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Mentalitätswandlungen der Jugend in der DDR | APuZ 16-17/1990 | bpb.de

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APuZ 16-17/1990 Abschied von der sozialistischen Ständegesellschaft Reformbewegung und Volksbewegung. Politische und soziale Aspekte im Umbruch der DDR-Gesellschaft Mentalitätswandlungen der Jugend in der DDR Frauen in der DDR

Mentalitätswandlungen der Jugend in der DDR

Walter Friedrich

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Zuverlässige repräsentative sozialwissenschaftliche Studien über die Mentalitätsentwicklung der DDR-Bevölkerung konnten bisher nicht erstellt werden, doch hat das Zentralinstitut für Jugendforschung (ZU) in den letzten zwanzig Jahren zahlreiche größere Untersuchungen bei Schülern, Lehrlingen, Studenten und jungen Arbeitern durchgeführt, die den Mentalitätswandel der jungen Generation in der DDR erfassen. Diese Forschungsergebnisse konnten bis Herbst 1989 nicht publiziert werden, soweit sie für das DDR-System kritische Befunde registriert haben, und werden hier erstmals bilanzierend vorgestellt. In den siebziger Jahren war zunächst eine Konsolidierung sozialistischer Wertorientierungen bei allen Schichten der Jugend festzustellen, doch waren Ende der siebziger Jahre bei einigen politischen Einstellungen erste leicht rückläufige Trends erkennbar. Ab 1985 trat der bis 1989 immer schneller verlaufende Verfall des „sozialistischen Bewußtseins“ ein, der alle wesentlichen systembezogenen Überzeugungen und Werte — wenn auch zeitlich und schichtspezifisch differenziert — erfaßte. Bei Studenten prägten sich kritische Positionen durchschnittlich später aus als in der werktätigen Jugend. Der Beitrag dokumentiert auf der Grundlage empirischer Befunde des ZU den Mentalitätswandel der jungen Generation im Zeitverlauf von 1970 bis 1990 für zentrale Orientierungsbereiche: Haltung zu Religion und Atheismus; Einstellung zum Marxismus-Leninismus, zur Sowjetunion, zur sozialistischen Perspektive, zur SED und FDJ, zur DDR; Nutzung und Einschätzung von Hörfunk und Fernsehen beider deutscher Staaten; Einstellung der jungen DDR-Bürger zur Bundesrepublik Deutschland. Während die weltanschauliche Position zu Religion und Atheismus von den tiefen politischen Umbrüchen bisher nicht oder nur schwach beeinflußt worden ist, zeigen sich bei der Betrachtung der Verlaufsformen politischer Überzeugungen massive Veränderungen, die am Ende der achtziger Jahre zu einer weitreichenden Abkehr von den propagierten Werten des realsozialistischen Systems, zu einem Mentalitätsbruch, geführt haben. Ein tiefgreifender Wandel läßt sich auch in der Einstellung gegenüber der Bundesrepublik Deutschland nachweisen. Während große Teile der DDR-Jugend in den siebziger Jahren ein kritisch-distanziertes Verhältnis zur Bundesrepublik hatten, belegen neue Forschungsergebnisse einen starken und umfassenden Identitätsverlust gegenüber der DDR sowie eine zunehmende Verbundenheit mit der Bundesrepublik. Im Vergleich mit Studenten hat sich dieser Prozeß bei Schülern und Lehrlingen bedeutend früher und vorbehaltloser vollzogen. Auch in bezug auf die Lebensziele und Bedürfnisse junger DDR-Bürger sind bedeutende Wandlungsprozesse erfolgt. Das Alltagsverhalten der DDR-Jugend wird zunehmend durch folgende Grundbedürfnisse bestimmt: Streben nach Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung; Streben nach Lebensgenuß und Spannung; Streben nach informellen Formen des Sozialkontakts; Streben nach materiellen Werten; Bedürfnis nach persönlicher Sicherheit. Sollte es nicht gelingen, die ökonomischen, politischen und sozialen Lebensbedingungen auf dem Gebiet der DDR kurzfristig auf einem weitgehend bedürfnisgerechten Nivau zu gestalten, dürften sich jugendliche Konfliktpotentiale erheblich verstärken und neue Abwandungsprozesse in die Bundesrepublik vor allem bei jungen DDR-Bürgern eintreten.

I. Einleitung

Tabelle 1: Zusammensetzung der Populationen bei den Jugendstudien

Was ging in den Köpfen der DDR-Bürger, der jüngeren wie der älteren Generationen, in den letzten Jahren vor? Wie hat sich der revolutionäre Umbruch vom Herbst 1989 vorher geistig angekündigt? Revolutionäre Prozesse kommen doch in Gang, wenn bestimmte Wandlungen der psychischen Befindlichkeit, der Mentalität großer Bevölkerungsgruppen, als Schubkräfte wirksam werden.

Tabelle 5: Historische Perspektive des Sozialismus (Angaben in Prozent)

Zuverlässige sozialwissenschaftliche Forschungsergebnisse über die psychische Lage, die Mentalitäten und ihre zeitgeschichtlichen Veränderungsprozesse bei der DDR-Bevölkerung sind nur sehr spärlich vorhanden. Das geht auf die jahrzehntelange Praxis des früheren autoritären Herrschaftssystems zurück, das zwar viel von der Notwendigkeit „objektiver Analysen“ redete, gleichzeitig aber alles tat, um diese zu verhindern. Ein schwerwiegender Systemfehler war, anstelle wissenschaftlicher Wirklichkeitsanalysen schöne Fata-Morgana-Visionen zu bevorzugen und sich politisch davon leiten zu lassen.

Tabelle 6: Identifikation mit der SED (Angaben in Prozent)

Unter den wenigen sozialwissenschaftlichen Forschungseinrichtungen der DDR hat das Zentralinstitut für Jugendforschung (ZU) in Leipzig einige Besonderheiten. Dieses Institut existiert seit 1966 und hat seitdem über 400 sozialwissenschaftliche Untersuchungen — darunter mehrere größere, über fünf bis zehn Jahre reichende Längsschnittstudien bei Schülern, Lehrlingen, Studenten, jungen Arbeitern — durchgeführt. Außerdem wurden in vielen Untersuchungen Probleme des weltanschaulichen, politischen, moralischen Bewußtseins und Verhaltens der Jugendlichen aller Schichten analysiert sowie wichtige Veränderungstrends ermittelt. Bis zum Herbst 1989 bestand allerdings nicht die geringste Chance, solche Ergebnisse unserer historischen Vergleichsforschungen zu veröffentlichen.. Unsere Daten, besonders zu politischen Einstellungen und Wertorientierungen, unterlagen sehr strengen Geheimhaltungs-und Zensurreglements, die erst mit der politischen Wende beseitigt wurden.

