Durch die Wahlerfolge der Republikaner, die ihre Ursache auch in der verbreiteten Parteiverdrossenheit haben, sind die Mängel und Schwachstellen der parteienstaatlichen Demokratie wieder in das Bewußtsein der Öffentlichkeit gedrungen. Der Beitrag resümiert Geschichte, Hintergründe und Ansatzpunkte der Parteikritik in Deutschland und in der Bundesrepublik, analysiert die aktuellen Reaktionen der Bevölkerung und fragt nach der Bedeutung von Parteikritik und Parteiverdrossenheit für den demokratischen Prozeß. Die Unzufriedenheit mit den politischen Parteien ist so alt wie die Parteien selbst. Geht man davon aus. daß die Lebenslagen. Bedürfnisse und Sichtweisen in differenzierten Industriegesellschaften außerordentlich heterogen und weithin auch gegensätzlich sind und daß Parteien immer auch ein Stückweit öffentliche Herrschaft verkörpern, dann kann es gar nicht ausbleiben, daß ihnen immer auch Kritik und Ablehnung zuteil wird. Nach 1945 konzentrierte sich die Kritik auf die Volkspartei, der vor allem mangelnde innerparteiliche Demokratie, ideologisch-programmatische Profillosigkeit und einseitige Orientierung am Stimmenerwerb vorgeworfen wurde. Heute lauten die Vorwürfe Innovationsschwäche, Perspektivlosigkcit, Kompetenzverlust, Überwucherung der politischen Willensbildung, Integrationsschwäche, soziologische und weltanschauliche Kontextlosigkeit und — wiederum — mangelnde innerparteiliche Demokratie. Der Unmut über die etablierten Parteien stellt keineswegs, wie oft behauptet, nur akademisches Krisengcrede dar, sondern zeigt sich auch in der wachsenden Parteiverdrossenheit der Bevölkerung. Gleichwohl ist die Unterstützung für das politische System sehr groß. Der Verfasser vertritt die Auffassung, daß diese Zufriedenheit der bundesdeutschen Demokratie insgesamt gilt, die ihre Flexibilität und Anpassungsfähigkeit durch die Ausprägung von neuen Parteien, sozialen Bewegungen und Partizipationsformen unter Beweis gestellt hat. Parteikritik und Parteiverdrossenheit müssen als ein wichtiges Ferment für die Anpassung demokratischer Strukturen und Prozesse an veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen angesehen werden.
Als die Republikaner vor über einem Jahr bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus 7, 5 Prozent der Zweitstimmen und elf Mandate erzielten, diagnostizierte infas (Institut für angewandte Sozialwissenschaft) eine „ausgeprägte Vertrauenskrise im Verhältnis der Bürger zu den in der politischen Arena agierenden Parteien“. Dieser Befund wurde mit eindrucksvollen Zahlen untermauert: Auf die Frage, welcher Partei in Berlin noch am ehesten Ehrlichkeit und Unbestechlichkeit zugetraut werden könne, antworteten 56 Prozent: keiner Partei. Vertrauen in die CDU äußerten zehn Prozent der Befragten, der SPD-Anteil betrug neun, der FDP-Anteil zwei und der der Alternativen Liste immerhin 17 Prozent
Das Wort von der Parteiverdrossenheit war rasch in aller Munde. Man erinnerte sich der langen Geschichte von Korruption, Skandalen und Affären in der Teilstadt und deutete den Wahlerfolg der Rechtsextremen umstandslos als Ausdruck des Unbehagens an den etablierten Parteien in Berlin (West), an der Politik der Regierung (CDU/FDP) und den Leistungen der Opposition (SPD)
Mit Blick auf die weiteren Wahlerfolge der Republikaner, insbesondere bei der Europawahl im Juni 1989, unterstrich Hans-Joachim Veen diesen Befund: Die „virulente Parteiverdrossenheit“ sei das entscheidende Charakteristikum der ansonsten sehr heterogenen REP-Wählerschaft. „Das Protestvotum zugunsten der Republikaner ist somit in erster Linie ein Unzufriedenheitsvotum gegen die etablierten Parteien und generell gegen . die da oben'. . . Die Republikaner profitieren zur Zeit von dem in der Bundesrepublik Deutschland latenten und in den letzten Jahren virulent gewordenen Anti-Parteieneffekt.“ Auch Veen illustrierte seine These mit einschlägigen Daten aus dem Forschungsinstitut der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung: Das Gefühl, daß die Politik oft oder dauernd in entscheidenden Fragen versagt, äußerten insgesamt 58 Prozent der Befragten. Aufgeschlüsselt nach Parteianhängern: CDU/CSU 43, FDP 51, SPD 61, GRÜNE 72, Die Republikaner 81.
