Der seit der „Islamischen Revolution“ im Iran 1979 hochgradig politisierte Islam wird in Europa und Amerika zusehends als eine Weltbedrohung empfunden. Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Ost-und Südosteuropa bauen die Massenmedien — ersatzweise für das alte Feindbild — den Islam als den neuen Popanz auf. Gegen diese vereinfachende und einseitige Sichtweise eines Weltproblems erheben sich im Westen vereinzelte Stimmen. Andererseits werden die innerislamischen Proteste, die gegen den aktuellen Mißbrauch der Religion erhoben werden, von der Weltöffentlichkeit kaum wahrgenommen. Der europäische Islam ist hute in allen jenen Ländern bedrängt, die zum Ausstrahlungsbereich der einstigen byzantinischen Kultur gehören. Demgegenüber kann er sich im traditionell demokratischen Westund Mitteleuropa freier entfalten als in manchen Ländern der sogenannten Islamischen Welt. Im einzelnen wird hier die Islam-Szene in den drei neuzeitlichen „islamischen Großmächten im Abendland“, nämlich in Frankreich, der Bundesrepublik Deutschland und Großbritannien sowie in Jugoslawien, dargestcllt. Eine besondere Beachtung verdienen die Vorstellungen von den theologischen Voraussetzungen eines erfolgreichen Anpassungsprozesses der muslimischen Einwanderer an die neuen kulturellen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Dieser Anpassungsprozeß ist unerläßlich, will sich der Islam in diesem Weltteil eine friedliche Dauerexistenz sichern.
I. Bedroht eine monotheistische Religion die Welt?
Italienische Demographen prophezeien, daß der Mittelmeerraum in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts eine muslimische Bevölkerungsmehrheit haben wird. Diese Annahme läßt sich einstweilen schwer nachprüfen. Tatsache ist jedoch, daß angesichts der wachsenden Zahl der muslimischen Einwanderer in West-und Mitteleuropa bereits heute der Islam als eines der Hindernisse des europäischen Integrationsprozesses gesehen wird. So sprach ein hoher Beamter der EG der Sowjetunion u. a.deshalb die Europareife ab, weil ihre Bevölkerung zu einem Viertel aus Anhängern des Islam besteht. Nicht etwa der Atheismus eines Großteils der Sowjetmenschen oder ihr immer noch schwach ausgeprägtes Demokratieverständnis ist der Grund für die herrschende Skepsis oder Ablehnung, sondern der Islam.
Nach der zum Teil bereits vollzogenen, zum Teil erst beginnenden demokratischen Wende in Ost-und Südosteuropa scheint die westliche Welt nach einem neuen Feindbild Ausschau zu halten. Spätestens seit den iranischen Ereignissen von 1979 bietet sich der Islam als Ersatz an. Die Bedrohungsängste haben bereits um sich gegriffen. In Amerika spricht man von einer „globalen Intifada“. Das neue Feindbild scheint in allen Einzelheiten ausgemalt zu sein. In Anbetracht der gefährlichen Stimmungslage sah sich R. Marston Speight vom Amt für christlich-muslimische Beziehungen zu einer Warnung veranlaßt. „As a result of the tumultuous and astonishing events in eastem Europe, the forces of world communism no longer seem as threatening as they did before. So, those Americans who constantly dwelt on the supposed danger of communism to our nation are suddenly left deprived of one of their favourite themes. A Doonesbury character, depicted by the comic Strip artist, Garry Trudeau, expresses the feeling by saying, ‘The cold war can’t be over! It’s gotta be some kind of trick. ’“
Ein Eingehen auf die tatsächliche Lage des peripheren Islam in Europa führt sehr bald zu der Erkenntnis, daß im Gegensatz zu den herrschenden Vorstellungen mancher Europäer gerade der Islam akuten Bedrohungen ausgesetzt ist. In Ost-und Südosteuropa scheint er, trotz der beginnenden Demokratisierung, systematisch in einen Auflösungsprozeß hineingedrängt zu werden. In Bulgarien, Rumänien und Griechenland sehen sich die Islamischen Gemeinschaften erheblichem Druck ausgesetzt. Das Gespenst des „Fundamentalismus“ erscheint als auslösendes Motiv. Diese Entwicklung ist nicht zuletzt durch den bedauerlichen Mißbrauch des Islams zu politischen Zwecken und Übergriffen auf die Menschenrechte begünstigt worden. In Westeuropa ist der Islam von einer inneren Schwäche befallen: Das ist der unkritische Hang zu alten Autoritäten und die dadurch entstehende Weltfremdheit.
