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Von der Wohlstandsgesellschaft zur Risikogesellschaft Die gesellschaftliche Bewertung industriewirtschaftlicher Risiken | APuZ 36/1989 | bpb.de

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APuZ 36/1989 Artikel 1 Risikogesellschaft Überlebensfragen, Sozialstruktur und ökologische Aufklärung Risikogesellschaft als Grenzerfahrung der Moderne Für eine post-moderne Kultur Von der Wohlstandsgesellschaft zur Risikogesellschaft Die gesellschaftliche Bewertung industriewirtschaftlicher Risiken Politische Bildung in der Risikogesellschaft Ein politologischer und fachdidaktischer Problemaufriß

Von der Wohlstandsgesellschaft zur Risikogesellschaft Die gesellschaftliche Bewertung industriewirtschaftlicher Risiken

Klaus Michael Meyer-Abich

/ 33 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Um die Wende zum 20. Jahrhundert schien die Industriegesellschaft es mit der Erfüllung des Sicherheitsbedürfnisses ziemlich weit gebracht zu haben (Rechtsstaat, materieller Wohlstand, Sozialstaat). Nun von der Wohlstandsgesellschaft in die Risikogesellschaft geraten zu sein, ist ein die Öffentlichkeit wie die Wissenschaft zutiefst irritierender Befund. Der Autor zeigt, daß die bisherige Risikodiskussion in eine Aporie gerät, wenn man auf unzulässige Vereinfachungen verzichtet, und entfaltet dazu die Sicherheitsfrage vom Versicherungswesen bis zur Schadenswertanalyse und bis zu der Forderung, nicht nur technische, sondern auch soziale Sicherheit zu gewährleisten. Aus dieser Aporie heraus wird der Diskussion eine neue Richtung gegeben: Wissenschaftler und Ingenieure dürfen sich ihre Arbeit nicht dadurch erleichtern, daß sie die Besserung der Menschheit noch dringlicher machen, als sie es ohnehin schon ist. Sicher können nur diejenigen technischen Entwicklungen sein, die dazu beitragen, daß die gesellschaftlichen Konflikte weniger zerstörerisch ausgetragen werden als bisher, die also jedenfalls auch mit noch so kleiner Wahrscheinlichkeit nicht katastrophenträchtig sind und leichter wieder abgeschafft als eingeführt werden können.

In Sicherheit leben zu wollen, gilt als ein menschliches Grundbedürfnis, dem nur noch das nach Nahrungsmitteln vorgeordnet ist Um die Wende zum 20. Jahrhundert schien die Industriegesellschaft es mit der Erfüllung dieses Bedürfnisses ziemlich weit gebracht zu haben. Im zwischenmenschlichen Bereich sicherte der moderne Rechtsstaat die Bürger gegen Übergriffe der Mitbürger, und vermöge der industriellen Wirtschaft wurde auch die materielle Existenz einer wachsenden Bevölkerung besser denn je zuvor garantiert: Der zunehmende Wohlstand sicherte nicht nur die Existenz der Vermögenden, sondern der aufkommende Sozialstaat gab auch denen eine Existenzmöglichkeit, deren Einkommen nicht durch Eigentum gesichert war.

Mit der rechtlichen und materiellen Sicherheit gingen freilich neu aufkommende Unsicherheiten in anderen Bereichen einher. Zum Beispiel waren die in der Industrie Beschäftigten an ihren Arbeitsplätzen durch Vergiftungen, Explosionen und Arbeitsanfälle gefährdet. Die neuen Probleme der Arbeitssicherheit gaben Anlaß zur Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes von 1869, der Grundlage der späteren Reichsgewerbeordnung. Und in den internationalen Auseinandersetzungen führte die Industrialisierung der Waffentechnik auf dem jeweiligen Stand der Wissenschaft ebenfalls dazu, daß im Kriegsfall die Gefährdung zunahm. Waffentechnische Entwicklungen haben sogar die Wahrscheinlichkeit von Kriegen selbst verändert.

Außer den Gefährdungen der Arbeitssicherheit und der internationalen Sicherheit sind mit der Industrialisierung von Anfang an neue Gefährdungen der Lebensgrundlagen einhergegangen. Ein lebendiges Zeugnis aus den Anfängen ist Wilhelm Raabes Roman „Pfisters Mühle“. Der „gelehrte, scheußliche und wissenschaftliche Geruch zum Besten der Welt und der Industrie“ hat sich mittlerweile zu einer allgemeinen Lebensgefährdung ausgeweitet. Etwa die Hälfte der zu Raabes Zeit in Mitteleuropa heimischen Tier-und Pflanzenarten ist bereits ausgestorben oder vom Aussterben be-droht, und auch der Mensch ist durch die zunehmende Vergiftung der Lebensgrundlagen an seine eigene Naturzugehörigkeit erinnert worden. Die Industriegesellschaft ist dadurch zur „Risikogesellschaft“ geworden

Sollte die Wirtschaftstätigkeit noch bis weit in die Nachkriegszeit hinein in erster Linie Wohlstand schaffen, so können mittlerweile auch durch Aufgaben der Risikoverminderung Betriebseinkommen und Arbeitsplätze gesichert werden. Der Preis eines Atomkraftwerks z. B. hängt wesentlich davon ab, in welchem Umfang sicherheitstechnische Maßnahmen getroffen worden sind, um zu verhüten, daß aus Störfällen Unfälle werden. Fast überall in der Wirtschaft ist der Umweltschutz zu einem spürbaren Kostenfaktor und damit zu einem Teil der produzierten Güter geworden. Dieser Aufwand reicht freilich bei weitem nicht aus, um die Lebensgrundlagen wirklich zu schützen und die Öffentlichkeit über ihren neuen Status als Risikogesellschaft zu beruhigen.

Risiken nenne ich im Folgenden diejenigen Gefahren, die trotz der getroffenen Sicherheitsvorkehrungen noch bestehen, d. h. mit der Herstellung, mit der Verteilung und mit dem Konsum eines Gutes sowie mit seinem Verbleib als Abfall verbunden sind. In der öffentlichen Diskussion wird dieser verbleibende Rest gelegentlich durch die attributive Bestimmung von Risiken als „Restrisiken“ zum Ausdruck gebracht. Zu der damit intendierten Beruhigung besteht jedoch generell kein Anlaß.

Von der Wohlstandsgesellschaft in die Risikogesellschaft geraten zu sein, obwohl doch gerade die Industriegesellschaft mehr Sicherheit denn je verheißen hatte, ist ein die Öffentlichkeit noch immer zutiefst irritierender Befund. Auch die Wissenschaft hat lange gebraucht — am längsten die Sozialwissenschaft —, um einzusehen, daß die Risiken. die aus dem gesellschaftlichen Umgang mit der Natur entstehen, gerade in das , Niemandsland'der herkömmlichen Dichotomie von Natur-und Sozial-wissenschaften fallen. Die einen sehen nur die Natur und nicht die Bedürfnisse, die gesellschaftlichen Ursachen der Umweltzerstörung; die anderen nur die Bedürfnisse in ihrem gesellschaftlichen Zusam-menhang, nicht aber als gesellschaftliche Wirklichkeit von Natur. Insoweit selbst die Umweltbewegung der Zwei-Reiche-Lehre von Natur und Gesellschaft teilweise aufgesessen ist, trifft der Naturalismus-Vorwurf ebenso zu wie die umgekehrte Feststellung, daß die Sozialwissenschaftler sich in Umweltfragen allenfalls mit den Konflikten, nicht aber mit den Gegenständen der Konflikte beschäftigt haben Die Wissenschaft ist also dem öffentlichen Bewußtsein in der Beurteilung von Risiken nicht sonderlich weit voraus.

Es wäre gewiß zu früh, bereits eine Gesamtbewertung versuchen zu wollen, inwieweit die Industriegesellschaft tatsächlich mehr Sicherheit bietet, als es zuvor gegeben hat. Zeit wird es jedoch, so meine ich, nicht nur immer weiter darüber zu streiten oder zu rätseln, ob diese oder jene Technik „sicher“ sei, ohne in einen Diskurs darüber einzutreten, was dabei überhaupt unter Sicherheit verstanden werden soll. Von der Frage, ob etwas eine bestimmte Eigenschaft habe, zu der Überlegung überzugehen, was denn diese Eigenschaft sei und woran man also erkennen könne, ob etwas sie hat, ist seit Platon ein in der Philosophie immer wieder geübter Schritt. In diesem Sinn wird es Zeit, über die Sicherheitsphilosophie der Risikogesellschaft nachzudenken

Was die Risikogesellschaft in Zukunft unter Sicherheit verstehen will, nach welchen Kriterien also diese oderjene Technik als sicher gelten und akzeptabel sein soll, muß sie letztlich selber wissen. Zur Klärung bedarf es eines sicherheitsphilosophischen Diskurses in der Öffentlichkeit, an dem sich die Natur-und Ingenieurwissenschaftler wie die Geistes-und Sozialwissenschaftler, aber auch die Betroffenen und Konsumenten wie die wirtschaftlichen und politischen Akteure beteiligen sollten. Ich trage dazu in diesem Aufsatz einen Einstieg bei, indem ich von den in der bisherigen Diskussion geläufigen Vereinfachungen des Sicherheits-bzw. Risikoverständnisses ausgehe und von dorther die Komplexität der Sicherheitsfrage entfalte. Ich werde zeigen, daß die bisherige Diskussion in eine Aporie gerät, wenn man auf unzulässige Vereinfachungen verzichtet, und aus dieser Aporie heraus der Sicherheitsfrage eine neue Richtung geben.

