Die Bundesrepublik Deutschland als internationale „Konjunkturlokomotive“?
Heinz-Dieter Smeets
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Zusammenfassung
Die sogenannte Lokomotivtheorie stellt einen Vorschlag zur gemeinsamen Überwindung der weltwirtschaftlichen Probleme dar. Unter dieser Bezeichnung wurde erstmals 1976 in einer Veröffentlichung der OECD gefordert, wirtschaftlich starke Länder sollten expansive Maßnahmen zur Stärkung der Binnennachfrage ergreifen, um dadurch als „Lokomotiven“ der Weltkonjunktur zu dienen. Die analytische Grundlage dieser Lokomotivtheorie bildet ein stark vereinfachtes Zwei-Länder-Modell für ein Währungssystem fester Wechselkurse, bei dem man u. a. keine internationalen Kapitalbewegungen berücksichtigt. Legt man der Analyse hingegen wirklichkeitsnahere Bedingungen zugrunde, dann verliert die Lokomotivtheorie vieles von ihrer Eindeutigkeit und Überzeugungskraft. Gleichwohl zeigen umfangreiche theoretische Untersuchungen, daß expansive wirtschaftspolitische Impulse im Inland sowohl bei festen als auch bei flexiblen Wechselkursen grundsätzlich zu einer parallelen Konjunkturübertragung auf das Ausland führen können. Empirische Studien haben allerdings ergeben, daß von der Bundesrepublik Deutschland allein keine signifikanten Einflüsse auf die realwirtschaftliche Aktivität der USA und der europäischen Nachbarn ausgehen. Es konnte vielmehr gezeigt werden, daß für die . Lokomotivtheorie'selbst die Gefahr steigender Inflationsraten, . unerwünschter* Wechselkursbewegungen und steigender Preise importierter Vorprodukte besteht. Angesichts dieser Ergebnisse scheint es nicht verwunderlich, wenn sich die Bundesrepublik gegenüber Forderungen, eine Lokomotivfunktion zu übernehmen, stets recht zurückhaltend gezeigt hat. Selbst ein gemeinsames gleichgerichtetes Vorgehen (Konvoi-Strategie) etwa der europäischen Länder birgt mehr Gefahren als Erfolgsaussichten in sich.
I Der wirtschaftspolitische Hintergrund
Seit dem ersten Ölpreisschock in den Jahren 1973/74 hatten die Industrienationen mit hohen Inflationsraten und anhaltend hoher Arbeitslosigkeit zu kämpfen. Als eine Ursache für die Schwere des Konjunktureinbruchs im Jahr 1974 wurde die weltweite Interdependenz bezeichnet. Erinnerungen an den Abwertungswettlauf und den Zusammenbruch des internationalen Handels während der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre wurden wach. Es begann daher eine Konferenzserie, deren Ziel es war. durch eine Koordination der nationalen Wirtschaftspolitiken ähnliche Entwicklungen zu vermeiden. Einen Vorschlag zur gemeinsamen Überwindung der weltwirtschaftlichen Probleme stellt die sogenannte Lokomotivtheorie dar Unter dieser Bezeichnung wurde erstmals 1976 in einer Veröffentlichung der OECD gefordert, wirtschaftlich starke Länder sollten . Lokomotiven'der Weltkonjunktur sein. Als starke Länder wurden dabei diejenigen Volkswirtschaften bezeichnet, die hohe Leistungsbilanzüberschüsse und geringe Inflationsraten aufwiesen. Diese Länder, zu denen in erster Linie die Bundesrepublik und Japan gehörten und gehören, wurden aufgefordert, expansive wirtschaftspolitische Maßnahmen zur Stärkung der Binnennachfrage zu ergreifen, um den anderen Ländern auf diese Weise bei der Überwindung von Arbeitslosigkeit und Leistungsbilanzdefiziten zu helfen. Befürworter dieser Idee waren vor allem die USA, Großbritannien, Frankreich und Italien*). Die USA, die bis zu diesem Zeitpunkt versucht hatten, die Weltwirtschaft durch eine Zunahme der Staatsausgaben anzukurbeln, gaben 1977 angesichts ihres hohen Handelsbilanzdefizits (-20, 2 Mrd. Dollar) und des schwachen Dollars die konjunkturpolitische Führungsrolle an die Bundesrepublik und Japan ab.
