Insgesamt hat die Bundesrepublik von 1945 bis 1988 14 Millionen Vertriebene, Flüchtlinge sowie Aus-und Übersiedler in ihre Gesellschaft integriert. Dies brachte ihr ein hohes Maß an Achtung im Ausland ein, führte aber auch zu positiven ökonomischen Effekten, vor allem in der Aufbauphase der Bundesrepublik. Die Vertriebenen selbst trugen zu einer raschen Integration bei. indem sie sich assimilationsbereit und aufstiegsmotiviert zeigten. Die heute in der Sowjetunion sowie in Ost-und Südosteuropa lebenden potentiellen Aussiedler müssen auf etwa vier Millionen geschätzt werden. Wie viele davon tatsächlich ausreisen werden, hängt von ihrer dortigen Integration ab, aber auch von der Stabilität der Wirtschaftslage im Heimatland. Bei der Eingliederung von Aussiedlern treten vor allem Probleme der Anerkennung der beruflichen Qualifikation, der Sprachausbildung, der Anpassungsqualifizierung und der Arbeitsplatzvermittlung auf. Die Unterschiede zwischen den Berufsprofilen und den Ausbildungsinhalten in den sozialistischen Ländern und der Bundesrepublik lassen einen wirklichen Vergleich der Berufe häufig nicht zu, was dazu führen kann, daß Aussiedler hier zunächst unter ihrer beruflichen Qualifikation beschäftigt werden. Es hat sich aber herausgestellt, daß dies teilweise als weniger problematisch empfunden wird, als eine längerfristige Umschulungsmaßnahme oder Arbeitslosigkeit. Von einer sofortigen Beschäftigung im Bereich des erlernten Berufs hängen alsbaldige soziale Integration und das Erlernen der (Fach-) Sprache ab. Aus diesem Grund werden die Aussiedler auch nicht mehr allein mit Sprachkursen auf das „Leben“ in der Bundesrepublik vorbereitet. Ebenso werden Anpassungsqualifikationen am günstigsten am Arbeitsplatz erworben und Weiterbildungsmaßnahmen möglichst praxisnah durchgeführt. Insgesamt werden die Eingliederungschancen für Aussiedler aufgrund ihrer vorteilhaften Alters-und Berufsstruktur positiv beurteilt. Etwa die Hälfte von ihnen findet ohne die Vermittlung des Arbeitsamtes eine Anstellung, was auch mit der starken Leistungsmotivation der Aussiedler zusammenhängt. Gewisse Integrationsprobleme werden jedoch für die Zukunft erwartet aufgrund des Wohnraummangcls und dem anhaltenden Zustrom von Aus-und Übersiedlern.
I. Aussiedlerzustrom von 1945 bis 1988
1. Anzahl der im Bundesgebiet aufgenommenen Deutschen Die wirtschaftliche Eingliederung der Aussiedler ist die wichtigste Voraussetzung für die Integration dieser Deutschen in die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland. Eine solche Leistung ist bereits einmal vollbracht worden. 8 100 000 Vertriebene und Flüchtlinge (im folgenden: Aussiedler) 1) fanden bis Ende 1950 Aufnahme im Bundesgebiet. Rückblickend kann man sagen, daß ihre gesellschaftliche und wirtschaftliche Integration eine der größten Leistungen der deutschen Nachkriegsgeschichte ist. Auch im Ausland hat die Bewältigung dieser Aufgabe Achtung und Anerkennung eingetragen, und sie war ein Baustein für die Teilnahme der Bundesrepublik Deutschland an der europäischen Einigung. Von 1951 bis Ende 988 wurden weitere 1 573 146 Aussiedler aus Osteuropa aufgenommen 2).
Diese Zahlen stehen nicht allein. Von September 1949 bis zum 12. August 1961, also einem Tag vor dem Mauerbau. haben sich außerdem noch 2 686 942 Menschen aus der DDR im Bundesgebiet niedergelassen (im folgenden: Übersiedler) 3). Dabei konnten jedoch nur diejenigen Menschen statistisch exakt erfaßt werden, die sich in einem Notaufnahmelager registrieren ließen. Geschätzt wird, daß eine Million Menschen mehr aus der Dabei konnten jedoch nur diejenigen Menschen statistisch exakt erfaßt werden, die sich in einem Notaufnahmelager registrieren ließen. Geschätzt wird, daß eine Million Menschen mehr aus der DDR kamen, die sich nicht registrieren ließen, weil sie beispielsweise sofort von Verwandten aufgenommen wurden. Nach dem Bau der Mauer gelangten bis Ende 1988 616 051 Menschen aus der DDR in die Bundesrepublik
Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges bis Ende 1988 fanden demzufolge im Bundesgebiet 14 Millionen Menschen eine Aufnahme. Fast ein Viertel der heutigen Bürger der Bundesrepublik Deutschland entstammen also nicht aus dem normalen Zuwachs der hier ursprünglich ansässigen Deutschen, sondern gelangten zusätzlich in dieses Gebiet. Kein anderes industrialisiertes Land der Erde hatte in den vergangenen vierzig Jahren einen derartigen Zustrom zu bewältigen.
Die Bundesrepublik Deutschland mußte nicht nur diese Menschen aufnehmen, sie mußte sie als gleichberechtigte Bürger eingliedern. Das ist eine andere Dimension als bei der Aufnahme von Gastarbeitern.