Tabelle 7: Identifikation 1) mit der DDR (Angaben in Prozent)

Die Jugendstudien des ZU konnten aus verschiedenen — insbesondere politischen — Gründen nicht repräsentativ gestaltet werden, wodurch die Aussagekraft der ermittelten empirischen Daten etwas gemindert ist. Dennoch zeigen die nachgewiesenen zeitgeschichtlichen Trends bei Lehrlingen, jungen Arbeitern, Schülern und Studenten bemerkenswerte Wandlungen der Mentalitätsstrukturen, die das Verständnis der politischen Entwicklung in der DDR erklären helfen. In einer großangelegten Sekundäranalyse haben Peter Förster und Günter Roski zahlreiche Studien seit 1970 verglichen. Meist wurden die Populationen mehrerer in einem Jahr durchgeführter ZU-Untersuchungen zusammengefaßt sowie nach Schulbildung (mindestens Abschluß der 10. Klasse) und politischer Aktivität (Parteizugehörigkeit, FDJ-Funktion bzw. -Mitgliedschaft und Geschlecht) homogenisiert. Verglichen wurden stets nur identische Indikatoren, abweichende Fälle sind gesondert hervorgehoben. Alle Ergebnisse wurden mit der Methode der schriftlichen Befragung im Gruppenverband erhoben, wodurch die Anonymität auch für die befragten jungen Bürger glaubwürdig gesichert werden konnte

II. Mentalitätswandel im Kontext der DDR-Geschichte

Tabelle 2: Haltung zu Religion und Atheismus (Angaben in Prozent)

Wandlungen der Mentalitäten können in Abhängigkeit von der individuell-biographischen wie von der gesellschaftlich-historischen zeitgeschichtlichen Entwicklung beobachtet und untersucht werden. Allerdings kann der individuell-biographische Wandel nicht abstrakt, gleichsam als anthropologisches Phänomen, sondern stets nur in seiner Abhängigkeit vom historisch-konkreten Gesellschaftskontext betrachtet werden. Wir stellen in diesem Beitrag nur den zeitgeschichtlichen Mentalitätswandel dar. Jugendkohorten gleichen Alters, des gleichen Bildungs-und beruflichen Status werden zu unterschiedlichen historischen Zeitpunkten und gesellschaftlichen Situationen auf bestimmte Mentalitätsmerkmale miteinander verglichen.

Tabelle 8: Einstellung zur Machtausübung in der DDR (Angaben in Prozent)

Bei der DDR-Jugend haben sich in den vergangenen Jahrzehnten gravierende Mentalitätswandlungen vollzogen. Doch waren Richtung, Inhalte, Verlaufsformen und Dynamik dieser Wandlungsprozesse recht unterschiedlich. Mit der Zerschlagung des faschistischen Regimes und dem Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung nach sowjetischem Typ vollzog sich seit 1945 ein tiefreichender Mentalitätswandel, der sehr different, widerspruchsvoll, für viele junge Menschen sehr konfliktreich und schmerzhaft verlief. Dieser Wandlungsprozeß kann sozialwissenschaftlich nicht präzise rekonstruiert werden, da keine größeren Untersuchungen dazu bekannt sind. Aber aus dokumentarischen Belegen, aus der Retrospektive und vor allem aus den Strukturen des politisch-moralischen Bewußtseins der späteren Erwachsenenkohorten (in den sechziger und siebziger Jahren) kann die Tragweite und der Charakter dieses Mentalitätsumbruchs hinreichend abgeschätzt werden.

Tabelle 9: Mediennutzung im Vergleich 1985 und 1988 (Angaben in Prozent)

Dabei dürfen solche historischen Ereignisse wie der 17. Juni 1953 und der zunehmende Strom der Über-siedler in die Bundesrepublik Ende der fünfziger Jahre nicht übersehen werden. Mit dem Bau der Mauer 1961 wurde die unmittelbare Kommunikation der Deutschen in Ost und West unterbunden. Eine ideologische Abgrenzungs-und Diffamierungskampagne setzte ein, zugleich gab es massive Versuche der Integration, Indoktrination und der Selbstbeschönigung des sozialistischen Systems. Ökonomisch und sozial kam es in diesen Jahren zwar zu einer gewissen Konsolidierung, außenpolitisch schließlich zur völkerrechtlichen Anerkennung der DDR.

Tabelle 10: Beurteilung von BRD-und DDR-Bürgern durch Leipziger Schüler 1978 und 1988

Nach der Ablösung Walter Ulbrichts durch Erich Honecker als Erster Sekretär der SED sollte der VIII. Parteitag der SED (1971) unter dem Vorzeichen einer Einheit von „Wirtschafts-und Sozialpolitik“ eine Wende einleiten. Doch schon Ende der siebziger Jahre wurde für viele DDR-Bürger sichtbar. daß sich die Versprechungen und Hoffnungen nicht erfüllen konnten. Ökonomisch wie politisch zeigte sich eine Stagnation, der Rückstand gegenüber den westlichen Industriestaaten, besonders augenfällig im Vergleich mit der Bundesrepublik, wurde immer deutlicher sichtbar. Die zunehmenden Belastungen durch das Wettrüsten und das drohende atomare Inferno lösten Anfang der achtziger Jahre verstärkt Überlebensangst aus, was zeitweilig die politische Identifikation mit dem Sozialismus im Zusammenhang mit Friedensinitiativen der DDR förderte.

Tabelle 11: Verbundenheit 1) von DDR-Studenten mit der Bundesrepublik Deutschland

Mit der Perestroika-Politik von Michail Gorbatschow, der seit seiner Amtsübernahme im März 1985 viele Hoffnungen geweckt hatte, verstärkte sich das latent vorhandene kritische Potential in der DDR, vor allem als sich herausstellte, daß die dogmatische SED-Führung die Reformpolitik Gorbatschows argwöhnisch beobachtete und statt dessen den „Sozialismus in den Farben der DDR“ proklamierte. Das stieß auf heftige Ablehnung. Daher setzten starke Verfallsprozesse der politischen Identifikation ein, die seit 1988 dramatisch verliefen und 1989 zur revolutionären Erhebung des Volkes führten.