I. Versicherungen

R = 2 i = 1 Pi e;

Den relativ einfachsten und übersichtlichsten Umgang mit Risiken übt die Versicherungswirtschaft: Sicherheit ist Versichertsein. Gemeint ist freilich nicht die Sicherheit, gar nicht zu Schaden kommen zu können, immerhin aber die, im Schadensfall außer der erlittenen Unbill nicht auch noch für die zur Behebung des Schadens entstehenden Kosten aufkommen zu müssen. Dies gelingt bekanntlich dadurch, daß die Kosten der für die Zukunft zu erwartenden Schäden vorab auf alle Versicherten umgelegt werden. So einfach dieser Gedanke ist, kommen darin doch bereits die Begriffsbildungen vor, welche die ganze bisherige Risikodebatte prägen, nämlich — der Schadensumfang e; einer Schadensart i und — die Wahrscheinlichkeit pi, mit der ein Schaden dieser Art und dieses Umfangs zu erwarten ist.

Für die normalerweise zu versichernden Schäden ergibt sich für den Bezugszeitraum das Gesamtrisiko der Versicherung nach der Produktsummenformel: als Erwartungswert des Schadens. Sind z. B. 1 000 Personen gegen drei verschiedene Schäden versichert (n = 3), die voraussichtlich bei 150 (Pi = 15 %), 100 (p 2 = 10%) und 50 (p 3 = 5 %) von ihnen auftreten werden und durchschnittlich je 1 000 DM, 2 000 DM und 3 000 DM kosten dürften, so betragen (für 1 000 Versicherte) e = 1 Mio. DM, e 2 = 2 Mio. DM, e 3 = 3 Mio. DM; der Erwartungswert des Risikos ergibt sich zu R = (0, 15 x 1 Mio.) + (0, 1 x 2 Mio.) + (0. 05 x 3 Mio.) = 0, 5 Mio. DM. Arbeitete die Versicherung umsonst, so hätte jeder Versicherte für die Sicherheit, im Schadensfall nicht weiter finanziell belastet zu werden, DM 500 jährlich zu zahlen. Versicherungen leben davon, daß sie für eine an den jeweiligen Risiken bemessene Prämie die Risiken der Versicherten übernehmen, diesen also „Sicherheit“ verkaufen. Daß nicht alle Unsicherheiten des Lebens versicherungsfähig und dadurch in Sicherheiten zu verwandeln sind, liegt auf der Hand. Insbesondere müssen die Schäden e; in Geldbeträgen auszudrücken sein, und dies gelingt schon bei einer Krankenversicherung nur für die Behandlungskosten, nicht für den erlittenen Schmerz. Gleichwohl entspricht es dem ökonomistischen Denken unserer Zeit, auch gesellschaftliche Risiken wie die durch bestimmte Techniken, Umweltgefährdungen etc. nach dem betriebswirtschaftlichen Vorbild zu bewerten. So entstehen Kosten-Nutzen-Analysen, in denen die Risiken, die mit bestimmten industriewirtschaftlichen Prozessen verbunden sind, zu deren Kosten gerechnet und an ihrem gesellschaftlichen Nutzen gemessen werden

II. Formalisierte Verfahren zur gesellschaftlichen Bewertung von Risiken

R = 2 i = 1 Pi e;

Damit sie für volkswirtschaftliche oder andere öffentliche Entscheidungen überhaupt anwendbar wird, muß die Kosten-Nutzen-Analyse, die zunächst so rational aussieht, auf eine sehr problematische Weise operationalisiert werden. Soll es nämlich nicht bei einem qualitativen Vergleich des aus verschiedenen, nicht addierbaren Elementen des Kostenbilds (z. B. Geldkosten, Menschenleben, Zerstörung gewachsener Strukturen in Natur und Gesellschaft) mit einem gleichermaßen komplexen Nutzenbild (z. B. Geldgewinne, Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, Deckung von Bedürfnissen) bleiben, so muß man versuchen, die verschiedenen Faktoren mit einem einheitlichen Maß zu messen, und das geht noch am ehesten in Geldbeträgen. Dann aber kommt z. B. heraus, daß eine Landschaft denjenigen am meisten wert ist, die aus größter Entfernung und deshalb zu den relativ höchsten Kosten anreisen, nicht aber denen, die sie bewohnen und deren Heimat sie ist, so daß sie sie umsonst genießen. Ein Gut nach der Zahlungsbereitschaft von Interessenten zu bewerten, braucht auch sonst nicht seinen wahren Wert anzuzeigen.

Und wie steht es mit der Bewertung eines Menschenlebens, wenn Todesrisiken in Geldsummen bewertet werden? Soll ein Mensch so viel wert sein wie die unter der jeweiligen Lebenserwartung noch mögliche volkswirtschaftliche Wertschöpfung abzüglich der Subsistenzkosten, so daß alte Leute weniger wert sind als junge, und Rentner oder Sozialhilfeempfänger einen negativen Wert bekommen? Raffiniertere Methoden nehmen die Lohnerhöhungen, die jemand für ein zusätzlich einzugehendes berufliches Risiko fordert, als Maß der Selbsteinschätzung des Werts eines eigenen Lebens ein Oder man stellt fest, wieviel Geld jemand für den Verzehr einer Pille haben möchte, durch die man mit 1% Wahrscheinlichkeit sofort zu Tode kommt Nach diesen Ansätzen liegt der Wert eines Menschenlebens zwischen einigen 100 000 und einigen Mio. US-Dollar, wobei ja wohl noch hinzuzufügen bliebe: in Preisen von . . .

Schließlich müssen künftige Werte nach der Kosten-Nutzen-Analyse auf den Betrag herunterdiskontiert werden, den man heute investieren müßte, um sie daraus für den betreffenden Zeitpunkt erwirtschaften zu können. Dadurch ist uns die Zukunft heute viel weniger wert als die Gegenwart, sicher zu Lasten der Nachwelt. Umgekehrt werden gegenwärtige Zukunftsinvestitionen — z. B. im Umweltschutz — relativ überbewertet. Im betriebswirtschaftlichen oder individuellen Kalkül ist dies wiederum ein viel geringeres Problem, da die Zukunftsverantwortung der Allgemeinheit über ein Menschenleben weit hinausreicht.

Den Ungereimtheiten des buchhalterischen Denkens für die öffentlichen und Zukunftsinteressen der Allgemeinheit versucht die umfassendere Entscheidungsanalyse zu entgehen, die auf Arbeiten von Neumann/Morgenstem (1944) und Savage (1954) beruht Hier werden die Nutzenkomponenten als Nutzwerte (utilities, s. u. S. 7f.) und nicht notwendigerweise monetär festgelegt. Statt sich über die relativen Nutzwerte der einzelnen Zielkomponenten zu einigen, kann man sich häufig aber gerade so gut gleich auf diese selbst beziehen.

Hinter einen entscheidenden Fortschritt der formalisierten Verfahren sollte die Risikobewertung jedoch auch dann nicht zurückfallen, wenn diese Bewertung nicht mehr auf den erwarteten Nutzen bezogen wird — nämlich hinter den Grundsatz, niemals nur einen. einzigen Weg, sondern immer Alternativen zu bewerten. Sowie überhaupt eine Entscheidung ansteht, gibt es ja immer schon mindestens zwei Möglichkeiten — z. B. die betreffende Technik einzuführen oder beim Bestehenden zu bleiben —, und ich kenne kein Beispiel, in dem eine Entscheidung nicht außerdem dadurch verbessert worden wäre oder hätte verbessert werden können, daß weitere Möglichkeiten einbezogen worden sind oder wären. Der in Ministerialvorlagen gängige Vermerk: „Alternativen: Unterlassen der vorgeschlagenen Maßnahme“ beweist in der Regel, daß über die Sache nicht genügend nachgedacht und wenig Phantasie entwickelt worden ist.