Die jährlichen Aufnahmezahlen schwankten stark. Die höchsten Aufnahmezahlen von Aus-und Über-siedlem wurden in folgenden Jahren erzielt: 1957: 106 031, 1958: 128 133 und 1988: 39 832. Rechnet man die Aus-und Übersiedler zusammen, so ergeben sich hier folgende Zahlen: 1952: 337 036, 1956: 302 129, 1957: 367 653, 1968: 332 225 und 1988: 242 505
Ursprünglich wurde im vierzigsten Jahr des Bestehens der Bundesrepublik damit gerechnet, daß ungefähr 500 000 Deutsche — nämlich 400 000 Aussiedler und 100 000 Übersiedler — um Aufnahme nachsuchen. Die sprunghafte Entwicklung in der DDR hat diese Annahme erheblich verändert. In jedem Fall wird 1989 eine neue Rekordzahl erreicht werden. In der Größenordnung dieser Eingliederungserfordernisse steht die Bundesrepublik 1989 einzigartig in der Welt da. 2. Erfahrungen für die Gegenwart Über die Eingliederung der Vertriebenen und Flüchtlinge, also der Aussiedler (ohne Berücksichtigung der Übersiedler aus der DDR), existiert ein umfangreiches Schrifttum. Die umfassendste Analyse sind die drei Bände „Die Vertriebenen in Westdeutschland. Ihre Eingliederung und ihr Einfluß auf Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Geistesleben“, erschienen 1959 in Kiel, herausgegeben von Eugen Lemberg und Friedrich Edding. Darin wird der Begriff der Eingliederung mit wenigen Worten erklärt: „Eingliederung ist Teilhaberschaft an der Volkswirtschaft, der Eigentumsverteilung und dem Kulturleben, die dem Können, der Vorbildung, der Neigung und der Funktion in der heimatlichen Sozialstruktur entsprechen oder nahekommen.“
Verständlicherweise dominierten in den wissenschaftlichen Untersuchungen der damaligen Zeit das menschliche Leid, das mit der Vertreibung verbunden war, sowie die vielfältigen Schwierigkeiten des Neuanfangs, zu denen der Verlust an kultureller Identität, die soziale Rückstufung oder der wirtschaftliche Abstieg gehörten. Erst danach wurden die Antriebskräfte, die sich aus dieser Tragik für die junge Gesellschaft der Bundesrepublik ergaben, hervorgehoben. Symptomatisch steht hierfür der Titel einer kleinen Arbeit von Friedrich Edding „Die Flüchtlinge als Belastung und als Antrieb der westdeutschen Wirtschaft“, Kiel 1952.
Mit dem Wirtschaftswachstum wurden dann vor allem die positiven ökonomischen Aspekte immer stärker betont bis sich in der griffigen Formulierung „Aus Unglück wurde Glück“ die positive Bewertung in den Vordergrund schob
Es ergaben sich folgende wirtschaftliche Vorteile: 1. Der mit den Flüchtlingen verbundene Zustrom an Arbeitskräften bot der deutschen Wirtschaft Menschen, die auf Grund ihrer Ausbildung und Leistungsbereitschaft äußerst willkommen waren. Mit steigenden Investitionen wurde die in den ersten Jahren gravierende Arbeitslosigkeit der Flüchtlinge abgebaut. Mitte der fünfziger Jahre drückte sich die Motivation der Flüchtlinge sogar in einer niedrigeren Arbeitslosenquote, als sie die Gesamtbeschäftigung aufwies, aus. Die Leistungsbereitschaft kam auch darin zum Ausdruck, daß der Anteil der Kinder von Heimatvertriebenen in der mittleren und höheren Schulausbildung weit über ihrem Bevölkerungsanteil lag 2. Diese zusätzlichen Arbeitskräfte waren sehr mobil. Die erheblichen Wanderungsbewegungen innerhalb des Bundesgebiets verringerten regionale Arbeits-Engpässe und trugen damit zur Sicherung des wirtschaftlichen Aufstiegs bei. Diese regionale Mobilität vollzog sich jedoch nicht im Selbstlauf. Sie wurde durch entsprechende wirtschaftspolitische Maßnahmen wesentlich unterstützt, wie beispielsweise die zielgerichtete Neuansiedlung, der Lastenausgleich, zinsgünstige Darlehen u. a. 3. Mit der Eingliederung waren verschiedene sektorale Wirkungen verbunden. Ein für die weitere Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland wichtiger Aspekt bestand z. B. darin, daß in verschiedenen Bereichen neue Wirtschaftszweige entstanden. die ursprünglich ihren Schwerpunkt in den Vertreibungsgebieten hatten, beispielsweise Graslitzer Musikinstrumentenbau (böhmische Blasinstrumente), Haider-Steinschönauer Glasveredlungsindustrie (sudetendeutsche Glasindustrie), Gablonzer Glasindustrie -Ebenso sind die Anstöße, die vom — durch den Bevölkerungszuwachs verursachten — zusätzlichen Konsum für die weitere wirtschaftliche Entwicklung ausgingen, vorteilhaft für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung gewesen. Eine neuere Untersuchung gelangt nach einem Vergleich verschiedener gesamtwirtschaftlicher Ausgangsdaten Nordrhein-Westfalens zu der Feststellung: „Es kann deshalb daraus geschlossen werden, daß sich die Pro-Kopf-Konsumgüterversorgung der Bevölkerung als Folge der Flüchtlingswanderung erhöht hat.“
Nicht alle Vertriebenen konnten ihren früheren Sozialstatus wiedererlangen, aber im wesentlichen blieben sie nicht hinter der deutschen Stammbevölkerung zurück. Dies belegt eine Erhebung aus dem Jahre 1957, nach der die Einkommen von Vertriebenen in den unteren Einkommensgruppen über denen der nichtvertriebenen Haushalte lagen; in den mittleren Einkommensgruppen waren sie ähnlich hoch, in den oberen Einkommensgruppen lag das Einkommen der Vertriebenen unter dem der Stammbevölkerung
Wenn bei dieser erfolgreichen Eingliederung die Rolle der Wirtschaftspolitik hervorgehoben wird, dann muß auch berücksichtigt werden, daß für diejenigen Menschen, die den wirtschaftlichen Leistungsanforderungen aus objektiven Gründen nicht gewachsen waren, eine wirksame Sozialpolitik notwendig wurde. In der Literatur findet sich dazu ein eindringlicher Hinweis: „Selbst wenn die Eingliederung sehr erfolgreich ist, wird ein schwieriger Rest von alten beziehungsweise körperlich, geistig oder sozial behinderten Personen übrigbleiben.“ Gerade die wirtschaftliche Leistungskraft der Flüchtlinge insgesamt ermöglichte eine Sozialpolitik, die diese Menschen nicht außerhalb des Wohlstandes beließ. 3. Das Aussiedlungspotential Die Aufnahme von Deutschen aus osteuropäischen Staaten ist immer noch eine der Spätlasten des Zweiten Weltkrieges. Es wird in der Diskussion oft übersehen, daß ein erheblicher Teil der Spätaussiedler aus Polen unter die Bestimmung des Artikel 116 des Grundgesetzes fallen, also bereits selber oder als Nachkommen vor dem 31. Dezember 1937 die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen. Dabei ist noch folgender Umstand zu berücksichtigen: Die Rechtsprechung im Dritten Reich unterschied zwischen Deutschen verschiedenen Status. Dies diente den rassistischen Zielsetzungen der Nationalsozialisten. Es wäre in höchstem Maße verwerflich, würde die Bundesrepublik auch nur den Anschein erwekken, daran anzuknüpfen. Deshalb ist folgender Feststellung, die Bezug auf die Präambel des Grundgesetzes nimmt, zuzustimmen: „Es darf somit nicht zu einer Diskriminierung der , Statusdeut-sehen'gegenüber den Deutschen mit deutscher Staatsangehörigkeit kommen. Das Deutsche Volk muß sich vielmehr in seiner Gesamtheit begreifen.“
