Die Wehrmacht in der Endphase Realität und Perzeption
Manfred Messerschmidt
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Zusammenfassung
Warum und für welche Ziele diente die militärische Führung Hitler buchstäblich bis zur materiellen und moralischen Katastrophe? Warum tat sie dies wider besseres Wissen? Die strategischen, personellen und rüstungswirtschaftlichen Daten deuteten zweifelsfrei auf die Unvermeidbarkeit der Niederlage und den Ruin der Wirtschaft sowie der städtischen Zentren. Das Unglück von Millionen war offenkundig. Der nüchterne Befund ist: Die militärische Führung wußte und wollte keine Lösung gegen Hitler. Ihr Durchhaltewille speiste sich aus der Idee des Weitermachens, aus der Sinn suggerierenden Floskel, es müsse das verhindert werden, was gerade durch das Weitennachen provoziert wurde. Wo die Rücksicht auch auf die eigene Bevölkerung beiseite geschoben wurde, nahm sich der Hinweis auf den Willen zur Rettung des Abendlandes wohl nur für Phantasten sinnstiftend aus. Die Realität besiegte die Propaganda; ein enormer Erosionsprozeß setzte schleichend in Wehrmacht und Bevölkerung ein. Bis heute sind die Verantwortlichen eine Erklärung für ihre Verantwortungslosigkeit schuldig geblieben. Spielt bei dieser Verdrängung das Bewußtsein der Partnerschaft im Verbrechen eine Rolle?
I. Die Lage
Wann war der Krieg für Hitler verloren? Diese Frage ist falsch gestellt. Sie muß lauten: Wann war der Krieg für die Wehrmacht, für die Deutschen verloren? Strategisch und kräftemäßig, so meinte der Führer des Kriegstagebuches (KTB) des Wehrmachtführungsstabes, Percy Emst, Schramm, seit Mitte 1944, und zwar unabänderlich Die militärische Lage war an allen Fronten bedrohlich, teilweise katastrophal; das Heer ausgebrannt, die Wehrwirtschaft schrumpfte rapide. Hitlers Minister für Rüstung und Kriegsproduktion, Albert Speer, hielt schon im Herbst 1943 die industriellen Reserven für annähernd ausgeschöpft und prognostizierte das Kriegsende für einen Zeitpunkt „zehn Monate nach dem Verlust des Balkans“ Noch skeptischer gab sich Generaloberst Fromm, Chef der Heeresrüstung und Befehlshaber des Ersatzheeres: Schon Ende April 1942 hielt er ein siegreiches Ende des Krieges nur unter der Voraussetzung für möglich, daß „wir eine Waffe mit völlig neuen Wirkungen entwickeln“ Gedacht war an die Atombombe, die Deutschland aber, wie sich um diese Zeit herausstellte, nicht produzieren konnte, ohne andere Rüstungsfaktoren erheblich zu beeinträchtigen. Speer und Hitler sahen dies nicht anders als Heisenberg und Otto Hahn.
Laut Speer war schon seit Mai 1944 auch der technische Krieg gegen das Reich entschieden. Als entscheidendes Ereignis galt ihm der Angriff von 935 Tagbombern der 8. US-Airforce gegen Treibstoffwerke in Mittel-und Ostdeutschland am 12. Mai 1944 Gegen derartige Masseneinsätze gab es 1944 keine Chance mehr. Zu dem Zeitpunkt, als auf deutscher Seite die modernste Waffe, die Raketenwaffen V 1 und später ihre Fortentwicklung V 2, eingesetzt wurde, war der Krieg technisch verloren — ein objektiver Befund, dem allerdings die Perzeption der Handelnden nicht entsprach, und zwar aus verschiedenen Gründen, die mit dem Phänomen des Durchhaltens wider alle Vernunft-gründe zu tun haben.
Anzeichen für eine Kriegswende, ja für die Niederlage gab es auf verschiedenen Ebenen. Von einem schleichenden Prozeß des Kräfteverfalls kann nicht gesprochen werden. Insofern ist kein Vergleich mit dem Ersten Weltkrieg möglich, als sich bei fixierten Fronten und trotz beträchtlicher Teilerfolge im Osten und Südosten das materielle und personelle Übergewicht der Westmächte für die Heimat kaum wahrnehmbar aufbauen und durchsetzen konnte. Das Ende des Zweiten Weltkrieges kündigte sich dagegen in dramatischen Sprüngen und Katastrophen an. Schon der Verlust der strategischen Initiative lief in derartiger Szenenfolge ab: Kapitulation in Tunesien im Mai 1943, Scheitern der letzten größeren Offensive bei Kursk im Juli 1943, alliierte Landungen in Sizilien und Unteritalien im Juli und September dieses Jahres, Beginn des massiven strategischen Luftkrieges über dem Reich und Wende im U-Boot-Krieg ebenfalls noch 1943. Und 1944 zeichnete sich mit dem Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte im Osten und der alliierten Invasion in Frankreich definitiv der Anfang vom Ende ab.
Zeichen über Zeichen und dennoch Durchhalte-wille und Endsieg-Beschwörung. Wie überzeugend ist die Propaganda für Bevölkerung und Soldaten in dieser Phase noch gewesen?
Der Sicherheitsdienst der SS meldete schon 1943 eine wachsende Beunruhigung der Zivilbevölkerung Viele fragten, wie lange die Schrecken des Luftkrieges noch zu ertragen seien, warum U-Boot-Sondermeldungen ausblieben und ob es im Osten 1943 noch zu einer entscheidenden Offensive kom-men werde. Die Mehrheit der Deutschen wollte offensichtlich die ganze Wahrheit nicht akzeptieren. Hoffnung, genährt durch Propaganda und Verdrängung, war noch lebendig. Eine Mischung aus Hoffnung, Angst und wachsender Resignation wurde schließlich konstitutiv für die Endphase seit 1944. Die militärische und politische Führung des Reiches verlor die Fühlung mit , dem Volk 1, je mehr sie sich auf das Rezept des Weitermachens um jeden Preis versteifte. Im Rahmen dieser Durchhaltestrategie waren Menschen und Sachwerte nichts weiter als . Rohstoffe*. Es konnte für Hitler und die Partei nur noch um Existenzverlängerung gehen, für Land und Leute aber um das Ausmaß von Unglück, um die Größenordnung des materiellen Schadens, um Leib und Leben der Angehörigen.
II. Spekulationen der Führung
Ein sinnvolles Konzept ist in den Überlegungen Hitlers und der Militärs jenseits der Entschlossenheit zum Weitermachen nicht mehr zu erkennen. Was mit der Fortsetzung des Krieges in der gegebenen, sich ständig für die Wehrmacht, die Kriegs-wirtschaft und das Heimatgebiet verschlechternden Lage erreicht werden sollte, ist nicht gefragt, nicht diskutiert worden, wenn wir von den Überlegungen der Opposition und des Widerstandes absehen, wo erkannt wurde, daß die Katastrophe nicht mehr aufzuhalten war, wenn Hitler nicht ausgeschaltet würde.
Die oberste militärische Führung dagegen hat wider besseres Wissen gehandelt, die Augen verschlossen, sich Spekulationen hingegeben und nicht selten die pathetischen Leerformeln von der Gewißheit des Endsieges nachgebetet. Sie sah die Verwüstungen des Heimatgebietes mit an, kannte die Trümmerberge der Stadtlandschaften. Der Untergang Dresdens, das größte und letzte Symbol der Unfähigkeit, Verantwortung für die eigene Nation zu übernehmen, setzte kein Umdenken in Gang.
Die Führung verfügte über die Daten für eine realistische Lagebeurteilung. Wenn auch keine exakten Zahlen für die von alliierter Seite gegen das Reich eingesetzte Bombenlast vorlagen, so war doch die Größenordnung, ablesbar an der Wirkung, unübersehbar. Unvollständige deutsche Statistiken, geführt von Gauwohnkommissaren, Regierungspräsidien und Reichs— Statthaltern kamen bis 1944 auf etwa 600 000 total zerstörte Gebäude und über 1, 6 Millionen völlig zerstörte Wohnungen. Nach dem Krieg sind vom Statistischen Bundesamt weit über 600 000 Luftkriegstote errechnet worden. Die Morale Division des US Strategie Bombing Sumy schätzte auf Grund erbeuteter Unterlagen, Interviews und Augenschein insgesamt 1, 86 Millionen zerstörte und 3, 6 Millionen beschädigte Wohnungen, 4, 88 Millionen evakuierte Personen und ca. 20 Millionen anderweitig vom Luftkrieg betroffene Personen Schon 1942 visierte die Royal Air Force für Mitte 1944 an Bomben eine Monatsrate von 90 000 Tonnen an. Dieses Ziel ist zusammen mit der US Air Force weit übertroffen worden. Amerikaner und Briten warfen im März 1945 über 130 000 Tonnen auf Deutschland ab 8). Den im KTB des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) erwähnten fast 1, Millionen Tonnen alliierter Bomben auf Ziele in Deutschland standen 9 151 Tonnen deutscher Bomben auf Großbritannien — einschließlich V-Waffen — gegenüber, während in den Kriegsmonaten des Jahres 1945 nur noch 761 Tonnen auf britische Ziele gebracht werden konnten 9).