Hinsichtlich des Kostenvergleichs verschiedener Alternativen, mit denen dergleiche Nutzen zu erzielen ist, bleibt die Kosten-Nutzen-Analyse insoweit anwendbar und sinnvoll, wie die Kostenbilder vergleichbar sind. Daß sich ein die Kosten übersteigender Nutzen ergibt, ist demgegenüber kein Kriterium der Akzeptabilität, denn kein wirtschaftlicher Nutzen kann es rechtfertigen, um seinetwillen das Leben und die Gesundheit von Mitbürgern zu gefährden

III. Die normative Kraft des Faktischen

Nutz-oder Grenznutzwertfunktion hat danach etwa folgende Gestalt:

Im Gegensatz zu den formalisiert konstruktiven Entscheidungsverfahren stehen Bewertungen, die sich an der bisherigen Erfahrung als dem bereits Bewährten orientieren und die Kontinuität anstreben, es weiter so zu machen wie bisher. Dabei wird das in der Vergangenheit Akzeptierte zum Maß des in Zukunft Akzeptablen. Man schnürt den Stiefel sozusagen auch dort weiter hinan, wo gar keine Haken mehr sind („bootstrapping“) In ihrer anspruchlosesten Form orientieren sich Weiter-so-BeWertungen an Risikotabellen der Art, daß gleich große Risiken oder Verringerungen der Lebenserwartung durch verschiedene Aktivitäten zusammengestellt werden. So erfährt man z. B., daß — 10 Meilen Rad fahren (im Autoverkehr)

— 150 Meilen Auto fahren — 1 000 Meilen Düsenflugzeug fliegen (zivil)

— 1, 4 Zigaretten rauchen — 0, 5 Liter Wein trinken — 2 Tage in New York leben — 5 Jahre am Zaun eines Atomkraftwerks leben (im „Normalbetrieb“, versteht sich) mit dem gleichen Todesrisiko von 10-6 verbunden sind und daß die Lebenserwartung durch die , Gefahr“, aus folgenden Gründen vorzeitig zu Tode zu kommen, gegebenenfalls um die angegebene Zahl von Tagen oder Minuten vermindert wird — Unverheiratetsein (männlich)

3 500 Tage (weiblich) 1 600 Tage — Zigaretten rauchen (männlich) 2 250 Tage (weiblich)

800 Tage — arm sein 700 Tage — Soldat sein im Vietnamkrieg 400 Tage — Selbstmord 95Tage — Ertrinken 41Tage — Ersticken 13Ta — NatürlicheRadioaktivität 8Ta — Reaktorunfälle 30 Minuten — Start in einem Verkehrsflugzeug 16 Minuten

Dabei gelten einige Risiken nur für bestimmte Personengruppen — z. B. Raucher oder Minuten

Dabei gelten einige Risiken nur für bestimmte Personengruppen — z. B. Raucher oder Junggesellen —, andere — z. B.des Ertrinkens — für die Bevölkerung insgesamt. Wer nun aber folgert, Junggeselle zu bleiben, sei heute fast 100 mal so gefährlich wie zu baden oder mit einem Schiff zu fahren etc., und die Gefahr des Ertrinkens wiederum sei, soweit die Zahlen stimmen, 2 000 mal so groß wie die eines Reaktorunfalls, kann mit diesen Relationen praktisch gleichwohl nicht viel anfangen, denn man entscheidet sich in der Regel nicht zwischen dem Beginn einer Lebensgemeinschaft und dem Start in einem Verkehrsflugzeug 15). Richtig ist aber, daß größere Gefahren individuell wie für die Allgemeinheit in der Regel mehr Aufmerksamkeit verdienen als kleinere, und daß es überhaupt sinnvoll ist, Risiken zu quantifizieren.

Für öffentliche Investitionsentscheidungen — auch indirekter Art durch Sicherheitsanforderungen -ist außerdem von Belang, ob zur Verhütung von tödlichen Unfällen in einigen Bereichen unverhältnismäßig viel weniger aufgewandt wird als in anderen, z. B. im Verkehr weniger als in der Energie-technik. Allerdings ergibt das Kriterium der Gleichverteilung der Sicherheitsausgaben über alle Risiken (gleiche Grenzkosten zur Verminderung gleicher Gefahren) noch keine Gleichverteilung für die Bevölkerung 16); dieses Kriterium ist also jedenfalls nur einer von mehreren Gesichtspunkten, die es zu berücksichtigen gilt. Ein anspruchsvollerer Ansatz ist es, aus den durch die bisherige Akzeptanz von Risiken offenbarten Präferenzen (revealed preferences) darauf zu schließen, daß die Allgemeinheit das darin angezeigte Risikoniveau akzeptiert und somit auch weitere Risiken akzeptieren sollte, welche gleichermaßen in diesem Bereich liegen. Welche Risiken zu akzeptieren sind, wird so zu einer Frage des marktwirtschaftlich konsistenten Verhaltens, wobei das jeweils akzeptierte Niveau an den Risiken vergleichbarer Techniken zu bemessen ist. Jedoch kann aus dem Marktverhalten der Konsumenten -weder generell auf die Akzeptanz der mit den heutigen Produkten verbundenen Risiken geschlossen werden, weil diese in der Regel gar nicht bekannt sind (quantitative Risikotabellen sind relativ neu und umfassen nur die wenigsten Produkte und Lebensvollzüge), -noch auf die Akzeptabilität dieser Risiken unter heutigen Wertsetzungen, denn zwischen Akzeptanz und Akzeptabilität können große Inkonsistenzen liegen, -noch auf die Akzeptabilität der Risiken unter künftigen Wertsetzungen.

Schon für die Individuen dürfen die durch das bisherige Marktverhalten . offenbarten Präferenzen* keine normative Kraft gegenüber der Einsicht bekommen, sich unvorsichtigerweise aufzu hohe Risiken eingelassen zu haben. Vor allem aber folgt aus individuellen Verhaltenskriterien noch gar nichts über die Akzeptabilität von Risiken für die Zukunft.

C. Starr glaubte, für das individuelle Verhalten immerhin zeigen zu können, daß höhere Risiken für einen höheren Nutzen akzeptiert werden und freiwillige Risiken eher als unfreiwillige. Diese Hypothese hat sich jedoch nicht bestätigen lassen

Letztlich bleiben von dem Ansatz der offenbarten Präferenzen, außer nicht sonderlich aussagekräftigen Feststellungen der marktwirtschaftlichen Verhaltenskonsistenz, eigentlich nur zahlreiche Fehlschlüsse übrig. Als ein neueres Beispiel gab es jüngst die Forderung (sogar unter Berufung auf den Kategorischen Imperativ): „Nimm diejenigen Risiken in Kauf, die kleiner/gleich dem Risikomaß sind, auf das du dich durch die Wahl deiner Lebensform schon eingelassen hast!“ Hinzuzufügen bliebe: oder ändere deine Lebensform! Gefolgert wird dann, konsistenterweise dürfe kein Raucher gegen die Atomenergienutzung sein. Das hieße letztlich: Wer irgendwo den eigenen Tod riskiert, muß es überall tun, unabhängig davon, um welcher Ziele willen man sich in Gefahr begibt und welche Alternativen es gibt, um denselben Zweck zu erreichen. Richtig ist nur das Konsistenzprinzip, verschiedene Fälle nach gleichen Regeln zu beurteilen; aber damit ist noch nicht viel gewonnen.

Hinsichtlich der öffentlich zu verantwortenden Entscheidungen könnte man sich von dem Ansatz mehr versprechen, sich für das künftig Akzeptable an den in bisherigen Gesetzen, Vorschriften etc. bereits akzeptierten Risiken (implied preferences) zu orientieren. Auch die bisherigen öffentlichen Entscheidungen sind jedoch nicht dagegen gefeit, überlegt oder unüberlegt Risiken eingegangen zu sein, die später als inakzeptabel beurteilt werden.

Nach alledem bleibt von den Ansätzen, welche das künftig zu Akzeptierende nach dem bisher schon Akzeptierten beurteilen, sowohl für die individuellen wie für die öffentlichen Risiken nicht mehr übrig, als daß die Risikoanalyse quantitativ betrieben werden sollte, soweit dies möglich ist, und daß sie grundsätzlich allen Risiken gelten sollte.

IV. Experten und Expertisen

Abbildung 4

Nach dem Urteil der . Experten* zu entscheiden, ob eine Technik als sicher zu bewerten ist, klingt angesichts der neueren Erfahrungen mit den Risiken der Atomenergienutzung nicht sonderlich attraktiv. Gerade angesichts dieser Erfahrungen gilt es jedoch, zwar aus Fehlern zu lernen und einzugrenzen, wieweit die jeweilige Expertise trägt — ihr, soweit sie trägt, dann aber doch Raum zu geben. Ein poli-tisches Urteil darf nicht nur das der Experten sein, sondern muß über dieses hinausgehen, darf es aber auch nicht außer acht lassen.