Diejenigen Aussiedler, für die dieser Artikel des Grundgesetzes nicht zutrifft, erhalten dann die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn sie ihre deutsche Volkszugehörigkeit nachweisen können. Ausführlicher läßt sich dieser Kreis folgendermaßen charakterisieren: „Voraussetzung für die Anerkennung als , Vertriebener'ist die deutsche Volkszugehörigkeit (Paragraph 6 des Bundesvertriebenenund Flüchtlingsgesetzes, — BVFG —). Danach ist deutscher Volkszugehöriger, wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat. Dieses Bekenntnis muß durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung und Kultur bestätigt werden. Als Vertriebener gilt auch der ausländische Ehegatte eines deutschen Staatsangehörigen oder deutschen Volkszugehörigen, der vom Vertreibungsgebiet aus zusammen mit seinem volksdeutschen Ehepartner einreist (Paragraph 1 Abs. 3 BVFG).“
Erkennt man die moralische und die durch das Grundgesetz gegebene Verpflichtung der Bundesrepublik, Menschen mit deutscher Volkszugehörigkeit aus den osteuropäischen Staaten die deutsche Staatsangehörigkeit zu gewähren, an, dann muß die Anzahl der Menschen geschätzt werden, die dafür in Frage kommen würden. Diese Schätzungen liegen zwischen 3, 2 Millionen und 3, 8 Millionen Deutschen in Ost-und Südosteuropa Für die Sowjetunion, die CSSR und für Ungarn gehen diese Zahlen auf Volkszählungen zurück; für Polen, Jugoslawien und Rumänien sind es Schätzungen. Über den Gehalt von Schätzungen können keine Aussagen getroffen werden. Aber auch die Ergebnisse der östlichen Volkszählungen sind mit Skepsis zu betrachten. Wenn in einer repräsentativen Befragung von ausgereisten Rußlanddeutschen fast zehn Prozent angeben, daß sie bei der letzten Volkszählung nicht Deutsch, sondern Russisch als ihre Muttersprache angegeben haben, dann ist es sehr wahrscheinlich, daß sie in der Statistik dieser Volkszählung auch nicht als Deutsche auftauchten
Da also sogar Ausreisewillige, die sowieso enorme Repressalien zu erwarten hatten, in der Volkszählung — aus welchen Gründen auch immer — nicht ihre Muttersprache zutreffend angaben, kann man sich leicht vorstellen, daß die sowjetische Statistik die Zahl der Deutschen zu niedrig angibt. Es wäre daher sicher gerechtfertigt, die bisher bekannten Zahlen um zehn Prozent nach oben zu korrigieren. Unter gewandelten politischen Bedingungen kann sich ein Bekenntnis vorteilhaft auswirken, wenn damit die rasche Möglichkeit der Aussiedlung und somit die Verbesserung der Lebenssituation erreicht werden kann. Aus diesem Grund könnte auch ein Teil der 305 000 von Reichling unterstellten „Assimilierungsverluste“ innerhalb der deutschstämmigen Bevölkerung der Sowjetunion unter für sie günstigeren politischen Umständen ihre deutsche Volkszugehörigkeit wieder reaktivieren Dies wird von der Bundesrepublik aus jedoch nur selten nachzuweisen sein. Will man für politische Entscheidungen eine Schätzung vornehmen, so ist es unter den aktuellen Bedingungen angeraten, von wenigstens vier Millionen Deutschen in Ost-und Südosteuropa auszugehen
Verständlicherweise ist es viel schwieriger zu schätzen, wieviele deutschstämmige Menschen tatsächlich ausreisen wollen. Bisherige Schätzungen lagen regelmäßig zu niedrig — mit der Konsequenz, daß dies auch zu falschen politischen Einschätzungen führte. Beispielsweise wurde vom Präsidenten des DRK noch Anfang 1988 eine Zahl von 600 000 Ausreisewilligen genannt (Die Rotkreuz Zeitung, 2/88), die impliziert, daß mit den Zahlen von 1988 (200 000) und von 1989 (erwartet: 400 000) keine Ausreisewillige mehr vorhanden sein dürften. Auch die „Unabhängige Wissenschaftlerkommission“ geht in ihrem Bericht von 1987 zu den „Menschenrechten in den Staaten des Warschauer Paktes“ nur von 262 000 bekannten Ausreise-wünschen aus (Bundestagsdrucksache 11/1344, S. 108 ff.).
Bei der Schätzung des Aussiedlungspotentials muß ebenfalls beachtet werden, daß auch in Ungarn, wo die Assimilierung der deutschstämmigen Bevölkerung allen Berichten nach weit vorangeschritten ist, die Wirtschaftslage sehr unstabil ist. Sollte sich diese einmal dramatisch verschlechtern, ist es nicht mit letzter Gewißheit auszuschließen, daß auch hier Teile der deutschstämmigen Minderheit dann eine Ausreise anstreben.
II. Probleme und Methoden der Eingliederung von Aussiedlern
Abbildung 11
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Vier Probleme sind bis zur Eingliederung von Aussiedlern in das Arbeitsleben zu lösen:
— die Anerkennung bzw. Einstufung der beruflichen Qualifikation;
— die Sprachausbildung;
— eine Anpassungsqualifizierung, eine Umschulung oder eine Ausbildung;
— die Arbeitsplatzvermittlung bzw. Arbeitsplatz-suche. 1. Berufliche Qualifikation Eine der wichtigsten Aufgaben, die Aussiedler zuerst zu lösen haben, ist die formale Anerkennung ihrer beruflichen Qualifikation. Etwa 85 Prozent aller Aussiedler geben gewerblich-technische oder kaufmännische Berufe an. Ihre in den osteuropäischen Staaten erworbenen Berufsabschlüsse werden nur von den örtlich zuständigen Industrie-und Handelskammern (IHK) anerkannt Nur in Ausnahmefällen können die IHKs jedoch die tatsächlichen fachlichen Qualifikationen beurteilen. Nach einem Vergleich der Ausbildungsinhalte erfolgt zumeist ohne weiteres eine Gleichstellung. Das bedeutet, daß das in Osteuropa erworbene Prüfungszeugnis in der Bundesrepublik anerkannt und mit dem entsprechenden deutschen Berufsabschluß gleichgestellt wird. Für viele Berufe ist diese Gleichstellung allerdings problematisch: — So existieren etliche Berufe in der Bundesrepublik gar nicht, beispielsweise der Industrieökonom. — Andere Berufe weisen einen zur Bundesrepublik recht unterschiedlichen Inhalt auf, wie dies in kaufmännischen Berufen häufig der Fall ist. — Einige Abschlüsse wurden auf Wegen erlangt, die erheblich von denen der entsprechenden Berufsausbildung in der Bundesrepublik abweichen. Dies trifft etwa auf in Abendschulen oder durch Sonderförderungen erlangte Berufe zu.
