Der Wachstumsprozeß in der Bundesrepublik ist auch nach Inkrafttreten des Stabilitätsgesetzes von 1967 nicht stetig verlaufen. Die Schwankungen im Auslastungsgrad des Produktionspotentials waren vielmehr kaum geringer als in den fünfziger und sechziger Jahren. Auch der Übergang von der antizyklischen Globalsteuerung zum Konzept einer Verstetigungspolitik, insbesondere im Wege der potentialorientierten Geldmengenpolitik der Bundesbank seit 1975, haben das Phänomen der Konjunkturzyklen nicht beseitigen können. Allerdings hat die Bundesbank ihr Konzept nicht konsequent durchgehalten, vor allem aus Rücksichtnahme auf den Wechselkurs. Hinzu kamen exogen verursachte Schocks in Form der beiden Ölkrisen und des Börsencrashs von 1987. Der Wachstumsprozeß ist zudem im Zeitverlauf durch einen immer geringeren Anstiegswinkel gekennzeichnet gewesen. So konnte das Problem der hohen Arbeitslosigkeit in den achtziger Jahren bisher nicht befriedigend gelöst werden, da nach wie vor ein enger Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Beschäftigung besteht. Dagegen ist der Zusammenhang zwischen Wachstum und Ressourcenverbrauch seit Anfang der siebziger Jahre aufgelöst worden. Auch die Umweltbelastung ist in wichtigen Schadstoffbereichen trotz weiteren Wachstums seit den siebziger Jahren, absolut betrachtet, zurückgegangen.
I. Das „magische Viereck“ der Stabilitätspolitik
Als das „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“ vom 8. Juni 1967 (Stabilitätsgesetz) in Kraft trat, wurde es als „Versöhnung des Freiburger Imperativs mit der Keynes’schen Botschaft“ betrachtet: Die vor allem von der Freiburger Schule vertretene Selbststeuerung der Wirtschaft auf den Einzelmärkten sollte durch eine staatliche Beeinflussung der Gesamtnachfrage gemäß dem keynesianischen Konzept der antizyklischen Globalsteuerung ergänzt werden, um auf diese Weise der in Art. 109 Abs. 2 GG enthaltenen Forderung nach gesamtwirtschaftlichem Gleichgewicht Rechnung zu tragen. Bei der Konkretisierung dieser Aufgabe griff man auf das schon im Sachverständigenratsg GG enthaltenen Forderung nach gesamtwirtschaftlichem Gleichgewicht Rechnung zu tragen. Bei der Konkretisierung dieser Aufgabe griff man auf das schon im Sachverständigenratsgesetz vom 14. August 1963 formulierte „magische Viereck“ der Ziele „Stabilität des Preisniveaus, hoher Beschäftigungsstand und außenwirtschaftliches Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum“ zurück 1). Die ersten drei Ziele finden sich in ähnlicher Formulierung auch bereits im EWG-Vertrag von 1957 2),
Abbildung 6
Abb. 6: Wachstum und Primärenergieverbrauch (reales BSP in 100 Mrd. bzw. Petajoule)
Abb. 6: Wachstum und Primärenergieverbrauch (reales BSP in 100 Mrd. bzw. Petajoule)
Das Stabilitätsgesetz entsprach dem in den sechzigerJahren vorherrschenden Glauben an die „Machbarkeit“ des Wirtschaftsprozesses es wurde entscheidend von dem damaligen Wirtschaftsminister Karl Schiller, einem konsequenten Verfechter keynesianischer Wirtschaftspolitik, mitgeprägt. Insbesondere mit Hilfe finanzpolitischer Instrumente wie Z. B. befristeten Steuersenkungen oder -erhöhungen, Variationen der Abschreibungsmöglichkeiten und Investitionsprämien sowie unter Einsatz der staatlichen Schuldenpolitik sollten alle genannten Ziele möglichst gleichzeitig erreicht, das „magische Viereck“ also möglichst in ein Gleichgewicht ge-bracht werden. Dies ist in der Realität jedoch niemals vollständig gelungen (vgl. Abb. I) mehr oder weniger große Verfehlungen einzelner, in einigen Fällen — wie etwa im Rezessionsjahr 1974 — sogar aller Ziele sind vielmehr bisher die Regel gewesen. Keynesianisch orientierte Ökonomen machen hierfür inhärente Zielkonflikte, sog. trade offs, verantwortlich; so sei gemäß der sog. Phillips-Kurve ein gleichzeitiges Erreichen von Preisniveaustabilität und Vollbeschäftigung grundsätzlich nicht möglich man müsse daher politisch bestimmte Abwägungen der Wichtigkeit der einzelnen Ziele vornehmen.
Dem wird von monetaristisch orientierten Ökonomen entgegengehalten, daß es sich hier um Schein-konflikte, bestenfalls kurzfristig gültige trade offs handele. Längerfristig bedingen sich danach vielmehr die einzelnen Ziele gegenseitig; so sei etwa Vollbeschäftigung auf Dauer nicht ohne Preisniveaustabilität erreichbar, und diese wiederum erfordere außenwirtschaftliches Gleichgewicht, wenngleich nicht unbedingt in dem von den Keynesianern definierten Sinne Denn auch die Ziele selbst und ihre Operationalisierung sind von Anbeginn an Gegenstand kontroverser Diskussionen gewesen, und ihre quantitative Manifestierung in den Jahreswirtschaftsberichten der Bundesregierung erfolgte im Zeitverlauf sehr unterschiedlich. Ursprünglich — im ersten Jahreswirtschaftsbericht 1968 — wurden die vier Ziele wie folgt definiert
— hoher Beschäftigungsstand wurde mit einer Arbeitslosenquote von (nicht mehr als) 0, 8 Prozent gleichgesetzt;
— Preisniveaustabilität sollte bei einem Preisanstieg des Bruttosozialprodukts von nicht mehr als einem Prozent gegeben sein (später ging man auf den Preisindex der Lebenshaltung über);
— außenwirtschaftliches Gleichgewicht wurde am Anteil des Außenbeitrags (Exportüberschusses) am Bruttosozialprodukt festgemacht; angestrebt wurde ein Wert von einem Prozent; — angemessenes Wirtschaftswachstum schließlich wurde bei einem jährlichen Zuwachs des Bruttosozialprodukts von vier Prozent gesehen.