Die monatliche Verlustrate der Kriegswehrmacht lag Mitte 1944 bei knapp 50 000 Toten durch Feind-einwirkung und bei etwa 150 000 Verwundeten; hinzuzurechnen sind Zehntausende von Vermißten und noch mehr in Kriegsgefangenschaft geratene Soldaten Extrem hoch waren die Offiziersverluste des Heeres. Im September lag die statistische Ziffer bei 317 täglich. Um diese Zeit existierte bereits ein Fehlbestand von 13 000 Offizieren in der Feldarmee Ein derartiger Aderlaß konnte nicht ausgeglichen werden.
Bei den einsatzbereiten Waffen und Kraftstoffbeständen bot sich ein vergleichbares Bild. Die Luft-flotte Reich büßte im Juni-Juli 1944 entscheidend an Abwehrkraft ein. Die Zahl der einsatzfähigen Maschinen sank dramatisch:
Die Flugbenzin-Produktion ging von September 1944 (30 Prozent) über einen Anstieg bei Jahresende (56 Prozent) auf fünf Prozent im Februar 1945 zurück Diese Daten sind nur Indikatoren des allgemeinen Niedergangs der ökonomischen und personellen Ressourcen des Reiches. Die der Wirtschaft entzogenen Arbeitskräfte konnten — vor allem im Facharbeitersektor — auch nicht annähernd durch ausländische Arbeitskräfte ersetzt werden, die überdies nur durch Zwang angetrieben werden konnten oder durch Angst.
Was setzte die deutsche Führung der rapide zunehmenden Balanceverschiebung zugunsten der Anti-Hitler-Koalition entgegen? Als aufschlußreiches Dokument eines perspektivlosen Anklammems an den Gedanken, es müsse um jeden Preis weiter gemacht werden, ist die Besprechung Hitlers mit seinem ersten operativen Berater, dem Chef des Wehrmachtführungsstabes, Generaloberst Jodl, am 31. Juli 1944 in der Wolfschanze anzusehen Jodl hatte am Vortage, als sich die Möglichkeit des amerikanischen Durchbruchs bei Avranches und damit der Vorstoß der Alliierten tief nach Frankreich hinein abzeichnete,'Hitler in vorsichtiger Form auf die Eventualität der Räumung Frankreichs hingewiesen, aber keinerlei weitere Konsequenzen in Erwägung gezogen Persönlich von der Unvermeidlichkeit der Katastrophe überzeugt, gelang es Jodl nicht, sich aus dem Bann Hitlers zu lösen. Er verharrte in blinder Nibelungentreue an der Seite des Vabanquespielers und sah hierin auch noch so etwas wie historische Größe und Verantwortung. Sein Verhalten während der Besprechung mit Hitler sollte daher im Zusammenhang mit seiner Bewertung des Attentats vom 20. Juli gesehen werden. Für Jodl war dies der „schwärzeste Tag, den die deutsche Geschichte bisher gesehen hat“ „Außer in Rußland und in Mexiko“, so meinte der strategische Kopf des Führers, sei „wohl niemals in der Welt etwas Ähnliches geschehen. Es bleibt einmalig in seiner Ungeheuerlichkeit.“ Die Verschwörer hatten laut Jodl nur „eine ungeheuerliche Dummheit und den kleinsten Gesichtskreis“ bewiesen: „denn wie wollten sie ihrem Volk nützen?“
Jodl hatte dazu vor seinen Offizieren und Beamten einen Vorschlag zu machen: „Ich bin überzeugt, daß wir diese Lage durchstehen werden, aber selbst, wenn uns das Glück nicht hold sein sollte, dann müßten wir entschlossen sein, uns als die Letzten mit der Waffe um den Führer zu scharen, damit wir vor der Nachwelt gerechtfertigt sind.“ Vor der „Geschichte und vor der Ewigkeit“ Jodl glaubte, allein mit solcher Hitlerhörigkeit bestehen zu können.
Der Krieg verschlang Jung und Alt, Frauen und Kinder, eine Stadt nach der anderen fiel in Trümmer. Die SD-Berichte meldeten zwei Tage vor diesen Ausführungen Jodls, in den Meinungsäußerungen der Bevölkerung komme zum Ausdruck, „daß wir diesem Luftterror völlig ohnmächtig gegenüber standen“ Der Chef des Wehrmachtführungsstabes sah dagegen noch einen illusionären Hoffnungsschimmer: „Jetzt flammt der Widerstandswille hell auf: Unter dem Eindruck dessen, was an der Ostgrenze Ostpreußens geschieht, kann man wirklich von einem Aufbruch des Volkes sprechen. Der Reichskommissar hat die Bevölkerung mitgerissen, die nun vom Universitätsprofessor bis zum 15jährigen Jungen großartige Leistungen vollbringt.“
Von einer solchen militärischen Führung war kein verantwortungsvolles Handeln „vor der Geschichte und Ewigkeit“ mehr zu erwarten und sicherlich auch keine Aktion gegen Hitler, der nichts anderes wollte, als den Krieg weiter ablaufen zu lassen bis zur vollständigen Erschöpfung. Die zahlenmäßige Unterlegenheit auf allen Gebieten verhinderte nicht, weiterhin auf einen Sieg zu spekulieren. Hitler gab diese Losung mit seinem Befehl vom 5. Januar 1944 aus, der in Zusammenhang mit der Einrichtung der NSFO-Organisation (der sogen. NS-Führungsoffiziere) stand Die wichtigsten Akzente dieses Befehls gehören — wie viele andere seiner Willensäußerungen — zu den propaganda-wirksamen Dogmen des Nationalsozialismus, die Überzeugungskraft für Soldaten gewinnen konnten: die Behauptung, das deutsche Volk ringe um die Freiheit seiner Lebensgestaltung, um seine Existenz, sowie der Satz, Glaube und fanatische Entschlossenheit würden den Endsieg garantieren. Dies war die psychologisch-propagandistisch wirksame Regimeverlängerungsversion, die sich auch in vielen Dokumenten militärischer Führer wiederfindet.
Die politisch-strategische Hilflosigkeit der Rezepte Hitlers und seines Führungsstabes hinsichtlich einer sinnvollen Beendigung des Krieges erweist sich gerade in ihren , logischen* Überlegungen. Es ging meist um den Aufbau verteidigungsfähiger Linien, um Zeit zu gewinnen. Aber es gab keine Klarheit darüber, was die gewonnene Zeit bringen konnte angesichts der Gewißheit, daß die Überlegenheit und die strategische Position der Gegner rasch ausgebaut und weiter verstärkt werden würden. Die Lagebesprechung in der Wolfsschanze vom 31. Juli 1944 ist ein Dokument dieser Hilflosigkeit und Halsstarrigkeit Hitler fragte sich, „ob nicht angesichts der ganzen Lage es wirklich so schlimm ist, daß wir verhältnismäßig eng zusammengepreßt sind. Es hat nämlich nicht nur Nachteile, sondern auch Vorteile. Wenn das Gebiet, daswirjetzt besitzen. gehalten wird, dann ist das ein Gebiet, das uns immerhin das Leben ermöglichen kann.“
Es war aber kein Zweifel möglich, daß dieses Gebiet nicht gehalten werden konnte, daß Frankreich verlorengehen und die strategischen Bomberverbände noch näherrücken würden. Ein Operieren im offenen französischen Raum, das sah Hitler ein, war unmöglich. Neu aufzustellende Luftwaffenverbände gedachte er „für den alleräußersten Fall tatsächlich als eine letzte Reserve“ bereitzuhalten, um sie — „ich kann heute noch nicht sagen, wo die letzten Würfel fallen“ — dorthin zu werfen, „wo man vielleicht wieder eine Wende herbeiführen kann“; ein Gedankenspiel, dessen Unausführbarkeit im Dezember 1944 die Ardennenoffensive erweisen sollte. Hitler bedauerte, daß die Verstärkung der Luftwaffe „so lange“ dauere: Wenn mit einem Schlag 2 000 Jäger kämen, „würde die ganze Krise, die wir haben, sofort überwunden sein: dann gäbe es überhaupt keine Krise mehr“.
Zu dieser Spekulation kam sein „Glaube“, einen Durchbruch im Osten verhindern zu können mit den Kräften, „die wir jetzt aufstellen und die allmählich herauskommen“, sowie sein Glaube, die „menschliche und moralische Krise“ zu meistem: Der Russe sei „menschenmäßig“ nicht besser geworden, aber wir moralisch schlechter. Männer müßten her, die dauernd Kraft ausstrahlen und Zuversicht verbreiten und „vor allen Dingen die absolute Erkenntnis vertiefen von dem schicksalbedingten Wesen des Kampfes — ein Schicksalskampf, der nicht irgendwie abgelöst werden kann oder nicht weggehandelt werden kann durch irgendeine kluge politische oder taktische Geschicklichkeit -, sondern daß es sich hier wirklich um eine Art Hunnenkampf handelt, bei dem man entweder steht oder fällt und stirbt, eines von beiden“.