Sich auf das Urteil der Experten zu verlassen, ist solange unproblematisch, wie der Gegenstand ihrer Expertise selbst nicht in Frage gestellt wird, solange die Frage also z. B. lautet, was Atomkraftwerke leisten könnten, und nicht, ob sie überhaupt wünschenswert sind. Soweit ihre Tätigkeit nicht existenziell in Frage gestellt ist, wissen Experten in ihrem Gebiet, was ein Arzt, Ingenieur, Chemiker etc. tut oder nicht tut; wie man etwas richtig oder falsch macht; welche Risiken dabei vertretbar sind; wann man sich auf Autoritäten bezieht; wann man einen Fehler zugibt; wann man einen Kollegen fragen muß; welche Vereinfachungen zulässig sind und wann eine Arbeit abgeschlossen ist Dies alles zu wissen ist auch dann eine Qualität, wenn weitergehende Fragen von anderen beantwortet werden müssen. Diese beginnen bereits in der Sicherheitstechnik, der das Interesse der Experten in der Regel nicht vorrangig gilt und die auch unter Karrieregesichtspunkten niemals die erste Wahl ist.

Bedarf es im öffentlichen Interesse umfassenderer, auch politischer Bewertungen, so verkehrt sich die Tugend der Experten, ihr Sachgebiet zu kennen und es zu ihrer Lebensaufgabe gemacht zu haben, jedoch leicht in die Untugend, die Lebensentscheidung mit derselben Expertise rechtfertigen zu wollen. welche jene voraussetzt. Wer sich für eine bestimmte Technik oder Medizin einsetzt, hat immer schon eine . offenbare Präferenz'für die Annahme, damit auch auf dem rechten Weg zu sein und zu Recht nicht die denkbaren Alternativen zu verfolgen. Hinzu kommen ständische Gemeinsamkeiten in bestimmten Werthaltungen, die dann in der Regel auch einen entsprechend orientierten Nachwuchs prägen; ferner Loyalität gegenüber Kollegen und Mißtrauen gegen die Einmischungen von Laien, gegen unzulässige Verallgemeinerungen ihrer Expertise und die politisch-wirtschaftliche Orientierung an denen, von denen ihre materielle Existenz abhängt.

Gleichwohl können Experten die Fragen, auf die sie sich verstehen, besser beantworten als jeder andere. In einem gesellschaftlich kontroversen Umfeld gilt es also, der Expertise der Experten gerade so weit Raum zu geben, wie sie reicht. Dazu halte ich es nach den Erfahrungen der Energiedebatte für die beste Lösung; die jeweiligen Experten mit den in ihr Gebiet hineinreichenden Kompetenzen so zu umgeben, daß sich ein innerer Kreis von betroffenen Experten'(z. B. Technikern) und ein äußerer Kreis von (existenziell) . nicht betroffenen Experten'(z. B. Physikern und anderen Naturwissenschaftlern) ergibt.

Die nicht betroffenen Experten wiederum können sich von ihrem Fachwissen her gleichermaßen in die jeweiligen Alternativen einarbeiten (z. B. Atomenergie, Sonnenenergie, Energieeinsparung), so daß sich ein Dialog von betroffenen und vergleichenden Experten ergibt. Dem Kreis der vergleichenden Experten sollten je nach der Tragweite des Problems auch Juristen, Ökonomen und andere Sozialwissenschaftler angehören.

Die Rolle der jeweiligen Experten in der gesellschaftlichen Bewertung von Risiken ist derzeit ungeklärt und kontrovers. Es ist eine wichtige Aufgabe, weder nur auf sie zu hören, noch ihnen gar nicht mehr zu vertrauen, sondern ihrer Expertise als einem notwendigen Teilbetrag zur Urteilsbildung Raum zu geben.

Zwischenresümee

Nach dem vorangegangenen Überblick über die risikoanalytischen Ansätze, technische Prozesse als mehr oder weniger . sicher'zu bewerten, gibt es hier zwar keine Methode, die auch nur im Entferntesten irgendeine Verbindlichkeit beanspruchen kann. Festzuhalten bleibt aber immerhin, daß technische Prozesse hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Sicherheit vergleichend danach zu bewerten sind, — welche Alternativen (einschließlich des Status quo) es gibt, um denselben Zweck zu erreichen; — welche Kostenbilder, in denen das Risiko eine von mehreren Komponenten ist, den verschiedenen Alternativen entsprechen und ob insbesondere die bisher bestehenden Risiken zu vermindern wären. Generell sollten in der Risikoanalyse außerdem — quantitative Indikatoren gefunden werden, soweit dies möglich ist; — Unverhältnismäßigkeiten im Aufwand zur Ver meidung verschiedener Risiken einer Bewertung zugeführt werden;

— Lernprozesse möglich sein, so daß das in der Vergangenheit Akzeptierte kein Maß des künftig Akzeptablen ist;

— betroffene und vergleichende Experten mitein ander kooperieren.

Die methodisch zunächst verschiedenen Ansätze, formalisiert zu entscheiden, dabei die bereits bestehenden Risiken zu berücksichtigen und dem Sachverstand verschiedener Experten Raum zu geben, schließen sich insoweit nicht aus. Dies ist zwar erheblich mehr, als zur Bewertung industrieller Prozesse hinsichtlich ihrer Sicherheit bisher geschehen ist, jedoch bei weitem noch nicht genug, um die Sicherheit einer Technik beurteilen zu können. Beim jetzigen Stand der Überlegung müßte diejenige Technik als sicher gelten, die im gemeinsamen Urteil betroffener und vergleichender Experten unter allen Alternativen, mit denen ein vorgegebener Zweck erreicht werden kann, mit den (möglichst quantitativ) geringsten Risiken verbunden wäre, sicherheitstechnisch nicht unverhältnismäßig aufwendig ist und gesellschaftlich keine Erhaltungszwänge gegen Lernprozesse mit sich bringt.

Diese Bestimmung von Sicherheit hat die Schwäche, daß einmal unter dem Risiko unverändert der Erwartungswert des Schadens im Sinn der versicherungswirtschaftlichen Produktformel verstanden wird, zum andern der vorzugebende Zweck in der Regel nicht eindeutig ist. Von den hier nötigen Erweiterungen handeln die folgenden Kapitel.

V. Das Problem katastrophaler Schäden und die Wahl der Schadensbewertungsfunktion

Schwierigkeiten mit der Produktformel können sich bereits im Versicherungswesen ergeben, wenn sehr große Schäden mit sehr kleiner Wahrscheinlichkeit eintreten. Für die Explosion der britischen Bohrinsel Piper Alpha im Juli 1988 in der Nordsee muß mit einem Gesamtschaden von einer bis eineinhalb Milliarden US-Dollar gerechnet werden und der Unfall im Atomkraftwerk TMI (Harrisburg 1979) hat knapp eine halbe Milliarde US-Dollar gekostet. Derartige Schadensausmaße zu versichern ist durch Rückversicherung gerade noch möglich, indem also die Versicherung sich ihrerseits dagegen versichert, plötzlich für einen so hohen Schaden aufkommen zu müssen. Noch wesentlich höher können die Schäden bei sehr unwahrscheinlichen Unfällen in Atomkraftwerken sein. Hier hat der Gesetzgeber die Haftpflicht der Betreiber auf 500 Millionen DM begrenzt und alles, was darüber hinausgeht, zu Lasten der Allgemeinheit akzeptiert.

Derart große Schäden sind jedoch nicht nur wegen der an staatliche Etats heranreichenden Reparaturkosten problematisch, sondern auch deswegen, weil danach unter Umständen gar nichts mehr zu reparieren ist. Zum Beispiel ist die Bundesrepublik ein relativ kleines Land, und es ist nicht undenkbar, daß das Staatsgebiet durch einen sehr großen Unfall einmal endgültig oder auf Jahrzehnte hinaus unbewohnbar wird. Dieser Staat würde dann aufhören zu existieren, auch wenn vielleicht die Hälfte der Bevölkerung den Unfall überleben würde. Ein solcher Unfall ist durch die derzeit existierenden Anlagen einschließlich derer der chemischen und biochemischen Industrie wohl noch nicht möglich, aber die maximalen Schadensausmaße sind durch die technische Entwicklung immer größer geworden, so daß es legitim ist, auch schon einmal den Grenzfall zu betrachten, daß das ganze Land zugrunde geht und die überlebende Bevölkerung jenseits unserer Grenzen Zuflucht suchen muß.