Keine dieser Zieldefinitionen ist unumstritten geblieben, sowohl was die gewählten Zielindikatoren als auch was ihre quantitative Bestimmung betrifft (vgl. dazu die entsprechenden Einzelbeiträge in diesem Heft). Die Sinnhaftigkeit der beiden letztgenannten Ziele ist darüber hinaus grundsätzlich angezweifelt worden: So stellt sich etwa die Frage, inwieweit bei flexiblen Wechselkursen ein Problem außenwirtschaftlichen Gleichgewichts überhaupt noch besteht. Die quantitative Vorgabe eines Wachstumszieles wird u. a. unter dem Gesichtspunkt kritisiert, daß der Staat damit unmittelbar in die Präferenzen der Wirtschaftssubjekte eingreift. Manche dieser Kontroversen erweisen sich indessen als Scheinprobleme, wenn es um konkrete Empfehlungen für die Wirtschaftspolitik geht. Denn legt man die Analysen des Sachverständigen-rates zugrunde, stellt sich regelmäßig heraus, daß es auf die Realisierung von Bedingungen ankommt, die letztlich mit allen vier genannten Zielen harmonieren, und daß es mehr qualitative als quantitative Vorgaben sind, die der Staat dabei zu beachten und umzusetzen hat.
II. Wachstum als Ziel der Wirtschaftspolitik
Abbildung 2
Abb. 2: Wachstumszyklen in der Bundesrepublik (Zuwachsrate des realen BSP)
Abb. 2: Wachstumszyklen in der Bundesrepublik (Zuwachsrate des realen BSP)
Das Wirtschaftswachstum nimmt unter den Zielen des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft in mehrfacher Hinsicht eine Sonderstellung ein. Im Gegensatz zu den drei anderen im Gesetz genannten Zielen ist es als Nebenbedingung formuliert: „Die Maßnahmen sind so zu treffen, daß sie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum beitragen.“ Praktisch die gleiche Formulierung wurde bereits im Sachverständigenratsgesetz gewählt Es wäre jedoch falsch, daraus auf eine Nachrangigkeit dieses Zieles gegenüber den anderen zu schließen; dies würde zu der Vorgeschichte der gewählten Gesetzesformulierung im Widerspruch stehen und wäre auch nicht gut in Übereinstimmung mit der Tatsache zu bringen, daß neben dem Ziel der (Preisniveau-) Stabilität nur das Wachstumsziel auch im Titel des Gesetzes auftaucht Genaugenommen ist die Formulierung als Nebenbedingung sogar viel restriktiver als die eines Hauptzieles, denn wie jeder Anwender von Programmierungstechniken weiß, ist eine Nebenbedingung unter allen Umständen einzuhalten, während Hauptziele in mehr oder minder großem Maße verwirklicht werden können.
Nach der heute allgemein vertretenen Interpretation sind die vier Ziele jedoch als grundsätzlich gleichrangig zu betrachten so sind sie auch vom Sachverständigenrat stets verstanden worden Die Formulierung des Wachstumszieles als Nebenbedingung hatte einen anderen Grund: Sie war zu verstehen als „ein Riegel gegen . Planungstendenzen* und . Programmierungsbestrebungen*, die von der SPD mit der Errichtung des Sachverständigen-rates verfolgt wurden“ Denn unter marktwirtschaftlich orientierten Ökonomen gilt die Wachstumsrate einer Volkswirtschaft nicht als ein quantitativ exakt bestimmbares Ziel, sondern vielmehr als ein im einzelnen nicht planbares Ergebnis des dynamischen Wettbewerbsprozesses, welches nicht zuletzt auch von den individuellen Präferenzen abhängt Wird etwa von den Arbeitnehmern eher zusätzliche Freizeit als zusätzliches Einkommen gewünscht, so wird sich wahrscheinlich eine geringere Wachstumsrate einstellen als im umgekehrten Fall; auch aus gesamtwirtschaftlicher Sicht wäre an dem entsprechend geringeren materiellen Wohlstand nichts auszusetzen Dies gilt auch für das relative Wachstum einzelner Wirtschaftsbereiche, welches aus marktwirtschaftlicher Sicht tunlichst der Steuerung des Wettbewerbs zu überlassen ist Bis Mitte der sechziger Jahre stellte sich die Frage eines nachlassenden Wirtschaftswachstums allerdings noch gar nicht, und auch die nachteiligen Folgen einer zu starken Beanspruchung der volkswirtschaftlichen Ressourcen — insbesondere der Ressource „Umwelt“ — waren als Problem noch nicht in den Vordergrund getreten. Auch dies mögen Rückblick auf die 80er Jahre Wirtschaftsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland Gründe dafür gewesen sein, daß es für Ludwig Erhard nur das magische Dreieck von Preisniveaustabilität, hohem Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht gab
Eine weitere Besonderheit des Wachstumszieles liegt darin, im Stabilitätsgesetz mit einem zweifachen Adjektiv versehen zu sein: — Zum einen soll der Wachstumsprozeß „stetig“ verlaufen, d. h. mit möglichst geringen konjunkturellen Ausschlägen verbunden sein. Während man in den fünfziger und sechziger Jahren dieses Ziel noch mit dem keynesianischen Instrumentarium der antizyklischen Globalsteuerung zu erreichen trachtete, auf das auch die Instrumente des Stabilitätsgesetzes zugeschnitten sind setzte sich mit dem Beginn der siebziger Jahre die Idee der Regel— bindung zentraler volkswirtschaftlicher Größen durch, zunächst in der Wissenschaft, später auch in der praktischen Wirtschaftspolitik — „Angemessenes“ Wachstum war anfangs wohl vor allem als Vermeidung einer konjunkturellen Überforderung der Volkswirtschaft durch ein überzogenes Anspruchsniveau gemeint Erst Mitte der siebziger und vor allem in den achtziger Jahren trat mit den zunehmenden Beschäftigungsproblemen der Gedanke in den Vordergrund, daß die Produktionskapazitäten schnell genug wachsen müßten, um genügend Arbeitsplätze für das wachsende Erwerbspersonenpotential bereitzustellen. Gleichzeitig kam aber auch die Sorge hinzu, ein zu starkes Wachstum könne in Konflikt mit den begrenzten natürlichen Ressourcen und mit dem Erhalt einer lebenswerten Umwelt geraten in der Folge wurde angemessenes Wachstum daher vielfach im Sinne eines mehr qualitativen als quantitativen Wachstums verstanden. Man versuchte, mit Hilfe sog. sozialer Indikatoren die Sozialproduktsrechnung zu korrigieren Inzwischen arbeitet auch das Statistische Bundesamt an einer ökologischen Gesamtrechnung, die indessen getrennt von der Sozialproduktsrechnung geführt werden soll.