In den vergangenen zwanzig Jahren gerieten die „ratlosen Riesen“ in der Bundesrepublik häufig in (oft selbstverschuldete) Bedrängnis: durch die Bürgerinitiativen, die neuen sozialen Bewegungen, die grünen/alternativen Parteien, die Skandale um die Parteienfinanzierung, die Barschel-Affäre und nun die Republikaner. Eine „Abkehr vom Parteienstaat“ findet jedoch offenbar in nennenswertem Umfang nicht statt. Selbst der Parteiverdruß gerinnt hierzulande überwiegend zur Parteiform (in Gestalt der GRÜNEN oder der Republikaner) und profitiert seinerseits in nicht unerheblichem Umfang von den Segnungen des Parteienstaates. Und nicht einmal die extrem schlechten Erfahrungen mit dem von der SED beherrschten Blockparteiensystem in der DDR vermochten die Parteiform als Mittel des Machtkampfes, des Interessenausgleichs und der Konsensbildung zu diskreditieren.
Auch wenn die parteienstaatliche Demokratie hierzulande nicht substantiell bedroht ist, sind die Krisenerscheinungen doch unübersehbar. Parteikritik und Parteiverdrossenheit nehmen zu. Dieser Beitrag resümiert Geschichte, Hintergründe und Ansatzpunkte der Parteikritik in Deutschland bzw. in der Bundesrepublik, analysiert die aktuelle Reaktion der Bevölkerung und fragt nach der Bedeutung von Parteikritik und Parteiverdrossenheit für den demokratischen Prozeß.
I. Parteien zwischen Vergötzung und Verteufelung
Die Unzufriedenheit mit den politischen Parteien ist so alt wie die Parteien selbst Seit ihrer Existenz artikulieren sich Unzufriedenheit und Miß-mut. aber auch Zuspruch und Unterstützung. Und zu jeder Zeit gab es glühende Verfechter und fanatische Gegner dieser politischen Organisations-form. Mit flammendem Eifer sang beispielsweise Georg Herwegh Mitte des vergangenen Jahrhunderts das Hohelied der Partei und wehrte sich damit auch gegen die Verfemung des Parteibegriffs durch Ferdinand Freiligrath:
„Partei! Partei! Wer sollte sie nicht nehmen, Die noch die Mutter aller Siege war!
Wie mag ein Dichter solch ein Wort verfemen, Ein Wort, das alles Herrliche gebar?
Nur offen wie ein Mann: Für oder wider?
Und die Parole: Sklave oder frei?
Selbst Götter stiegen vom Olymp hernieder Und kämpften auf der Zinne der Partei!“ Rund hundert Jahre später, 1949, dichtete Louis Fürnberg übereifrig:
„Sie hat uns alles gegeben, Sonne und Wind, und sie geizte nie.
Wo sie war, war das Leben, was wir sind, sind wir durch sie.
Sie hat uns niemals verlassen.
Fror auch die Welt, uns war warm.
Uns schützt die Mutter der Massen, uns trägt ihr mächtiger Arm.
Die Partei, die Partei, die hat immer recht. Und, Genossen, es bleibe dabei!
Denn wer kämpft für das Recht, der hat immer recht gegen Lüge und Ausbeuterei.
Wer das Leben beleidigt, ist dumm oder schlecht. Wer die Menschheit verteidigt, hat immer recht.
So aus Leninschem Geist wächst, zusammengeschweißt die Partei, die Partei, die Partei.“
Besonders rigide formulierten auch die Gegner des Parteiwesens ihre Position. So zum Beispiel Bismarck 1884 kurz und bündig vor dem Reichstag: „Die politischen Parteien sind der Verderb unserer Verfassung und der Verderb unserer Zukunft.“ Und Edgar Julius Jung bezeichnete die Partei als „seelenlose Maschine, die das Leben unlebendig macht, Geist und Seele ertötet, die Minderwertigkeit an die Spitze trägt“. Nichts verdiene so sehr den baldigen Untergang als die Partei, schrieb der Vertraute und Berater des Generals von Papen Ende der zwanziger Jahre. „Wer sie mit Feuer und Schwert austilgt, vollbringt ein frommes Werk.“ Der Konservatismus des ausgehenden 19. und be-ginnenden 20. Jahrhunderts sah in den Parteien vor allem Vertreter ökonomisch-sozialer und politischer Sonderinteressen, welche völkische Bindungslosigkeit, soziale Entwurzelung und Verantwortungslosigkeit predigen, durch egoistische Machtansprüche die staatliche Autorität schwächen und die Volksgemeinschaft zersetzen. Parteikritik war jedoch nicht nur eine Angelegenheit konservativer Gegner der Demokratie. Sie fand sich gleichermaßen bei liberalen Kritikern der modernen Massendemokratie und bei anarcho-syndikalistischen oder rätekommunistischen Widersachern des sozialistischen Parteikonzepts in Gestalt der deutschen Sozialdemokratie und, mehr noch, der Leninschen Avantgarde-Partei
Die schrittweise Herausbildung einer festen Organisationsstruktur der liberalen Parteien im letzten Viertel des vergangenen Jahrhunderts, der Einfluß der Interessenverbände auf die Parteien und die Bürokratisierung und Professionalisierung der Parlamentsarbeit stießen bald auf die Kritik altliberaler Verfechter einer Honoratiorendemokratie. So äußerte sich beispielsweise Heinrich von Treitschke frustriert über die „gegenstandslosen Debatten“ im Deutschen Reichstag und beklagte sich über „eine kleine Schar von Berufsparlamentariern, die mit seltenen Ausnahmen das Fraktionsinteresse als Selbstzweck betrachten“ und die nebenberuflichen Abgeordneten an die Wand spielen.