II. Die Begegnung mit dem Islam heute
Abbildung 2
Tabelle 2: Verteilung der muslimischen Einwohner in der Bundesrepublik Deutschland nach Bundesländern
Tabelle 2: Verteilung der muslimischen Einwohner in der Bundesrepublik Deutschland nach Bundesländern
Die Einstellung der Regierungen und ihrer Völker zum Islam in Europa ist zu einem Barometer der demokratischen Reife und der Toleranz geworden. Der Islam fühlt sich in Westeuropa gut aufgehoben. Er nützt die gesetzlichen Möglichkeiten, die ihm der demokratische und liberale Westen bietet, aus. In schroffem Gegensatz dazu sieht er sich in Ost-und Südosteuropa einer Art modernem Kreuzzug ausgesetzt. Selbst nach dem Umbruch im Jahr 1989 nimmt dort die antiislamische Stimmung zu. In Bulgarien und Rumänien kämpft der Islam um sein Überleben. In Serbien entfalten nationalistische Kreise im Zusammenhang mit dem Kossovo-Kon-flikt eine beispiellose Propaganda gegen die Muslime. Ein Schreckgespenst des erfundenen islamischen Fundamentalismus in Jugoslawien spukt seit Jahren in einem Teil der Belgrader Presse herum. Selbst das demokratische Griechenland, ein Mitglied der EG, scheint diesbezüglich hinter seinen nördlichen Nachbarn, die sich erst jetzt auf die Demokratie besinnen, nicht viel nachzustehen. Die treibenden Kräfte dieser Kampagne muß man in nationalistischen Kreisen suchen. Marxistische Rigoristen mit nationalistischem Hintergrund haben demgegenüber aus Albanien den „ersten atheistischen Staat der Welt“ gemacht, wodurch vor allem der Islam, zu dem sich bisher etwa 75 Prozent der Bevölkerung bekannten, getroffen worden ist. In der westlichen Presse kann man dem Schlagwort von drei neuentstandenen „islamischen Großmächten“ im Abendland begegnen: Frankreich. Großbritannien und die Bundesrepublik Deutschland. In Frankreich leben rund zwei Millionen Muslime, davon ca. 400 000 mit französischer Staatsbürgerschaft. Somit ist Frankreich nach Jugoslawien das an muslimischer Bevölkerung reichste europäische Land — sieht man einmal von der Sowjetunion ab. Seit Anfang der siebziger Jahre hat sich die Zahl der Moscheen und anderer islamischer Gebetsstätten in Frankreich auf etwa 1 000 erhöht. Sie ist aber bei weitem immer noch nicht ausreichend.
Nach der Volkszählung von 1987 beträgt die Zahl der Muslime in der Bundesrepublik Deutschland 1 651 000. Somit bekennen sich 2. 7 Prozent der Gesamtbevölkerung zum Islam. Herkunftsmäßig handelt es sich hier vorwiegend um Gastarbeiter aus der Türkei und Jugoslawien samt ihren Familien. Im Unterschied zu Deutschland sind die Muslime in Großbritannien meist farbige Einwanderer aus Asien, vornehmlich aus Indien und Pakistan. Dort sorgte die Rushdie-Affäre für eine emotionale Empörung unter den Muslimen, wobei neben den religiösen auch gewisse nationale Handlungsmotive zum Tragen gekommen sein dürften. Unter diesen Einwanderern, von denen die meisten in bitterer Armut und Ignoranz leben, sind Zwistigkeiten nicht selten. Es gibt aber unter den britischen Muslimen auch eine Anzahl erfolgreicher Unternehmer und Intellektueller. So wirkt in Leicester bei London The Islamic Foundation, ein Studienzentrum, das sich unter Einsatz beträchtlicher Mittel für eine weltweite Verbreitung von religiösen und staatspolitischen Ideen des rigoristischen Denkers Abu’l-A‘lä Mawdd einsetzt. In London hat der Islamische Rat für Europa (Islamic Council for Europe) seinen Sitz. Im folgenden sollen stellvertretend für alle anderen die vier mitgliederstärksten islamischen Gemeinschaften in Europa vorgestellt werden.
III. Der Islam in der Bundesrepublik Deutschland
Ähnlich wie der Islam seine ersten Beziehungen zu Europa durch kriegerische Konflikte herstellte, erfolgte die Bildung der ersten islamischen Gemeinde auf deutschem Boden dank einer Militäreinheit. Der Preußenkönig Friedrich Wilhelm I. nahm im Jahre 1731 zwanzig türkische Soldaten in seinen Dienst und ließ ein Jahr darauf für sie im Garnison-komplex von Potsdam eine Moschee, die erste im Land, errichten. Tataren, Bosniaken und Albaner dienten sodann als Lanzenreiter in der preußischen Armee. Das königlich preußische Bosniakenkorps des 5. Husarenregiments von Ruesch hat Berühmtheit erlangt. 1798 wurde aus Anlaß des Ablebens des damaligen osmanischen Botschafters in Berlin, Giritli ‘Ali ‘Aziz Efendi, auf Anweisung König Friedrich Wilhelms III. auf der Tempelhofer Feldmark in Berlin eine muslimische Begräbnisstätte errichtet. Der verstorbene Botschafter war nicht nur ein großer Diplomat; er hat auch die Modernisierung der türkischen Literatur eingeleitet. Ein neuer. 1866 er-31 richteter muslimischer Friedhof mit einem Dergäh (Dergäh ist ein Derwisch-Kloster oder eine Meditationsstätte der Sufis) in der Mitte sollte 1866 die alte Begräbnisstätte ablösen. Hierher sind auch die in Tempelhof Bestatteten überführt worden. Das vom Verfall bedrohte Dergäh — im Volksmund „Türkische Moschee“ genannt — wurde 1920 dank der Bemühungen des damaligen Botschafts-Imams Hafiz ükrü Efendi gründlich erneuert. Neben diesem ersten islamischen Kultbau auf deutschem Boden gibt es heute in der Bundesrepublik Deutschland fünf architektonisch wertvolle Moscheen: in Berlin, Hamburg, München, Schwetzingen und Aachen.