— Bei älteren Arbeitnehmern, liegen die Abschlüsse sehr weit zurück und können deshalb auch nur mit den damaligen deutschen Berufsinhalten verglichen werden. — Einige Berufe sind auch im Osten reine Frauen-berufe, wie die Kindergärtnerin; demgegenüber sind Baggerfahrerinnen in der Bundesrepublik unbekannt. — Des öfteren waren die Antragsteller in den Berufen, deren Abschluß sie anerkannt haben möchten, gar nicht tätig. Sie übten andere Berufe — ohne formalen Abschluß — aus.
Diese Auflistung der Schwierigkeiten resultiert aus dem unterschiedlichen Ausbildungs-und Berufsausbildungssystem in den sozialistischen Ländern. Aus diesen Gründen ist es verständlich, warum „es für viele Aussiedler nach der Ankunft in unserem Land zunächst schwierig ist, einen Arbeitsplatz zu finden, der ihrem erlernten Beruf entspricht. Die rasche technologische Entwicklung und Rationalisierung hat in der Bundesrepublik Deutschland in den letzten Jahren zunehmend zu neuen Berufsqualifikationen und Berufsbildern geführt, denen die Ausbildung der Aussiedler in ihrer alten Heimat nicht mehr entsprechen dürfte.“ Es werden dort unvergleichlich stärker als in marktwirtschaftlichen Systemen rein formale Qualifikationen vom Arbeitnehmer verlangt. Da jeder Abschluß als ein Beweis der Leistungsfähigkeit des Gesellschaftssystems angesehen wird, erfolgen Qualifizierungen für bestimmte Gruppen, wie beispielsweise Frauen, oft nur formal.
Sind die Unterschiede zu gravierend, dann kann gar keine Anerkennung vorgenommen werden, oder es wird ein ähnlicher Beruf unterhalb des formalen osteuropäischen Abschlusses gesucht. So kann die Empfangssekretärin aus Polen keine Anerkennung als Hotelfachfrau finden und ein Industriekaufmann unter Umständen nur als Bürokaufmann anerkannt werden.
Die Befürchtung, daß damit ein beruflicher und sozialer Abstieg verbunden ist, kann entkräftet werden. Einmal bedeutet es einen weitaus größeren sozialen Abstieg, wenn jahrelang formal weitergebildet und umgeschult wird, ohne eigentliche berufliche Erfahrung und eine entsprechend höhere berufliche Position zu erwerben. Zum anderen benötigt ein Aussiedler für seine Integration in der Regel zuerst einen Arbeitsplatz. Dort kann er auch in geringer qualifizierter Tätigkeit erste notwendige Erfahrungen sammeln, kann sein eigenes Wissen und Können überprüfen, kann so die wichtigen Referenzen erlangen und das System eines Arbeitsmarkts kennenlernen. In diesem Prozeß hat er dann günstige Möglichkeiten, seine frühere Qualifikation wieder zu erreichen
Eine andere Möglichkeit ist eine Qualifizierung über das Arbeitsamt. Hier steht ein umfangreiches Angebot zur Verfügung. Die Arbeitsverwaltungen haben schon seit längerem ein sehr vielfältiges, auf fast sämtliche Berufsgruppen und Qualifizierungsbedürfnisse abgestelltes System der Anpassungsqualifizierung und Umschulung entwickelt. Arbeitsverwaltungen und Wirtschaft arbeiten dabei zusammen. Damit kann verhindert werden, daß am Markt vorbei qualifiziert wird. Die deutsche Wirtschaft benötigt zahlreiche hochqualifizierte Arbeitskräfte; an Fachkräften herrscht selbst in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit ein Mangel
So haben die meisten Unternehmen bei einer Befragung durch die IHK Münster darauf verwiesen, daß sie bereit seien, Facharbeiter mit nur geringen Deutschkenntnissen sofort einzustellen. Es wurde dort die Erfahrung gemacht, daß die Aussiedler hochmotiviert und im Unterschied zu Teilen der deutschen Stammbelegschaft auch sehr weiterbildungsbereit sind. Im einzelnen hat diese Umfrage zu folgenden Resultaten geführt: -Der weit überwiegende Teil der Betriebe suchte 1988 Facharbeiter ohne ausreichenden Erfolg; -auch das Arbeitsamt konnte bei der mangelnden Qualifikation der Bewerber keine Abhilfe schaffen; -die Mobilität der Bewerber war zu gering;
-die Suche nach Ungelernten war kaum schwierig, aber auch der Bedarf vergleichsweise gering;
-80 Prozent der Unternehmen wollen den Bedarf an Fachkräften zukünftig durch betriebsinteme Schulungsmaßnahmen decken
Deshalb sind die Chancen für Aussiedler, eine höhere Qualifikation zu erwerben, günstig. Von der Wirtschaft werden jährlich über 26 Mrd. DM für Weiterbildungsmaßnahmen ausgegeben Vor allem auch die unterschätzten Klein-und Mittelbetriebe wenden für die Weiterbildung pro Mitarbeiter relativ viel Geld auf, um qualifizierte Mitarbeiter zu gewinnen.