Die Parteikritik von links basierte zum einen auf der Ablehnung von organisatorischem Zwang und institutionalisierter Herrschaftsausübung schlechthin und zum anderen auf der Überzeugung, daß die soziale Revolution keine Parteisache sei Der Linkskommunist Anton Pannekoek hielt den Glauben an die Partei für das größte Hindernis auf dem Weg der Arbeiterklasse zu ihrer eigenen Emanzipation. Der Partei gehe es nur darum, die Arbeiter zu leiten und zu beherrschen. Notwendig sei jedoch die Selbsttätigkeit der Arbeiterbewegung. Sie müsse „selbst denken, selbst handeln, selbst beschließen“
Die frühe Parteikritik vollzog sich im Prozeß der Entstehung moderner Massenparteien (auf Klassen-oder konfessioneller Basis) und war primär normativ geprägt. Während sich der Konservatismus generell gegen die Herausbildung der Parteien-demokratie stemmte, galt die Kritik der Altliberalen und der linken Parteigegner im Prinzip der kon-kreten Verfassung des demokratischen Willensbildungsprozesses. Diese letztlich aus unterschiedlicher Perspektive an der Diskrepanz von Idee und Realität der Demokratie orientierte Kritik fand Anfang unseres Jahrhunderts durch die Arbeiten von Michels und Ostrogorski Eingang in die Parteiensoziologie und prägt im Kem noch heute die Debatte.
Ersterer zeichnet für das (freilich immer wieder bezweifelte) „eherne Gesetz der Oligarchie“ verantwortlich, das von dem Autor selbst auf die kurze Formel gebracht wurde: „Die Organisation ist die Mütter der Herrschaft der Gewählten über die Wähler, der Beauftragten über die Auftraggeber, der Delegierten über die Delegierenden.“ Michels formulierte aus sozialistischem Blickwinkel eine radikaldemokratische Kritik an den bürokratischen und oligarchischen Tendenzen moderner Massenparteien, an der Verselbständigung der Apparate und der Passivität der Parteimitglieder. Er befürwortete die Verwirklichung unmittelbarer Volksherrschaft, die direkte Demokratie, die revolutionäre Aktion der Massen, letztendlich also die Identität von Regierenden und Regierten.
Anders Ostrogorski: Zwar wandte auch er sich in seiner 1902 erstmals vorgelegten voluminösen Untersuchung der US-amerikanischen und britischen Parteien gegen die Professionalisierung und Bürokratisierung der parlamentarisch-politischen Arbeit, gegen die dominierende Rolle von Berufspolitikern, gegen die Interessenbindung der Politik und den manipulativen Charakter von Wahlkämpfen. Er tat dies jedoch nicht als ein Vorkämpfer der Selbstbestimmung des Volkes, sondern als Vertreter einer elitären Variante repräsentativer Demokratie, die den wachsenden Einfluß der Massen auf die Politik fürchtete und die Herausbildung der Parteiendemokratie als Bedrohung für den klassischen (Honoratioren-) Parlamentarismus betrachtete.
II. Kritik der Volkspartei
Abbildung 10
Tabelle 2: Das Bild des Bürgers von „der Politik“ (1980, in Prozent) Quelle: R. Wildenmann Volksparteien. Ratlose Riesen?, Baden-Baden 1989, S. 48.
Tabelle 2: Das Bild des Bürgers von „der Politik“ (1980, in Prozent) Quelle: R. Wildenmann Volksparteien. Ratlose Riesen?, Baden-Baden 1989, S. 48.
Nach 1945 konzentrierte sich die Kritik auf den die westlichen Demokratien zunehmend prägenden Typ der Volkspartei In den Augen systemkritischer Betrachter handelt es sich dabei vor allem um Herrschaftsinstrumente der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die identitären Demokratieansprüchen nicht gerecht werden, eben um „Ordnungsfaktoren bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse“ So sah Flechtheim in den Parteien eine „quasi-öffentlich-rechtliche, d. h. staatsverbundene, hierarchisch geführte Anstalt“, die „in die Nähe der mit besonderen Staatsprivilegien ausgestatteten Großkirchen“ rückt Abendroth bezeichnete die Parteien als „eine Art von Verkaufs-konzern von Führer-Images zwecks Erwerbs von Wählerstimmen“, als „vom Management gesteuerte Maschinen, in denen die Mitgliedschaft und ihre aktiven Kader, die Vertrauensleute, zu passi-vem Gehorsam statt zur Selbstbestimmung über Kurs und Führung aufgerufen sind“
Bei derartigen Befunden schwang immer auch die Enttäuschung über die „Anpassung der SPD“ (Flechtheim), über ihren Wandel von einer reformistischen zu einer sozialreformerischen Partei mit.