Auch hinsichtlich des Balkans hatte er lediglich „Glauben“ einzusetzen: Durch irgendeinen Akt wirklich entscheidenden Widerstandes „oder gar einer erfolgreichen großen Schlacht irgendwo“ könne man Vertrauen bei Türken und Bulgaren zurückgewinnen — „aber sie kommen natürlich allmählich auch in Bulgarien auf den Gedanken: ja, wenn Deutschland doch zusammenbricht, was dann?“ Die Sicherung des ungarischen Raumes sei von lebenswichtiger Bedeutung, Bulgarien brauchte man „unter allen Umständen“. Bei einer Krise im Westen müsse man „eben doch noch einmal“ eine wesentliche Verkleinerung des deutschen Lebensraumes in Kauf nehmen.
Letztlich liefen alle Überlegungen darauf hinaus, Zeit zu gewinnen, vielleicht Häfen zu blockieren, um den alliierten Nachschub zu verlangsamen und eine Verteidigungslinie aufbauen zu können. Zeit wofür? Für die gewünschten Stückzahlen an Jagdflugzeugen, mit denen die Wende herbeigeführt werden könne? — Gespenstische Illusionen, zu denen Jodl nichts Wesentliches zu bemerken hatte. Für Hitler war es vor allem wichtig, die richtigen Offiziere in die unter allen Umständen zu haltenden Plätze zu bringen: „Hier handelt es sich um Männer, um sonst nichts! Wenn ich mir vorstelle, was wir für Männer haben, etwa dieser kleine Majorin Berlin, der einen so schweren Entschluß gefaßt hat. Wenn ich so einen Mann anstelle, von so einem Generalleutnant oder Kommandierenden General in so etwas hineinsetze, ist der zehnmal soviel wert. Es hängt eben von einem Mann ab, und die anderen sind Scheißkerle, sind bei uns so erzogen, daß sie so etwas als selbstverständlich auffassen, daß andere sich aufopfern, aber selbst denken sie nicht daran . .
Jodl sorgte sich, weil für den Fall, „daß in drei, vier oder fünf Tagen hier etwas passiert“, noch gar nichts befohlen sei. Hitler sah klarer: Da könne man zwar befehlen, aber es werde nichts gemacht. Es ging nicht mehr viel im Westen. Hitlers Mißtrauen erwies sich nach dem 20. Juli für seine eigenen Absichten als kontraproduktiv. Den Befehlshabern im Westen wollte er keine Juli für seine eigenen Absichten als kontraproduktiv. Den Befehlshabern im Westen wollte er keine Weisungen geben, die Rückschlüsse auf etwaige weitere Absichten ermöglichten: „Wir dürfen diesen Menschen auch nicht die geringste Andeutung machen, und das kann man andernfalls nicht vermeiden in diesem Sauladen.“ Generaloberst Jodl hatte dazu nichts zu sagen. Das kümmerliche Ergebnis der ausführlichen Lagebesprechung war die Erkenntnis, daß „unformalistisch und beweglich geführt werden müsse“. In einem Punkt traf Hitler den Nagel auf den Kopf: Man könne keinen langfristigen Plan machen, weil er in den nächsten Tagen doch über den Haufen geworfen würde.
Den 15. August 1944 bezeichnete Hitler als schlimmsten Tag seines Lebens 19); er meinte die Krise bei dem sich abzeichnenden Kessel von Falaise und die alliierte Landung in Südfrankreich. Aber auch nach diesen operativen Niederlagen, die am Beginn des strategischen Knock-out im Westen standen, sah Hitler die Zeit für eine politische Lösung noch nicht herangereift. Im Moment schwerer militärischer Niederlagen auf einen „günstigen politischen Moment“ zu hoffen, sei naiv, meinte er in Anspielung auf Rommels Fernschreiben vom 15. Juli, in welchem der Feldmarschall und Ober-befehlshaber (OB) der Heeresgruppe B unter Hinweis auf die hohen Verluste und die ungleichen Kampfbedingungen an der Atlantikküste den Durchbruch der Alliierten prophezeite und Hitler bat, unverzüglich die Folgerungen aus dieser Lage zu ziehen 20). Dessen Reaktion zeigt, daß er nicht daran dachte, politische Konsequenzen zu ziehen, d. h. zu kapitulieren. Hierin hat er sich auch nicht durch das Abschiedsschreiben des OB West, Generalfeldmarschall von Kluge, vom 28. August, abbringen lassen Kluge kam hierin auf den ent-scheidenden Punkt: Es sei an der Zeit, den unsagbaren Leiden des Volkes, dem Schrecken ein Ende zu machen. Was er’über Hitlers großen und ehrenhaften Kampf ausführte, darf eher als psychologische Beigabe gewertet werden denn als seine wahre Meinung.
Jodl sah die katastrophale Lage des Reiches und der Wehrmacht möglicherweise objektiv, aber er verquickte seine Einsicht mit politisch-psychologischen Kurzschlüssen, mit denen er sich selbst unverrückbar an Hitler band. Die im Wehrmachtführungsstab für ihn zusammengestellten Daten für einen Vortrag vor den Reichs-und Gauleitern über die militärische Lage am 7. November 1943 zeigten diese Diskrepanz zwischen Realität und Wunschvorstellung Die Kompilatoren wußten offensichtlich, was sie ihrem Chefvorlegen konnten. Jodl verfolgte bei seinem Vortrag laut eigener Aussage im Nürnberger Prozeß eine politische Absicht: Die Erfahrungen aus der Niederlage im Ersten Weltkrieg hätten bewirkt, daß er sich in Hitlers Krieg zum Grundsatz gemacht habe, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um jede Spaltung, jede Zersetzungserscheinung, alle Konflikte im Innern, „soweit sie die Wehrmacht angingen“, zu bekämpfen. Und so lautete ein Abschnitt seiner Ausführungen: „Grundlagen unseres Vertrauens aufden Endsieg“. Worin lag die Wurzel seines Vertrauens? — Im Genie Hitlers. Sicher war, „daß wir siegen, weil wir siegen müssen, denn sonst hätte die Weltgeschichte ihren Sinn verloren“. Er war sicher, „daß wir selbst die Trümmer unserer Heimat bis zur letzten Patrone verteidigen würden, weil es in ihnen tausendmal besser zu leben ist als in der Knechtschaft“. Das war die Pimpfenphilosophie des Chefs des Wehrmachtführungsstabes. Sie kehrt in mancherlei Variationen bei anderen hohen militärischen Führern wieder und spiegelt sich schließlich in den Durchhaltemaßnahmen des politisch-militärischen Establishments. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang Befehle Models und Rundstedts sowie ideologische Anstrengungen der Organisation der Nationalsozialistischen Führungsoffiziere (NSFO). Auffallend ist das Nebeneinander von klarer Kenntnis der Lage, nüchterner Einschätzung der gegnerischen Überlegenheit und einer solchen Kenntnissen direkt widersprechenden Beschwörung der Siegesgewißheit. Models Befehl vom 29. März 1945 an seine bereits im Ruhrkessel eingeschlossene Heeresgruppe B nimmt unter den Bekundungen der Feldmarschälle Hitlers in dieser Hinsicht einen besonderen Platz ein Er wandte sich hier sowohl gegen die Weltanschauung des Marxismus als auch gegen die der westlichen Demokratien. Das für die Deutschen allein passende, siegverbürgende weltanschauliche Gedankengebäude könne nur der „nationale Sozialismus“ sein. Er mutete seinen Offizieren und Soldaten wenige Wochen vor dem Kollaps diese Sätze zu: „In unserem Kampf für die Ideenwelt des nationalen Sozialismus gegen die Seelenöde des materialistischen Bolschewismus müssen wir mit mathematischer Sicherheit siegen, wenn wir im Willen und Glauben unerschüttert bleiben.“
Der OB West von Rundstedt sprach noch Ende Januar 1945 von der „kriegsentscheidenden Bedeutung“ der Verlegung von Verbänden auf den rechten Flügel der Heeresgruppe B. Dieser Befehl war nicht etwa an die Soldaten zur Aufmunterung gerichtet, sondern an die Oberbefehlshaber der Heeresgruppen B, G und H. Rundstedts Formulierungen suggerierten bei klarer Beschreibung der Lage die Möglichkeit einer Wende — wider besseres Wissen: Schielen in Richtung Hitler/OKW, Mitwirken am Vabanque-Spiel auf Kosten der eigenen Bevölkerung, die 14 Tage später bei der Bomberoffensive gegen Dresden vergeblich nach dem Sinn der Kriegsverlängerung suchte. Rundstedt: „Das Ziel dieser neuen feindlichen Offensive wird in erster Linie die Inbesitznahme des rheinisch-westfälischen Industriegebietes sein, um nach dem augenblicklichen Ausfall der oberschlesischen Industrie auch durch Ausschaltung der Ruhrindustrie auf den weiteren Verlauf des Krieges entscheidend einzuwirken.“ Die Entwicklung der Lage im Osten — wo die Rote Armee seit Mitte Januar zur Großoffensive angetreten war — habe, so Rundstedt, die „Absichten und Planungen der feindlichen Führung im Westen sicherlich entscheidend beeinflußt“.