Doch die Bundesrepublik ließ sich nur ungern in diese Rolle drängen, weil sie in den geforderten Maßnahmen die Gefahr einer Wiederbelebung der Inflation sah, die der Beschäftigung nur schade. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen. So warf man in Amerika der Bundesrepublik und auch Japan vor, sich als , Free-Rider‘ (Trittbrettfahrer) zu verhalten, die auf Kosten der USA Wachstum, hohe Beschäftigung und niedrige Inflation erzielten Beide Länder seien nie bereit gewesen, eine ihrer Größe und Stärke entsprechende Verantwortung zu übernehmen. Dabei wäre es doch — angeblich — im Interesse dieser beiden Volkswirtschaften selbst, durch die Stärkung der Binnennachfrage Einkommen und Beschäftigung im Inland zu erhöhen. Mehr oder weniger konkreten Forderungen in dieser Richtung sahen sich die Bundesrepublik und Japan — angesichts der fortdauernden Schwierigkeiten der Weltwirtschaft — auch in der jüngsten Vergangenheit gegenüber.
So verlangte die OECD im Mai 1987 von Japan und von der Bundesrepublik eine aktivere Rolle zur Konjunkturbelebung, um den sich verringernden Wachstumsaussichten und den internationalen Konjunkturproblemen entgegenzuwirken. Ähnliche Forderungen finden sich in der Abschlußerklärung des Gipfeltreffens der Staats-und Regierungschefs der sieben großen Industrienationen im Juni 1987 in Venedig und in der Schlußerklärung der Finanzminister der Gruppe der Sieben (Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Kanada, USA) im September 1987. Zu den neuesten Vorstößen gehört die Kritik des italienischen Schatzministers Amato. In einem Brief an seinen französischen Amtskollegen rügte er die Bundesregierung, da sie in seinen Augen nicht die für Europa so wichtige Funktion eines „Wachstumsmotors“ übernehme Unterstützt wurde er dabei durch amerikanische Regierungsstellen, die ebenfalls beklagten, „das niedrige deutsche Wachstum behindere die Konjunktur in ande-ren europäischen Ländern und habe auch weltweit zu Schwierigkeiten geführt“
Nur durch Hinweis auf die binnenwirtschaftliche Konjunktur und die geplante Steuerreform konnte sich die Bundesrepublik zunächst diesen Anforderungen entziehen. Allerdings nicht lange, denn die Börsenunruhen im Herbst letzten Jahres ließen negative Entwicklungen für das weltwirtschaftliche Wachstum erwarten, die angesichts der hohen Arbeitslosenzahlen und der Zahlungsbilanzungleichgewichte katastrophale Folgen in Aussicht stellten. So wurde die Bundesrepublik wegen ihrer hohen Leistungsbilanzüberschüsse und ihrer zu geringen Wachstumsrate, die 1987 nur 1, 5 Prozent betrug, von den Amerikanern und den europäischen Nachbarn unter Hinweis auf die Lokomotivtheorie zu mehr Wachstum aufgefordert, etwa durch das Vorziehen der geplanten Steuerreform
Die bisherige Reaktion der Bundesrepublik auf diese Ansinnen fiel allerdings eher zurückhaltend aus, 1977 ging die Bundesregierung erstmals auf die an sie gestellten Forderungen ein. Im Jahreswirtschaftsbericht versicherte sie, die Bundesrepublik werde „den Partnerländern bei der Überwindung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten helfen“ Im darauffolgenden Jahr . verpflichtete'sie sich auf dem Bonner Weltwirtschaftsgipfel, einen fiskalischen Impuls in Höhe von einem Prozent des Bruttosozialprodukts zu geben. Die japanische Regierung machte eine ähnliche Zusage. Trotz erheblich gewachsener Staatsverschuldung wurden daher 1978 expansive fiskalpolitische Maßnahmen ergriffen. Die erhofften Wirkungen blieben allerdings aus, so daß neben der Bundesbank — die der Lokomotivtheorie von Anfang an sehr reserviert gegenübergestanden hatte — nun auch die Bundesregierung nicht mehr bereit war, die expansive Politik fortzuführen. So erscheint es auch nicht verwunderlich, daß sie bereits 1979 die Meinung vertrat, sie hätte ihren Beitrag zur Behebüng der weltwirtschaftlichen Störungen geleistet und außerdem ihre Möglichkeiten ausgeschöpft