Es gibt also denkbare Schadensausmaße, die mit keiner noch so kleinen Wahrscheinlichkeit riskiert werden dürfen. Die Enquete-Kommission „Zukünftige Kernenergiepolitik“ des Deutschen Bundestags hat deshalb 1980 empfohlen, die Risiko-komponenten Schadensausmaß und Wahrscheinlichkeit getrennt zu bewerten Aus dieser Sicht ist es vernünftig, einen Schaden 1 x e tendenziell höher zu bewerten als 1 000 Schäden ä e/1 000, also auch 1 x 10 000 Tote anders als 10 000 x 1 Verkehrstoten. Ob bereits 300 Tote durch einen Flugzeugabsturz soviel schlimmer sind als 300 einzelne Verkehrstote — wie es dem Grad der öffentlichen Aufmerksamkeit entspricht —, ist eine andere Frage.

Sogar Geldbeträge sind als Gewinne oder Verluste nicht einfach nur sie selber, sondern haben einen von ihrer bloßen Größe abweichenden Nutz-oder Schadenswert. Dies ist ein Thema der Nutzwertanalyse. Ein höherer Beamter z. B., dessen Vermögen den Wert eines halb abbezahlten Häuschens nicht wesentlich übersteigt, kann einen Verlust von 1 000 DM schon mal verschmerzen. Kommt ein zweiter, dritter, vierter Schaden hinzu, wird der Schmerz allmählich größer. Beim einhundertsten Tausender ist er, und somit der „Schadenswert“, bereits ein Mehrfaches des Schmerzes um den ersten Tausender. Der tausendste Tausender schließlich könnte als persönlicher Verlust bereits so nahe an der Existenzgrenze liegen, daß Verzweiflung aufkommt. Viele werden diese Grenze früher erreichen, manche später, je nach den persönlichen Umständen. Entsprechend entwickelt sich der Nutzwert von Gewinnen, nur mit dem umgekehrten Vorzeichen. Die ersten Tausender sind eine Freude und der hundertste ist auch noch sehr schön, aber beim tausendsten wird es vielleicht schon langweilig, und der Grenznutzwert des zehntausendsten mag — abgesehen von dem ästhetischen Vergnügen, damit nun auch die zehnte Million sich runden zu sehen — nur noch bei einem Zehnmarkschein aus dem ersten Tausender hegen. Die beschriebene Diese „Relativitätstheorie des Nutzens“ ist auf die Schadensbewertung in der Risikoanalyse unmittelbar übertragbar. Zunahmen im Schadensausmaß sind umso stärker zu gewichten, je näher es der Existenzgrenze kommt:

Die Schadenswertfunktion zeigt umgekehrt, daß bei einer Verringerung des Schadensausmaßes relativ höhere Einzelrisiken akzeptiert werden, d. h. 100 Reaktoren zu je 10 MWe dürften insgesamt ein höheres Risiko haben als ein Reaktor mit 1 000 MWe. Dabei wäre es ein Schreckbild, durch viele kleine Reaktoren das Energiesystem sozusagen dem Individualverkehrssystem anzunähern. Welche besondere Gestalt die Schadensbewertungsfunktion S(ej), mit der sich das Risiko nun zu R = 2 Pi S(e) ergibt, tatsächlich hat, ist eine ganz offene Frage. Der Vorteil ist zunächst, daß die Produktformel (Multiplikation von Wahrscheinlichkeit und Schadensausmaß) in dieser Form aufrechterhalten werden kann, so daß die beiden Komponenten weiterhin zusammengefaßt werden können.

Wie stark die Risikobewertung von der Wahl der Funktion S abhängt, zeigt sich an den Daten der „Deutsche(n) Risikostudie Kernkraftwerke“ (1979) Je nachdem, ob dafür S = e oder S = e 2 oder S 3 = e 3 oder S 4 = e 4 gewählt wird, ergibt sich für Atomkraftwerke ein Risikoäquivalent von 0. 001 oder 1, 2 oder 5 Tausend oder 38 Millionen Toten pro Jahr für die Bundesrepublik.

Welche dieser verschiedenen Bewertungsfunktionen am ehesten unseren wirtschaftlichen und politischen Umständen entspricht, weiß niemand. Die oben erwähnten Risikovergleiche, wonach Atomkraftwerke neben anderen zivilisatorischen Einrichtungen relativ ungefährlich sind, enthalten die unausgewiesene Annahme S = S. Ich halte S = S, für etwa ebenso unangemessen wie S = S 4 und tendiere zu einer Schadensfunktion zwischen S 2 und S 3, die allerdings näher an S 2 als an S 3 liegt, aber dies ist bestenfalls ein , educated guess’ in einer Frage, die eine pythagoreische Antwort verdiente und letztlich durch eine sicherheitspolitische Bewertung, welche sich dann zu bewähren hätte, entschieden werden müßte.

Die neue Risikostudie 25) der Gesellschaft für Reaktorsicherheit kommt anscheinend zu etwas geringeren Risikowerten als diejenige von 1979. Wieweit die seither gemachten Erfahrungen es rechtfertigen, die Risiken von Atomkraftwerken jetzt geringer einzuschätzen als vor zehn Jahren, bedarf einer kritischen Bewertung der neuen Studie, die bisher noch nicht erfolgt ist. Unabhängig von dem Ausgang dieser Bewertung liegt esjedoch aufder Hand, daß die Willkür in der Wahl der Schadensbewertungsfunktion — wenn sich dasselbe Risiko einmal zu einem Äquivalent von einem Tausendstel Menschenleben, zum anderen zu vielen Millionen Menschenleben ergibt — viel entscheidender ist als jede statistische Verbesserung.

Problematisch ist aber nicht nur die Wahl der Bewertungsfunktion S, sondern bereits das Höchstmaß der Schäden kann sehr verschieden bemessen werden. Das maximale Schadensausmaß von 11 000 Soforttoten für einen Reaktorunfall (z. B. in Biblis B) ergibt sich etwa nur dann, wenn keine außergewöhnlichen Wetterverhältnisse herrschen und wenn auch nur wenige Prozent des radioaktiven Reaktorinventars in die Umweh gelangen. Dies anzunehmen mag vernünftig sein — aber wer könnte ganz ausschließen, daß durch extreme" Wetterverhältnisse oder Böswilligkeit, vielleicht im Zusammenhang mit Kriegsereignissen, der größte Teil des Inventars wie durch eine Ultrapfeffermühle ziemlich gleichmäßig über das ganze Land verteilt wird?

Das maximale Schadensausmaß zu bemessen, würde im Fall der Atomtechnik etwas leichter, wenn „inhärent sichere“ Reaktoren entwickelt wür-den. Dies könnte wiederum in sehr verschiedenen Abstufungen geschehen, z. B. so, daß -der Reaktor nach dem Abschalten jedenfalls nicht durch den Ausfall aktiver Systeme (Umwälzpumpen) kaputt gehen kann, sondern die Kühlung im Naturumlauf funktioniert;

-es außerdem nichts ausmachte, wenn der Natur-umlauf zerstört würde, oder -es nicht einmal schaden würde, wenn eine Bombe oder ein Flugzeug den Kem zerstört und das Inventar in die Umgebung gelangt.

Im Idealfall würde die inhärente Sicherheit soweit gehen wie beim Ersatz der aktiven Sicherung einer Straße-Schiene-Kreuzung (mit Ampeln und Schranken) durch die passive Sicherheit einer Unterführung Daß letztlich auch diese noch ein-stürzen kann, bliebe dann wohl in Kauf zu nehmen. Die Produktformel der Risikobemessung sieht also wesentlich genauer aus, als sie ist. Wenn es von der Wahl der Schadenswertfunktion abhängt, ob Millionen Menschenleben oder nicht eines durch ein technisches System riskiert werden, und — solange das Konzept der passiven Sicherheit ein Idealfall bleibt — von der menschlichen Gutwilligkeit, ferner von der Frage, wo die Schadensobergrenze anzusetzen wäre, wie also die Katastrophenträchtigkeit des Systems zu bemessen ist, besagen die Größen e und S(e) offenbar kaum mehr als der einfache Satz, das System solle nicht besonders gefährlich sein. Ähnlich steht es nun auch mit den Wahrscheinlichkeiten pj.