Treffender konnte die Hoffnungslosigkeit der militärischen Situation kaum beschrieben werden. Die deutsche Führung war nur noch imstande, an bestimmten Abschnitten der Front zu reagieren und zu improvisieren, ohne Aussicht auf mehr als kurzen Zeitgewinn und ohne Antwort auf die Frage des . Wozu*. Da blieb den Hitler ergebenen Feldmar-Schällennichts übrig, als auf die angeblich kriegs-entscheidende Bedeutung ihrer Befehle hinzuweisen. Rundstedt: „Die rechtzeitige Durchführung dieser Maßnahmen ist von kriegsentscheidender Bedeutung. Ich ersuche, diese Aufforderung mit allem Nachdruck den für Verlegung und Transport verantwortlichen Führern und Dienststellen zur Kenntnis zu bringen. Es kommt auf jede gewonnene Stunde an, um dem Feind zuvorzukommen. Das Schicksal des Reiches hängt von der erfolgreichen Abwehr dieses neuen angloamerikanischen Großangriffs ab.“
Im Osten standen den militärischen Führern Formeln aus dem Sprachschatz der NS-Weltanschauung zu Gebote, die für viele Soldaten eine gewisse Überzeugungskraft besaßen, weil sie mit Gefühlen der Angst verbunden waren. Vor der amerikanischen oder englischen Gefangenschaft fürchtete sich kaum ein deutscher Soldat. Im Osten war das anders. Die Wirkungen jahrelanger Propagandabeeinflussung wurden hier spürbar, aber auch die Furcht vor dem tatsächlich größeren Risiko. Dieser Grundeinstellung trug mancher Befehl Rechnung. Dennoch darf unterstellt werden, daß es seit 1943/44 zunehmend problematischer wurde, Siegesgewißheit zu erzeugen. Bezeichnend ist der Tagesbefehl des Oberbefehlshabers der Heeresgruppe Mitte, Generalfeldmarschall Model, vom 31. Juli 1944 Gerichtet an die Soldaten einer gerade zerschlagenen Heeresgruppe — die am 22. Juli 1944 einsetzende Offensive der Roten Armee hatte innerhalb zweier Wochen 28 Divisionen vernichtet. 350 000 Soldaten waren gefallen oder in Gefangenschaft geraten —, suchte der Befehl, Angst und Hoffnung zugleich zu mobilisieren: „Soldaten! Der Feindsteht an Ostpreußens Grenzen! Ersucht in unsere Heimat einzudringen. Noch besitzen wir ein Vorfeld, aufdem wir den heiligen Boden des Vaterlandes verteidigen können. Daß wir dieses Vorfeld halten, dem Feind Zutritt zu deutschem Land verwehren und Mord, Brand, Plünderung von deutschen Dörfern und Städten fernhalten, das erwarten unser Führer, unser Volk und unsere im Westen und Süden gleich uns schwer ringenden Kameraden . . . Feiglinge haben keinen Platz in unseren Reihen. Wer wankt, hat sein Leben verwirkt. Es geht um unsere Heimat, um unsere Frauen und Kinder. Trotz allem und aller augenblicklichen zahlen- mäßigen und materiellen Überlegenheit des Feindes können wir es in scharfer Konzentration aller Kräfte schaffen! Hierfürsind in der Heimatjetzt auch organisatorisch alle Voraussetzungen gegeben durch Beauftragung des Reichsführers SS Himmler und Reichsministers Goebbels . . . Kein Soldat der Welt darfgerade jetzt besser sein als wir Soldaten unseres Führers Adolf Hitler! Heil unserem geliebten Führer!“ Die zahlenmäßige und materielle Überlegenheit der Anti-Hitler-Koalition war nicht hinwegzudebattieren. Der Soldat an der Front erlebte sie seit 1943 in steigendem Maße, aber auch in der Heimat verbreitete sich die Erkenntnis, daß der deutsche Soldat trotz „moralischer und geistiger Überlegenheit“, wie der Nachrichtendienst des Sicherheitsdienstes (SD) schönfärberisch interpretierte, den Materialkrieg nicht gewinnen könne Der Soldat wird nicht wesentlich anders empfunden haben. Hierauf waren die Durchhalteparolen hoher und höchster militärischer Führer abgestellt, wenn sie auch etwas vorsichtiger argumentieren mußten als die Goebbels-Propaganda.
In dieser Lage setzte die militärische Führung den Offizier, nicht zuletzt den Generalstabsoffizier, als Multiplikator zur Verbreitung von Siegeszuversicht ein. Dabei konnte sie sich offenbar auf den eingespielten Befehlsmechanismus verlassen, der auch alsTransmissionsmittel zur Übermittlung von Leer-formeln, Sinnlosigkeit und selbst nicht mehr geglaubten Annahmen vorzüglich funktionierte — mit allerdings äußerst fragwürdigem Effekt.
Ein Beispiel bietet die Chefbesprechung bei der Heeresgruppe E in Saloniki am 9. Dezember 1943 Durch die Landung der Alliierten in Italien war die Flanke der deutschen Position im Mittelmeer-Balkan-Bereich im Spätsommer 1943 in höchste Gefahr geraten. Bei der Heeresgruppe E war man sich der prekären Lage bewußt, zumal man über die Situation an anderen Fronten informiert war. In Griechenland erwartete man keinen Groß-* angriff mehr und konnte, abgesehen von der ständigen Beunruhigung durch Partisanenaktivitäten, aus einer gewissen Distanz urteilen. In den Ausführungen des Chefs des Generalstabes, General Winter, wird dies sehr deutlich. Seine Einschätzung der Kräftepotentiale der Kriegführenden war abgewogen: Der Feind habe personell, was er brauche, während die Wehrmacht im Osten enorme Menschenverluste erlitten habe. Einschneidende Maßnahmen seien in Aussicht gestellt: „Unter Androhung schärfster Strafen ist das Herausziehen jüngerer Jahrgänge rücksichtslos befohlen. So zum Beispiel sind schon sämtliche Artillerieoffiziere abberufen . . . Die Lage im Südosten erlaubt ein solches Wagnis.“ Das feindliche Potential sei materiell unerschöpflich. Die politische Lageeinschätzung ging über Wunschdenken jedoch nicht hinaus. Spannungen innerhalb der gegnerischen Koalition gelte es auszunutzen — „wann und wie entzieht sich unserer Kenntnis“.
So blieb auch General Winter nicht viel anderes übrig, als der politisch-psychologischen Beeinflussung der Soldaten große Bedeutung beizumessen: Die versammelten Offiziere sollten sich „zu Mittlern einer 100% positiven Einstellung machen in unbedingtem Vertrauen zur Führung und dieses Vertrauen weitergeben an die Stäbe und Truppen“. Der Generalstabsoffizier müsse es als eine der höchsten Aufgaben ansehen, „das treibende Element ... zu sein, das das Vertrauen in die eigene Stärke, in die Führung und die absolute Siegeszuversicht überall hinaus ausstrahlt“.
Es ist keine Frage, daß diese in vielen Verlautbarungen hoher und höchster Kommandobehörden greifbare Sorge um die Stimmung der Truppe eine direkte Reaktion auf die Kriegswende war. Seit Mitte 1943 wurde intensiv über Möglichkeiten der Gegensteuerung nachgedacht. Mit bloßen Appellen an Vertrauen, Glauben und Siegeszuversicht — das war offenkundig geworden — ließen sich Erosionserscheinungen nicht auffangen, zumal die materielle Überlegenheit oder wenigstens ein Gleichgewicht bei schweren Waffen und Luftwaffe nicht mehr hergestellt werden konnten.
III. Maßnahmen zur inneren Stabilisierung der Wehrmacht
Die in diesem Kapitel in einem Überblick zu behandelnden Stabilisierungsmaßnahmen stellten insgesamt ein Krisenmanagement größten Stils dar. Sie machten zugleich das Phänomen . Krise* bewußt, insbesondere da, wo sie zu den schärfsten Strafsanktionen griffen. Vom Standpunkt politischen und militärischen Kalküls waren viele dieser Maßnahmen nicht mehr sinnvoll. Manche entsprachen durchaus Hitlers Auffassung vom „Hunnenkrieg“. Im Inferno der letzten Kriegsmonate wurde der Mensch zum Material herabgewürdigt. Er hatte im eigentlichen Sinne Material zu ersetzen. Krieg wurde um seiner selbst willen geführt. Seine Fortsetzung verhinderte gerade das immer wieder propagandistisch beschworene Ziel: die Heimat, Frauen und Kinder zu schützen.