Während der frühen achtziger Jahre ließen die Passivierung der Leistungsbilanz, eine Inflationsrate von rund sechs Prozent und die Steigerung des Haushaltsdefizits wenig Spielraum für eine expansive Fiskalpolitik. Vielmehr ging es seitdem um eine Konsolidierung der Staatsfinanzen und eine Eindämmung der Inflation. Nachdem in den letzten Jahren allerdings die Inflationsraten allgemein stark gesunken sind und zudem erneut Rekordüberschüsse in der deutschen Leistungsbilanz auftraten, wurden die Forderungen an die Bundesrepublik wieder zunehmend lauter. Damit lebte die Lokomotivtheorie erneut auf. Nicht zuletzt aus diesem Grunde wurde Anfang Dezember ein Sonderprogramm zur Konjunkturbelebung beschlossen, das die Bundesregierung als deutschen Beitrag zur Belebung der Weltkonjunktur ansieht.
II. Internationale Konjunkturübertragung
Die Grundlage der sogenannten Lokomotivtheorie bildet ein keynesianisches Zwei-Länder-Modell für ein Währungssystem fester Wechselkurse, bei dem man keine internationalen Kapitalbewegungen berücksichtigt. Die folgende Übersicht gibt ein solches Modell in seiner einfachsten Form wieder
Eine von der Regierung des Inlands vorgenommene expansive Maßnahme führt über die Zunahme (+) der Inlandsnachfrage zur Steigerung des Produktionsvolumens und damit zur Erhöhung des Einkommens. Da sich die zusätzliche Nachfrage aber sowohl auf Inlandsgüter als auch auf Auslandsgüter richtet, nehmen auch die Importe zu. In dem hier wiedergegebenen Zwei-Länder-Modell entsprechen die Importe des Inlands aber zugleich den Exporten des Auslands. Es kommt folglich auch im Ausland zu einer vermehrten Nachfrage, so daß der expansive . Funke'des Inlands auf das Auslandseinkommen überspringt. Das erhöhte Auslandseinkommen führt aber wiederum dazu, daß expansive Rückkoppelungseffekte auf das Inland ausgehen. Dieser Prozeß der gegenseitigen Beeinflussung setzt sich so lange fort, bis die ständig kleiner werdenden Effekte versiegen.
Eine so uneingeschränkt positive Wirkung auf das reale Volkseinkommen in beiden Ländern kommt jedoch nur bei Unterbeschäftigung und bei Vernachlässigung der Verhältnisse an den Arbeitsmärkten zustande. Hebt man diese Restriktionen allerdings ganz oder doch wenigstens teilweise auf. so verändern sich auch die bisherigen Ergebnisse. Gar keine Realeinkommens-und Beschäftigungseffekte werden etwa dann auftreten, wenn bei Vollbeschäftigung (erwartete) Preisniveausteigeningen stets dazu führen, daß die Arbeitnehmer unmittelbar und in gleicher Höhe den Nominallohn anpassen, um ihre Reallohnposition konstant zu halten. Dies ist die klassische Vollbeschäftigungslösung, die dann von Interesse sein kann, wenn die konjunkturelle Ausgangssituation der beteiligten Länder nicht übereinstimmt. Hierbei ist insbesondere an die Situation zu denken, bei der sich die . Lokomotive'im Zustand der Vollbeschäftigung befindet. Die expansiven Effekte im Inland führen dann dort im Grenzfall ausschließlich zu Preisniveausteigeningen, aber zu keinen realen Produktionseffekten. Ein Verhalten der Arbeitnehmer, wie es oben aufgezeigt wurde, ist aber auch bei Unterbeschäftigung möglich; beispielsweise dann, wenn die Arbeitnehmer über entsprechende Marktmacht verfügen, um auch in einer solchen Beschäftigungssituation stets ihre Reallohnposition verteidigen zu können. Bei einem solchen Verhalten der Arbeitnehmer spricht man auch von Reallohnrigidität. Es deutet ferner daraufhin, daß die Arbeitnehmer nicht der Geldillusion unterliegen. Im umgekehrten Fall spricht man von Nominallohnrigidität. Hierbei bemerken die Arbeitnehmer — zumindest kurzfristig oder sogar mittelfristig — nicht, daß sich ihre Reallohnposition infolge von Preisniveausteigerungen verschlechtert hat.