Tabelle 12: Veränderungen im Identitätserleben von Schülern 1989/90 (Angaben in Prozent)

Die Forschungsergebnisse des ZU seit Ende der sechziger Jahre spiegeln diese Prozesse sehr anschaulich wider:

Tabelle 13: Vergleich der Lebensorientierung von 18/19jährigen Lehrlingen 1975 — 1990 (Angaben in Prozent)

— In den siebziger Jahren haben wir eine deutliche Konsolidierung sozialistischer Überzeugungen und Wertorientierungen bei allen Schichten unserer Jugend beobachtet. Von Jahr zu Jahr erhöhten sich Zahl und Intensitätsgrad der Zustimmung zu den Zielen und Werten der damaligen Gesellschaft. — Ende der siebziger Jahre traten bereits erste stagnative und auch schon leicht rückläufige Trends bei bestimmten politischen Einstellungen zutage. — Anfang der achtziger Jahre kam es vorübergehend erneut zu einer gewissen Bekräftigung sozialistischer Identifikation und auch einiger (nicht aller!) entsprechender Überzeugungen.

— Ab 1985 trat der bis 1989 immer schneller und massiver verlaufende Verfall des „sozialistischen Bewußtseins“ ein.

Alle wesentlichen Überzeugungen und Werte wurden davon erfaßt, wenn auch teilweise zeitlich inkongruent. Auch zwischen den verschiedenen Schichten der Jugend stellten wir zeitlich wie inhaltlich bedeutende Inkongruenzen fest. Die Studentenschaft hielt sich z. B. mit Kritik viel länger zurück als Lehrlinge und junge Arbeiter. Sie näherten sich erst 1988/89 der kritischen Haltung der werktätigen Jugend an. 1. Weltanschauliche Grundposition

Die Haltung zu Religion und Atheismus ist auch für die DDR-Jugend von erheblicher Relevanz. Sie wird in der Regel schon im frühen Jugendalter festgelegt, spätere Konversionen — evtl, über die Zwischenstufe der Unentschiedenheit — sind nicht häufig, am seltensten bei Studenten.

III. Empirische Befunde im Zeitverlauf 1970— 1990

Tabelle 3: Identifikation mit dem Marxismus-Leninismus (Angaben in Prozent)

Studenten sind entschiedener und häufiger Atheisten als andere Gruppen von Jugendlichen, seit 1970 mit zunehmender Tendenz. Dagegen ist die Zahl der Atheisten bei Lehrlingen und jungen Arbeitern gleichgeblieben, doch deutet sich in den letzten Jahren eine leichte Zunahme der Religiösen auf Kosten der Unentschiedenen an. Insgesamt zeigen die Ergebnisse, daß die weltanschauliche Grundposition von den schwerwiegenden politischen Prozessen bis 1989 nicht bzw. nur schwach beeinflußt worden ist. Prognosen für zukünftige Trends sind daraus allerdings kaum abzuleiten. Ein ganz anderes Bild ergibt sich bei der Betrachtung der zeitgeschichtlichen Verlaufsformen politischer Überzeugungen (Identifizierungen). Häufigkeit und Intensität der Zu-bzw. Abwendungen spiegeln sich in charakteristischen Trendprozessen wider, beispielsweise im Verhältnis — zum Marxismus-Leninismus — zur SED — zur FDJ — zur DDR — zur Sowjetunion als Führungsmacht — zur historischen Perspektive des sozialistischen Systems — zur Bundesrepublik Deutschland

2. Einstellung zum Marxismus-Leninismus

Bei Lehrlingen und jungen Arbeitern ging die Identifikation mit dem Marxismus-Leninismus schon seit Ende der siebziger Jahre zurück. Im allgemeinen nahmen die jungen Leute zwar die Lehrsätze in Schule, Ausbildung, im FDJ-Studienjahr und in den Medien zur Kenntnis, wiederholten sie auch in Prüfungen, setzten sich jedoch gedanklich-kritisch wenig mit ihnen auseinander. Sie konnten den Marxismus-Leninismus aber als persönliche Lebensorientierung, als „Lebensphilosophie“ in ihrer eigenen Lebenspraxis, zunehmend weniger nutzen und akzeptieren. Er erschien ihnen zu abstrakt, lebens-fern, scholastisch. Seine Lehrsätze korrespondierten kaum mit ihren Lebenserfahrungen, das galt besonders fürjunge Werktätige. Mitte der achtziger Jahre wurde der Marxismus-Leninismus schon von fast jedem zweiten Lehrling/jungen Arbeiter als persönliche Verhaltensorientierung abgelehnt.

Studenten identifizierten sich viel häufiger und uneingeschränkter mit dem Marxismus-Leninismus, besonders in den gesellschaftswissenschaftlichen Fachgebieten. Diese Beobachtung kann als Folge der persönlichen Studienwahl, bestimmter politischer Selektionskriterien und auch der Praxisferne der Hochschulausbildung interpretiert werden. Erst 1987/88 setzten stärkere Differenzierungsprozesse ein, die 1989 gerade auch bei Studenten gesellschaftswissenschaftlicher Fächer, sehr massiv und kritisch zum Ausdruck kamen.

3. Einstellung zur Sowjetunion

Die Identifikation mit der Sowjetunion, die in den siebziger Jahren unter der DDR-Jugend noch stark ausgeprägt war, ist ebenfalls seit Anfang der achtziger Jahre bei allen Schichten der Jugend deutlich zurückgegangen. Sie erreichte bereits in den letzten Jahren der Breschnew-Ära einen ersten Tiefstand. Als historisches Vorbild konnte die Sowjetunion kaum noch akzeptiert werden.

Wie aus Tabelle 4 hervorgeht, gab es 1986 nochmals eine positive Trendwende, die sicher als Hoff-Tabelle nung auf Gorbatschows Perestroika-Programm gedeutet werden kann. Gorbatschow war von Anfang an bei der DDR-Jugend sehr populär. Die jungen Leute hofften auf den Erfolg seiner Politik, ganz besonders aber versprachen sie sich durch ihn eine wirkliche politische Wende im eigenen Land — sowohl oppositionell Eingestellte aller Schichten als auch Mitglieder der SED (die in den letzten Jahren ebenfalls zunehmend in Opposition zum Honecker-Sozialismus gerieten). Ende 1988 bekundeten 83% der jungen Leute ihre Sympathie für Gorbatschow, davon 50 % sehr stark, Nichtmitglieder der SED zu 82% (davon 49 % sehr stark), Mitglieder der SED zu 90% (davon 55% sehr stark). Gorbatschow war bis zum Oktober 1989 der Hoffnungsträger, was auch in der Parole „Gorbi — hilf uns“, zum Ausdruck kam. Die jungen Leute fast aller politischen Positionen waren sich besonders 1989 weitgehend einig:

— in der zunehmenden Ablehnung der Honecker-Herrschaft, des „Sozialismus in den Farben der DDR“;

— in der Kritik an den gesellschaftlichen Mängeln und Mißständen;

— in dem Willen nach gesellschaftlichen Reformen, wie sie Gorbatschow mit seiner Perestroika-und Glasnost-Politik verkündet hatte.