Allerdings kann die Gleichstellung der formalen Qualifikation für den arbeitsplatzsuchenden Aussiedler auch Schwierigkeiten mit sich bringen, die der Aussiedler oft nicht berücksichtigt. Wird ein Qualifikationsabschluß anerkannt, ist es dem Arbeitsamt untersagt, einen nachträglichen deutschen Abschluß in dieser Qualifikation zu fördern. Dieser bietet sich aber für verschiedene Berufsgruppen und vor allem für junge Facharbeiter an. Zwar verfügen die Arbeitsämter über Variationsmöglichkeiten und nutzen diese zugunsten der Aussiedler auch aus, aber formell bleibt erst einmal diese Schwierigkeit bestehen. Zu ihrer Überwindung müssen durch Vermittler zusätzliche organisatorische Hürden genommen werden. Die IHKs sind mit den derzeitigen Regeln der Gleichstellung genausowenig zufrieden wie die Arbeitsverwaltungen. Andere Lösungen könnten nur durch neue gesetzliche Regelungen ermöglicht werden. 2. Sprachausbildung Etwa 90 Prozent der Aussiedler aus Polen und zwei Drittel derjenigen aus der Sowjetunion beherrschen die deutsche Sprache entweder nur unzureichend oder gar nicht. Bei den Aussiedlern aus Rumänien sind es jedoch nur wenige, die nicht Deutsch sprechen. Es kann keine Zweifel über die Bedeutung einer fundierten Beherrschung der deutschen Sprache geben. Die Aussiedler kommen nicht als Gastarbeiter in das Bundesgebiet, sondern sie sind Deutsche und erhalten hier die deutsche Staatsangehörigkeit. Sie kommen nicht in das Bundesgebiet, um nur einige Jahre hier zu arbeiten, sich dabei aber die Option, in ihr Heimatland zurückzugehen, offenzuhalten. Sie wollen hier als Deutsche endgültig eine Heimat finden, in der sie als Gleiche unter Gleichen leben können. Nur bei ausreichender Sprachbeherrschung wird es möglich sein, nach einer Übergangszeit wieder gleichwertig in den erlernten Berufen tätig zu werden. Die Sprache ist somit auch eine unabdingbare Voraussetzung, um einen sozialen Abstieg zu verhindern und wirtschaftliche Potenzen nicht brachliegen zu lassen.
Bis Anfang 1988 wurden die betroffenen Aussiedler in der Regel in einen acht-bis zehnmonatigen Sprachkurs eingeordnet. Damit sollten Sprachdefizite abgebaut, die spätere Vermittlung in eine berufliche Tätigkeit erleichtert und der Fall in die sofortige Arbeitslosigkeit für viele erst einmal abgewendet werden. Es hat sich jedoch erwiesen, daß ein genereller zehnmonatiger Sprachkurs bei weitem nicht die günstigste Vorgehensweise für die spätere berufliche Eingliederung darstellt.
Zunächst ist dabei die Mentalität der Aussiedler zu beachten. Vieles hat sich im Verlauf ihres Lebens in den östlichen sozialistischen Gesellschaften eingeschliffen: vor allem die Abhängigkeit vom Staat, der jeden Schritt vorschreibt und so die Individua57 lität und Selbständigkeit unterdrückt Auch wegen dieser Eigenschaften des Sozialismus verließen die Aussiedler ihre bisherigen Heimatländer. Trotzdem sind sie — wenn auch in unterschiedlichem Maße — von dortigen Verhaltensweisen geprägt. Darum ist es verständlich, daß sie beispielsweise erst nach und nach die spezifischen Aufgaben der Arbeitsämter erfassen. In der Sowjetunion war Arbeitslosigkeit unbekannt, und es existierte in den Betrieben kaum ein Leistungsdruck. Lohn und Gehalt wurden in jedem Fall gezahlt. Deshalb passiert es, daß Aussiedler die Unterhaltszahlungen des Arbeitsamtes während der Sprachschulungen oder während Qualifizierungsmaßnahmen und sogar verschiedentlich das Arbeitslosengeld als Gehalt auffassen.
Der große Leistungswille der Aussiedler darf nicht durch die Abhängigkeit von regelmäßigen Staats-zahlungen zurückgedrängt werden. Die Warnung, die Bundespräsident von Weizsäcker hinsichtlich einer „Vollkaskogesellschaft“ ausgesprochen hat, trifft auch auf diese Problembereiche zu: „Die Kräfte in den Menschen und in der Gesellschaft sind nicht kleiner geworden als früher. Aber sie wirken sich stärker im persönlichen als im sozialen Umfeld aus. Es entwickelt sich eine Mentalität der . *. Vollkaskogesellschaft Eigene Interessen werden auf Kosten des Ganzen abgesichert und durchgesetzt. Die Belastungsschwellen werden niedriger. Streit und Klagen häufen sich, obwohl doch der Rechtsstaat nicht dafür gedacht ist, einer Rechthabereigesellschaft zu dienen, sondern der Gerechtigkeit und dem Schutz des Schwachen. Unter solchen Lasten fällt es dem Staat schwer, wirksam genug neuen Notständen abzuhelfen, die es ganz gewiß bei uns auch heute gibt.“
In Erkenntnis der vorhandenen Schwierigkeiten sind seit dem Frühjahr 1989 viele Arbeitsverwaltungen dazu übergegangen, ein „Modulsystem“, in dem Sprache und Beruf vereint gefördert werden, einzuführen Der Kerngedanke eines solchen Systems kann beispielhaft am Vorgehen in Baden-Württemberg demonstriert werden: Nach einer dreimonatigen Grundstufe folgen drei Aufbaustufen von drei und zweimal zwei Monaten (3/3/2/2), in denen eine engere Verzahnung mit einer beruflichen Qualifizierung stattfinden soll. Zu den Vorteilen einer solchen Vorgehensweise wird in der Verfügung des Landesarbeitsamtspräsidenten festgestellt: „ 1. Flexible Ein-und Austrittsmöglichkeiten z. B. zur Arbeitsaufnahme oder zum Ortswechsel. 2. Engere Verzahnung von Sprachförderung und beruflichen Bildungsmaßnahmen sowie Begrenzung der Dauer der Teilnahme auf den für die berufliche Integration erforderlichen Umfang. 3. Anpassung der Sprachförderung an das geplante, landkreisbezogene Unterbringungskonzept für Aussiedler des Landes Baden-Württemberg .“
Ohne Zweifel stellt diese Form der Sprachausbildung einen Fortschritt gegenüber dem früheren Einheitsmodell dar. Verschiedene Unternehmen und Wirtschaftsverbände haben eigenständig Modelle zur kombinierten Sprach-und Berufsqualifizierung entwickelt
Allerdings darf nicht verkannt werden, daß einer Durchsetzung des Prinzips „Arbeiten und Lernen“ auch objektive Schwierigkeiten im Wege stehen. Die räumlichen, finanziellen und organisatorischen Bedingungen können besser Großbetriebe als Kleinunternehmen schaffen. In ländlichen Regionen wird es nicht immer genügend Arbeitsplätze in bestimmten Berufszweigen geben, so daß doch Aussiedler mit unterschiedlichen Berufen eine gemeinsame Sprachausbildung haben werden. Das alles ist zu berücksichtigen. Trotzdem trifft die folgende Aussage auf Grund der Vorteile einer integrierten Ausbildung zu: „Natürlich, der Teufel steckt im Detail, wenn individuelle Lösungen entwickelt werden müssen. Aber niemandem nützt es, allein schon deshalb am alten Grundsatz , Erst Sprachschulung — dann a*rbeiten festzuhalten. Denn Barrieren, die die Aussiedler-integration verzögern oder gar behindern, müssen abgebaut werden. Die Betroffenen haben es schwer genug. Man sollte es ihnen nicht noch schwerer machen.“
Die Notwendigkeit, Sprache und Berufsausbildung bzw. -Weiterbildung miteinander zu kombinieren, führt zu neuen Überlegungen und neuen Ausbildungsformen. Damit wird auch das Verständnis für soziale Anpassungsvorgänge und die Aufnahmefähigkeit von Wissen und Fertigkeiten erweitert. Der Aussiedlerzustrom führt in der Bundesrepublik auch auf Gebieten zu positiven Änderungen, in denen man es nicht erwartet hätte. 3. Anpassungsqualifizierungen, Weiterbildung und Ausbildung Fast jeder früher erwerbsfähige Aussiedler muß in der Bundesrepublik irgendeine Form der beruflichen Qualifizierung durchlaufen. Das können Anpassungsqualifizierungen sein, um das deutsche Niveau des ausgeübten Berufes zu erreichen; das können erhebliche Weiterbildungen oder zusätzliche Qualifizierung sein, wenn das Berufsbild in der Bundesrepublik sich wesentlich von dem in der früheren Heimat unterscheidet. Und das kann auch das Erlernen eines neuen Berufes durch eine Ausbildung oder eine Umschulung sein. Hauptträger dieser Maßnahmen sind die Arbeitsverwaltungen.