Im Gegensatz zum Ziel der „Stetigkeit“, bei dem nur die Mittel zu seiner Erreichung umstritten sind, wird die „Angemessenheit“ des Wachstums also schon inhaltlich sehr unterschiedlich interpretiert. Der Text des Stabilitätsgesetzes schließt auch die Einbeziehung ökologischer Kriterien keineswegs aus. Daher kann es auch nicht als „anachronistisches Überbleibsel einer längst überholten Phase der Wirtschaftspolitik“ gelten, wie es kürzlich von der Bundestagsfraktion der GRÜNEN bezeichnet worden ist Weitaus eher angebracht wäre eine solche Bezeichnung für das keynesianische Instrumentarium, das dieses Gesetz zur Umsetzung seiner Ziele vorsieht; die Ziele selbst und insbesondere auch das Wachstumsziel sind dagegen — nicht zuletzt aufgrund ihrer sorgfältigen Formulierung — nach wie vor aktuell.
III. Kein Ende der Konjunkturzyklen
Abbildung 3
Abb. 3: Entwicklung der Wirtschaftsbereiche (Anteile an den Erwerbstätigen in Prozent)
Abb. 3: Entwicklung der Wirtschaftsbereiche (Anteile an den Erwerbstätigen in Prozent)
Es ist heute in der praktischen Wirtschaftsanalyse üblich, zwischen dem Wachstum der Produktionskapazität (dem sog. Produktionspotential) und ihrer Auslastung, gemessen am tatsächlichen Sozialprodukt. zu unterscheiden -Die Messung des Wirtschaftswachstums stellt dabei auf den Zuwachs des Produktionspotentials ab, während der Konjunkturverlauf danach beurteilt wird, in welchem Ausmaß das Produktionspotential durch die tatsächliche Produktion (gemessen am realen Bruttoinlandsprodukt) ausgelastet wird: Ein sinkender Auslastungsgrad bedeutet danach Rezession, während ein steigender Auslastungsgrad mit wirtschaft-lieber Aufwärtsentwicklung (Prosperität) identifiziert wird
Nach diesem Indikator hat es die erste kleinere Rezession in der Bundesrepublik in den Jahren 1962/63 gegeben wobei das Sozialprodukt einen nach heutigen Maßstäben noch recht beachtlichen Zuwachs von knapp drei Prozent aufwies (vgl. Abb. 2) Mit dem Stabilitätsgesetz verband man die Hoffnung, durch antizyklische staatliche Nachfragepolitik (demand management) den Wachstumsverlauf verstetigen und so die Konjunkturschwankungen nachhaltig dämpfen, wenn nicht sogar ganz verhindern zu können. Die erste wichtige Bewährungsprobe für die antizyklische Global-steuerung erfolgte bereits 1967, als der Auslastungsgrad des Produktionspotentials unter 94 Prozent sank und das reale Bruttosozialprodukt erstmals leicht zurückging. Der Bund reagierte mit zwei Konjunkturprogrammen, deren expansive Wirkung jedoch durch prozyklisches Haushaltsgebaren der Länder und Gemeinden und durch eine zunächst noch restriktive Geldpolitik konterkariert wurde Die konjunkturdämpfenden Maßnahmen des Jahres 1970, insbesondere der — im Stabilitätsgesetznichtvorgesehene — rückzahlbare Konjunkturzuschlag und die Aussetzung der degressiven Abschreibung nach Paragraph 26 Abs. 3 b des Gesetzes, kamen — ebenso wie die Aufwertung der DM im Oktober 1969 — zu spät und wirkten sich letztlich prozyklisch aus, da der Höhepunkt des Booms 1970 bereits erreicht war -Damit bestätigten sich erneut die vom Sachverständigenrat schon früh beschriebenen Probleme der Antizyklik, nämlich die Schwierigkeit, konjunkturelle Maßnahmen rechtzeitig einzuleiten, richtig zu dosieren und hinreichend mit den beteiligten Trägern der Wirtschaftspolitik — einschließlich der Tarifparteien — abzustimmen