Als eigentlicher Auftakt des politpsychologischen Endphasen-Szenariums kann die Einrichtung der NSFO-Organisation angesehen werden. Sie veranschaulicht zugleich ein weiteres Moment der Wehrmachtgeschichte, nämlich die Eröffnung neuer Möglichkeiten für die Partei, auf Soldaten einzuwirken und selber organisatorisch in der bewaffneten Macht Fuß zu fassen. Hauptbereichsleiter Ruder, Leiter des Arbeitsstabes NSFO in der Parteikanzlei, machte das Ziel der Partei auf einer Reichs-und Gauleitertagung am 23. Februar 1944 in München deutlich: „Wenn der gleiche nationalsozialistische Geist, den die Partei dem Volk eingeimpft hat, nun immer und immer wieder auch von den besten und bewährtesten Parteigenossen in der Truppe und von unseren jungen, dazu erzogenen Offizieren auf die Männer draußen einwirkt, dann wird hier eine Kraft entstehen, die in der Lage ist, auch die größten Belastungen zu meistern und schließlich den Sieg zu erringen. Dann wird die nationalsozialistische Volksarmee einst nichts anderes sein als die Vollstreckerin des nationalsozialistischen Willens und des Wollens unseres Führers.“
Vorausgegangen waren wehrmachtseigene Bemühungen um die wehrgeistige Führung. Nicht nur das OKW war auf diesem Gebiet tätig, sondern auch einzelne Generäle wie Schörner, der Anfang Februar 1943 ein Referat geistige Betreuung einführte Auf ähnlichen Geleisen bewegte sich der Befehlshaber des Ersatzheeres; Hitler vollzog schließlich, Vorschlägen Bormanns folgend, mit Befehl vom 22. Dezember 1943 den Schritt von der wehrgeistigen Führung zur nationalsozialistische Führung. Damit wurde in der Wehrmacht eine neuartige, auf enge Zusammenarbeit mit der Partei-kanzlei verpflichtete Organisation geschaffen.
An der Spitze dieser Organisation stand der NS-Führungsstab OKW mit entsprechenden Stäben bei den Oberkommandos der Wehrmachtteile. Schon am 7. Januar 1944 befahl Bormann die Aufstellungdes NSFO-Stabes der Parteikanzlei, der sogleich auch Mitspracherecht bei der Auswahl der NS-Führungs Offiziere erhielt. Der Chef des NSFO-Stabes OKW, General Reinecke, hatte bei der Beschaffung des Schulungsmaterials mit der Parteikanzlei eng zu sammenzuarbeiten. Reinecke paßte sich seinem neuen Aufgabengebiet wie gewohnt an, als erinder Wolfsschanze erklärte, der Krieg könne „mit 51 Prozent Sicherheit durch die weltanschauliche Einstellung und Ausrichtung aller Offiziere“ gewonnen werden. General Schmundt, Chefadjutant der Wehrmacht bei Hitler und Chef des Heeresper sonalamtes, meinte bei derselben Besprechung „Der Kommandeur ist der Kommissar.“
In den ersten Januartagen lag Reinecke schon eine große Liste mit Vorschlägen aus der Parteikanzlei vor: Keitel ordnete mit Befehl vom 6. Februar IW die Einsetzung von hauptamtlichen NS-Führungs-Offizieren bei den Kommandobehörden bis hinab zu den Divisionen an. Parteizugehörigkeit war erwünscht, während die Strategen der Parteikanzlei einen Stamm von interessierten Berufsoffizieren gewinnen wollten. Von den am 20. Dezember 194 beim Heer hauptamtlich eingesetzten 623 NSFO waren 556 Parteigenossen, 37 aktive Offiziere. Die Gesamtzahlen beliefen sich um diese Zeit auf: Hauptamtliche NSFO -Soll 1 251, Ist 1 074; Nebenamtliche NSFO — Heer 43 000 (etwa), Luft'waffe 3 452, Marine 900.
General Ritter von Hengl, seit Mai 1944 Chef des NSFO-Stabes beim Oberkommando des Heeres (OKH), hielt es für richtig, die Soldaten zu eine® „unbändigen Vernichtungswillen und zum Haß" Z erziehen Auf den Waffenschulen baute General Specht die NS-Führung laut Hengl in „vorbildlicher Weise“ auf. Fahnenjunker, die der weltanschaul chen Schulung „nicht entsprachen“, wurden nach diesen Angaben nicht befördert. Auf allen Ebenen setzten nunmehr NSFO-Aktivitäten ein. In sehr vielen Fällen gelang es sicher nicht, die Soldaten dafür empfänglich zu machen; Skepsis und Zukunftsangst saßen bereits zu fest. Daher wurde Indoktrination mit Drohung gemischt. Aus dem Stab des OB-West, Generalfeldmarschall von Rundstedt, ist ein Dokument dieser Art aus dem April 1945 überliefert, ein von Rundstedt mit einem Geleitwort versehenes Pamphlet „Die Nationalsozialistische Führung der Truppe“ Es genügt, einige Sätze dieser Anleitung zu zitieren: „-Jedem Soldaten beijeder Gelegenheit, besonders in der Zeit des Großkampfes einhämmern, wofür wir kämpfen. -Immer wieder den Glauben an die eigene Kraft, an die Kraft der im totalen Kriegseinsatz stehenden Nation und an die Überlegenheit des deutschen Menschentums stärken. -Jedem Soldaten in überzeugender Form klarmachen, daß jeder, der seinen Platz und seine Stellung ohne Befehl verläßt, ausweicht oder seine Waffen preisgibt, sich an seinem Vaterland und seiner Heimat vergeht und daher sein Leben verwirkt hat. -Alle Selbstverstümmler und Überläufer den Heimatbehörden und Ortsgruppen derNSDAPmelden, die für die Bekanntmachung in der Heimat sorgen. -Planmäßige Arbeit vor allem in Lazaretten und Auffangstellen. “ »Nationalsozialistische Führungsstunden“ sollten abgehalten werden, einzuleiten mit einem „Führerwort“ und abzuschließen mit einem Kampflied der »Bewegung“. Der Chef NSFO der Luftwaffe präsentierte mit einem Erlaß vom 1. November 194434) einen Katalog der mit der Todesstrafe bedrohten Fehlhaltungen von Soldaten: Zweifel am Führer und am Endsieg; Äußerungen gegen die NS-Weltanschauung; Zweifel an der Berechtigung des uns aufgezwungenen Lebenskampfes; Äußerungen mangelnden Vertrauens in die deutsche Kraft, den Angriffsgeist der Truppe oder die Schlagkraft der deutschen Waffen; Verbreitung von Nachrichten über Kampfmüdigkeit; Erörterung der Möglichkeiten bei Verlust des Krieges; Behauptungen, daß der olschewismus so schlimm 1 nicht sei oder daß die Demokratie unserer westlichen Nachbarn in Erwägung gezogen werden könne.
Im Ersatzheer bediente sich die NS-Führung seit der Einsetzung Himmlers als dessen Befehlshaber nach dem 29. Juli 1944 besonders drastischer Methoden, die auf die Mobilisierung ausnutzbarer Ängste abzielten. Mit Sprachregelungen und Handzetteln suchte man die eigenen Soldaten zu beeinflussen. Eine Sprachregelung vom 2. Februar 1945 schlug folgende Kampfparolen vor: — „Nie hat Asien Europa besiegt. Wir werden asiatische Flutwelle auch diesmal brechen." — „Herrschaft asiatischer Untermenschen über Abendland ist unnatürlich und nicht Sinn der Geschichte. “ — „Hinter der Flut roten Mobs grinst Fratze des Juden. Sein Herrschaftsgelüste wird zerbrochen, wie einst seine Macht in Deutschland. “
Der Einsatz disziplinarer und strafrechtlicher Sanktionen zeigt, wie wenig überzeugend diese ideologische Verführungsstrategie für viele Soldaten war. An der Intensität des um sich greifenden Erosionsprozesses wird deutlich, daß der Soldat politisch weiter dachte als viele Vorgesetzte bis in die höchsten Ränge hinauf. Für Soldaten existierte das Dolchstoßtrauma nicht. In den letzten Kriegswochen zogen Tausende apathischer Soldaten an den mit weißen Fahnen behängten Häusern der mürbe gewordenen Bevölkerung in den ruinierten Ortschaften der Westprovinzen vorbei. Sie hatten begriffen, daß sie geschlagen waren.
Die militärische Führung verfolgte indes für Hitler eine ihrer eigenen Lagebeurteilung zuwiderlaufende Disziplinierungs-und Todesstrafen-Strategie. Spätestens seit Mitte 1944 muß eine wachsende Diskrepanz zwischen Soldaten und militärischer Führung konstatiert werden. Dies kann an zahlreichen Beispielen deutlich gemacht werden.