Auch hier hat es sich als günstig erwiesen, den Weg über die Betriebe weiter zu forcieren. Die Unternehmen in der Bundesrepublik verfügen über ein hochentwickeltes und sehr flexibles Weiterbildungssystem. Dieses wird bereits zur Ausgleichung der unterschiedlichen Qualifikationen der Aussiedler zu den in Deutschland ausgebildeten Facharbeitern, Technikern oder Ingenieuren eingesetzt. Ohne langwierige Umschulung kann hier vor Ort — in den Betrieben und überbetrieblichen Einrichtungen — das deutsche Qualifikationsniveau erreicht werden. Der bisherige Umfang seiner Ausnutzung reicht jedoch nicht aus
Generell kommen die Aussiedler mit einer — an östlichen Verhältnissen gemessenen — guten Qualifikation in das Bundesgebiet. Ein praxisnahes Weiterbildungssystem vervollkommnet die Qualifikation unmittelbar berufsbezogen, ohne eine Her-auslösung aus der beruflichen Tätigkeit. Damit wird der Arbeitsmarkt nach zwei Seiten hin wesentlich entlastet: Die Aufwendungen der Bundesanstalt für Arbeit können gesenkt werden und das Facharbeiterangebot erhöht sich. Für den Aussiedler ergeben sich damit folgende Vorteile: -erst durch den Kontakt zur Arbeitswelt wird die notwendige Erfahrung für die Sprachaneignung erworben; -je enger der Kontakt zum Beruf, desto rascher wird die berufsspezifische Fachsprache erlernt; -über den Kontakt zu den Arbeitskollegen wird auch die gesamte gesellschaftliche Eingliederung erleichtert; — durch die sozialistischen Verhältnisse geprägte Mentalitäten — wie zu geringe Selbständigkeit oder Sozialstaatsabhängigkeit — werden am besten in der Arbeitswelt abgebaut; — Aussiedler können Referenzen erwerben und Unternehmensleitungen zukünftige Mitarbeiter kennenlernen; — durch die Verringerung der Ausgaben der Bundesanstalt für Arbeit kann diese ihre Mittel mehr auf Umschulungsmaßnahmen konzentrieren.
Die Unternehmen dürfen nicht aus ihrer unternehmerischen Verantwortung entlassen werden. Der Staat muß Anreizsysteme aufbauen und so die Unternehmen finanziell flankierend begleiten. Ab dem 1. Januar 1990 hat die Bundesregierung dafür bessere gesetzliche Voraussetzungen geschaffen: Aussiedler, die einen Teilzeitarbeitsplatz gefunden haben, erhalten für die Zeit, in der sie einen Sprach-kurs besuchen, ein zusätzliches Eingliederungsgeld Das ist ein wesentlicher Fortschritt der Förderung der beruflichen Integration. Mit dem Einkommen aus der Teilzeitarbeit und dem Teileingliederungsgeld wird das Prinzip „Arbeiten und Lernen“ besser als vorher durchgesetzt.