Vor allem aber wurde zu Beginn der siebzigerJahre die entscheidende Rolle der Geldpolitik für ein stetiges Wachstum deutlich. Im Zusammenhang mit der lange Zeit unterbewerteten DM und dem Verfall des Währungssystems von Bretton Woods kam es zu erheblichen Devisenzuflüssen und in der Folge auch zu einer Aufblähung der inländischen Geldmenge; die Inflationsrate stieg ab 1970 sprunghaft an und zog — auch wegen der im vorangegangenen Boom stark vorausgeeilten Unternehmensgewinne — entsprechende Lohnerhöhungen nach sich, die in den Jahren 1973 und 1974 teilweise über 15 Prozent hinausgingen Als mit dem Übergang zum Block-Floating (Währungsschwankungen innerhalb festgelegter Bandbreiten in einem Währungsverbund) im März 1973 die Bundesbank die Kontrolle über die inländische Geldmenge zurück-gewann und diese Situation sofort zu einem scharfen Restriktionskurs nutzte, war mit der Eindämmung der inzwischen auf sieben Prozent zusteuer den Inflationsrate gleichzeitig das Ende des Auf Schwungs vorprogrammiert, zumal auch die Finanz-politik 1973 auf einen kontraktiven Kurs umschwenkte, u. a. mit den Instrumenten einer Stabilitätsanleihe, eines zehnprozentigen Stabilitätszuschlages zu den Steuern auf mittlere und hohe Einkommen und einer elfprozentigen Investitionssteuer Es kam schließlich zur bisher schwersten Rezession in der Bundesrepublik mit einem Rückgang des realen Sozialprodukts um 1, 4 Prozent und einem nur noch wenig über 93 Prozent liegenden Auslastungsgrad im Jahre 1975.
Ab 1975 ging die Bundesbank dazu über, sich ein jährliches, am Wachstum des Produktionspotentials orientiertes Geldmengenziel zu setzen, um auf diese Weise zu einer Verstetigung der monetären Entwicklung und damit auch des wirtschaftlichen Wachstumsprozesses beizutragen. Sie folgte damit im Grundsatz einem entsprechenden Vorschlag des Sachverständigenrates, ohne jedoch dessen Konzept eines mittelfristigen Zielpfades zu übernehmen. Statt dessen wurden jährlich wechselnde, bis 1978 als Punktziel, danach als Zielkorridor (mit Bandbreiten von zwei bis drei Prozent) formulierte Zuwachsraten für die Zentralbankgeldmenge angekündigt, die zudem keineswegs immer eingehalten wurden
So können die Ursachen für den folgenden konjunkturellen Abschwung Anfang der achtziger Jahre mit einiger Berechtigung wiederum vorwiegend im monetären Bereich gesehen werden. Vorausgegangen war eine deutliche Überschreitung des ohnehin reichlich bemessenen Geldmengenzuwachses für 1978, der schließlich 11, 4 statt acht Prozent für den Jahresdurchschnitt betrug, nachdem auch das (gleich hohe) Ziel des Vorjahres schon nicht eingehalten worden war. Aufgeschreckt durch das sich abzeichnende Wiederaufflackern der gerade erst wieder unter drei Prozent gedrückten Inflationsrate und durch einen — erstmals seit 1965 — negativen Leistungsbilanzsaldo ging die Bundesbank Mitte 1979 dann abrupt wieder zu einer restriktiven Politik über, welche sie bis 1981 durchhielt. In der Folge schnellte das Zinsniveau — allerdings auch unter außenwirtschaftlichen Einflüssen — auf die Rekordhöhe von 13 Prozent für kurzfristige Staatspapiere (1981), womit zwar die Grundlage für den später einsetzenden Rückgang der Inflationsrate geschaffen wurde, allerdings um einen hohen Preis: Der Auslastungsgrad des Produktionspotentials sank von 98, 5 Prozent im Jahre 1979 auf nur noch 93, 2 Prozent 1982. und der Zu-wachs des realen Bruttosozialprodukts sank bis 1981 auf Null, um ein Jahr später sogar geringfügig in den Minusbereich abzusinken.
Ebenso wie Anfang der siebziger Jahre war auch die konjunkturelle Entwicklung nach 1979 durch außenwirtschaftliche Turbulenzen, insbesondere bei den Wechselkursen, und durch stark steigende Ölpreise belastet; insofern wäre es verfehlt, die Ursachen für die mangelnde Stetigkeit des Wachstumsprozesses allein in binnenwirtschaftlichen Komponenten zu suchen. Daß aber der Geldpolitik hier eine besondere Rolle zukommt, dafür bietet die weitere Entwicklung in den achtziger Jahren reichlich Anschauung, und zwar zunächst im positiven Sinne. Es gelang der Bundesbank in den Jahren bis 1985, den Geldmengenzuwachs jeweils in den geplanten Grenzen zu halten — mit Ausnahme einer leichten Zielüberschreitung 1983 — und die Inflationsrate deutlich abzusenken: 1986 sanken — mitten im Konjunkturaufschwung — die Verbraucher-preise sogar erstmals seit 1953.