Die mit dem Godesberger Programm von 1959 vollzogene Wende der Sozialdemokratie signalisierte nach Krippendorff das „Ende des Parteienstaates“ als eines permanenten Wechselspiels zwischen Regierung und Opposition Agnoli bezeichnete die Volksparteien des modernen Verfassungsstaates als „plurale Fassung einer Einheitspartei — plural in der Methode des Herrschens, einheitlich als Träger der staatlichen Herrschaft gegenüber der Bevölkerung“ „Auf dem Weg zum Einparteienstaat“ wähnte auch Narr die Bundesrepublik, die er als „Stabilitäts-und Ordnungszelle Europas“, allerdings auf tönerner Grundlage, wertete
Die Unzufriedenheit mit dem Zustand der innerparteilichen Demokratie wurde selbst vom Schöp-fer der Lehre vom Parteienstaat. Gerhard Leib-holz geteilt, der die Aktivierung der Bürger gegen autoritäre Tendenzen innerhalb der Parteien forderte
Die außerparlamentarische Opposition der zweiten Hälfte der sechziger Jahre war gewiß auch Ausdruck dieser (wachsenden) Unzufriedenheit, die sich freilich noch auf sehr spezifische soziale Segmente beschränkte. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung unterstützte das bestehende System, das sich auch keineswegs als so versteinert erwies, wie es manche Skeptiker behaupteten. Der von Krippendorff für unwahrscheinlich gehaltene Wechsel von Regierung und Opposition trat 1966 und 1969 ein, und der Kanzler der sozialliberalen Bundesregierung, Willy Brandt, versprach, in allen gesellschaftlichen Bereichen mehr Demokratie zu wagen.
Die rasch wachsende Zahl von Bürgerinitiativen in den siebziger Jahren die Entstehung der neuen sozialen Bewegungen und schließlich die Wahl-erfolge der GRÜNEN/Alternativen mit denen sich das Drei-zu einem Vierparteiensystem erweiterte (und die These vom Einparteienstaat zumindest erheblich relativierte), signalisierten ein enormes Bedürfnis nach wirkungsvoller Partizipation, das sich bald zu einer Legitimationskrise des Parteiensystems oder wenigstens doch zu einer Krise des repräsentativen Systems der Bundesrepublik verdichtete Eine Krise freilich, die die demokratische Ordnung der Bundesrepublik zugleich durch Öffnung und Integration meisterte. Die „partizipatorische Revolution“ hat im Parteiensystem deutliche Spuren hinterlassen und neuerlich seine — wenn auch bedingte und behäbige — Wandlungsfähigkeit unter Beweis gestellt (trotz ökonomischer Krise, Massenarbeitslosigkeit und „neuer Armut“). Direktdemokratische Elemente werden inzwischen weithin als ergänzende Faktoren der repräsentativen Demokratie akzeptiert, vielfach sogar als notwendig erachtet
Angesichts der 1972 vom Club of Rome diagnostizierten Grenzen des Wachstums und der weltweiten Umweltkatastrophe veränderten sich die Akzente der Parteikritik. Kapitalismusskeptische Gesichtspunkte verblaßten, die Frage nach der „Legitimationskrise der Parteiendemokratie als Strukturkrise des kapitalistischen Staates?“ büßte an Attraktivität ein. Nicht Klassen-, sondern Menschheitsfragen rückten in den Mittelpunkt, nicht der Kapitalismus, sondern der Industrialismus bildeten den Bezugsrahmen für die Parteikritik. In den etablierten Parteien herrschten die „vereinigten Wachstumsinteressen des Superindustrialismus“ vor, schrieb Jänicke und monierte, „daß das politische System der entwickelten Industriegesellschaften lebensnotwendige Schutzfunktionen kaum noch erfüllt und überlebensnotwendige Steuerungsleistungen kaum noch erbringt“ Gegen das Versagen der Politik richteten sich Selbstbestimmung, Selbst-organisation und Selbsthilfe. Basisdemokratie wurde zwar als Kampfansage an das Repräsentativ-system definiert, beabsichtigte jedoch nicht — darauf hat Huber mit Recht hingewiesen — „das Grundgesetz abzuschaffen, sondern es auszuschöpfen“ Ziel sei es, die parlamentarische Demokratie neu zu beleben und sie dabei auch zu erweitern und durch außerparlamentarische oder vorparlamentarische Demokratiefelder zu ergänzen.