Der starke Aussiedlerstrom kommt zu einem Zeitpunkt, an dem die gut ausgebauten Ausbildungsund Weiterbildungseinrichtungen der Bundesrepublik aufgrund der demographischen Entwicklung nicht mehr voll ausgelastet sind. Die damit verbundene Möglichkeit, in relativ kurzer Zeit der Wirtschaft Fachkräfte zur Verfügung zu stellen, ist ein wichtiger Vorteil dieses Zustromes Im Berufsbildungsbericht der Bundesregierung wird dazu festgehalten: „Alles deutet darauf hin, daß ohne eine aktive und an die veränderte Situation angepaßte Strategie der Nachwuchswerbung und Nachwuchssicherung durch die Betriebe, Praxen und Verwaltungen der Mangel an nachwachsenden Fachkräften in den nächsten Jahren zunächst in Fertigungsberufen und mit zeitlicher Verzögerung auch in Dienstleistungsberufen erheblich zunehmen wird. Tendenziell wird dies bei anhaltender Verbesserung der Wirtschaftslage und weiter sinkenden Bewerberzahlen in den nächsten Jahren auch in den meisten jetzt noch vom Ausbildungsmangel betroffenen Regionen der Fall sein.“
Auch die deutschen Gewerkschaften wollen ihre Weiter-und Ausbildungskapazitäten für die wirtschaftliche Eingliederung der Aussiedler nutzen. So sollen im DGB-Bildungswerk in Unna Aussiedler die Möglichkeit erhalten, den deutschen Abschluß als Industriemechaniker zu erlangen. Die Ausbildung dazu wird vom Bundesbildungsministerium finanziert, das von 1989 bis 1992 16 Millionen Mark allein für derartige Modellversuche im Ruhrgebiet ausgeben will
Von den-1988 ins Bundesgebiet gekommenen Aussiedlern waren 67 000, das sind ein Drittel, jünger als achtzehn Jahre alt. Rechnet man noch die bis 25jährigen Jugendlichen hinzu, liegt der Anteil bei fast Prozent Jugendlichen unter den Aussiedlern. 40 000 schulpflichtige Kinder waren 1988 und Anfang 1989 in eine bundesdeutsche Schule aufzunehmen. Eine Gegenüberstellung der hiesigen deutschen Bevölkerung und der Aussiedler nach Altersgruppen zeigt die folgende Grafik 40)
Häufig wird dabei zuerst auf die großen Belastungen, die auf die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche der Bundesrepublik zukommen, verwiesen, wie beispielsweise auf die enorme Nachfrage nach Kindergartenplätzen oder neuen Lehrerplanstellen Auch die aus der sozialistischen Gesellschaft gewohnte Autoritätsgläubigkeit der Jugendlichen und ihre Abhängigkeit von einem festgefügten Kollektiv werden herausgestellt Dies trifft zwar zu. aber wenn derartige Berichte nur diese Eindrücke vermitteln, erfolgt keine sachgerechte Information. Übrig bleibt am Ende nur Emotionalisierung. Dabei wird oft verkannt, daß gerade Jugendliche über die Schule und die Ausbildung schneller als ihre Eltern den Kontakt zum westdeutschen Alltag erhalten
Auf Probleme in der schulischen Ausbildung der jugendlichen Aussiedler haben die Länderregierungen rasch reagiert. Es wurden umfangreiche zusätzliche Mittel bereitgestellt und besondere Förderprogramme entwickelt Ebenso hat sich das Ausbildungsplatzangebot in den letzten Jahren erheblich verbessert: „Im Berufsbildungsjahr 1987/88 haben sich die Entspannungstendenzen am Arbeitsstellenmarkt verstärkt fortgesetzt. Bundesweit überstieg das Angebot die Nachfrage um knapp sechs Prozent. Der Angebotsüberschuß ist damit nahezu zwei Prozentpunkte höher als 1980, dem Jahr mit der bisher besten Ausbildungsbilanz seit dem Beginn der Berichterstattung durch die Bundesregierung (1976).“
Diese Einschätzung ist regional und branchenspezifisch zu differenzieren. Jedoch übersteigt in allen Regionen das Angebot an Ausbildungsplätzen die Nachfrage, und für 1989 ist mit einem weiteren Rückgang der Nachfrage um wenigstens sechs Prozent zu rechnen. In einigen Fertigungs-und Dienstleistungsbereichen werden allerdings auch mehr Ausbildungsplätze gesucht, als zur Verfügung gestellt werden können. Demgegenüber blieben in verschiedenen gewerblich-technischen und handwerklichen Berufen viele Ausbildungsplätze unbe-setzt Die Gesamtzahl der 1989/90 unbesetzten Ausbildungsplätze kann nur geschätzt werden. Sie schwankt zwischen 60 000 und 150 000
Die Anforderungen, welche die Bewältigung der Qualifikationsaufgaben so hoher Zahlen von Menschen in kurzer Zeit mit sich bringen, beeinflussen auch die Strukturen der Ausbildungsförderung. Die alten Instrumente müssen überprüft und neue Formen gefunden werden. 4. Vermittlung und Arbeitsplatzsuche Unternehmen stellen Arbeitskräfte nicht deshalb ein, weil sie Aussiedler sind. In manchen Regionen haben verschiedene Aussiedlergruppen — vor allem aus Rumänien oder der Sowjetunion, aber teilweise auch aus Polen — allerdings immer noch einen Bonus am Arbeitsmarkt. Fleiß, Energie, Tat-kraft, Pünktlichkeit und Leistungsbereitschaft sind hier stark vertreten. Man darf dabei jedoch zwei Zusammenhänge nicht verkennen: Zum einen können bei den heutigen Aussiedlern diese Eigenschaften nicht mehr dieselbe direkte Auswirkung auf die Produktion haben wie in den Aufbaujahren bei den Vertriebenen und Flüchtlingen der Nachkriegszeit. Zum anderen sind in der modernen Industriegesellschäft auch solche Eigenschaften wie Kooperationsfähigkeit, Eigeninitiative oder Kreativität gefragt. Diese bringen die Aussiedler aus den bereits erwähnten Gründen zumeist nicht mit. Ihre Bereitschaft, diese rasch zu erwerben, ist in der Regel jedoch hoch.
Die vorrangigste Aufgabe der Arbeitsämter ist immer noch die Vermittlung eines Arbeitsplatzes. Dies bleibt auch bei den Aussiedlern der Fall. Jedoch finden über 50 Prozent der Aussiedler ohne Einschaltung des Arbeitsamtes einen Arbeitsplatz. Allerdings werden die Arbeitsämter auch durch den Gesetzgeber vielfach mit zusätzlichen Aufgaben beauftragt, wie z. B. die in letzter Ze Prozent der Aussiedler ohne Einschaltung des Arbeitsamtes einen Arbeitsplatz. Allerdings werden die Arbeitsämter auch durch den Gesetzgeber vielfach mit zusätzlichen Aufgaben beauftragt, wie z. B. die in letzter Zeit wieder diskutierte Auszahlung des Kindergeldes oder auch die Verantwortung für die Sprachförderung der Aussiedler. Bei den Aussiedlern müssen die Vermittler umfangreiche Aufklärungsarbeit leisten; sie befinden sich häufig in der Situation, in erheblichem Maße gesellschaftspolitisches Grundwissen zu vermitteln.
Es wurde bereits auf die für eine Eingliederung in das Berufsleben günstige Altersstruktur der Aussiedler verwiesen. Ähnliches trifft auch auf die Berufsstruktur zu, wie die folgende Übersicht über die Aussiedler 1988 nach ihrer Beteiligung am Er-werbsieben und ihrer beruflichen Gliederung zeigt (in Prozent) 49):
Allerdings treten in der Gruppe der kaufmännischen und der Dienstleistungsberufe auf Grund des anderen Berufsprofils im Osten erhebliche Vermittlungsschwierigkeiten auf. Es ist in einem solchen Fall wenig sinnvoll, den Aussiedlern von vornherein Möglichkeiten, eine höhere Qualifikation zu erlangen, anzubieten. Die vorhandenen Fähigkeiten müssen erst einmal ausgeschöpft werden, andernfalls würde man einer „sozialen Mentalität“ den Weg bereiten.