Der Ende 1982 einsetzende Aufschwung wurde zu dem längsten, den die Bundesrepublik bis heute erlebt hat und er verlief überdies lange Zeit weitgehend frei von negativen konjunkturellen Begleiterscheinungen, welche frühere Phasen vergleichbarer Art in Form von Inflationsanstieg und Verteilungskonflikten gekennzeichnet hatten. Der Sachverständigenrat diskutierte in seinem Jahresgutachten 1987 sogar bereits die Frage, ob die früheren zyklischen Verlaufsmuster nicht inzwischen tatsächlich der angestrebten stetigen Wachstums-entwicklung gewichen seien, hielt eine definitive Antwort hierauf aber noch nicht für möglich Diese Vorsicht hat sich als berechtigt erwiesen, denn inzwischen hat der bis 1987 langsam, aber stetig verlaufende Aufschwung den Charakter eines regelrechten Booms mit allen Anzeichen der Überhitzung erhalten, nämlich einem sprunghaften Anstieg der Inflationsrate auf über drei Prozent, voll ausgelasteten Kapazitäten in vielen Wirtschaftsbereichen Engpässen auf dem Arbeitsmarkt — trotz weiterhin hoher Arbeitslosigkeit — und hohen Lohnforderungen der Gewerkschaften, die sich teilweise bereits wieder in zweistelliger Höhe bewegen Erneut war es die Bundesbank, die mit der deutlichen Überschreitung ihrer Geldmengen-ziele in den Jahren 1986 bis 1988 den Boden für diese Entwicklung bereitet hat. Sicher hat es im Zusammenhang mit dem Wertverfall des US-Dollar seit dem Frühjahr 1985 und dem weltweiten Börsencrash vom Oktober 1987 außenwirtschaftliche Ereignisse gegeben, die zur Rechtfertigung der Geldpolitik herangezogen werden können; aber auch diesmal müßte dafür ein hoher Preis bezahlt werden, wenn es zu einem weiteren Anstieg der Inflationsrate und in der Folge zu einer Stabilisierungskrise ähnlich denen in früheren Phasen kommen sollte
Zieht man ein Fazit aus diesen Erfahrungen, so hat offenbar weder das Instrumentarium des Stabilitätsgesetzes noch der Übergang zur potentialorientierten Geldmengensteuerung eine nachhaltige Verstetigung des Wachstumsprozesses bewirken können, wenngleich aus ganz unterschiedlichen Gründen. Während nämlich das Konzept der Antizyklik nach heute überwiegender Auffassung grundsätzlich ungeeignet für diese Aufgabe ist, hat es bei der Regelbindung bisher an der nötigen Konsequenz gefehlt. Nach den Erfahrungen bis 1987 wären die Chancen für eine spannungsfreie Aufwärtsentwicklung bis weit in die neunziger Jahre hinein wohl groß gewesen, wenn die Geldpolitik den stetigen Kurs der ersten Hälfte der achtziger Jahre beibehalten hätte und darin von der Finanz-und Lohnpolitik hinreichend unterstützt worden wäre.
IV. Langfristig abflachendes Wirtschaftswachstum
Abbildung 4
Abb. 4: Wachstum und Beschäftigung (Zuwachs in Prozent)
Abb. 4: Wachstum und Beschäftigung (Zuwachs in Prozent)
Im Gegensatz zur Vorstellung eines exponentiellen (also mit konstanter Rate zunehmenden) Wirtschaftswachstums. wie sie in theoretischen Modellen dominiert, folgt die tatsächliche Entwicklung des Produktionspotentials in der Bundesrepublik eher einem linearen Verlauf, der zudem im Zeitverlauf einen immer flacheren Steigungswinkel an-nahm. Betrug der durchschnittliche Anstieg des Produktionspotentials (in Preisen von 1980) im Zeitraum zwischen 1960 und 1970 noch etwa 40 Mrd. DM pro Jahr, so sank der durchschnittliche Zuwachs in den siebziger Jahren auf 39 Mrd. DM. um sich in den ersten acht Jahren der achtziger Jahre auf nur noch knapp 29 Mrd. DM pro Jahr zu verringern. Ein ähnliches Zeitprofil des Wachstums läßt sich auch für die anderen vier großen Industriestaaten nachweisen, jedoch ist die Wachstumsabflachung seit Anfang der siebziger Jahre in der Bundesrepublik vergleichsweise markanter ausgefallen, und auch die absolute Wachstumsrate des realen Sozialprodukts lag im Zeitraum zwischen 1973 und 1984 mit 1, 7 Prozent niedriger als in den anderen G 5-Ländern (mit Ausnahme Großbritanniens, wo sie nur 1, 1 Prozent erreichte) Das Bild ändert sich jedoch, wenn man das Wachstum auf den Faktoreinsatz bezieht, also die Entwicklung der Produktivität betrachtet. Ähnlich wie in den anderen vier großen Industrieländern ist die Kapitalproduktivität in der Bundesrepublik zwischen 1950 und 1973 zunächst gestiegen (um knapp 0, 6 Prozent pro Jahr), danach mit einer Rate von etwa 1, 7 Prozent pro Jahr wieder gefallen Die rückläufige Kapitalproduktivität ist insofern nicht überraschend, als die Kapitalintensität, also der Kapitaleinsatz je Erwerbstätigen, im Zeitverlauf stetig gestiegen ist denn dies impliziert für sich genommen eine sinkende Grenzproduktivität des Kapitaleinsatzes. Bereits im Verlauf der siebziger Jahre hat sich die Investitionstätigkeit zunehmend von Erweiterungszu Rationalisierungs-und Ersatzinvestitionen verlagert ein Trend, der sich auch in den achtziger Jahren fortsetzte. Beleg dafür ist neben entsprechenden Unternehmensbefragungen der relative Rückgang der gewerblichen Bauinvestitionen: Sie haben 1988 inflationsbereinigt nicht höher als 1980 und im Durchschnitt der Jahre 1980 bis 1988 mit 155 Mrd. DM pro Jahr nur wenig höher als in den siebziger Jahren (147 Mrd. DM) gelegen, während die Ausrüstungsinvestitionen (inflationsbereinigt) stetig zugenommen haben und 1988 immerhin um 50Prozent über dem Stand von 1970 lagen Grund für diese Entwicklung dürfte neben dem insgesamt verlangsamten Nachfrageanstieg auch der Lohnkostendruck, insbesondere in den siebziger Jahren, gewesen sein, der zu ständiger Rationalisierung zwang.
