschaftlichen Probleme noch komplizierter erscheinen, so daß es zur Ausprägung von zum Teil nicht unerheblichen Anomiepotentialen kommt. Dies begünstigt offensichtlich in der Jungwählergeneration grob gesprochen zwei politische Verhaltensmuster: Da Politik nur mehr unzureichend als Prozeß begriffen und durchschaut wird, wachsen formaldemokratische, harmonisierende Lippenbekenntnisse, die eher dazu verleiten, sich an einer engagierten politischen Partizipation nicht zu beteiligen. Auf der anderen — mehr gesellschaftlichen — Seite tendiert ein nicht unbeträchtlicher Teil zu individualistischen Einstellungen, indem man das Recht zur Durchsetzung der eigenen Interessen und Bedürfnisse — angesichts auch der objektiven und subjektiv empfundenen Schwierigkeiten — glaubt in die eigenen Hände nehmen zu sollen. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums finden sich nicht zu übersehende Potentiale, die ohnehin die Ansicht teilen, es gäbe auch in unserer Gesellschaft Konflikte, die man mit Gewalt lösen müßte.
Der Mangel an Einsicht in das Wesen des politischen Entscheidungsprozesses reduziert folglich auch bei vielen Jungwählern den Aufbau und die Ausbildung von politischen Verhaltensweisen wie Kooperationsbereitschaft, Toleranz oder Konflikt-fähigkeit; dies begünstigt eine politische Kultur, die mit hohen Anomiepotentialen belastet ist, wodurch dann in der konkreten Situation eher — wenn es zum Handeln kommt — Konflikte durch Konfrontation und weniger durch Kooperation zu bewältigen versucht werden, wenn man nicht ohnehin alsbald nach dem starken Mann schielt oder ruft, der die Interessen aller harmonisieren soll und Konflikte gar nicht erst aufkommen läßt. Was wir beklagen müssen, ist demnach nicht so sehr die fehlende politische Partizipationsbereitschaft, sondern der Mangel an politischer Kompetenz.
Was wäre zu tun? Zwei Ziele möchte ich ansprechen: Wir müssen unsere Jugendlichen — und damit unsere künftigen Jungwähler bzw. Staatsbürger — weitaus entschiedener als es bisher gelungen ist, zu einer „kritikfähigen Identifikation“ mit den Werten und Normen unserer freiheitlich-demokra-tischen Ordnung auf der Basis eines rationalen Urteils führen. Darüber hinaus ist es notwendig, in der Gesellschaftüberzeugende Vorbilder einer partizipationsbereiten, kooperationswilligen und konflikt-fähigen politischen Kultur zu bieten, an denen sic unsere Jugendlichen entsprechend orientieren un die Chance einer lohnenden Mitarbeit und Mitge staltung erkennen und erfahren können.
Rainer A. Roth, Dr. phil. habil., geb. 1942; Professor für Didaktik der Sozialkunde und politische Bildung an der Universität Passau; beide Staatsexamina für das Lehramt; Studium der Politikwissenschaft, Soziologie, Pädagogik und Bayerischen Geschichte an den Universitäten Erlangen und München; Promotion im Fach Politische Wissenschaft; Habilitation (Politikwissenschaft) an der Universität Augsburg. Veröffentlichungen u. a.: Politische Bildung in Bayern. 1974; „Staatsbürger der DDR“, in: Deutsche Ostkunde, (1975) 1; Jungwähler und Demokratie, in: Politische Studien, (1975) 219; Was ist typisch deutsch?, 1979; Grundwerte in pädagogischer Sicht, in: Pädagogische Welt, (1978) 12; Grundfragen staatsbürgerlicher Bildung, 1983; Herausforderung Frieden. 19842; Zur Problematik der politischen Kultur der Jungwähler in der Bundesrepublik Deutschland, 1984; Zeitgeschichte, 1985; Freistaat Bayern, 19864; 40 Jahre nach dem Holocaust, in: Tribüne, (1986) 100; Frieden, 1987.
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