In der basisdemokratischen Kritik an den Parteien fanden sich unverkennbar Elemente wieder, die als „Antiparteieneffekt“ der kommunalen Wählergemeinschaften seit langem bekannt waren Gemeindepolitik wird in der Regel als sachbezogener Entscheidungsprozeß angesehen und gegen die weltanschaulich geprägte, jedenfalls wertorien-tierte Politik der als zentralistisch geltenden Parteien abgegrenzt. Vielfach werden Parteien sogar als Fremdkörper im kommunalen Bereich gewertet, da sie in die angeblich unpolitische Lokalpolitik Streit und Hader durch ihre spezifischen Interessen-bindungen bringen. Dagegen fordern die Wähler-gemeinschaften, daß die Auswahl der Mitglieder für die kommunalen Vertretungskörperschaften nach dem Prinzip der Persönlichkeitswahl erfolgt, um Parteipolitiker mit orts-und sachfremden Loyalitäten fernzuhalten und im Gemeindeparlament den überparteilichen, gesunden Sachverstand der nur dem örtlichen Wohl verpflichteten Bürger zu versammeln. Mit deutlichem Unbehagen an der repräsentativen Massendemokratie wird die Gemeinde als der Ort angesehen, wo unmittelbare Demokratie noch gelernt und praktiziert werden könne. Konsensprinzip bzw. weitgehender Minderheitenschutz, Offenheit der Entscheidungsprozesse, Überschaubarkeit der Verhältnisse und Ehrenamtlichkeit werden als Chancen angesehen, die Bürger zur Mitarbeit in Wählergemeinschaften, Komitees oder Initiativen zu bewegen und ihre Belange in die eigenen Hände zu nehmen.
Diese Form von Politik gilt weithin als Alternative zur etablierten Politik, die nach Raschke durch Störungen im Verhältnis zwischen Bürgern und Parteien geprägt ist. Er nennt vier Tendenzen
— Überanpassung: Die Volksparteien haben keine langfristigen Konzepte für die tiefgreifenden wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und zivilisatorischen Herausforderungen. „Ihnen fehlt Bereitschaft, Mut oder Fähigkeit zum Wandel“, sie taktieren kurzfristig mit Blick auf Wahlerfolge und orientieren sich stark an traditionellen Politikmustern und gewachsenen Interessenlagen.
— Übergeneralisierung: Die Integration der verschiedensten Interessen und Bedürfnisse in Programm und Politik der Volksparteien erfolgt zu Lasten eines spezifischen Profils, das Identifikationsmöglichkeiten bietet. Zudem mangelt es den großen Parteien an „gesellschaftsbezogenen Sinn-deutungen“, die dem gewachsenen Bedürfnis nach Orientierung in einer immer komplexer werdenden Welt Rechnung trägt.
— Überinstitutionalisierung: Die „Verstaatlichung der Parteien“ und die „immer schon vorhandenen Tendenzen innerparteilicher Oligarchisierung, Hierarchisierung und Bürokratisierung“ schränken die Chancen für innerparteiliche Partizipation stark ein und behindern Veränderungen der Parteien von unten.
— Überforderung: Parteien überfordern sich selbst, indem sie sich für nahezu alle Fragen zuständig erklären und sich überall einmischen. Dadurch wachsen aber auch die Ansprüche und Erwartungen an die Parteien, denen sie nicht gerecht werden (können). Die Folgen sind Unzufriedenheit und Verdruß
Seit Ende der siebziger Jahre häufen sich Bücher wie „Deutsche Parteien im Wandel“ „Parteien im Umbruch“ „Volksparteien ohne Zukunft“ „Parteien contra Bürger?“ oder „Vertrauenskrise der Parteien?“ 1986/1987 erschienen gleich zwei Sammelbände mit dem Titel „Parteien in der Krise“, der erste ohne, der zweite mit Fragezeichen Aus jeweils unterschiedlicher politischer Perspektive werden vielfältige Krisenerscheinungen diagnostiziert und diskutiert und nicht selten gelangen dabei eher links, linksliberal oder radikaldemokratisch inspirierte Betrachter zu ähnlichen Befunden wie eher neokonservative Autoren. Der deutsche Konservatismus hat sich in den fünfziger und sechziger Jahren mit seiner Parteikritik sehr zurückgehalten. Vorherrschend war die Tendenz, das Parteiwesen mit seinen Schwächen gegen radikale Kritik zu verteidigen. Das änderte sich in den siebziger Jahren, während der sozialliberalen Koalition also. Die neokonservative Kritik hatte jedoch nicht nur SPD und FDP im Visier, sondern auch die Unionsparteien Tragendes Motiv war die Sicherung staatlicher Macht und Autorität und die Erhaltung ihrer Funktionsfähigkeit. In der Unregierbarkeitsthese mischen sich, so Beyme, „altkonservative Thesen zur Überwindung des . schlappen Staates'aus dem Arsenal der Weimarer Zeit . . . mit altliberalen Sehnsüchten nach einem Staat, der . Deregulation'auf seine Fahnen schreibt und viele Aktivitätsbereiche an die Gesellschaft zurückverweist“ Im Kern sieht diese Krisentheorie eine Überforderung bzw. Überlastung der Regierung durch die Ausdehnung des Staatsapparates, durch die Erhöhung der Staatsausgaben, die wachsende Gesetzesflut und durch eine „Anspruchsinflation“ der Bürger. Wirksames Regieren werde mehr und mehr durch bloße Machtverwaltung ersetzt.