Dementsprechend ist die Arbeitsproduktivität in der Bundesrepublik stark gestiegen, in den Jahren 1950 bis 1973 (mit sechs Prozent pro Jahr) schneller als im Durchschnitt der anderen G 5-Länder, danach mit etwa gleicher Rate (drei Prozent pro Jahr) Aber auch diese Entwicklung hatte ihre Schattenseite: Anders als in den USA, wo der Lohnkostendruck und auch der Anstieg der Arbeitsproduktivität (mit durchschnittlich ein Prozent in den Jahren 1973 bis 1984) weitaus geringer war, konnten in der Bundesrepublik bis 1983 kaum Beschäftigungsgewinne gegenüber dem Rezessionsjahr 1975 erzielt werden; erst danach setzte im Zuge des neuen Konjunkturaufschwungs eine günstigere Entwicklung ein
Bei diesem Vergleich ist allerdings auch zu berücksichtigen, daß sich die sektorale Struktur in der Bundesrepublik anders als in den übrigen großen Industriestaaten entwickelt hat. Zwar läßt sich auch hier die sog. Drei-Sektoren-Hypothese bestätigen, wonach im langfristigen Vergleich das Gewicht des primären Sektors (Land-und Forstwirtschaft), zunächst zugunsten des sekundären Sektors (Produzierendes Gewerbe) abnimmt, während später der tertiäre Sektor (Dienstleistungen) gegenüber beiden anderen Bereichen an Bedeutung gewinnt (vgl. Abb. 3) Aber der Bedeutungsrückgang des in-dustriellen Sektors hat in der Bundesrepublik erst mit zeitlichem Rückstand, nämlich Anfang der siebziger Jahre, eingesetzt; dies lag u. a. an der langjährigen Unterbewertung der DM in den sechziger Jahren, die diesen exportintensiven Sektor begünstigte. Auch danach konnte der Rückstand in der Entwicklung des Dienstleistungssektors im internationalen Vergleich nicht aufgeholt werden; sein Anteil an den Erwerbstätigen lag 1984 mit etwa 54 Prozent noch immer deutlich niedriger als in allen anderen großen Industrieländern Gründe hierfür waren neben der traditionell hohen Exportorientierung der deutschen Wirtschaft auch strukturkonservierende Maßnahmen (etwa zugunsten der Montanindustrie) und ein vergleichsweise hohes Regulierungsniveau in wichtigen Dienstleistungsbereichen wie der Telekommunikation, dem Versicherungssektor und dem Verkehrsbereich Die be-schäftigungspolitische Bedeutung eines stärker wachsenden Dienstleistungssektors wird deutlich an der Struktur der zwischen 1983 und 1988 neu geschaffenen Arbeitsplätze: Während im Dienstleistungssektor 1988 im Jahresdurchschnitt eine Million Erwerbstätige mehr tätig waren als 1983, bot der industrielle Sektor 64 000 Arbeitsplätze weniger
Auch insgesamt kann von einer „Entkoppelung“ von Wachstum und Beschäftigung keine Rede sein; der positive Zusammenhang zwischen beiden Größen ist in den achtziger Jahren kaum weniger deutlich ausgeprägt als in früheren Wachstumsphasen (vgl. Abb. 4) Nachteilig macht sich jedoch das ingesamt geringere Wachstumstempo bemerkbar. Die auffallend schwache Investitionsdynamik bis 1987 wurde nicht nur auf bürokratische Hemmnisse und Regulierungen in vielen Bereichen, sondern vor allem auch auf unzureichende Gewinne und Gewinnerwartungen der Unternehmen zurückgeführt, so u. a. vom Sachverständigenrat und vom Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft Indiz für eine solche Diagnose ist auch der rückläufige Nettozufluß ausländischer Direktinvestitionen in die Bundesrepublik seit 1983, während sich umgekehrt die deutschen Direktinvestitionen im Ausland zwischen 1983 und 1987 mehr als verdoppelt haben Die Direktinvestitionen der deutschen Unternehmen sind zwar mit einem Wert, der etwa zehn Prozent der Ausrüstungsinvestitionen entspricht, nicht sehr bedeutend, aber als Indikator für das Investitionsklima dennoch von großem Interesse, zumal andere europäische Länder bei der Bilanz der Direktinvestitionen deutlich besser abschneiden Seit 1988 hat sich das Investitionsverhalten allerdings deutlich belebt; die realen Anlageinvestitionen stiegen 1988 und 1989 mit knapp 6 bzw. 7, 5 Prozent jeweils deutlich stärker als das Sozialprodukt; das betraf nunmehr auch die Bauinvestitionen, wenngleich die Ausrüstungsinvestitionen noch stärker zunahmen
Eine vergleichsweise schwache Investitionstätigkeit hat es seit Beginn der siebziger Jahre jedoch nicht nur im privaten Sektor, sondern auch beim Staat gegeben. Die staatlichen Bauinvestitionen sind zwischen 1970 und 1980 in Preisen von 1980 gerechnet von 50, 5 auf 47, 6 Mrd. DM zurückgegangen, bis 1987 dann noch einmal auf 36, 8 Mrd. DM; erst 1988 sind sie wieder leicht gestiegen. Bei den staatlichen Ausrüstungen hat es dagegen bis 1980 noch einen Anstieg von 3, 3 auf 5, 5 Mrd. DM gegeben; diese Größenordnung haben sie nach einem Zwischentief von 1986 an erneut erreicht Gründe für diese Entwicklung lassen sich sicher darin finden, daß wichtige Infrastrukturbereiche inzwischen ihren Endausbauzustand erreicht haben und im wesentlichen nur noch erneuert und modernisiert werden müssen; dies mag etwa für das Telefonnetz, für die Kanalisation oder die Schulen — mit Ausnahme der Universitäten — zutreffen. Andererseits ist der Emeuerungsbedarf z. B. bei der Kanalisation erheblich, und in einigen Bereichen wie etwa dem Verkehrssektor haben sich inzwischen gravierende Engpässe gebildet, deren Beseitigung nach Schätzungen mindestens zweistellige Milliardenbeträge erfordern würde Insofern kann es nicht befriedigen, daß der Anteil der Bruttoinvestitionen an den Gesamtausgaben des Staates seit 1970 von knapp zwölf Prozent kontinuierlich auf inzwischen nur noch gut fünf Prozent (1988) gesunken ist; in den sechziger Jahren hatte er im Durchschnitt noch bei knapp elf Prozent gelegen