4. Einstellung zur sozialistischen Perspektive

Bis Mitte der achtziger Jahre war bei der DDR-Jugend die Überzeugung von der Überlegenheitdes sozialistischen Systems und seiner globalen Verbreitung noch erstaunlich stark verbreitet. Fast jeder zweite Jugendliche glaubte fest an die Durchsetzung des Sozialismus im Weltmaßstab. Nur 1020% hatten stärkere Zweifel. Bei den Studenten waren sogar zwei Drittel davon fest überzeugt. Unter dem Einfluß der zugespitzten internationalen Lage (kalter Krieg, Raketenstationierungs-Debatte) und der massiven Propaganda hielt dieser Glaube noch lange Zeit unvermindert an.

Erst nach der kritischen Lageeinschätzung Gorbatschows und den offen zutage tretenden Krisenprozessen in der Sowjetunion und in anderen sozialistischen Ländern kam es in der Folgezeit zu einem schnellen Abbau dieser politischen Überzeugung. Bereits 1988 hatten sich die Proportionen nahezu umgekehrt. Weit über die Hälfte der Lehrlinge und jungen Arbeiter gab dem Sozialismus jetzt wenig oder keine Chancen mehr und nur 6— 10% hatten noch keine Zweifel. Studenten beurteilten die Entwicklungschancen der sozialistischen Gesellschaft in allen Jahren wiederum deutlich positiver als Lehrlinge und junge Arbeiter. 5. Einstellung zur SED

Aus heutiger Sicht ist die Einstellung der Jugendlichen zur SED von besonderem Interesse. Immerhin haben sich von den siebziger Jahren bis Mitte der achtziger Jahre 70— 80% der DDR-Jugendlichen mit der SED identifiziert, wenn auch 50 % mit Einschränkungen. 20— 25 % sind dieser Partei schließlich beigetreten.

Der Vertrauensverlust gegenüber der SED setzte 1987/88 verstärkt ein und erreichte 1989 den Zustand einer tiefen Vertrauenskrise, die sich dann von Monat zu Monat weiter ausbreitete. Im Frühjahr 1989 lehnte die Hälfte der werktätigen Jugend bereits die SED ab, ebenso etwa ein Drittel der Studenten. Von den Nichtmitgliedem der SED identifizierten sich lediglich 8%, selbst von den Parteimitgliedern nur noch 48 % voll mit dieser Partei. Die Ergebnisse bis 1986 dürften heute Verwunderung und Zweifel auslösen. Verständlicherweise können solche Durchschnittswerte nicht die subjektiven Erfahrungen, Kämpfe und Biographien von Einzelpersonen oder Gruppierungen reflektieren. Zwischen statistischen Mittelwerten und individuellen Varianten/Erfahrungen darf kein Gleichheitszeichen gesetzt werden. Außerdem ist gerade in unserer Zeit des politischen Übergangs, der Distanzierung von und der Abrechnung mit dem alten System, die Gefahr bewußt oder unbewußt tendenziöser Interpretationen der eigenen Biographie, aber auch der DDR-Geschichte in Rechnung zu stellen. Deshalb soll an dieser Stelle ausdrücklich betont werden, daß es für mich keine Zweifel an der Glaubwürdigkeit dieser Daten gibt.

Die Identifikation mit der FDJ, der einzigen zugelassenen Jugendorganisation, ist in den achtziger Jahren ebenfalls ständig weiter zurückgegangen. Sie wurde zwar von einer großen Zahl junger Leute noch toleriert, aber doch ohne tieferes Engagement. Im Vergleich zu Lehrlingen urteilten Studenten wiederum bedeutend positiver. Zahlreiche Funktionäre und aktive Jugendliche haben zwar durch eigene Initiativen im Rahmen der FDJ interessante und nützliche Aktivitäten organisiert (offene politische Diskussionen, Umweltschutz, kulturelle Veranstaltungen usw.), doch hatte die FDJ als politischer Jugendverband in den Augen der großen Mehrheitjunger Leute wenig Bedeutung und war in den letzten Jahren politisch nahezu ohne Einfluß.

6. Einstellung zur DDR

Erstaunlich stark war lange Zeit bei allen Schichten der Jugend die Identifikation mit der DDR ausgeprägt. Tatsächlich war ein Stolz auf die DDR. auf das „sozialistische Deutschland“ weit verbreitet und wurde von sehr vielen Jugendlichen auch so empfunden. Das ist verständlich, denn ohne dieses Identitätsbewußtsein konnte die Mehrheit der jungen Leute schwerlich konfliktfrei leben.

So entwickelte sich besonders in den Jahren der relativen (teils auch nur scheinbaren) ökonomischen und politischen Erfolge ein durchaus emotional verankertes DDR-Bewußtsein. Es verstärkte und profilierte sich einerseits in der Abgrenzung zur mächtigeren und attraktiveren Bundesrepublik, und die Anerkennungswelle nach 1970 gab Selbstvertrauen. Andererseits wollte man den osteuropäischen „Brudervölkern“ — besonders der Sowjetunion und Polen — beweisen, was der Deutsche aus dem Sozialismus zu machen versteht und was sich im vergleichsweise höheren Lebensstandard mit Stolz demonstrieren ließ. Die DDR war als Staat mit der sozialistischen Gesellschaftsordnung verkoppelt. Je stärker der Glaube an die Zukunftsfähigkeit des Sozialismus war, desto ausgeprägter war die DDR-Identität. Solange dieser Glaube existierte, war auch die DDR-Identität kaum in Frage gestellt. Als dann aber massive Zweifel an der Überlegenheit und sogar an der weiteren Existenz des Sozialismus aufkamen, wurde die DDR-Identität zwangsläufig stark erschüttert. So trat die bis Mitte der achtziger Jahre stark verdrängte (oft allerdings heimlich ersehnte) deutsche Identität, der Wunsch, als Deutscher zu gelten, bei vielen DDR-Bürgern wieder in den Vordergrund. Die in den letzten Jahren ständig wachsende Zahl der Ausreisewilligen, der Strom der Übersiedler in die Bundesrepublik, die bewegenden Verbrüderungsszenen nach der Grenzöffnung am 9. November 1989, der alles beherrschende Ruf „Deutschland einig Vaterland“ auf den Demonstrationen sind reale Symptome dieses Identitätswandels, ja Identitätsbruchs. Dies wird aus Tabelle 7 deutlich erkennbar. In den siebziger Jahren konnten wir zunächst eine kontinuierliche Verstärkung der DDR-Verbundenheit bei Lehrlingen, jungen Arbeitern und Studenten beobachten, über die Hälfte von ihnen bekun- dete 1975 eine uneingeschränkte DDR-Identifikation. Ende der siebziger Jahre nahmen Vorbehalte zu, doch hielt sich danach ein sogar noch leicht angestiegenes Identitätsbewußtsein bis 1985/86. Als Gründe lassen sich eine verbreitete Kriegs-/Existenzangst, die positiv bewertete DDR-Friedenspolitik sowie der immer augenfälligere Unterschied im Lebensstandard gegenüber den osteuropäischen Ländern vermuten.