Die bisher angestellten Überlegungen beziehen sich jedoch — wie zu Anfang bereits gesagt — ausschließlich auf ein Währungssystem fester Wechselkurse. Seit 1973 gelten diese Bedingungen aber nur noch für diejenigen Industrieländer, die sich im Rahmen des Europäischen Währungssystems (EWS) zusammengeschlossen haben. Gegenüber allen anderen wichtigen Währungen — wie etwa dem US-Dollar, dem britischen Pfund, dem japanischen Yen und dem schweizer Franken — läßt die Bundesrepublik Deutschland hingegen den Kurs der DM grundsätzlich frei schwanken. Ein entscheidendes Argument bei der Einführung flexibler Wechselkurse war die Hoffnung, die heimische Volkswirtschaft würde durch diese internationalen Rahmenbedingungen vor auslandsbedingten Störungen geschützt und im Grenzfall sogar vollkommen abgeschlossen Politiker wie Theoretiker versprachen sich von flexiblen Wechselkursen eine größere Autonomie für die eigene Wirtschaftspolitik und die Abschirmung vor konjunkturellen Störungen aus dem Ausland. Diese Erwartungen hatten auf der Grundlage vereinfachender Annahmen — Leistungsbilanzsaldo und Devisenbilanzsaldo wurden gleichgesetzt — auch durchaus ihre Berechtigung. Denn ein Leistungsbilanzungleichgewicht im Inland führt stets zu entsprechenden Wechselkursanpassungen, die den ursprünglichen Effekt umkehren und die Leistungsbilanz wieder ausgleichen. Die an den Wechselkurseffekt geknüpfte Isolierungswirkung gilt dann aber nicht nur für den negativen Fall ungewollter Effekte, sondern auch für den hier maßgeblichen Fall expansiver Effekte. Bezogen auf das dargestellte Modell bedeutet dies, daß die mit expansiven Maßnahmen des Inlands verbundene Nachfragesteigerung nun kein länger andauerndes Leistungsbilanzdefizit durch gestiegene Importe hervorruft, da der Wechselkurseffekt Importe und Exporte schon nach kurzer Zeit wieder ausgleicht. Da der gesamte expansive Effekt nun im Inland wirksam wird, fällt die Einkommenssteigerung folglich größer aus als im Fall fester Wechselkurse, während es zu keiner Übertragung expansiver Effekte auf das Ausland kommt. Dort bleiben die gesamtwirtschaftliche Nachfrage sowie das Produktionsniveau unverändert. Ein Lokomotiveffekt kann unter diesen Verhältnissen also gar nicht erst entstehen. Theoretische Überlegungen hatten sogar die Möglichkeit aufgezeigt, daß es bei flexiblen Wechselkursen zu einer entgegengesetzten Übertragung kommen kann, daß also expansive Effekte im Inland zu einem Abschwungseffekt im Ausland führen können. Es gilt ferner zu bedenken, daß Wechselkursanpassungen nicht nur auf die Endprodukte, sondern grundsätzlich auch auf importierte Vorprodukte wirken. Eine Abwertung der heimischen Währung — wie sie hier als Folge expansiver Nachfragepolitik angenommen wurde — verteuert zum Beispiel importierte Vorprodukte und beeinflußt auf diesem Wege Angebot und Nachfrage Die gestiegenen Kosten lassen nämlich zunächst einmal die Inlandsproduktion sinken. Interpretiert man ferner die zusätzlichen Zahlungen für importierte Vorprodukte als einen Transfer an das Ausland, dann wird hierdurch das verfügbare Einkommen im Inland und damit wiederum die gesamtwirtschaftliche Nachfrage gemindert. Beide Effekte wirken tendenziell auf eine Abschwächung der realwirtschaftlichen Entwicklung im Inland hin und mögen daher neben den früher erläuterten Inflationsgefahren einen weiteren Grund für die ablehnende Haltung der Bundesrepublik bilden, eine Lokomotivfunktion zu übernehmen.