Entscheidenden Anteil an dieser Entwicklung haben, so beispielsweise Hennis, die politischen Parteien, insbesondere der Typ der Volkspartei. Da die Parteien in den westlichen Demokratien nicht nur zum entscheidenden „Vehikel“ der Beteiligung der Bürger an der politischen Willensbildung geworden seien, sondern auch die „Erfüllung von Lenkungsaufgaben“ wesentlich in ihrer Hand liege, dürften sie nicht nur unter dem Blickwinkel von innerparteilichen Partizipationschancen betrachtet werden. Wenigstens gleichermaßen bedeutsam sei ihre Regierungsfähigkeit Die Vitalität des Parteiwesens als des wichtigsten Transmissionsriemens zwischen Staat und Gesellschaft beginne allenthalben nachzulassen. Denn: „Das parteienstaatliche Element innerhalb der politischen Ordnung der Bundesrepublik ist gefährlich überdehnt.“ Und: „Die Parteien haben sich von der autonomen Willensbildung des Volkes in einer Weise abgekoppelt, daß ihre demokratische Funktion, wenn nicht gefährdet. so in der verschiedensten Weise problematisiert erscheint.“ Überzogen hätten die Parteien ihren Part, weil sie den Prozeß der politischen Willensbildung fast konkurrenzlos beherrschten und durch ihre Vormachtstellung das Gleichgewicht der Gewalten zerstörten. Auch sorgten sie kaum für die im Parteiengesetz geforderte lebendige Verbindung zwischen Volk und Staatsorganen. Im Gegenteil: „Sie mediatisieren diese Verbindung“ und „legen sich einengend und schwerfällig dazwischen“ Zudem seien sie zu tiefer Integration der Massen unfähig, eine „Riesendistanz“ habe sich zwischen den Parteien, insbesondere ihren Funktionären, und dem Volk aufgetan. Selbst die Parteiapparate hätten sich von den einfachen Mitgliedern so gut wie völlig entfernt, „der Zusammenhalt ist kaum enger als zwischen der Zentrale der Bausparkasse und ihren Sparern“ Hennis bezeichnet die Parteien als soziologisch und weltanschaulich kontextlos und bescheinigt ihnen Ratlosigkeit in allen grundsätzlichen Fragen Und schließlich: „Die Parteien sind nicht nur kaum noch ein Faktor der Verlebendigung und Aktivierung unserer politischen Kultur, mehr: sie tragen zu ihrer Verödung und Verkümmerung bei.“
Parteikritik von rechts bezog sich immer auch auf die Bestrebungen der neuen sozialen Bewegungen und der GRÜNEN/Alternativen, den demokratischen Prozeß im allgemeinen und die Parteiendemokratie im besonderen durch direktdemokratische Elemente zu erweitern. Befürchtet wurde im Kern, daß damit das Repräsentativsystem ausgehöhlt oder gar zerstört werden könnte Es meldeten sich zunehmend auch engagierte Staatsrechtslehrer zu Wort, die die Binnenstruktur und die Ziele der GRÜNEN/Alternativen einer verfassungsrechtlichen Kritik unterzogen und öffentlich nach juristischen Sanktionen unterhalb der Verbotsschwelle riefen. So empfahl beispielsweise der Münsteraner Hochschullehrer Stober eine Über-prüfung der Verfassungstreue grüner Beamter und der damalige Berliner Justiz-bzw. Bundessenator Rupert Scholz forderte 1983 die Wahlleiter bzw. Wahlausschüsse zur Prüfung der Frage auf, ob die GRÜNEN/Alternativen überhaupt eine Partei im Sinne des Art. 21 GG seien und das Privileg der Einreichung von Wahllisten beanspruchen könnten. Verliefe diese Prüfung negativ, was Scholz nicht bezweifelte, dann wären die GRÜNEN/Alternativen de facto von der Teilnahme an Wahlen ausgeschlossen Zweifel an ihrer Verfassungsmäßigkeit machten sich vor allem am Konzept der Basis-demokratie fest, das mit der vom Grundgesetz vorgegebenen repräsentativen Demokratie unvereinbar sei und letztlich auf die Beseitigung des Parlamentarismus und des Mehrheitsprinzips abziele
III. Parteiverdrossenheit
Abbildung 11
Tabelle 3: Vertrauen in öffentliche Institutionen (in Prozent) Quelle: EMNID-Informationen, 11-12/1988. S. 15.
Tabelle 3: Vertrauen in öffentliche Institutionen (in Prozent) Quelle: EMNID-Informationen, 11-12/1988. S. 15.
Die wissenschaftliche Kritik am Zustand der Demokratie und des Parteiensystems ist nicht unbedingt identisch mit der Wahrnehmung bzw. Unterstützung des politischen Systems und seiner Institutionen durch die Bevölkerung. Die kritisch-feinfühlige Krisendiagnose von interessierten Experten muß sich nicht notwendigerweise (sofort und mit gleichartigen Vorbehalten) im Alltagsbewußtsein niederschlagen. Der für die Legitimation des Systems letztlich entscheidende „gesunde Menschenverstand“ mag das ja alles ganz anders sehen.