Dann fanden jedoch beträchtliche, 1988/89 schon enorme Abbauprozesse statt; bei jungen Arbeitern und Lehrlingen wiederum ein bis zwei Jahre früher als bei Studenten. Die volle Identifikation/Verbundenheit schrumpfte bei der werktätigen Jugend 1988 auf unter 20 %, die Zahl der Ablehnungen stieg dagegen auf über 20 %. Dabei ist zu betonen, daß die DDR immer mit dem jeweiligen Zustand des sozialistischen Systems (1988/89 also mit dem Niedergang des stalinistischen Honecker-Sozialismus) assoziiert wurde. Daß sich hier schon unmittelbar nach der politischen Wende ganz andere Identitäts-Inhalte herausgebildet haben bzw. weiter herausbildcn werden, erscheint sicher und wird ein relevantes Forschungsthema bleiben.

Zu bestimmten Merkmalen der DDR hatten die jungen DDR-Bürger allerdings schon vor Jahren ein sehr kritisches Verhältnis, etwa zur Rolle der Staatsmacht. Unter dem Eindruck der zunehmenden Restriktionen, Tabus, Drangsalierungen, Rechtsverletzungen durch Staats-, Sicherheits-und Parteiorgane kam es dann 1988/89 zu einer entschiedenen Ablehnung des SED-Herrschaftssystems.

7. Nutzung und Einschätzung der Medien

Die politische Information durch die eigenen Medien wurde von jungen (wie auch von älteren) DDR-Bürgern seit langer Zeit kritisiert. Politische Sendungen wurden von ihnen als zu wenig aktuell/glaubwürdig/interessant, als zu langweilig/stereotyp/propagandistisch, die Alltagsprobleme verdekkend, die Wirklichkeit beschönigend, als zu rechthaberisch/arrogant/unkritisch bewertet. Diese Einschätzung betraf vor allem die politischen Tagesinformationen (Aktuelle Kamera), die Berichterstattung von den „gesellschaftlichen Höhepunkten“ (Demonstrationen, Parteitage, Reden der führenden Politiker) und bestimmte Sendereihen (etwa „Der schwarze Kanal“).

Diese Lage wurde schon Ende der sechziger Jahre von den Jugendlichen erkannt, aber bis Mitte der achtziger Jahre von der Mehrheit eher resignierend hingenommen und erst in den letzten Jahren mit mehr Zorn, Sarkasmus und lautem Protest verurteilt. In den siebziger Jahren waren nur etwa 10% der Studenten mit der Informationspolitik voll zufrieden. Sie wurde im Vergleich mit anderen Politikbereichen (wie Bildungs-, Jugend-oder Außenpolitik der DDR) stets mit Abstand auf den letzten Platz verwiesen. Die verständliche Folge war, daß sich immer mehr junge Menschen aller Schichten den Westmedien zuwandten — allerdings nicht nur wegen der interessanteren, attraktiveren, weniger doktrinär erscheinenden Information, sondern auch wegen der beliebteren Musik-, Unterhaltungs-und Jugendsendungen. Die Nutzung und Glaubwürdigkeit der politischen Sendungen der bundesdeutschen Medien erhöhte sich von Jahr zu Jahr. Wie sich die Proportionen der Mediennutzung bei Lehrlingen und jungen Arbeitern von 1985 bis 1988 weiter verschoben haben, belegt die folgende Tabelle.

In einer Anfang 1988 durchgeführten Untersuchung wurde nach der Übereinstimmung der von den DDR-Medien vermittelten Informationen über die DDR-Wirklichkeit mit den eigenen Alltagserfahrungen gefragt. Nur verschwindend wenige Jugendliche konnten eine volle Übereinstimmung der Informationen aus DDR-Medien mit ihren Lebenserfahrungen bestätigen (4%).

8. Einstellung zur Bundesrepublik Deutschland

In Abhängigkeit von der relativ stabilen Ausprägung systemkonformer Identitäten und Wertorientierungen — der Grundeinstellungen zur DDR, zur sozialistischen Perspektive, zum Vorbildland Sowjetunion, zur SED — hatten große Teile der DDR-Jugend in den siebziger Jahren ein kritisch-distanziertes Verhältnis zur Bundesrepublik. Das ergab sich aus der (trotz zeitweiliger Intensitätsschwankungen) doch fast täglich erlebbaren Konfrontation beider deutscher Staaten im ökonomischen, militärpolitischen und vor allem ideologischen Bereich, vermittelt durch die Medienpropaganda. Feindbilder wurden gepflegt, die Abgrenzung schien immer selbstverständlicher, eine Wiederannäherung und ein besseres Verstehen der Menschen immer aussichtsloser zu werden. Persönliche Kontakte waren, abgesehen von Verwandtschaftsbesuchen, selten. Bei gelegentlichen Begegnungen, bei organisierten Treffs in der DDR fand man Vertreter der anderen Seite oft fremd und unzugänglich, man hatte Verständnis-und Kommunikationsschwierigkeiten. In diesem Zusammenhang ist eine Vergleichsuntersüchung zu nationalen Stereotypen sehr aufschlußreich, die Harry Müller bei älteren Schülern 1978 und 1988 durchgeführt hat. Aus den (hier auszugsweise mitgeteilten) Ergebnissen geht hervor, daß sich in den achtziger Jahren bei den Schülern ein gravierender Wandel in der Einschätzung der BRD-und DDR-Bürger vollzogen hat.