Die bisher vorgenommene Vereinfachung einer vollkommenen Kapitalimmobilität zwischen Ländern mag vielleicht für die sechziger Jahre zugetroffen haben. Seit Mitte dersiebzigerJahre jedoch läßt sich eine zunehmende Finanzmarktintegration zwischen den finanziellen Zentren der Welt beobachten, die eine entsprechende Berücksichtigung der internationalen Kapitalbewegungen bei der Lokomotivtheorie erfordern. Entscheidend für die Internationalen Kapitalbewegungen ist dabei die Zinsentwicklung im Inland und im Ausland, die wiederum insbesondere von der Geld-und Fiskalpolitik der beteiligten Länder abhängt. Ohne auf diese Zusammenhänge im einzelnen einzugehen läßt sich festhalten, daß bei festen Wechselkursen der positive Nachfrageeffekt durch internationale Kapital-bewegungen sowohl abgemildert als auch verstärkt werden kann, der positive Effekt insbesondere auf das Ausland und damit der Lokomotiveffekt aber wohl kaum gänzlich ausgeschaltet wird.
Anders sieht es bei flexiblen Wechselkursen aus. Die Erfahrungen mit einem solchen Währungssystem haben gezeigt, daß es insbesondere die Finanzmärkte sind, die die kurzfristige Entwicklung der Wechselkurse dominieren. Treten im Anschluß an eine Staatsausgabenerhöhung Zinssteigerungen auf, weil unter sonst gleichen Bedingungen zur Finanzierung die Steuern erhöht oder Wertpapiere ausgegeben wurden, führt dies bei gegebenem Auslandszins zu einem Kapitalzufluß in das Inland, der wiederum eine Aufwertung der Inlandswährung hervorruft. Hierdurch werden die früher aufgezeigten Wirkungen einer expansiven Nachfragepolitik im Inland abgemildert, während es im Ausland zu einem unterstützenden Effekt kommt. Sinkt hingegen der Zinssatz im Inland, so stellen sich die umgekehrten Effekte ein. Die Analyse kompliziert sich weiter, wenn man importierte Vorprodukte und/oder eine kurzfristig anomale Reaktion der Leistungsbilanz auf eine Veränderung der relativen Preise zwischen dem Inland und dem Ausland (terms of trade) annimmt (J-Kurven Effekt). Es gilt ferner zu berücksichtigen, daß die zuvor aufgezeigten Wirkungen von internationalen Kapitalbewegungen nur kurz-bis mittelfristig auftreten können, während langfristig die konjunkturelle Entwicklung der einzelnen nationalen Volkswirtschaften wieder vollkommen unabhängig voneinander verlaufen. Durch die Berücksichtigung internationaler Kapitalbewegungen kann es folglich bei flexiblen Wechselkursen je nach dem zugrundeliegenden Analyse-rahmen sowohl zu einer gleichgerichteten Übertragung auf das Ausland — also zu Lokomotiveffekten — kommen, als auch zu einer entgegengerichteten oder gar keiner Übertragung der Inlandseffekte auf das Ausland.
Faßt man die Ergebnisse der zuvor angestellten Überlegungen zusammen, so läßt sich festhalten, daß expansive wirtschaftspolitische Impulse im Inland sowohl bei festen als auch bei flexiblen Wechselkursen zu einer parallelen Konjunkturübertragung auf das Ausland führen können. Die Grund-these der Lokomotivtheorie läßt sich folglich nicht grundsätzlich verwerfen. Gleichwohl sind zahlreiche, für die konkrete Wirtschaftspolitik entscheidende Aspekte ungeklärt. Insbesondere müßten, die jeweiligen Zusammenhänge empirisch überprüft werden. Gestützt auf die Ergebnisse dieser Untersuchungen lassen sich dann entsprechende wirtschaftspolitische Schlußfolgerungen ziehen. Dabei geht es insbesondere um die folgenden Fragen: 1. Welchen Einfluß haben expansive Maßnahmen auf das Inland? Hierbei stellen die Bedingungen am Arbeitsmarkt einen entscheidenden Faktor dar. 2. Welchen Einfluß haben expansive Maßnahmen des Inlands auf das Ausland? Hierbei sind mehrere Faktoren zu prüfen: — die Bedingungen am ausländischen Arbeitsmarkt, — die Richtung und das Ausmaß der im Ausland ausgelösten Effekte und — die Bedeutung des Wechselkurssystems für die Konjunkturübertragung.