Im rückwärtigen Gebiet der Heeresgruppe Mitte mußte im Juli 1944 eine doppelte Auffangorganisation an der Weichsel und an der Reichsgrenze gebildet werden, um ungeordnet zurückflutende Versprengte und Flüchtende aufzunehmen. Der Wehrmachtstreifendienst wurde vom Ausmaß der Flucht überfordert. Diese Entwicklung hatte sich schon Monate vorher angekündigt. So meldete der Befehlshaber des Feldjägerkommandos III, General von Scheele, bereits am 18. März 1944, die Lage im Süden der Ostfront sei so, „daß große Teile des Feldj. Kdos (Feldjäger-Kommandos) zum Sammeln von Versprengten eingesetzt“ seien und überhaupt nur durch Feldjägereinsatz ermöglicht werden könne, „einen Brückenkopf über den Dnjestr“ zu bilden
Die Entwicklung wurde schon vor Beginn der großen Offensive der Roten Armee gegen die Heeresgruppe Mitte immer kritischer. Im Mai mußte das OKW die Feldjäger-Kommandos schlagkräftiger machen. Es wurden ihnen fliegende Feldkriegsgerichte zugewiesen und die Befehlshaber der Kommandos mit den entsprechenden gerichtsherrlichen Befugnissen ausgestattet. Regiments-und Bataillonskommandeure erhielten Standgerichte mit den dazugehörenden Befugnissen über alle Angehörigen und Gefolgemitglieder der Wehrmacht und Waffen-SS
Nach dem Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte nahm die Lockerung der Disziplin offensichtlich erhebliche Ausmaße an. Gauleiter Koch meldete Hitler am 13. Juli 1944 „Die Straßen des Reg. -Bez. Bialystok sind voll von Truppen, die z. T. fluchtartig zurückgehen . . . Die Truppe macht einen denkbar schlechten Eindruck und würde beim Überschreiten der ostpreußischen Grenze demoralisierend wirken.“
Hitler beauftragte Koch am 26. Juli mit der Organisation des Stellungsbaus hinter der Heeresgruppe Mitte mit weitreichenden Vollmachten, nachdem er zuvor, am 10. Juli, dem Höheren SS-und Polizei-führer (HSSPf) für das Ostland und Rußland-Nord die Erfassung von Menschen in Estland, Lettland und Litauen übertragen hatte — mit diktatorischen Vollmachten, wie der Befehl besagte Alle Wehrmachtdienststellen waren angewiesen, ihn zu unterstützen. So schoben sich SS-und Parteibeauftragte immer stärker in Wehrmachtsbelange hinein, kontrollierend, kritisierend, störend und forcierend zugleich. Himmler wurde mit Hitler-Befehl vom 2. August 1944 beauftragt, „zum Zwecke der Menscheneinsparung die gesamten Organisations-und Verwaltungsgrundlagen des Heeres, der Waffen-SS, der Polizei und der OT (Organisation Todt) zu überprüfen und zu vereinfachen“. Zu diesem Zweck konnte er Einrichtungen des Heeres, der Waffen-SS und der Polizei zusammenfassen sowie Soldaten und Beamte des Heeres, der Waffen-SS undder Polizei und dessen Gefolge über die zustän-digen Personalstellen austauschen. Hierbei konnte er sich der zuständigen Stäbe bedienen
Die Dramatik der Situation unterstrich ein Führerbefehl vom 19. Juli 1944, wonach sämtliche Versorgungs-und rückwärtige Dienste der Wehnnachtteile, die Organisation Todt und das Wehrmachtgefolge bei Überschreiten der Reichsgrenze 50 Prozent ihrer Gewehre und Maschinengewehre an das Heer abzugeben hatten während laut Führerbefehl vom 10. August 1944 „mit allen Mitteln dafür zu sorgen“ war, „daß alle Verbände und Einheiten der Ostwehrmacht, die in das Reichsgebiet verlegt sind oder noch verlegt werden, unverzüglich wieder die Formen militärischer Ordnung annehmen, wie sie das deutsche Volk von seiner Wehrmacht erwartet“ Hierzu wurde befohlen, diese Einheiten sofort auf Truppenübungsplätze im östlichen Grenzbereich zu verlegen und dort neu zu ordnen, was vielfach gar nicht möglich war. Dieser Befehl gibt Aufschluß über das Ausmaß der einsetzenden Auflösungserscheinungen.
Im Westen sah es kaum besser aus. Auch hier erging ein Waffengewinnungsbefehl. Mit der Durchführung wurde der Reichsführer SS (RFSS) beauftragt. Auch hier meldeten Parteigrößen — die Gauleiter Wagner und Simon — Disziplinlosigkeiten zahlreicher Einheiten. Aufzulösende Einheiten wurden ebenfalls auf Truppenübungsplätze verlegt. Ein OKW-Befehl vom 23. September 1944 spricht unmißverständlich von „Auflösungserscheinungen in der Truppe“ „Haltlose Elemente“ werden erwähnt, insbesondere aber „Führer und Unterführer, die der Feigheit schuldig sind, die ihre Pflicht als Truppenführer schwer verletzen, anvertrautes Wehrmachtgut im Stich lassen“, und Soldaten, die ihre Gewehre und andere leichte Waffen liegenlas sen, ablegen oder zerstören. Gerichtsherren und Standgerichtsherren erhielten das Recht, in solchen Fällen Todesurteile unmittelbar zu bestätigen, „wenn die sofortige Vollstreckung der Todesstrafe zur Aufrechterhaltung der Manneszucht und aus Gründen der Abschreckung geboten ist“. Die Partei wurde zur Erfassung versprengter Soldaten im Heimatkriegsgebiet eingesetzt und erhielt damit eine weitere Kontrollbefugnis. Keitel bezeichnete die Arbeit des Wehrmachtstreifendienstes als kriegsentscheidend, aber alle diese Maßnahmen waren genausowenig kriegsentscheidend wie das ebenfalls von der Partei organisierte Aufgebot des Volkssturmes im Herbst 1944. Das vorgesehene Zusammenwirken von Wehrmacht und Volks-sturm, auch im Bereich der Feldwehrmacht, blieb praktisch ohne militärische Auswirkung.
Der Erosionsprozeß im Heer war nicht mehr zu stoppen. Die Zahlen der Fahnenflüchtigen und Wehrkraftzersetzungsfälle schnellten hoch. Von letzteren kamen zwischen 30 000 und 40 000 vor die Feldkriegsgerichte. Die Dunkelziffer muß Legion gewesen sein. Die Progression lag schon 1943 bei 20 Prozent zwischen dem zweiten und vierten Quartal Dagegen half auch der massierte Einsatz von NSFO nicht, wie Hitler ihn mit einem zusammengefaßten Auftreten von 200 dieser Optimismusverbreiter in den Wehrkreisen XII und V Anfang September 1944 befahl Weder neue Auffangorganisationen im Osten, wo Wehrmachtstreifengruppen, Feldgendarmerie, SS-Einsatzkommandos und Offiziere der Kriegsakademie gemeinsam Defaitismus und Auflösungstendenzen bremsen sollten noch der Aufruf, alle Ostpreußen aus Stäben und rückwärtigen Dienststellen abzugeben für die Verteidigung ihrer Heimat noch der Einsatz von Hitlerjugend für militärische Aufgaben oder die Zuweisung von Luftwaffenhelfern des Jahrgangs 1928 zur Luftwaffe lassen sich als sinnvolle Entscheidungen jenseits bloßer Weitermachen-Überlegungen werten.
Die . Planung 1 im Angesicht der Katastrophe blieb bis in die letzten Tage in Berlin aktiv. So teilte der Generalinspekteur der Panzertruppen in einer Entscheidung zum Führervortrag vom 22. April 1945 dem Wehrmachtführungsstab, dem Generalstab des Heeres sowie anderen hohen Stäben mit, welche Panzer im Berliner Raum noch zur Verfügung standen. Von 15 einsatzfähigen Panzern zweier Kompanien des Pz-Regiments 2 ist die Rede, von ächt Sturmgeschützen, aber auch von „sechs weiteren noch nicht fertiggestellten Panthern, die den Kompanien sofort zugeteilt werden“. Thomale, der Chef des Stabes, hatte alles daranzusetzen, die 7. Pz-Division „in kürzester Zeit aufzufrischen, da ihr baldiger Einsatz von entscheidender Bedeutung“ sei. Der Einsatz von drei oder vier Panzern wurde also nunmehr zum Gegenstand von Führer-vorträgen Mehr hatte die Industrie im Berliner Raum nicht zu bieten. Lapidar hieß es im Vortrag des Generalinspekteurs vom 20. April 1945: „Bei Firma Daimler-Benz, Berlin-Marienfelde, fallen an: voraussichtlich bis 21. April 6 Panzer V.“
Vor dem Hintergrund all dieser Signale der Ohnmacht müssen die Drohbefehle und Durchhalteweisungen höchster militärischer Befehlshaber auf ihren Sinngehalt befragt werden. Feldmarschall Kesselring, OB-West, gab am 21. März 1945 bekannt, gegen die Sippe eines zum Tode verurteilten Hauptmanns sei die Sippenhaftung wirksam geworden „Es soll eine Warnung für alle sein. Wer nicht in Ehren lebt, stirbt in Schande.“ Sippenhaft hatte das OKW bereits im November 1944 eingeführt. Hitler ordnete darüber hinaus im März 1945 Sippenhaftung gegen Angehörige von Soldaten an. die unverwundet in Gefangenschaft gerieten oder nachweisbar nicht bis zum äußersten gekämpft hatten — bei Kriegsende ein sicherlich Hunderttausende, wenn nicht Millionen zählender Anteil der Bevölkerung.