Auch aus Problemregionen signalisieren die Arbeitsämter. daß für Facharbeiter nach relativ geringen Anpassungsqualifizierungen sehr gute Vermittlungschancen bestehen. Es ist nicht möglich, exakte Zahlen für diesen Prozeß vorzulegen. Der stetige Zustrom von Aussiedlern, die unterschiedlichen Qualifizierungsmaßnahmen und die Entwicklung des Arbeitsmarktes verschieben die Ausgangspunkte jeden Monat 50).
In besonderem Maße trifft dies für Arbeitsplätze in Handwerksberufen zu. Der Präsident des Zentral-verbandes des Deutschen Handwerks, Heribert Späth, ist der Auffassung, daß der Mangel an Facharbeitern bereits deutlich das Wachstum im Handwerk bremst -Das Handwerk unternimmt deshalb eigene Aufklärungs-und Werbeaktionen unter den Aussiedlern, um sie über die ihnen ja weitgehend unbekannten Möglichkeiten eines selbständigen Handwerks zu informieren
Die Vermittlung muß auch gegen verschiedene im Sozialismus erworbene Eigenschaften ankämpfen, auf die schon teilweise hingewiesen wurde. Dazu gehört das Bestreben, möglichst in große Orte und in große Betriebe zu gelangen. Beides ist aus östlicher Sicht nur allzu verständlich, denn dort finden sich gute Wohnungen meist nur in größeren Orten, und die Arbeitsbedingungen in Großbetrieben sind die besseren So müssen die Vermittler über die Bedingungen des deutschen Arbeitsmarktes aufklären.der die meisten Arbeitsplätze in Klein-und Mittelbetrieben zur Verfügung stellt, die sich nicht in Großstädten befinden müssen, ebenso wie über die Notwendigkeit, jeden Tag größere Distanzen selbständig von und zum Arbeitsplatz zurückzulegen. Das mögen alles geringere Probleme sein, aber aus der Sicht eines Neubürgers sind sie erheblich und verlängern die Zeit der Vermittlung, wenn nicht rechtzeitig aufgeklärt wird
Bedauerlicherweise sind die verschiedenen Ratgeber für Aussiedler dabei auch wenig hilfreich. Der „Wegweiser für Aussiedler“ des Bundesministers des Innern oder beispielsweise der regionale „Hessische Wegweiser für Aussiedler und Übersiedler“ orientieren fast ausschließlich über die rechtlichen Möglichkeiten und sozialen Absicherungen. Damit erfüllen diese Publikationen die wichtige Aufgabe, zuerst einmal in der neuen Heimat das Gefühl der sozialen Sicherheit, der Geborgenheit zu verleihen. Eine wirksame Starthilfe besteht aber nicht allein im Aufzählen sozialer Rechte. Auch die „Starthilfen des Arbeitsamtes für Aussiedler“ der Bundesanstalt für Arbeit berichten überwiegend über die Leistungen der Arbeitsämter. Nur am Beginn wird auf die wichtigen Fragen der Mobilität, der Selbständigkeit und der Sicherheit des Arbeitsplatzes verwiesen.
Die insgesamt günstige Perspektive für die Vermittlung von Aussiedlern darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß es vorübergehend zu einem „AussiedlerStau“ auf dem Arbeitsmarkt kommt. Nur eine Kombination von Sprachförderung, Qualifizierung und Vermittlung in-gemeinsamer Aktion der Arbeitsverwaltungen und der Wirtschaft wird diesen „Stau“ abbauen können.
Insgesamt sind die Chancen für die wirtschaftliche Eingliederung der Aussiedler günstig. Der kräftige Beschäftigungsaufbau der letzten Jahre, die wachsende Zahl der unbesetzten Arbeitsplätze und der Rückgang des einheimischen Erwerbspersonals bekräftigen diese Auffassung.
Eine solche generelle Beurteilung darfjedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Arbeitsmarkt nicht in jeder Region und nicht für jeden Beruf gleichermaßen günstig ist. Die zeitlich sehr konzentrierte Zunahme von Aussiedler-Erwerbspersonen und die Anpassung eines erheblichen Teils von ihnen an die Qualifikationsbedürfnisse des deutschen Arbeitsmarktes führen zeitweilig zu einer erhöhten Arbeitslosigkeit unter ihnen. Auch der aktuelle Wohnraummangel grenzt die Mobilität der Aussiedler für einige Zeit noch ein. Dem stehen die schon aufgezeigten neuen Gesetze und die Leistungsbereitschaft der Aussiedler gegenüber. Ebenso werden die Erweiterungsinvestitionen, welche in der gegenwärtigen Konjunktur vorgenommen werden müssen, um Produktionssteigerungen zu erreichen (die Unternehmen sind zumeist an ihren Kapazitätsgrenzen angelangt), für eine erhöhte Nachfrage nach Arbeitskräften sorgen. Die Aussiedler, welche bereits in das Wirtschaftssystem integriert sind, sorgen ihrerseits für zusätzliche Nachfrageimpulse und lösen so weitere Wachstumsprozesse aus. Wirtschaftliche Entwicklungen vollziehen sich nicht linear. Sie beinhalten stets Multiplikatoreffekte.
Es läßt sich nicht detailliert vorausberechnen, wie sich diese verschiedenen Tendenzen auf die Arbeitsmarktsituation der einzelnen Berufsgruppen auswirken werden. In den nächsten zwei bis drei Jahren wird für einen Teil der Aussiedler aber eine zeitweilige Arbeitslosigkeit nicht zu vermeiden sein, bis die gemeinsamen Anstrengungen von Arbeitsverwaltungen und Wirtschaft in der Qualifizierung der betroffenen Gruppen Früchte tragen.
Klaus Leciejewski. Dr. oec.. geb. 1948 in Staßfurt; bis 1986 an der Humboldt-Universität Berlin; seit 1989 am Institut der deutschen Wirtschaft. Köln; ab 1990 bei der Deutschen Bank, Frankfurt. Zahlreiche Veröffentlichungen in der DDR zu Fragen der Geschichte der politischen Ökonomie, zu geldtheoretischen und geldhistorischen Fragen; in der Bundesrepublik Publikationen u. a. im „Deutschland-Archiv“, in „Aus Politik und Zeitgeschichte“ sowie umfangreiche publizistische Tätigkeit.