III. Empirische Ergebnisse
1, Die Verhältnisse an den Arbeitsmärkten Empirische Studien haben für die siebziger Jahre ergeben, daß in der Bundesrepublik Deutschland, Italien, Frankreich und Großbritannien weitgehende Reallohnrigidität herrschte, während man hingegen für die USA von Nominallohnrigidität ausging Neuere Studien weisen allerdings für die Bundesrepublik nach, daß der Einfluß der Preisniveauentwicklung auf den Nominallohn in den letzten Jahren fortlaufend gesunken ist. Daraus darf man aber wohl kaum folgern, die bundesdeutschen Arbeitnehmer unterlägen neuerdings wieder der Geldillusion. Vielmehr zeigen sich hierin insbesondere zwei Entwicklungen: -Die andauernde Arbeitslosigkeit, die man in entsprechenden Schätzgleichungen gewöhnlich nicht berücksichtigt, hat zu einem Druck auf die Löhne geführt. Da sich dieser Einfluß aber weder in der Entwicklung des Preisniveaus noch in der aktuellen Zahl der Arbeitslosen hinreichend widerspiegelt, vermindert sich der Erklärungsgehalt des Preisniveaus. -Die Zielrichtung gewerkschaftlicher Verhandlungen richtet sich in zunehmendem Maße auf die Arbeitszeit. Für eine Verminderung der Arbeitszeit ist man zu Zugeständnissen bei den Lohnforderungen bereit. Könnte man den Lohn auf die ursprüngliche Arbeitszeit beziehen, würde der Zusammenhang zwischen Nominallohn und Preisniveau mit einiger Sicherheit strenger ausfallen.
Man kann aber wohl festhalten, daß das Ausmaß der Reallohnrigidität in der Bundesrepublik in den letzten Jahren gesunken ist. Neuere Untersuchungen für Großbritannien. Italien und Frankreich liegen nicht vor, doch kann man wohl auch für diese Länder von einer ähnlichen Entwicklung ausgehen. 2. Wirkungen über die Leistungsbilanz Verschiedene Studien zum Ausmaß der Übertragung realer Impulse über die Leistungsbilanz sind zu dem übereinstimmenden Ergebnis gelangt, daß diese Effekte in der Regel sehr gering ausfallen ). Die Übersicht (S. 30) faßt die Ergebnisse von Berechnungen der Einkommensreaktion verschiedener Länder auf eine einprozentige reale Einkommenserhöhung in der Bundesrepublik Deutschland zusammen. Diese Ergebnisse zeigen, daß es nur in wenigen Fällen zu einem nachweisbaren Effekt auf das ausländische Realeinkommen kommt. Doch auch dort, wo sich solche Effekte statistisch nachweisen lassen, fallen sie — selbst über die Jahre hinweg kumuliert — vernachlässigbar klein aus. Es zeichnet sich ferner ab, daß die realen Wirkungen über den Leistungsbilanzkanal seit dem Übergang zu flexiblen Wechselkursen kurzfristig zwar etwas stärker ausfallen, dann jedoch sehr schnell — hier nach einem Jahr — versiegen. Hierfür könnten die mit der Leistungsbilanzreaktion einhergehenden kompensierenden Wechselkursanpassungen verantwortlich sein. An der grundsätzlichen Einschätzung sehr kleiner Übertragungseffekte ändert sich angesichts dieser Ergebnisse für die Bundesrepublik wohl auch dann nichts, wenn es zu einem koordinierten Handeln mehrerer europäischer Länder kommt (Konvoi-Strategie). Selbst die zusammengefaßten Effekte scheinen zu gering, um einen nennenswerten und dauerhaften Einfluß auf die europäische oder gar die Weltkonjunktur auszuüben. 3. Konjunkturübertragung und Wechselkurs-System Es hat sich gezeigt, daß der Konjunkturverbund während der Zeit flexibler Wechselkurse, also mit Beginn der siebziger Jahre, entgegen vielen Erwartungen im Verhältnis zu den Vorjahren erheblich enger geworden ist. Der reale Konjunkturverbund, dem unser Hauptaugenmerk gilt, hat sich drastisch erhöht. Aber auch die Veränderung der Inflationsraten weist eine zunehmend gleichförmige Entwicklung auf. Dabei ist allerdings zu beachten, daß sich die Inflationsraten selbst über längere Zeit hinweg in erheblichem Maße auseinanderbewegten. Das geschah