VI, Die Unbestimmtheit der Schadenswahrscheinlichkeiten

Vergleicht man die direkte Kreuzung eines Schienenstrangs durch eine Autostraße mit der durch eine Unterführung, so erscheint die letztere auch als die technisch elegantere Lösung. Demgegenüber hat man in der Sicherheitstechnik für Atomkraftwerke die passiven Sicherungen bisher eher vernachlässigt und sich nach dem Vorbild der Flugzeugtechnik vor allem darum bemüht, durch Erhöhung der Zuverlässigkeit die Unfallwahrscheinlichkeit zu verringern. Dies ist inzwischen bei den Flugzeugen wie bei den Atomkraftwerken technisch in einem Ausmaß gelungen, das als Ingenieursleistung großen Respekt verdient. Zwar sind großtechnische Systeme wie Atomkraftwerke so komplex, daß sich die jeweiligen Versagenswahrscheinlichkeiten der ungeheuer vielen Komponenten nicht zu einer quantitativ scharfen Aussage über die Zuverlässigkeit des Gesamtsystems verbinden lassen, so daß z. B. die Ergebnisse der Deutschen Risikostudie in den Wahrscheinlichkeitsaussagen um etwa einen Faktor 100 unscharf bleiben. Aber die Aussage, daßz. B. ein Unfall mit 200 Soforttoten bei 25 Anlagen vom Typ Biblis B nur eine Wahrscheinlichkeit zwischen einigen Hunderttausendstel und einigen Zehnmillionsteln habe, ist — soweit sie durch Daten und Schlußfolgerungen berechtigt ist — dennoch von einer bemerkenswerten Schärfe (in der Zuverlässigkeitskontrolle von Großserien werden derart große Sicherheiten nie erreicht). Die techniSchen Zuverlässigkeiten scheinen damit aber beTits so groß geworden zu sein, daß nunmehr ganz andere Probleme in den Vordergrund treten, wie sie von Charles Perrow mit der Unüber-sichtlichkeit komplexer Systeme thematisiert worden sind

Natürlich bleibt es prinzipiell eine interessante Frage, ob Wahrscheinlichkeiten auch sehr großer Unfälle unterhalb einer bestimmten Kleinheitsgrenze zu vernachlässigen sind. Gesetzt etwa den Fall, ein Staat würde seine Existenz mit der Wahrscheinlichkeit 1fr 8 p., a. um einer sehr wünschenswerten technischen Innovation willen aufs Spiel setzen, so könnte man dafürhalten: Staaten leben nach historischer Erfahrung ohnehin höchstens einige hundert oder tausend Jahre, haben also eine Untergangswahrscheinlichkeit > 10-4 p. a., und diese noch um ein Zehntausendstel davon zu erhöhen, ist belanglos, zumal dann, wenn die historische Überlebenswahrscheinlichkeit durch die betreffende Innovation anderweitig zunimmt. Daß Argumentationen dieser Art dennoch zu kurz greifen, so daß keine Wahrscheinlichkeitsschwellen zulässig sind und Risiken auch vom Schadensausmaß her zu beurteilen bleiben, hat K. Shrader-Frechette gegenüber N. Rescher und anderen meines Erachtens überzeugend deutlich gemacht. Ich gehe darauf hier nicht weiter ein, weil ich die Bewertung der inzwischen erreichten technischen Versagenswahrscheinlichkeiten nicht für die sicherheitsphilosophisch entscheidende Frage halte.

Tatsächlich sind auch technische Zuverlässigkeiten immer nur Zeugnisse menschlicher Sorgfalt. Sie haben grundsätzlich die Form, daß die Kompo-nente Kn des Gesamtsystems (z. B. eine unter 10 000) von der Materialprüfung bis zur Fertigung so gewissenhaft und nach den Regeln der Kunst hergestellt worden ist, daß sie nur mit der Wahrscheinlichkeit 10-m . technisch 1 versagt. Eine entsprechende Versagenswahrscheinlichkeit des Gesamtsystems ergibt sich aus der bis zu seiner Über-gabe an den Betreiber kumulierten Sorgfalt in der Herstellung und Verbindung aller Komponenten. Dieselbe Sorgfalt müßte dann aber auch im Betrieb der Anlage aufrechterhalten werden. Dies ist der Grund für die Empfehlung, technische Prozesse, die ein so hohes Maß an Sorgfalt erfordern wie z. B. die Atomenergie, nur von technischen Orden wie einer „nuklearen Priesterschaft“ betreiben zu lassen 30). Diese Konsequenz ist aber von derselben Art wie z. B. die Forderungen: — Aus der Existenz der Atomwaffen ergibt sich, daß keine Kriege mehr geführt we Diese Konsequenz ist aber von derselben Art wie z. B. die Forderungen: — Aus der Existenz der Atomwaffen ergibt sich, daß keine Kriege mehr geführt werden dürfen, oder: — Da nun die pränatale Diagnostik es ermöglicht, unerwünschte Eigenschaften des Kindes bereits in den frühen Embryonalstadien zu erkennen, müssen die Menschen die ethische Reife entwickeln, nicht jeden „Embryo mit kleinen Fehlern“ abzutreiben.

Oder generell: Die Menschen müssen bessere Menschen werden, um neue technische Möglichkeiten nicht zu mißbrauchen.

Die Forderung, daß wir bessere Menschen werden sollten, ist anerkanntermaßen richtig, aber nicht neu, und es fragt sich, mit welchem Recht Erfinder sich ihre Arbeit dadurch erleichtern, daß sie die Besserung der Menschheit noch dringlicher machen, als sie es ohnehin schon ist. Können Erfindungen dadurch gerechtfertigt werden, daß sie einer Menschheit, wie sie noch nicht ist, in einer unproblematischen Weise nützlich sein würden? Ich meine, Erfindungen sollten der Menschheit dienen, so wie sie ist, und menschliche Schwaben nicht zusätzlich auf harte Proben stellen. Beim gegenwärtigen moralischen Bewußtsein ist es aber offenbar eine wirtschaftsethische Überforderung, — daß niemand sich einen Vorteil davon verschafft, bei passender Gelegenheit nukleare Abfälle nicht so zu entsorgen, wie es aus Gründen der gebotenen Sorgfalt eigentlich geschehen sollte (Fall Hanau Ende 1987); — daß Unternehmen von sich aus in einer einmal genehmigten Anlage zusätzliche Sicherheitsinvestitionen vornehmen, wie sie in einer späteren Anlage erfolgt sind (AKW Biblis A vs. B 1987); — daß ein Kraftwerksleiter die Grenze des sicherheitstechnisch Erkannten nicht einmal für sieben Sekunden überschreitet, wenn durch einen vermeintlich guten Einfall ein Millionenverlust vermieden werden kann (Bibbs A 1987).

Ich beschränke mich auf diese Beispiele aus unserem Land, in dem der Stand der technischen Kultur relativ hoch ist, so daß es keinerlei besondere Gründe zum Mißtrauen gegen die Beschäftigten in atomtechnischen Anlagen gibt, und dennoch dergleichen passiert.

Wäre es möglich, die Diskrepanz zwischen den Menschen, wie sie sind, und den Idealanforderungen mißbräuchlicher Technik zu überbrücken? Ich denke schon, aber dies nur durch Maßnahmen der sozialen Sicherheit, die dann wiederum ihren Preis der gesellschaftlichen Kontrolle und der damit einhergehenden Mißbrauchsmöglichkeiten hätten. Die Einbettung von Techniken in eine Gesellschaft, die dafür nicht so reif ist, daß sie jeder Versuchung des Mißbrauchs widerstehen würde, ist das Thema der Sozialverträglichkeitsanalyse 31), die hier nicht mein Thema ist.

Die technischen Versagenswahrscheinlichkeiten also scheinen nach den bisherigen Erfahrungen (auch in Harrisburg und Tschernobyl) jedenfalls so klein geworden zu sein, daß sie mittlerweile von den sozialen Versagenswahrscheinlichkeiten übertroffen werden. Daß diese sich nicht so relativ einfach quantifizieren lassen wie jene, sollte nun nicht zu einem Schluß Anlaß geben, welcher dem des Mannes, der seinen verlorenen Hausschlüssel nur im Schein der Straßenlaterne suchte, analog wäre. Der Mann erklärte, außerhalb des Scheins der Laterne sei der Schlüssel sowieso nicht zu finden, deshalb sei seine einzige Chance-die Suche unter der Laterne. Wenn wir es mit den technischen und sozialen Versagenswahrscheinlichkeiten industrieller Anlagen nicht genauso halten wollen, müssen wir uns auch dort ein Urteil bilden, wo kein technisches Zahlen-ficht erscheint.