Rundstedt und Model setzten am 6. März 1945 einen OKH-Befehl um und ordneten an, ab 15. bzw. 17. März 1945 alle, die „noch abseits ihrer Einheit auf Straßen, in Ortschaften, in Trossen oder Ziviltrecks, auf Verbandsplätzen, ohne verwundet zu sein, grundlos angetroffen werden und angeben, noch versprengt zu sein und ihre Einheit zu suchen, standrechtlich abzuurteilen und zu erschießen“ Jodl hatte schon am 16. September 1944 einen Hitler-Befehl unterzeichnet, der fanatische Kampfführung verlangte: Jeder Häuserblock, jedes deutsche Dorf müsse zur Festung werden, „an der sich der Feind entweder verblutet oder die ihre Besatzung im Kampf Mann gegen Mann unter sich begräbt . . . Jeder, der seine Aufgabe nicht unter vollem Einsatz seines Lebens löse, sei zu beseitigen.“
Der Zivilbevölkerung war ein gleiches Schicksal zugedacht. Ein vom Chef des Generalstabes der 19. Armee, Oberst Brandstädter, bekanntgegebener Befehl des RFSS über Verhalten der Zivilbevölkerung im Westen ordnete an: „Aus einem Haus, aus dem eine weiße Fahne erscheint, sind alle männlichen Personen zu erschießen. Es darf bei diesen Maßnahmen keinen Augenblick gezögert werden.“
SS-General Hoffmann teilte dazu mit, als verantwortliche männliche Einwohner hätten solche vom 14. Lebensjahr an aufwärts zu gelten.
Derartige Gedanken sind auch in einem Schreiben des OB der 5. Panzer-Armee, General der Panzer-truppen von Manteuffel, vom 19. März 1945 „An alle Gauleiter“ enthalten: „Wer diesem wilden Quartiermachen und Betteln um Verpflegung Vorschub leistet oder gar unterstützt, wird je nach Schwere des Falles mit strengster Strafe bis zur Todesstrafe durch besondere Standgerichte bestraft . . . Die Dienststellen der Partei haben Soldaten, die derartige Ansuchen stellen, sowie diejenigen Angehörigen der Wehrmacht usw., die ohne Aufsicht und Beschäftigung sind, dem nächsten militärischen Vorgesetzten im Range eines Offiziers zuzuführen.“
Gute „Gegenwirkung bei Soldaten und Bevölkerung“ versprach sich General von Hengl, Chef NSFO-Stab OKH, auf einem Lehrgang für 800 Offiziere am selben 19. März durch die von der NS-Führung verbreitete Pressenotiz, daß Roosevelt beabsichtige, „den Russen deutsche Kriegsgefangene als Arbeitssklaven zur Verfügung zu stellen“. Diese Lüge hielt er für ein probates Mittel — gegen eine Bevölkerung, die nach Hengls eigener Erkenntnis durch den Luftterror zermürbt sei und den Endkampf im eigenen Dorf nicht mehr wolle. Gerade dies aber beabsichtigte das OKW. In einer Nachricht vom 27. März 1945 an das Armeeoberkommando (AOK) 19 gab das OKW bekannt: „Reichsführer SS wird als die zur Wahrnehmung der Exekutive im Inneren berufene oberste Dienststelle gebeten, im unmittelbaren Einvernehmen mit dem Leiter der Parteikanzlei die polizeilichen Maßnahmen zu treffen, die die versagenden Teile der Bevölkerung am Zeigen weißer Tücher und an Sabotage von Befestigungsanlagen hindern.“ „Versagen“ hieß also ein Handeln aufgrund besserer Einsicht. Zehntausende, ja Hunderttausende versagten in dieser Weise — Frauen und Männer, Volkssturmangehörige und Soldaten. Sie sahen sich jetzt dem Endphasenterror von Partei und militärischer Führung ausgeliefert, der nur deshalb nicht zum nationalen traumatischen Erlebnis wurde, weil auch der Vernichtungswahnsinn nicht mehr voll funktionierte. In sehr vielen Fällen hat er aberfunktioniert. Zahlreiche Soldaten wurden in den letzten Wochen und Monaten zum Tode verurteilt. Die Dunkelziffer muß Tausende umfassen. Wersichdei Sinnlosigkeit des Krieges in der Endphase zu entziehen suchte, galt den Verfolgungsorganen als ehrlos. Wo die Bürokratie noch arbeitete, gingen die Akten an das Reichssicherheitshauptamt zwecks Einleitung der Sippenhaftung Viele dieser Soldaten, Fahnenflüchtigen und „Wehrkraftzersetzer" verweigerten sich dem Unrechtsstaat. Ihre „Ehrlosigkeit“ ist bis heute unzureichend diskutiert worden. Auch SS-Truppen waren vom Prozeß der Auflösung ergriffen. So meldete der Befehlshaber der SS-Sicherheitspolizei und des SD beim Höheren und Polizeiführer Südwest Vorkommnisse aus dem Februar/März 1945 bei Heeres-und SS-Einheiten im Kaiserstuhl (2. Gebirgsjägerdivision, SA-Panzerbrigade Feldhermhalle, Waffen-SS-Einheiten), die beträchtliche Kriegsmüdigkeit erkennen ließen: Wegwerfen von Waffen und Uniformen, Plündern u. a. Die Heeresgruppe G forderte dagegen unbedingtes Halten: „Die Durchführung aller Maßnahmen im Osten bedingt Halten der Westfront. Es gibt auch hier kein Paktieren. Der Vernichtungswille der Amerikaner ist derselbe . . . Wer den Kampf aufgibt, ist nicht nur ein Feigling, er verrät unsere Frauen und Kinder.“
Viele Soldaten glaubten nicht mehr an derartige Parolen. Sie wünschten wie die Zivilbevölkerung nichts mehr als ein rasches Ende des Krieges. An der Ostfront bedienten sich Hitler und das OKW noch drastischerer Formulierungen, um der Truppe ein nicht realisierbares Ziel einzuimpfen. Der „Aufruf an die Soldaten an der Ostfront“ vom 15. April 1945, einen Tag vor Beginn des letzten Großangriffs der Roten Armee, spricht bereits drohend aber auch unsicher, von befürchteten Erscheinungen des Versagens in großem Stil: „Das Regirrwoder die Division, die ihre Stellung verlassen, benehmen sich so schimpflich, daß sie sich vor den Frauet und Kindern, die in unseren Städten dem Bombenterror standhalten, werden schämen müssen. Achtet vor allem auf die verräterischen wenigen Offiziere und Soldaten . . . Wer euch Befehle zum Rückzug gibt, ohne daß ihr ihn genau kennt, ist sofortfestzunehmen und nötigenfalls augenblicklich umzulegen.“
Wie der Einbruch des Gegners im Westen, so werde auch der letzte Ansturm Asiens scheitern: „Berlin bleibt deutsch. Wien wird wieder deutsch, und Europa wird niemals russisch.“
Hitler und das OKW lebten nicht in einer Schein-welt. Sie wußten, was die Stunde geschlagen hatte. Der sogenannte Einbruch im Westen war nichts anderes als der Zusammenbruch der organisierten Verteidigung seit der Einschließung der Heeresgruppe B Anfang April und ihrer Übergabe mit den letzten Teilen am 18.des Monats. An diesem Tag erreichten amerikanische Verbände Magdeburg, am nächsten Leipzig. Am 25. April vereinigten sich die Stoßkeile der Roten Armee westlich Berlin. Die 12.deutsche Armee mußte ihren Entsatzversuch abbrechen und trat den Rückzug nach Westen hin in Richtung Elbe an. Im Wirrwarr der letzten Wochen schickte der Wehrmachtführungsstab am 1. April 1945 Offiziere auf eine Frontreise, um ein Bild „über den Stand der Weser-Verteidigung“ zu gewinnen. In Kroatien verkündete der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe E, Generaloberst Löhr, mit Tagesbefehl vom 29. April 1945, das deutsche Volk erringe sich jetzt im Kampf um Berlin unter dem Befehl „unseres“ Führers „das Anrecht auf seine Zukunft. Hier wird sichergestellt, daß unsere 2000 Jahre alte Kultur am Leben bleibt.“
Wie diese Sicherstellung gedacht war, beweist der „Verbrannte Erde“ -Befehl Hitlers vom 19. März 1945, der die Zerstörung aller Verkehrs-, Nachrichten-, Industrie-und Versorgungsanlagen sowie aller Sachwerte innerhalb des Reichsgebietes durch die Wehrmacht, die Gauleiter und Reichsverteidi-gungskommissare vorsah, die der Feind für die Fortsetzung des Kampfes nützen könne. Speer bezeichnete dieses Vorhaben in seinem Schreiben an Hitler vom 29. März mit Recht als „Zerstörung der Grundlagen unseres Volkslebens“ Er bat Hit-1er, „nicht selbst am Volk diesen Schritt der Zerstörung zu vollziehen“, betonte aber zugleich, es sei „unsere“ Pflicht, alle Anstrengungen zu machen, um den Widerstand „auf das äußerste zu steigern“. Hitler hatte bekanntlich schon Ende Januar 1942 bei seinen Tischgesprächen ausgeführt, wenn das deutsche Volk nicht bereit sei, für seine Selbsterhaltung zu kämpfen, dann solle es verschwinden. Der „Verbrannte Erde“ -Befehl, auch als „Nero-Befehl“ bezeichnet, entsprach diesem Denken in biologischen Kategorien. Von der Alternative des Alles oder Nichts war das Nichts geblieben. Für Hitler hatte sich das deutsche Volk als das schwächere erwiesen. 1918 waren nach seiner Auffassung Marxisten und Juden und eine versagende Justiz für die Niederlage verantwortlich gewesen — jetzt war es das ganze Volk, aus dem er sich — der Führer und Oberste Befehlshaber — mit seinem Selbstmord hinausschlich.