Während sich das Bild vom BRD-Bürger hinsichtlich der Merkmale „arbeitsam, intelligent“ in den Augen der Schüler nur leicht positiviert hat. wird er in seiner politischen Haltung und gesellschaftlichen Befindlichkeit 1988 ganz anders als zehn Jahre vorher bewertet. Auch finden ihn viel mehr befragte Schüler „sympathisch“.

Mit der Aufwertung des BRD-Bürgers korrespondiert die starke Abwertung des Autostereotyps, des DDR-Bürgers. Sie bezieht sich auf alle Merkmale. besonders aber auf die politisch-gesellschaftlichen. Entsprechend negativiert hat sich die Sympathie-Bewertung. Diese Ergebnisse belegen sehr anschaulich, wie differenziert und tiefreichend sich die Stereotype verändert haben. Sie zeigen einen starken und umfassenden Identitätsverlust gegenüber der DDR (des Jahres 1988) sowie eine zunehmende Hochschätzung und Verbundenheit mit der BRD. Im Gegensatz zu Studenten hat sich dieser Prozeß bei Schülern und Lehrlingen bedeutend früher und vorbehaltloser vollzogen.

Kurt Starke u. a. ermittelten 1979 und 1989 die Beziehung von DDR-Studenten zur Bundesrepublik. Anfang 1989 hatte es bereits eine bedeutsame Linksverschiebung gegeben. Die Ablehnung der BRD durch Studenten fiel jetzt schon erheblich milder aus, 10% äußerten sich nun schon sehr positiv über die Bundesrepublik. Insgesamt aber herrschte bei DDR-Studenten eine ziemlich reservierte Haltung vor. Das dürfte sich allerdings in den vergangenen Monaten stark verändert haben. Neue Ergebnisse dazu stehen erst im Mai 1990 zur Verfügung. Die ausgeprägten aktuellen Veränderungen im Identitätsbewußtsein von Schülern der 9. /10. Klassen im Zeitraum von März 1989 bis Februar 1990 hat Harry Müller in drei Studien analysiert.

Tabelle 12 enthält einige Trends, die zunächst merkwürdig erscheinen. In der Studie vom November 1989 geht die Identifikation als Deutscher zurück und die als DDR-Bürger steigt deutlich an, nur drei Monate später jedoch sind die Trends genau umgekehrt. Diese starken Schwankungen können aber aus den völlig verschiedenen gesellschaftlichen Situationen der Meßzeitpunkte erklärt werden. Im März 1989 erschien der „Sozialismus in den Farben der DDR“, die Endzeit der Honecker-Ära, bereits in einem desolaten hoffnungslosen Zustand. Die Zukunftsfähigkeit des Systems rief immer stärkere Zweifel hervor. Unmittelbar nach der politischen Wende (Anfang November) kam jedoch Hoffnung auf, daß sich die DDR mit einem reformierten Sozialismus stabilisieren, vielleicht gar als beispielhaftes Land entwickeln könne. Von dieser Hoffnung her sind die Ergebnisse der Studie B zu interpretieren. Die ökonomischen, politischen und sozialen Veränderungsprozesse der folgenden Wochen haben aber diese Hoffnungen nicht bestätigt, der deutsche Einigungsprozeß ist real in Gang gekommen und wurde im Februar 1990 kaum noch in Frage gestellt. So ist die Trendwende zwischen November 1989 und Februar 1990, die die Studie C dokumentiert, verständlich.

Die Identifikation mit den alten Ländern auf dem DDR-Territorium läßt sich ähnlich erklären. Während des politischen Aufbruchs im November 1989 spielte die Landes-Identität (Sachsen, Thüringen) noch keine Rolle. Die Zukunft der DDR stand zur Debatte. Die Neugründung der früheren Länder (die 1952 aufgelöst worden waren) war bis Dezember 1989 kein Gegenstand öffentlicher Diskussionen und hat seinerzeit erst wenige Bürger bewegt. Doch plötzlich brach dieses Problem auf und führte in kürzester Zeit zu einem wiedererwachten „Länderbewußtsein“. Weil wir als Forscher nicht mit dieser Wende gerechnet haben, wurde in der Befragung vom Februar 1990 auf die Prüfung der Landes-Identität verzichtet. Sicher sind diese Werte bis heute ganz erheblich angestiegen.

IV. Lebensorientierungen und Bedürfnisse

Tabelle 4: Verbundenheit mit der Sowjetunion (Angaben in Prozent)

Die dargestellten politisch-ideologischen Überzeugungen und Identifikationen besitzen eine starke motivierende, handlungsdeterminierende Komponente. Sie beeinflussen wesentlich das Alltagsverhalten der Individuen. In vielen unserer Untersuchungen sind wir dem Problem des Zusammenhanges solcher verbal bestimmter Einstellungen mit entsprechenden realen Verhaltensweisen im Alltag nachgegangen und wir stießen meist auf hochsignifikante Zusammenhänge.

Auch diesbezüglich sind in den vergangenen Jahren bedeutende Wandlungsprozesse bei der DDR-Jugend vor sich gegangen. Obwohl die Veränderungsprozesse in Richtung und Intensität bei den untersuchten Merkmalsbereichen sehr unterschiedlich verlaufen (es gibt progressive, stagnative und regressive Verlaufstendenzen), läßt sich doch insgesamt ein charakteristischer Mentalitätswandel bei der DDR-Jugend eindeutig nachweisen. Ergebnisse dieser umfangreichen Lebensziel-Tests können hier nur auszugsweise mitgeteilt werden, doch spiegeln auch die nicht angeführten Indikatoren ganz ähnliche Trends wider.

Tabelle 13 vermittelt einen sehr interessanten und aufschlußreichen Einblick in den Wandel der Lebensorientierungen von DDR-Jugendlichen seit 1975. Damit wird ein erstaunlicher „Wertewandel“ dokumentiert, der in den beiden letzten Untersuchungen 1989/90 noch intensiver als vorher verläuft und eher als „Mentalitätsumbruch“ oder „Werteaufbruch“ in der DDR charakterisiert werden kann. Stark zugenommen hat das Streben nach Selbstgestaltung und sozialer Anerkennung. Sprunghaft angestiegen waren schon zwischen 1975 und 1985 das Erlebnisstreben, das Streben nach Mode und Luxus sowie das Streben nach Geselligkeit. Diese Lebensziele haben sich bis heute weiter verstärkt. Relativ gleich geblieben sind die Lebensorientierungen „gesellschaftliche Aktivität“ und „Umgang mit der Kultur“.