insbesondere im Gefolge des ersten Ölpreisschocks und dadurch, daß die einzelnen Länder hierauf recht unterschiedlich wirtschaftspolitisch reagierten. Dies spricht dafür, daß flexible Wechselkurse zumindest bei den Preisen eine größere Autonomie der nationalen Wirtschaftspolitik brachten. Die gegenteilige Entwicklung zeigt sich beim realen Konjunkturverbund, wenn auch nicht ganz so deutlich. Hierbei ist es allerdings umstritten, ob der zunehmende „reale Gleichlauf“ auf die flexiblen Wechselkurse oder aber auf exogene „Schocks“ zuruckgeht, die alle Länder gleich getroffen haben.
Es konnte ferner gezeigt werden daß sich die Industrieproduktion in Europa zwischen denjenigen Ländern, die im Rahmen des EWS durch feste Wechselkurse miteinander verbunden sind, langfristig parallel entwickelt. Während einer Übergangszeit wurden mögliche Einflüsse der Bundesrepublik jedoch von Einwirkungen aus den USA überlagert. Gründe hierfür sind wohl in erster Linie in Devisenmarktinterventionen gegenüber dem US-Dollar und in einer — zumindest kurzfristig — am amerikanischen Zinsniveau orientierten nationalen Geldpolitik der europäischen Länder zu sehen.
Längerfristig setzte sich dann jedoch der Einfluß der Bundesrepublik innerhalb des EWS durch. Dies sagt allerdings nichts darüber aus, wie groß die Übertragungswirkungen sind. Die bisherigen Untersuchungen legen aber die Schlußfolgerung nahe, daß die Lokomotiveffekte in der Regel vernachlässigbar klein ausfallen und daher eine solche Politik wenig Sinn macht. Dies gilt auch dann, wenn man innerhalb Europas auf Dollarinterventionen und einen , Zinsgleichschritt'gänzlich verzichten würde, um die hierdurch während einer Übergangszeit ausgelösten Wirkungen der USA zugunsten des deutschen Einflusses auszuschalten. Der Gleichlauf innerhalb des EWS kommt wohl eher durch eine zunehmende Konvergenz der Wirtschaftspolitik in Europa zustande als durch internationale Übertragungsprozesse. Damit soll jedoch nicht zugleich auch gesagt werden, daß diese Konvergenz ursächlich auf das EWS zurückgeht.
IV. Abschließende Betrachtungen
Faßt man die zuvor angestellten Überlegungen zusammen, dann lassen sich folgende Ergebnisse festhalten: -Die Zurückhaltung der Bundesrepublik Deutschland, eine Lokomotivfunktion zu übernehmen, ist angesichts der mit Reallohnrigidität verbundenen Inflationsgefahren verständlich, obgleich sich diese Gefahr in den letzten Jahren abgeschwächt zu haben scheint. Bei einem neuerlichen Anstieg der Inflationsrate könnte sich diese Entwicklung aber schnell wieder umkehren. Die Zurückhaltung der Bundesrepublik Deutschland läßt sich ferner durch die Furcht vor . unerwünschten'Wechselkursbewegungen und vor Preissteigerungen importierter Vorprodukte erklären, die möglicherweise mit der expansiven Politik im Inland einhergehen. -Expansive wirtschaftspolitische Impulse im Inland können sowohl bei festen als auch bei flexiblen Wechselkursen zu einer parallelen Konjunkturübertragung auf das Ausland führen. Die Grund-these der Lokomotivtheorie läßt sich folglich nicht verwerfen. Empirische Untersuchungen haben allerdings gezeigt, daß von der Bundesrepublik Deutschland keine signifikanten Einflüsse auf die realwirtschaftliche Aktivität der USA und der europäischen Nachbarn ausgehen. -Ein gemeinsames gleichgerichtetes Vorgehen (Konvoi-Theorie) etwa der europäischen Länder birgt mehr Gefahren als Erfolgsaussichten. Die realwirtschaftlichen Übertragungseffekte nehmen wohl auch dann kein bedeutendes Ausmaß an. Andererseits erhöht eine Politik gemäß der Konvoi-Theorie durch das Ausmaß der expansiven Effekte die Gefahr erneut steigender Inflationsraten. Dies dämpft aber wiederum den Konjunkturaufschwung und führt zugleich zu stark fluktuierenden Wechselkursen.