Die eingangs zitierten Daten von infas und der Konrad-Adenauer-Stiftung deuten auf eine erhebliche Verdrossenheit in bezug aufdie Politik im allgemeinen und die Parteien im besonderen hin. Ein fundiertes Urteil kann sich jedoch nicht allein auf zwei Umfrageergebnisse stützen. Werfen wir also einen Blick auf maßgebliche Befunde der empirischen Sozialforschung und fragen, ob sich die akademischen Weisheiten im Massenbewußtsein widerspiegeln Die Frage ist auch deshalb von Bedeutung, weil die Kritiker des Krisengeredes immer auch auf eine Diskrepanz zwischen Theorie und Empirie hinweisen. Dieter Fuchs hat gerade erst wieder auf der Basis von vielfältigen Umfragedaten ermittelt, daß es in der Bundesrepublik „keine empirische Evidenz für eine Legitimationskrise des Regimes“ gibt. Im Vergleich mit anderen westlichen Demokratien sei die Unterstützung des politischen Systems hierzulande sogar besonders hoch. Allenfalls bei „bestimmten Subgruppen“ könne es längerfristig zu „größeren Unterstützungserosionen“ kommen.
Ein Beispiel für die große Demokratiezufriedenheit bietet Tabelle 1. Rund drei Viertel der Bevölkerung sind mit der Demokratie zufrieden. Der Wert für 1980 betrug sogar 80 Prozent, sank dann aber bis 1982 auf etwa 55 Prozent. Die Anhänger der Opposition sind generell unzufriedener als die der (Bundes-) Regierung (das war auch in den siebziger Jahren der Fall). Bemerkenswert ist, daß die Anhänger der GRÜNEN die Demokratie mehr und mehr akzeptieren, der Anteil der Zufriedenen ist mittlerweile größer als der der Unzufriedenen. Allein bei den Republikanern überwiegen die Kritiker.
Schon bei der hier abverlangten Beurteilung der Realität der bundesdeutschen Demokratie schwingen immer auch tagespolitische Gesichtspunkte mit. Wenn jedoch unmittelbar nach politischen Verhältnissen gefragt wird, tritt Verdrossenheit deutlich zutage (Tabelle 2).
Sie gilt augenscheinlich nicht (oder wenigstens nur in geringem Umfang) dem demokratischen System als solchem, sondern der (Partei-) Politik. Die hohen Zustimmungswerte zu den Statements sprechen dafür, daß weite Teile der Bevölkerung die Abkoppelungs-und Entfremdungstendenzen sowie den Mangel an Partizipationschancen, an Öffentlichkeit, Offenheit und Überschaubarkeit erkennen und mißbilligen. Die im Parteiengesetz geforderte lebendige Verbindung zwischen Volk und Staatsorganen leisten die Parteien offenbar nur bedingt. Jedenfalls wird man Politikverdrossenheit nicht einfach als akademisches Konstrukt abtun können. Sie existiert tatsächlich, stellt sich aber als sehr kompliziertes Problem dar. Einige Institutionen im exeku-tiven, legislativen und rechtlichen Bereich erhalten nämlich recht gute Noten (Tabelle 3). Selbst der Bundestag und die Bundesregierung schneiden ganz passabel ab. Nicht aber die Parteien. Sie stehen — das deutete bereits die eingangs erwähnte infas-Umfrage an — am Ende der Vertrauensskala.
Politikverdrossenheit bezieht sich offenbar weniger auf die Regierung und den Parlamentarismus, sondern in erster Linie auf die Parteien. Das ist insofern bemerkenswert, als die Parteien schließlich Parlamente und Regierungen bilden, und bestätigt die Vermutung, daß sich hinter der Verdrossenheit vielfach recht diffuse Unzufriedenheit mit den politischen Verhältnissen im allgemeinen verbirgt Der Verdruß über die politischen Parteien spiegelt sich auch in den wachsenden Zweifeln an ihrer Problemlösungskompetenz für wichtige politische Fragen wider. Dieser Aspekt kann hier nicht weiter behandelt werden unterfüttert jedoch die These von der Rat-und Perspektivlosigkeit der Parteien. Abschließend soll noch auf ein Phänomen hingewiesen werden, das ebenfalls Einsichten in das Ausmaß der Parteiverdrossenheit liefert: die abnehmende Wählerbindung der etablierten Parteien. Die Wahlbeteiligung ist in der Bundesrepublik zwar traditionell sehr hoch, gerade auch im Vergleich zu anderen westlichen Demokratien. Jedoch sinkt der Anteil der Personen, die sich bei Bundestagswahlen für die etablierten Parteien entscheiden. Um deren Reichweite exakt zu bestimmen, wurde ihr Zweitstimmenergebnis in Tabelle 4 auf die Wahlberechtigten (und nicht, wie sonst üblich, auf die abgegebenen gültigen Stimmen) bezogen. Dadurch werden die Nichtwähler (und die mittlerweile unerhebliche Zahl ungültiger Voten) in die Rechnung miteinbezogen. Die so entstandene Zahlenreihe gibt den Konzentrationsprozeß innerhalb des Parteien-systems und die wachsende Mobilisierungskapazität der drei etablierten Parteien bis Ende der siebziger Jahre wieder. Seit 1980 sinkt die Wählerbindung jedoch, CDU/CSU, FDP und SPD erreichen zusammen nur noch drei Viertel der Wahlberechtigten. Das restliche Viertel wählte andere Parteien, vor allem die GRÜNEN, oder machte keinen Gebrauch von seinem Wahlrecht.