Dafür genügt einstweilen die Feststellung, daß beiderlei Versagenswahrscheinlichkeiten p; () + p/s) miteinander auch dann zu hoch sein dürften, um die sehr großen Schadensausmaße z. B. in der Atom-technik in Kauf zu nehmen, wenn die technischen Versagenswahrscheinlichkeiten p; () allein dies gerade noch vertretbar erscheinen ließen. Unfälle technisch sehr kleiner Wahrscheinlichkeiten dürfen schon deshalb nicht unberücksichtigt bleiben, weil diese Wahrscheinlichkeiten nur im Umkreis der ri-sikotechnischen Analyse so klein, insgesamt aberjedenfalls größer und auch dann nicht zu vernachlässigen sind, wenn sehr kleine Wahrscheinlichkeiten gleich Null gesetzt werden dürften. Wie groß die sozialen Versagenswahrscheinlichkeiten p; (s) sind, ist unbekannt und schwerlich sinnvoll zu ermitteln. Angesichts der Tatsache, daß es große Probleme mit atomtechnischen Anlagen bisher nur aus Gründen unsachgemäßer Bedienung (die nach Perrow ihrerseits Gründe in der Unüberschaubarkeit der Systeme hat gegeben hat und nicht wegen technischer Pannen (bzw. Mangel an Sorgfalt im Vorleistungsbereich), ist die Annahme aber wohl nicht von der Hand zu weisen, daß die sozialen Versagenswahrscheinlichkeiten p; (s) um eine Größenordnung über den technischen p, () liegen dürften. Das technische und soziale Atomkraftwerksrisiko in der Bundesrepublik R=£(p; (s) + p, () S (e;") wäre dann jährlich etwa zehnmal so hoch wie das technische Risiko allein, d. h. ein Äquivalent von ca. 50 000 Toten für die Schadensbewertungsfunktion S 3 und von ca. zwölf Toten für die Funktion S 2.

Der Eindruck, daß diese Spannweite prohibitiv klingt, ersetzt nicht die Analyse der Alternativen. Hier ist zunächst zu untersuchen, wieweit es — in der Atomtechnik möglich wäre, doch noch der passiven Sicherheit von Reaktoren näher zu kommen, sozusagen nach dem Vorbild der Bahnunterführung; — Alternativen zur Atomtechnik gibt, um dieselbe Nachfrage nach Energie zu decken, also vor allem andere Möglichkeiten der Stromerzeugung (z. B. die Photovoltaik), und welche Risiken damit verbunden wären.

Darüber hinaus aber sind in den Risikovergleich von Alternativen nicht nur verschiedene Möglichkeiten zur Deckung derselben Nachfrage einzubeziehen, sondern die weitere Frage ist, welcher Bedarf durch diese Nachfrage gedeckt werden soll. Alternativen sind auf diesen Bedarf zu beziehen, nicht nur auf die Nachfrage.

VII. Die Unterscheidung von Nachfrage und Bedarf

Seit der ersten Energiepreiskrise hat es sich z. B. als möglich erwiesen, mehr als die Hälfte der Kraftstoffnachfrage je 100 Autokilometer durch mehr Intelligenz in der technischen Konstruktion zu ersetzen. Die Nachfrage nach Kraftstoff ist also etwas anderes als der Bedarf der Dienstleistung „Kraft für 100 km Fahrt“, und Alternativen sollten auf den Bedarf bezogen sein, nicht auf die jeweiligen Unvollkommenheiten der Technik, welche sich in einerbestimmten Nachfrage spiegeln. Man kann weiter gehen und den Bedarf gedanklich ganz vom Auto lösen, so daß er darin besteht, 100 km in einem bestimmten Maß an Bequemlichkeit, Flexibilität etc. zurücklegen zu wollen. In den Kreis der Alternativen sind dann auch andere Verkehrsmittel einzubeziehen und mit dem Auto auf die mit ihnen verbundenen Risiken zu vergleichen. Und da Verkehrsleistungen in der Regel kein Selbstzweck sind, bliebe schließlich die Frage zu erörtern, welchem Zweck die Fahrt dient — z. B.dem Transport von der Wohnung zum Arbeitsplatz —, und ob derselbe Zweck nicht auch durch weniger Fahrerei zu erreichen wäre, etwa durch die Dezentralisierung von rbeitsplätzen oder durch eine andere Annäherung von Wohnort und Arbeitsort.

Das Verkehrsbeispiel zeigt, wie Alternativen auf sehr verschiedenen Ebenen gesucht werden können durch Verbesserung der bisherigen Fahrzeuge (Beibehaltung des Individualverkehrs), durch neue Verkehrssysteme (Beibehaltung der Verkehrsleistung) und durch Verminderung der Verkehrsanlässe (Beibehaltung des kommunikativen Zwecks bei weniger Verkehr). In fast allen Bereichen der industriegesellschaftlichen Nachfrage nach Wirtschaftsgütern ergibt eine Rückfrage nach dem zugrundeliegenden Bedarf einer Dienstleistung, daß derselbe Zweck besser und weniger lebensgefährlich durch eine veränderte Nachfrage erreicht werden könnte, z. B. — der Nahrungsbedarf nicht durch 102 kg Fleisch (Lebendgewicht) pro Person und Jahr, sondern durch weniger Fleisch und nicht mehr um den Preis der Tierquälerei in der Massentierhaltung; — der Bedarf, in Häusern nicht zu frieren, durch Ersatz von Energie durch intelligentere Technik und nicht mehr um den Preis einer Klimakatastrophe und der übrigen Umweltzerstörung; — Gesundheit durch weniger medizinische Leistungen und gesündere Lebensweisen etc.

Ivan Illich hat vielleicht etwas überpointiert, daß die Medizin uns krank und die Schule uns dumm macht, aber im wesentlichen trifft es zu, daß der Wohlstand der Industriegesellschaft kontraproduktiv geworden ist. So ist heute auch nicht nur die Sicherheit gefährdet, sondern es ist die Sicherheit selbst, die uns gefährdet, nicht nur die militärische. *

Resümee

Eine mögliche Konsequenz aus dem hier dargelegten Gedankengang ist, die Sicherheit einer Technik im Rahmen der durch das Zwischenresümee zusammengefaßten Bedingungen weiterhin an den Risiken, die sich nach der versicherungswirtschaftlichen Produktformel ergeben, bemessen und die Probleme lösen zu wollen, welche der Anwendung dieser Formel entgegenstehen. Das hieße: 1. Es bliebe zu erörtern, welches die richtige Schadensbewertungsfunktion ist. Ein überzeugender Vorschlag dazu sollte sicher mit einem bedeutenden Preis gekrönt werden. 2. Die Schadenswahrscheinlichkeiten müßten nicht nur im Licht der „technisch bedingten 4 Störfälle und Unfälle, sondern auch als gesellschaftlich bedingte Fehlhandlungs-, Mißbrauchs-und Zerstörungs-Wahrscheinlichkeiten bestimmt werden.

Gelänge beides, so wären die gesellschaftlichen Risiken technischer Systeme zu berechnen. Ein Urteil darüber, ob eine Technik in dem Sinn sicher ist, daß sie dann auch eingeführt werden könnte, wäre damit freilich noch nicht gewonnen.

Denkbar ist aber auch, daß die Probleme, auf die wir hier stoßen, wenn wir den bisherigen Weg, Sicherheit gewinnen zu wollen, über unzulässige Vereinfachungen hinausführen, gar nicht die richtigen Probleme sind. Dies könnte bedeuten, daß die Techniken, mit denen sich diese Probleme verbinden, schon deshalb nicht die richtigen Techniken sind.

Ich denke, wir sollten nach den vorangegangenen, ziemlich aporetischen Überlegungen zumindest eine Besinnungspause einlegen und uns fragen: Was tun wir hier eigentlich? Nach Sicherheit haben wir gesucht, und es sah bis vor etlichen Jahrzehnten so aus, daß wir sie in der industriellen Wohlstandsgesellschaft auch finden würden. Das Goldene Zeitalter schien nahegerückt zu sein, wenn nur endlich der Krieg kein Mittel zum Austrag von Konflikten mehr wäre. Wie kamen bloß eigentlich unsere Vorfahren im Mittelalter darauf, daß es Teufel und Drachen in der Welt gäbe? Nun aber sind wir von der Wohlstandsgesellschaft in die Risikogesellschaft geraten und entdecken, daß man die alten Mächte nicht ungestraft für überwunden hält. „Überall kichern Schad-und Giftstoffe und treiben wie die Teufel im Mittelalter ihr Unwesen.“ Es gibt sie also wohl doch noch. Hätten wir die Natur wirklich so weit in die Enge treiben dürfen? Über der Suche nach materieller Sicherheit haben wir möglicherweise vergessen, daß es noch andere Gefahren im Leben gibt als die materielle Armut und Not. Alvin Weinberg kam es als erstem über die Lippen, daß ein Faustischer Pakt die Bedingung für den sicheren Umgang mit der Atomenergie sei ein Pakt mit dem Teufel also. Drängt sich dieser Vergleich schon einem so dezidierten Befürworter der herrschenden technischen Entwicklung auf, so wird es Zeit, das Sicherheitsbedürfnis zu relativieren.