Zwischen 1985 und 1990 haben die Werte Gerechtigkeit, Bildung, Arbeit (die sich in den zehn Jahren vorher kaum bzw. eher rückläufig verändert hatten) im Bewußtsein der Jugend an Bedeutung gewonnen.

Das verwundert auf den ersten Blick, wurden doch diese Werte in der traditionellen „sozialistischen Erziehung“ der DDR breit propagiert. Es erklärt sich aber aus der veränderten Lebenslage der DDR-Jugendlichen. Sie haben in den letzten Jahren mehr Erfahrungen mit Ungerechtigkeiten aller Art in ihrem Alltag machen müssen. Ihre eigene Perspektive ist nicht mehr so selbstverständlich gesichert, sie erfordert jetzt mehr persönlichen Einsatz, muß erkämpft werden. Gleichzeitig spüren (ahnen) viele Jugendliche auch die größeren Möglichkeiten, die ihnen die Zukunft in der neuen Gesellschaft bereithält, wenn sie sich mit aller Energie einbringen.

Diese und zahlreiche weitere Forschungsergebnisse des ZU belegen, daß tiefliegende Mentalitätsstrukturen, basale Persönlichkeitsdimensionen der DDR-Jugend im letzten Jahrzehnt von sehr dynamischen Wandlungsprozessen betroffen waren und noch sind. So haben sich in dieser Zeit die Ausprägungsformen wichtiger sozialer Grundbedürfnisse (Motivkomplexe) erheblich verändert, was große Auswirkungen auf die strukturell davon abhängigen Wertorientierungen, Überzeugungen, Einstellungen sowie auf die Determination des entsprechenden Alltagsverhaltens hat.

In einem kurzen Überblick möchte ich abschließend auf solche sozialen Grundbedürfnisse verweisen, deren Intensität bei der DDR-Jugend eindeutig zugenommen hat, die das Erleben und Alltagsverhalten junger Menschen zunehmend stärker bestimmen.

1. Das Bedürfnis nach Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung

Die Entwicklung zu einem höheren Selbstwertanspruch, zu mehr Selbstachtung kommt im Alltagsverhalten der Jugendlichen darin zum Ausdruck, daß sie ihren „Eigenwert“ stärker betonen, mehr Achtung, Respekt, Anerkennung ihres eigenen Standpunkts und ihrer Persönlichkeit erwarten. Sie wollen als gleichberechtigte Partner akzeptiert werden. Sie zeigen eine größere Sensibilität, heftigere Reaktionen auf Verletzungen ihrer eigenen Meinung durch Mißachtung, Bevormundung oder eine Unfehlbarkeitshaltung bei ihren Kommunikationspartnern. Die zunehmende Tendenz zur Selbstbestimmung äußert sich in einem verstärkten Autonomiestreben. Junge Leute wollen noch nachdrücklicher als früher alle wichtigen Entscheidungen selbst treffen, mehr Eigenverantwortung tragen, sowohl im privaten als auch im beruflichen und gesellschaftlichen Leben.

Eine weitere Komponente des veränderten Selbstbewußtseins der Jugend ist der Anspruch auf mehr Selbstverwirklichung. Junge Leute bemühen sich seit Jahren verstärkt, selbst aktiv zu sein, etwas zu gestalten, zu bewegen, zu verändern, selbst Verantwortung zu tragen, im großen wie im kleinen. Ein höheres Niveau der Selbstbestimmung und Selbstverantwortung tendiert folgerichtig auch zu mehr Mitbestimmung und Mitverantwortung im gesellschaftlichen und privaten Leben.

Das in den achtziger Jahren verstärkt auftretende Streben nach Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung besitzt eine hohe Erklärungsfunktion für das politische Verhalten der DDR-Jugend. Es erklärt zahlreiche Erscheinungsformen des Jugend-verhaltens in der Umbruchphase: etwa die aktive Teilnahme vieler 15-bis 20jähriger (Schüler, Lehrlinge), besonders aber über 20jähriger (junger Arbeiter, Studenten) an Demonstrationen, Versammlungen, Foren, das selbstbewußte, oft auch radikale Vertreten eigener Standpunkte und Forderungen, das persönliche Engagement für die politische Umgestaltung des Landes, aber eben auch das Abwarten, die Zurückhaltung eines anderen großen Teiles der Jugend, dessen tiefe Enttäuschung und Ablehnung des alten Regimes und dessen Urteilsunsicherheit hinsichtlich der gegenwärtigen politischen Kräfte, Konzeptionen und Ziele. Eine gewisse Resignation, nicht selten gekoppelt mit extremistischem Verhalten ist unübersehbar. Viele junge Leute werden auch in Zukunft zu mehr politischem Disengagement, zu mehr Privatheit und sozial distanzierter Lebensgestaltung tendieren.

Die berechtigte Frage nach den sozialen Determinanten dieses historisch sich verstärkenden Bedürfnisses kann hier nicht diskutiert werden. Dazu bedarf es einer gründlichen Untersuchung, die von kulturellen Strömungen unserer Zivilisation bis zu ganz spezifischen Faktoren des Aufwachsens in der DDR der achtziger Jahre reichen müßte. Der Mentalitätswandel der DDR-Jugend resultiert sowohl aus internationalen wie aus einer Vielzahl DDR-typischer Einflußfaktoren, die strukturell ineinander verwoben sind.

2. Das Bedürfnis nach Lebensgenuß und Spannung

Junge Leute wünschen mit steigendem Nachdruck, das Leben zu genießen, „mehr vom Leben“ zu haben, sich „ausleben“ zu können und suchen heute aktiver nach den entsprechenden Möglichkeiten, nach spannenden, nichtalltäglichen Erlebnissen: weite Reisen zu unternehmen, Abenteuer, heikle Situationen, soziale Auseinandersetzungen zu meistern, in der Öffentlichkeit oder im Freundeskreis Aufsehen zu erregen, Geltung zu gewinnen. Liebes-und Sexualglück auszukosten, Musik, Kunst und Kultur zu genießen. Sicher wird sich dieses Streben nach Lebensgenuß in nächster Zeit noch verstärken, wobei nicht absehbar ist, welche sozialen Folgen sich daraus ergeben werden.