Unendlich viele Einrichtungen und Sachwerte sind noch in den letzten Wochen des Krieges zerstört worden. Pioniere sprengten in der damaligen Situation strategisch — wenn davon überhaupt noch gesprochen werden konnte — völlig bedeutungslose Anlagen, Brücken, Kanäle usw. Keitel ordnete am 4. April mit einem zusätzlichen Befehl noch die Verpflichtung der Wehrmacht an, die in die Verantwortlichkeit des zivilen Bereichs fallenden Zerstörungsmaßnahmen mit allen verfügbaren materiellen Hilfen zu unterstützen Angesichts dieser Einstellung der politischen und militärischen Führung nehmen sich die Warnungen vor den Absichten der Gegner gespenstisch aus. Die Anti-Hitler-Koalition hatte seit der Konferenz von Casablanca im Januar 1943 die Forderung nach unconditional surrender zur Grundlage ihrer Politik und Kriegführung gegen Deutschland gemacht. Damit war klargestellt, daß keine Zwischenlösungen infrage kamen. Seit 1942/43 hieß dies für Hitler und seine militärischen Berater, es werde kein Weg an der Niederlage vorbeiführen. Kriegsverlängerung konnte weder Positionsverbesserungen noch einen günstigeren Frieden bescheren — im Gegenteil.
Die Situation in den Ostprovinzen des Reichs bei Kriegsende war nicht unvorhersehbar oder schicksalhaft, sondern von der Führung zu verantworten. „Tragisch“ war sie vor allem für die Bevölkerung. Das Ostheer hat wohl kaum noch, wie Hillgruber unterstellt, „mit seinem verzweifelten Abwehrkampf um die Bewahrung der Eigenständig-keit der Großmachtstellung des Deutschen Reiches“ gekämpft. Objektiv wurden Chancen für eine halbwegs gesicherte Zukunft in wesentlich bescheidenerem Rahmen durch die Fortsetzung des Krieges reduziert — auch die Leiden der Bevölkerung eher vergrößert. Auf Nemmersdorf folgte die weit größere Katastrophe von Dresden, die allein der Politik des Weitermachens um buchstäblich jeden Preis zugeschrieben werden muß.
Die unconditional surrender-Forderung war psychologisch kein Gewinn für die Alliierten; sie hat die Chancen der deutschen Opposition beeinträchtigt, aber sie war aufgrund der Erfahrungen von 1918 bis 1939 verständlich. Diese Forderung hätte zu einem Klärungsprozeß in Deutschland führen können und zur nüchternen Lageeinschätzung. Dies allerdings hätte eine andere militärische Führung erfordert — eine Führung, die das Schicksal der Nation über die Nibelungentreue zum Verderber derselben zu stellen bereit gewesen wäre. Die späte Einsicht einzelner Generäle, die in der Endphase Verhandlungen mit dem Gegner im Westen und Süden empfahlen oder einleiteten, hat den Gesamtablauf der Ereignisse nur noch unwesentlich bestimmen können.
Gibt es zureichende Erklärungen für das Verhalten der militärischen Spitze im OKW und in den Führungsstäben der Wehrmachtteile, bei Heeresgruppen und Armeen, aber auch für die Durchhalte-mentalität vieler Soldaten?
Mir erscheint fraglich, ob Analysen der Ursachen des Nationalsozialismus, der Konstitution der deutschen Gesellschaft mit ihrem demokratiefremden Mittelstand, seiner Gewöhnung an politische Wirkungslosigkeit und seiner Bereitschaft zur Realitätsverdrängung nach 1918 viel für das Verständnis der Haltung der deutschen Führungsschicht 1944/45 hergeben. Für die im Nationalsozialismus eine Vertretung eigener sozialer Motivationen erhoffenden Gesellschaftsschichten — Mittelstand. Bauern u. a. — war schon vor Kriegsbeginn deutlich, daß ihre Erwartungen nicht erfüllt worden waren Führenden Militärs hätte klarwerden müssen, daß das Rezept der antipluralistischen Volks-und Wehrgemeinschaft den für den Krieg organisierten westlichen Demokratien nicht überlegen war.
Blieb von allen NS-Visionen am Ende nichts als der inzwischen stark beschädigte Führer-Mythos? Für viele kleine Leute, den Mann auf der Straße, viele Soldaten war er derjenige, der die Wunderwaffenin Reserve hielt. Darüber hinaus stand dieser Mythos für das, was der Nationalsozialismus immer auch schon repräsentiert hatte: Kraftentfaltung. Kampfermentalität, Glaube an das Unmögliche. Haß gegen verteufelte Feinde. Diesem überwiegend inhaltsleeren und negativen „Werte" -Katalog entsprachen zahlreiche Endphasen-Verlautbarungen führender Militärs. Konnte nicht doch am Ende das „Wunder“ geschehen? Am 12. April 1945 klammerte sich selbst Hitler an diesen Gedanken: Roosevelt war gestorben. „Hier haben wir das große Wunder, das ich immer vorhergesagt habe!“, soll er nach Speer ausgerufen haben
Diese Utopie entschwand wie die Utopie seines Konzepts für den Osten Europas. Die größte und blutigste Kraftentfaltung in der deutschen Geschichte endete mit dem Verlust der Fähigkeit, einen Weg in die Zukunft offenzuhalten. Bei der Kapitulation stand die Nation vor dem Nichts. War an dieser Entwicklung nicht auch das Bewußtsein der Verantwortung für die Teilhabe an den Verbrechen des Regimes beteiligt? War es nicht ratsam, in der Deckung des Mannes zu bleiben, der so lange die Energien der Nation gebündelt hatte und für alles die letzte Verantwortung trug? Daß er sieb davonstahl, als ohnehin keine Entscheidungen mehr zu treffen waren, enthob offenbar die Epigonen der Notwendigkeit, für etwas Neues einzustehen. Der 20. Juli 1944 hat seine Schatten auf dieses Endszenarium geworfen. Mit dem Scheitern des Umsturzversuches versiegte die Kraft zur Opposition. Seit 1938 hatten sich Widerstandsmotivationen vornehmlich aus der Sorge heraus entwickelt. Hitler gefährde mit seiner Politik die machtpolitische Stellung des Reiches. Seit dieses befürchtete Ergebnis offenkundig und der viel zu späte Versuch einer politischen Lösung mißlungen war, stand die Wehrmachtführung vor dem Scherbenhaufen ihrer Politik seit 1933, mit der sie ihren Platz im NS-Staat zu festigen gesucht hatte. Immer wieder hatte sie Hitler ihre Loyalität bewiesen auf dem Weg von der Teilidentität der Ziele bis zur Teil-Partnerschaft im Verbrechen. Darum mußte sie die Opposition verteufeln und sah jetzt keine andere Möglichkeit, als mit Hitler unterzugehen. Politisches und strategisches Kalkül hatte sie zu den Akten gelegt und die Verantwortung gegenüber der eigenen Nation mit apokalyptischen Propagandavisionen zugedeckt.
Manfred Messerschmidt, Dr. phil., geb. 1926; Historiker und Jurist; von 1970 bis 1988 Leitender Historiker am Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Freiburg. Veröffentlichungen u. a.: Die Wehrmacht im NS-Staat. Zeit der Indoktrination, Hamburg 1969; Militär und Politik in der Bismarckzeit und im Wilhelminischen Deutschland, Darmstadt 1975; Handbuch zur deutschen Militärgeschichte, Teil IV, Bd. 1: Die politische Geschichte der preußisch-deutschen Armee. München 1975; Bd. 2: Strukturen und Organisation: Die preußische Armee, München 1976; Außenpolitik und Kriegsvorbereitung, in: W. Deist /M. Messerschmidt /H. -E. Volkmann /W. Wette (Bearb.), Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 1, Stuttgart 1979; (mit Fritz Wüllner) Die Wehrmachtsjustiz im Dienste des Nationalsozialismus, Baden-Baden 1987.
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