Die Wachstumsentwicklung ist in den einzelnen Regionen der Bundesrepublik nicht gleichmäßig verlaufen (vgl. Abb. 5) dies wäre in einer sich ständig wandelnden und dem Wettbewerbsprinzip folgenden Marktwirtschaft auch gar nicht zu erwarten gewesen. Aber bei relativ geringer gesamtwirtschaftlicher Wachstumsrate machen sich entsprechende Unterschiede deutlicher auf dem Arbeitsmarkt und im regionalen Lebensstandard bemerkbar als in einer Phase großer Wachstumsdynamik wie in den fünfziger und sechziger Jahren. So stehen Bundesländer mit einer überdurchschnittlichen Wachstumsrate in den siebziger und achtziger Jahren wie Bayern oder Baden-Württemberg auch bei der Arbeitslosenquote deutlich besser da als etwa Nordrhein-Westfalen, das von allen Bundesländern das geringste Wachstum zu verzeichnen hatte Dabei ist allerdings eine Reihe von unterschiedlichen Einflußfaktoren zu berücksichtigen, insbesondere auch die unterschiedliche Struktur der Wirtschaftssektoren in den einzelnen Regionen. Andererseits läßt sich die unterschiedliche Entwicklung in den Ländern keineswegs allein durch diesen Faktor erklären spezifische regionale Einflußgrößen, zu denen auch die jeweils von den Ländern betriebene Wirtschaftspolitik gehört, haben offenbar ebenfalls einen erheblichen Einfluß gehabt
V. Wachstum und Ressourcenverbrauch
Abbildung 5
Abb. 5: Wirtschaftswachstum nach Ländern
Abb. 5: Wirtschaftswachstum nach Ländern
Die Kritik am Wachstumsziel entzündet sich seit den siebziger Jahren zum einen an dem damit verbundenen Verbrauch von Energie und nicht-erneuerbaren Rohstoffen und zum anderen an der wachsenden Umweltbelastung. In der Studie des Club of Rome von 1972 wurde beispielsweise errechnet, daß die Weltaluminiumreserven unter den dort getroffenen Annahmen nur noch für 31 Jahre reichen würden, die Vorräte an Kupfer und Blei nur noch für 21 Jahre und die Erdölvorräte für 20 Jahre Dabei wurde allerdings von exponentiellem Wachstum sowohl der Bevölkerung als auch des Pro-Kopf-Einkommens ausgegangen, was sich bisher für die Industrieländer und speziell auch für die Bundesrepublik nicht bestätigt hat. Die Menge der bekannten gewinnbaren Rohstoffe ist aufgrund neuer Funde und verbesserter Gewinnungstechniken sogar schneller gestiegen als ihr weltweiter Verbrauch, so daß sich die Reservesituation insoweit verbessert hat. Heute wird die Reichweite der Erdölreserven — bei konstantem Verbrauch — auf über 100 Jahre geschätzt, die Reserveschätzungen für die fossilen Energierohstoffe insgesamt liegen um 28 Prozent Uber dem Wert von 1980 und um 34 Prozent über dem Wert von 1976 Unter Einbeziehung der bei höheren Energiepreisen und technologischen Innovationen vermutlich noch gewinnbaren Energieressourcen, die auf etwa das Achtfache der heute bekannten Vorkommen geschätzt werden, brauchen nach den Berechnungen der Bundesanstalt für Geowissenschaften auch sehr langfristig, d. h. für viele Jahrhunderte, keine definitiven Wachstumsgrenzen von dieser Seite befürchtet werden
Ausschlaggebend hierfür ist die Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch, die im Gefolge der beiden Ölkrisen Anfang der siebziger und Anfang der achtziger Jahre erreicht wurde. Zwischen 1978 und 1985 ging der Ölverbrauch der Industrieländer um rd. 20 Prozent zurück, obwohl das Bruttosozialprodukt im gleichen Zeitraum um 16, 6 Prozent anstieg. Seitdem ist er allerdings wieder leicht gestiegen, wenngleich um weniger als die Wirtschaftsleistung Nach Schätzungen der Internationalen Energieagentur wird der Ölverbrauch je nach Preisentwicklung in den Jahren 1990 bis 2000 stagnieren bzw. um rund ein Prozent zurückgehen Für den Primärenergieverbrauch der Industrieländer insgesamt wird erwartet, daß er — nach einem vorübergehenden Rückgang in den Jahren 1979 bis 1983 — bis 1995 etwa halb so stark steigen wird wie das Bruttosozialprodukt
In der Bundesrepublik ist der Gesamtverbrauch’ an Primärenergie zwischen 1973 und 1988 insgesamt nur um drei Prozent gestiegen, obwohl sich das reale Bruttosozialprodukt im gleichen Zeitraum um ein Drittel erhöht hat (vgl. Abb. 6) dabei ist der Anteil des Mineralöls von 55, 2 Prozent auf 42 Prozent zurückgegangen, während der Anteil der nahezu unbegrenzt verfügbaren Kernenergie von gut ein auf zwölf Prozent gestiegen ist Hier werden auch Zielkonflikte sichtbar, die zwischen dem von einigen politischen Kräften geforderten Ausstieg aus der Kernenergie und einem sparsamen Umgang mit nicht erneuerbaren Rohstoffen bestehen.