Insgesamt läßt sich festhalten, daß weder die Lokomotiv-noch die Konvoi-Theorie eine erfolgreiche Strategie für einen europäischen oder gar weltweiten Aufschwung darstellen. Es bleibt damit in der Verantwortung jedes einzelnen Landes, durch eine entsprechende Wirtschaftspolitik für mehr Beschäftigung zu sorgen. Denn auch eine (stärkere) Kooperation insbesondere zwischen den über flexible Wechselkurse verbundenen Ländern erscheint keine gangbare Alternative, haben doch auch die hierzu angestellten Überlegungen gezeigt, daß die Wirkungen auf das jeweilige Ausland keineswegs mit Sicherheit vorhergesagt werden können. Und dies nicht nur hinsichtlich der Intensität, sondern gerade auch — und das wiegt viel schwerer — hinsichtlich der Wirkungsrichtung. Die mit kooperativen Strategien verbundene Anmaßung von Wissen birgt daher die Gefahr in sich, daß unbeabsichtigt negative Impulse auf das Ausland übertragen werden Als eine internationale Strategie zur Überwindung der weltweiten wirtschaftlichen Probleme bliebe daher bestenfalls eine Neuinterpretation der Lokomotivtheorie. Lokomotiven in diesem neuen Sinne wären dann solche Länder, die ihre Märkte als erste (wieder) der internationalen Konkurrenz öffnen und damit eine außenwirtschaftlich orientierte Politik betreiben. Doch die damit kurzfristig einhergehenden strukturellen Probleme für das Inland lassen wenig Hoffnung auf eine solche Entwicklung aufkommen
Die gegenwärtigen Überlegungen insbesondere der USA im Rahmen der hier diskutierten Lokomotivtheorie richten sich aber nicht nur auf die realwirtschaftliche Aktivität, sondern insbesondere auch auf einen Abbau des Leistungsbilanzdefizits. Dies liegt nahe, spielt doch — wie die früheren Überlegungen gezeigt haben — die Leistungsbilanz eine zentrale Rolle bei der Übertragung expansiver Impulse. Empirische Ergebnisse zeigen indessen, daß ein einprozentiger Anstieg des Realeinkommens in der Bundesrepublik Deutschland dazu führt, daß die Gesamtimporte um 1, 85 Prozent und die Importe aus den USA um 0, 13 Prozent steigen. Die bilaterale Leistungsbilanz zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den USA wäre hingegen dann ausgeglichen wenn die deutschen Importe um etwa 100 Prozent steigen würden. Ein solcher Importanstieg setzt — bei den soeben aufgezeigten Größenordnungen — allerdings voraus, daß das Realeinkommen der Bundesrepublik um rund 770 Prozent ansteigt — eine schier unvorstellbare Größenordnung, selbst wenn man die Anpassung über mehrere Jahre hinweg verteilt. Es ist daher anderen Autoren uneingeschränkt beizupflichten, die es als unmöglich ansehen, das amerikani-sehe Leistungsbilanzdefizit durch expansive Maßnahmen der Handelspartner auszugleichen. Vielmehr können nur eine entsprechende Wechselkurs-anpassung oder nationale wirtschafts-und finanzpolitische Maßnahmen der USA dieses Ungleichgewicht abbauen.
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