Die wenigen Beispiele zeigen: Es besteht teilweise sogar erhebliche Unzufriedenheit mit der parteien-staatlichenDemokratie in der Bundesrepublik. Diese gilt in den seltensten Fällen dem demokratischen System als solchem, das im Gegenteil auf breite Unterstützung stößt. Die Verdrossenheit bezieht sich offenbar auch weniger auf Parlament und Regierung, sondern vor allem auf die politischen Parteien und hier wiederum wohl besonders auf die etablierten Parteien. Es ist zu vermuten, daß dieser Unmut sowohl den publizitätsträchtigen Mißbildungen der Parteienherrschaft (Skandale, Filz etc.) als auch dieser selbst gilt. Wenn nicht alles täuscht, haben die Parteien auch in den Augen der Bevölkerung ihren Part überzogen und erhalten dafür die Quittung in Gestalt von wachsendem Vertrauensentzug.
IV. Fazit
Abbildung 12
Tabelle 4: Wählerbindung durch die etablierten Parteien bei Bundestagswahlen
Tabelle 4: Wählerbindung durch die etablierten Parteien bei Bundestagswahlen
Den Parteien obliegt die gewiß nicht einfache Aufgabe, die vielfältigen ökonomisch-sozialen Interessen und die damit verknüpften politischen Ziele zu artikulieren, zu bündeln, in staatliche Politik umzusetzen und diese dann auch noch zu exekutieren und gegenüber der Bevölkerung zu rechtfertigen. Geht man davon aus. daß die Lebenslagen. Bedürfnisse und Sichtweisen in differenzierten Industrie-gesellschaften außerordentlich heterogen und weithin auch gegensätzlich sind und daß Parteien immer auch ein Stückweit öffentliche Herrschaft verkörpern. dann kann es gar nicht ausbleiben, daß ihnen immer auch Kritik und Ablehnung zuteil wird, daß sie Unzufriedenheit und Verdruß erzeugen. Parteien nehmen notgedrungen widersprüchliche Funktionen wahr und stoßen damit zwangsläufig auf Widerspruch. Gemessen an den objektiv hohen Leistungsanforderungen ist der Ruf des bundesdeutschen Parteiwesens jedoch alles andere als schlecht.
Freilich: Kritik und Verdrossenheit sind vorhanden und nehmen offenbar zu. Dabei können sich die Parteien nicht mit ihrer komplizierten gesellschaftlichen Stellung und ihrer komplexen Aufgabenvielfalt herausreden. Denn der Vertrauensschwund resultiert vor allem daraus, daß sie ihre Funktionen als intermediäre Organisationen, als Vermittlungsinstanzen zwischen Gesellschaft und Staat nur unzureichend erfüllen. Besondere Brisanz erhalten diese Funktionsdefizite durch den sozialen Wandel, durch das wachsende Bildungsniveau, die Veränderung von Wertorientierungen und Politikprioritäten. Daraus erwachsen Individualisierungs-und Flexibilisierungstendenzen, die sich auch in Bedürfnissen wie Selbstverantwortung, Selbstbestimmung und Partizipation niederschlagen. Während die Wahlbeständigkeit sinkt, differenziert sich das Parteiensystem aus, und die Dominanz der politischen Parteien im politischen Prozeß wird von selbstorganisierten Gruppen und Initiativen und von den neuen sozialen Bewegungen in Frage gestellt.
Entscheidend ist jedoch, daß der intermediäre Bereich auf die Funktionsdefizite der etablierten Parteien durch die Ausprägung zusätzlicher Institutionen und alternativer Formen von Politik reagiert und damit bestehende Funktionsschwächen kompensiert. So erklärt sich meines Erachtens auch die vermeintliche Diskrepanz zwischen hoher System-unterstützung und Parteiverdrossenheit. Die Zufriedenheit gilt der Flexibilität und Anpassungsfähigkeit des Systems insgesamt, einschließlich der neuen Parteien, Bewegungen und Partizipationsformen.
Parteikritik und Parteiverdrossenheit müssen als ein wichtiges Ferment für die Anpassung demokratischer Strukturen und Prozesse an veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen angesehen werden. Sie sind unverzichtbarer Bestandteil der gesamtgesellschaftlichen Willensbildung und tragen letztlich zur Systemzufriedenheit bei.
Richard Stöss, Dr. phil., geb. 1944; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung; Privatdozent am Fachbereich Politische Wissenschaft der Freien Universität Berlin. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Horst W. Schmollinger) Die Parteien und die Presse der Parteien und Gewerkschaften in der Bundesrepublik Deutschland 1945— 1974, München 1975; Vom Nationalismus zum Umweltschutz, Opladen 1980; (Hrsg.) Parteien-Handbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland 1945— 1980, 2 Bde., Opladen 1983/84; (zus. mit ReinhartSchneiderund Menno Smid) Sozialer Wandel und Einheitsgewerkschaft, Frankfurt-New York 1989; Die extreme Rechte in der Bundesrepublik, Opladen 1989; Die Republikaner, Köln 1990.
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