Solche Zielkonflikte gibt es auch im Umweltbereich. Nach einer von der EG-Kommission kürzlich vorgelegten Studie wird in einem als wahrscheinlich bezeichneten Szenario beispielsweise der Kohlenstoffausstoß der OECD-Länder zwischen 1987 und 2010 um jährlich 1, 3 Prozent zunehmen; in einem als normativ bezeichneten Alternativszenario, in dem u. a. ein deutlich höherer Anteil der Kernenergie und des Erdgases an der Energieversorgung unterstellt wird, würde er dagegen um etwa 0, 7 Prozent pro Jahr oder 17, 4 Prozent insgesamt im angegebenen Zeitraum sinken
Auch zwischen Wachstum und Umweltbelastung braucht daher kein unauflöslicher Zusammenhang zu bestehen. Einen solchen hat es bereits in den vergangenen Jahrzehnten in der Bundesrepublik nicht gegeben: Während das reale Bruttosozialprodukt zwischen 1966 und 1986 um 70 Prozent gestiegen ist, konnte die Umweltbelastung durch Kohlenmonoxid um 27, 5 Prozent gesenkt werden, die Belastung durch Schwefeldioxid um 35, 3 Prozent und die Belastung durch Staub um fast 70 Prozent Nach einem kürzlich vorgelegten Gutachten der Prognos AG wird sich diese Tendenz in Zukunft fortsetzen; danach ist bis zum Jahr 2010 bei denjenigen Schadstoffen, für die relativ frühzeitig gesetzgeberische Maßnahmen zu ihrer Eindämmung ergriffen wurden, ein Rückgang der Belastung auf etwa ein Viertel der Werte von 1985 zu erwarten
Allerdings hängt die Umweltverträglichkeit des Wachstums maßgeblich von den Rahmenbedingungen ab, die für die Inanspruchnahme der Umwelt gesetzt werden. Auch hierfür ist die Entwicklung in der Bundesrepublik ein gutes Beispiel: So lange die knappe Umwelt — wegen des Fehlens eines entsprechenden Marktes — zum Nulltarif in Anspruch genommen werden konnte, wie dies in den fünfziger und sechziger Jahren weitgehend der Fall war, wurde sie auch entsprechend stark belastet. Mit der — durch das Preiskartell der OPEC-Staaten und später durch entsprechende Besteuerung — verteuerten Energie und einer verschärften — wenngleich nicht immer glücklichen — Umweltgesetzgebung in den siebziger und achtziger Jahren wurde dagegen ein Entkoppelungsprozeß in Gang gesetzt, der zweifellos in der Zukunft noch wesentlich akzentuiert werden kann.
Bei entsprechenden Rahmenbedingungen kann sich ein hohes Wachstum sogar positiv auf die Umwelt auswirken, worauf der Sachverständigenrat mehrfach hingewiesen hat Je höher nämlich das Wachstum ist, desto leichter können Ressourcen für den Umweltschutz eingesetzt werden, ohne Verteilungskonflikte heraufzubeschwören. Denn gemäß dem Verdoorn’schen Gesetz bringt eine höhere Wachstumsrate im allgemeinen auch eine höhere Produktivität mit sich, die für den Umweltschutz nutzbar gemacht werden kann. Zudem ermöglicht ein hohes Wachstum den schnelleren Austausch veralteter Techniken durch neue Verfahren und Produkte, welche die Umwelt weniger belasten. Ein gutes Beispiel dafür ist das Automobil: Je schneller der Bestand von Altfahrzeugen durch neue Fahrzeuge, die ab 1992 EG-weit nur noch mit geregeltem Katalysator zugelassen werden, erfolgt, desto rascher wird sich diese umweltschonende Technik durchsetzen.
Der positive Zusammenhang zwischen hohem Wirtschaftswachstum und dem Umweltschutz, der sich bei entsprechenden Rahmenbedingungen herstellen läßt, wird auch in einem Vergleich zwischen den westlichen Industriestaaten und den Planwirtschaften im Osten Europas deutlich: Obwohl das Wirtschaftswachstum etwa in der DDR in der Vergangenheit deutlich geringer war als in der Bundesrepublik, sind dort weitaus gravierendere Umwelt-schäden festzustellen 77), denn es hat zum einen an entsprechenden Anreizen, zum anderen aber auch an den notwendigen Finanzmitteln und Techniken für eine umweltschonende Produktion gefehlt. Effi-zientes Wirtschaften ist daher gleichermaßen Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum wie für einen wirksamen Umweltschutz.
Ulrich van Suntum, Dr. rer. oec., geb. 1954; 1985— 1990 Professor für Volkswirtschaftslehre an der Ruhr-Universität Bochum; 1987/88 Generalsekretär des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung; seit April 1990 Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftspolitik und Konjunkturforschung an der Universität Witten/Herdecke. Veröffentlichungen u. a.: Regionalpolitik in der Marktwirtschaft, Baden-Baden 1981; Verkehrspolitik, München 1986; (Mithrsg.) Grundlagen und Erneuerung der Marktwirtschaft, Baden-Baden 1988; Artikel zu Themen der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik sowie zur Dogmengeschichte.
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