Sicherheit wozu also? Um das Leben nicht zu gefährden, und eben dies ist schon lange nicht mehr der Fall, weder in der zivilen noch in der militärischen Sicherheitstechnik. Gehen wir die Schritte der vorangegangenen Überlegungen im Sinn dieser Umkehr rückwärts, so könnte unter folgenden Gesichtspunkten nach Techniken gesucht werden, die das Leben — das der Menschen und das der Natur insgesamt — nicht gefährden, indem sie ihm dienen: 1. Sichere Techniken ergeben sich nicht als alternative Möglichkeiten, ein vorgegebenes Nachfrage-spektrum zu decken, sondern als weniger zerstörerische Lebens-Mittel des Menschen im Ganzen der Natur.

2. Sicher können nur diejenigen Techniken sein, die dazu beitragen, daß die gesellschaftlichen Konflikte weniger zerstörerisch ausgetragen werden als bisher, die also die Besserung der Menschheit nicht noch dringlicher machen, als sie es ohnehin schon ist. 3. Sicher können nur diejenigen Techniken sein, die auch mit noch so kleiner Wahrscheinlichkeit nicht katastrophenträchtig sind. Dazu gehört, daß sie im Interesse der gesellschaftlichen Flexibilität nicht schwerer, sondern möglichst leichter wieder abgeschafft als eingeführt werden können.

Könnte die Suche nach Sicherheit in dieser Richtung weniger bedrohlich ausschlagen als bisher, oder würden dem Ungeheuer auch hier wieder nur neue Köpfe nachwachsen?

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. H. Maslow, A Theory of Human Motivation, in: The msychological Review, 50 (1943), S. 370-396; M. Grone-meyer. Die Macht der Bedürfnisse. Reflexionen über ein 2nantom, Reinbek 1988.

  2. W. Raabe, Pfisters Mühle, in: ders., Sämtliche Werke, «and XVI, Göttingen, 1970, S. 74.

  3. Vgl. U. Beck. Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt 1986, S. 108.

  4. Vgl. dazu U. Beck, Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit, Frankfurt 1988, S. 62 ff.

  5. Vgl. K. M. Meyer-Abich, Wissenschaft für die Zukunft — Holistisches Denken in ökologischer und gesellschaftlicher Verantwortung, München 1988, S. 72 f. und S. 103 ff.

  6. Von „Sicherheitsphilosophie“ ist in dem unverbindlichen Sinn, in dem es z. B. auch eine Betriebsphilosophie oder eine Philosophie des Regionalismus gibt, in der kemtechnischen Entwicklung seit den fünfziger Jahren die Rede, wo grundsätzlichere Fragen der technischen Auslegung erörtert wurden. Daß es sich hier um eine philosophische Aufgabe im weitergehenden und eigentlichen Sinn handelt, ist zuerst von Reinhard Ueberhorst angemahnt worden: Projektstudie „Konsensorientierte Weiterentwicklung nukleartechnikbezogener Sicherheitsphilosophien“ (unveröffentlichtes Manuskript 1986). Vgl. R. Ueberhorst/R.de Man, Der Stand der internationalen Diskussion über Risiken und Verantwortung — aufgabenorientierte Interpretation, in: M. Eine Schüz (Hrsg.), Risiko und Wagnis. Die Herausforderung der industriellen Welt, Bd. 1, Pfullingen 1989 (im Druck).

  7. Ich halte mich für die folgenden drei Bewertungsformen zunächst an die Klassifikation von B. Fischhoff u. a. in ihrer ebenso umfassenden wie selbstkritischen Darstellung der bis-engen Risikoanalytik: Acceptable risk, Cambridge 1981.

  8. Vgl. R. Holmes, On the Economic Welfare of Victims of Automobile Accidents, in: American Economic Review. 60 (1970), S. 143-152.

  9. Vgl. R. A. Howard. Life and Death Decision Analysis, in: Proceedings of the Second Lawrence Symposium on Systems and Decision Sciences, North Holland/Cal. 1978, S. 271-277.

  10. Vgl. J. von Neumann/O. Morgenstern, Theoryof Games and Economic Behavior, Princeton 1944, 19533; J. Savage, The Foundations of Statistics, New York 1954.

  11. Vgl. K. M. Meyer-Abich, Wie sind Risiken in öffentlicher Verantwortung zu rechtfertigen?, in: Zeitschrift für Rechtspolitik, (1989) (im Druck).

  12. Vgl. B. Fischhoff (Anm. 7), Kap. 5, S. 79-100.

  13. Vgl. R. Wilson, Die Risiken des täglichen Lebens, in: Umschau, 79 (1979) 9, S. 284-286, dort S. 286.

  14. Vgl. B. Fischhoff/P. Slovic/S. Lichtenstein. Weighing the Risks, in: Environment, 21 (1979) 4, S. 17— 20 und 32— 38.

  15. Vgl. K. S. Shrader-Frechette, Risk Analysis and Scientr fic Method - Methodological and Ethical Problems with Avaluation Societal Hazards, Dordrecht 1985.

  16. Vgl. c. Starr, Social Benefit versus Technological Risk, 19; Science, (1969) 165, s-1232-1238.

  17. H. J. Otway/J. J. Cohen, Revealed Preferences: Comments on the Starr Benefit-Risk Relationship (Research Memorandum 75-5), Laxenburg 1975, 17 S.

  18. C F. Gethmann, Ethische Aspekte des Handelns unter 1Sko, in: VGB Kraftwerkstechnik. Mitteilungen der VGB Technischen Vereinigung der Großkraftwerksbetreiber, 67 (1987) 12, S. 1135.

  19. Vgl. B. Fischhoff (Anm. 7), S. 61.

  20. Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 9. /10. Juli 1988.

  21. Vgl. Deutscher Bundestag, Bericht der Enquete-Kommission „Zukünftige Kernenergiepolitik" über den Stand der Arbeit und die Ergebnisse, BT-Drucksache 8/4341, 27. 6. 1980.

  22. Der schöne Ausdruck stammt von P. Jansen (unveröffentlichtes Manuskript 1989).

  23. Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke, Bonn 1979.

  24. Vgl. Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) m. b. H.. Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke Phase B. Eine zusammenfassende Darstellung, GRS-72 (Köln, Juni 1989).

  25. kh verdanke dieses Beispiel H. W. Gabriel.

  26. Vgl. Ch. Perrow, Normal Accidents. Living with High-Risk Technologies, New York 1984.

  27. Vgl. K. S. Shrader-Frechette (Anm. 16).

  28. Vgl. N. Rescher, Risk: A Philosophical Introduction, Washington 1983.

  29. Vgl. A. Weinberg, Social Institutions and Nuclear Energy, in: Science, (1972) 177, S. 27— 34.

  30. Vgl. Ch. Perrow (Anm. 26).

  31. Vgl. K. M. Meyer-Abich, Kritik und Bildung der Beu nisse䅵獳楣桴敮⁡畦⁖敲摥牵湧敮⁤敲⁎慣桦牡来⵵湤⁂敤慲晳獴牵歴畲Ⱐ楮㨠䬮⁍⸠䵥祥爭䅢楣栯䐮⁂楲湢慣桥爠ഊ⡈牳朮⤬⁗慳⁢牡畣桴⁤敲⁍敮獣栬⁵洠杬ﱣ歬楣栠穵⁳敩渮⁂敤ﱲ普楳景牳捨畮朠畮搠䭯湳畭歲楴楫Ⱐ䷼湣桥渠ㄹ㜹Ⱐ匮‵㠭㜷⸠

  32. Vgl. U. Beck (Anm. 3), S. 97.

  33. Vgl. A. Weinberg (Anm. 30).

Weitere Inhalte

Klaus Michael Meyer-Abich, Dr. phil., Dipl. -Phys., geb. 1936; seit 1972 o. Professor für Naturphilosophie an der Universität Essen; 1970— 1972 am Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg; 1979— 1982 Mitglied der Enquete-Kommissionen „Zukünftige Kernenergiepolitik" des Deutschen Bundestags; 1984— 1987 Senator für Wissenschaft und Forschung der Freien und Hansestadt Hamburg; seit 1987 Mitglied der Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre“ des Deutschen Bundestags. Veröffentlichungen u. a.: Wege zum Frieden mit der Natur. Praktische Naturphilosophie für die Umweltpolitik, München 1984; (zus. mit B. Schefold) Die Grenzen der Atomwirtschaft. Die Zukunft von Energie, Wirtschaft und Gesellschaft, München 1986; Wissenschaft für die Zukunft. Holistisches Denken in ökologischer und gesellschaftlicher Verantwortung, München 1988.