3. Das Bedürfnis nach informellen Formen des Sozialkontaktes

Wie schon angedeutet, bevorzugen junge Menschen heute stärker als früher informelle Kontakte (Freunde. Freizeit-, Hobby-, Interessen-und Diskussionsgruppen). Sie sind nicht kollektivfeindlich eingestellt, fühlen sich überwiegend wohl in ihren Schulklassen, Seminargruppen, Arbeitskollektiven, wenn sie sich dort bestätigt fühlen, wenn ihre Interessen, Probleme, Meinungen, Ansprüche toleriert werden. Der typische DDR-Jugendliche strebt zwar nach mehr Privatheit, ist aber keinesfalls privatistisch oder isolationistisch eingestellt.

Daß viele junge Leute mit hohem persönlichen Risiko und Engagement, mit großem Kraft-und Zeitaufwand in informellen bzw. halb-informellen Gruppen politisch mitwirken, dort sinnvolle Ziele, Tätigkeiten und ihre Selbstverwirklichung finden, kann seit dem Sommer 1989 gut beobachtet werden. Junge Leute gehören in großer Zahl zu den Enthusiasten, zu den besonders Ungeduldigen und Einsatzbereiten, Aktiven bei der gesellschaftlichen Erneuerung.

4. Das Streben nach materiellen Werten

Materielle Interessen haben in den letzten Jahren bei sehr vielen DDR-Jugendlichen (und Erwachsenen) stark an Bedeutung gewonnen. Das Bedürfnis, materielle Werte bzw. Vorteile möglichst kurzfristig zu erreichen, hat sich von Jahr zu Jahr stärker ausgeprägt und wächst weiter an.

Die Erfahrung, daß höhere Leistung nichts einbringt, sich finanziell nicht lohnt (die Nichtverwirklichung des Leistungsprinzips), wie die alltäglichen Erlebnisse der Mängel-, Miß-und Beziehungswirtschaft müssen ebenso wie die hier beschriebenen gewachsenen psychischen Ansprüche nach Selbstbestimmung, Individualität, -Privatheit, nach Lebensgenuß als Determinanten dieses Bedürfnis-wandels gesehen werden.

Das materielle Bedürfnis wird sich in der DDR Bevölkerung weiter ausprägen und in nächster Zu kunft einen vorrangigen Platz im Motivationsgefüge einnehmen. Das dürfte einerseits die Lei stungsbereitschaft durchaus günstig beeinflussen könnte aber andererseits auch zu einer „Entsolida risierung" führen, zu einer Zunahme egoistische: Verhaltensweisen, sozialer Konflikte und Auffällig keiten, politisch sowohl zu Indifferenz und Opportunismus. wie vielleicht auch zur Orientierung an extremistischen Positionen.

5. Das Bedürfnis nach Sicherheit

Unsere Forschungsergebnisse bestätigen, daß die große Mehrheit unserer Jugend lange Zeit ein stabiles Sicherheits-und Zukunftsbewußtsein besaß. Die jungen Leute fühlten sich sozial „abgesichert“, ihre berufliche Ausbildung und ein späterer Arbeitsplatz waren garantiert, sie erlebten eine Reihe sozialpolitischer Vergünstigungen, und sie reflektierten wenig Uber private oder gesellschaftliche Risikosituationen, etwa über Arbeitslosigkeit oder den Zusammenbruch des Systems. 70— 85% bekundeten in bezug auf ihre Lebensentwicklung uneingeschränkt Zukunftsoptimismus und das Gefühl sozialer Geborgenheit. Spätestens 1988 kam es jedoch zu einer Labilisierung dieses Sicherheitsbewußtsein bei einem Teil der Jugend, die sich rapide fortgesetzt hat.

Heute erscheint vieles ungewiß, unkalkulierbar: gesellschaftlich wie im persönlichen Leben. Nahezu alles ist in Frage gestellt. Was bleibt von der DDR? Was bleibt von den früheren sozialen Sicherheitsgarantien? Was kommt nach den Wahlen? Was wird nach der Vereinigung sein? Wird es die Arbeitslosigkeit massenhaft geben? Was wird man verdienen? Wie und wann soll die Rückständigkeit der heutigen DDR aufgeholt werden? Wird der Osten Deutschlands nicht noch viele Jahre benachteiligt bleiben? Warum soll gerade ich darunter leiden?

Schließlich: Soll ich hierbleiben oder doch noch gehen? Über diese und ähnliche Fragen reflektieren und diskutieren heute viele junge Menschen in der DDR. Und je unklarer die gesellschaftliche sowie ihre persönliche Lebenslage sind, desto intensiver erleben sie das Bedürfnis nach mehr Sicherheit. Ein großer Teil der Jugend befindet sich seit längerer Zeit nicht nur in einer politisch-ideologischen Orientierungskrise, sondern — durch ihre vielschichtige Verunsicherungslage bedingt — im Zustand eines emotional-intensiv erlebten Sicherheitsdefizits. Der Bedarf an mehr Sicherheit hat deutlich zugenommen.

Nur wenn es den verantwortlichen politischen Kräften gelingt, sehr schnell solche ökonomischen, finanziellen, politischen, sozialen, rechtlichen und auch jugendspezifischen Bedingungen/Strukturen zu schaffen (bzw. glaubwürdig für die allernächste Zeit in Aussicht zu stellen), daß die materiellen, finanziellen und Sicherheitsinteressen in der DDR annähernd so wie in der Bundesrepublik befriedigt werden können, werden junge Leute nicht mehr massenhaft in den Westen abwandem. Gelingt es nicht, die ökonomischen, politischen und sozialen Lebensbedingungen auf dem Gebiet der DDR kurzfristig auf hohem Niveau zu stabilisieren, dann wird es bei sehr vielen jungen Leuten zu einer weiteren Abschwächung der Bindung (Identifikation) gegenüber diesem Teil Deutschlands, der Heimat-region und den dort lebenden Menschen kommen. Die gegenwärtig in der DDR lebenden jüngeren Generationen könnten sich dann rasch zu einem sehr kritischen politischen Konfliktpotential entwickeln, das schwer zu kontrollieren sein würde.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Mein besonderer Dank gilt Peter Förster, Kurt Starke, Harry Müller, Hans-Jörg Stiehler, die als Forschungsleiter diese Studien konzipiert, sowie Günter Roski und Ulli Heublein, die Daten zugearbeitet haben.

Weitere Inhalte

Walter Friedrich, Prof. Dr. habil., geb. 1929; seit 1966 Direktor des Zentralinstituts für Jugendfor schung in Leipzig. Veröffentlichungen u. a.: Jugend heute, Berlin 1966; Jugend und Jugendforschung, Berlin 1976; (Hrsg. Zwillingsforschung international, Berlin 1984; (Hrsg, mit Barbara Bertram und Otmar Kabat vel Job Adam und Eva heute, Leipzig 1988.