Die Muslime in der Bundesrepublik Deutschland sind zu 90 Prozent Anhänger der hanefitischen Schule des sunnitischen Islam. Diese zeichnet sich durch eine verhältnismäßig liberale Gesinnung aus. Wenn in der Öffentlichkeit gelegentlich der Eindruck entsteht, auch diese Muslime neigten zu Abgeschlossenheit, Intoleranz und zu militantem Denken, so deshalb, weil sie infolge ihrer mangelnden Bildung leicht beeinflußbar sind. Die rigoristischen Kreise erhalten aus dem vorderasiatischen und dem nordafrikanischen Raum massive Unterstützung; die liberale Tradition des Eslam, wie sie vom Amt des Scheich ül-Islam in Istanbul gepflegt wurde, kommt nur mühsam zum Ausdruck.
Eine große Anzahl von Vereinen, „Kulturzentren“ und „Moscheen“ beherrschen die deutsche Islam-Szene. Es gibt keine von allen Gruppen anerkannte zentrale Leitung. Der 1987 in Berlin gegründete Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin scheint inzwischen auf liberalere Mitgliedsgruppen zusammengeschrumpft zu sein. Indessen bereiten politisch ausgerichtete Aktivisten die Gründung einer „Islamischen Partei Deutschlands“ vor
Die Imame als Kristallisationsfaktoren des religiösen Lebens sind von unterschiedlichem Bildungsstand. Die meisten sind der Situation nicht gewachsen. Die Kernstücke der islamischen Zentren sind architektonisch gut ausgewogene und voll funktionsfähige Moscheen mit den dazugehörigen Minaretten. Das Hamburger Zentrum wird von einer schiitischen Gemeinde getragen, ist aber auch anderen Richtungen des Islam zugänglich. Das Organ des Zentrums ist die Zeitschrift Al-Fadschr (Die Morgendämmerung). Alle anderen Gebetstätten („Kulturzentren“) stellen Improvisationen dar. Die im Moghul-Stil erbaute alte Berliner Moschee wird von der gemäßigten Lahore-Gruppe der Ahmadiyya betreut. Die Moschee in Schwetzingen ist ursprünglich als Museum entstanden. Sie wird von der Ortsgemeinde zeitweise zu Gebetszwecken freigegeben.
Dem Islamischen Zentrum in München ist seit einigen Jahren eine islamische Volksschule angegliedert, an der auch deutsche Lehrer tätig sind. Die Schule wird von staatlichen Stellen unterstützt. Die Monatsschrift „Al-Islam“ wird vom Islamischen Zentrum in München herausgegeben. Die in der Zeitschrift erscheinenden Beiträge sind eher auf den einfachen Durchschnittsleser zugeschnitten. Sie behandeln nicht immer rein religiöse Themen; auch interessante Kurzberichte finden darin Platz.
Von den zahlreichen muslimischen Gruppen, Vereinen und Strömungen am besten organisiert sind die Anhänger einer volkstümlichen Frömmigkeitsbewegung, die unter dem Namen Süleymancllar („Schüler des Süleyman“ — nach dem Namen des Stifters Süleyman Tunahan) bekannt sind. Sie treten in der Bundesrepublik Deutschland als Islamische Kulturzentren auf. Ihr Sitz befindet sich in Köln. In diesen Zentren wird das alte osmanische Islam-Verständnis gepflegt — der türkische Patriotismus ist ein integrierender Teil
Auf eine allislamische Sammlung im fundamentalistischen Sinne sind die von der ehemaligen Nationalen Heilspartei (Milli Selämet Partisi) getragenen „Islamischen Zentren“ türkischer Herkunft ausgerichtet. In ihrem intellektuellen Oberbau sind sie mit den Ideen der Muslimbruderschaft von Ägypten und der öama’at-i islami, einer fundamentalistischen Organisation von Pakistan, durchsetzt. Die tragende Organisation dieser Zentren ist Milli Görü^ Te^kiläti, (Formationen der Nationalen Sicht). Das Hauptorgan dieser politischen Gruppierung ist die Tageszeitung Milli Gazete (Nationalzeitung).
Die Öffentlichkeitsarbeit wird vornehmlich von einer Gruppe deutschsprachiger Muslime geleistet. Die informelle Gruppe trifft sich viermal jährlich zu Vorträgen und Beratungen abwechselnd in einem der drei Hauptzentren: München, Aachen und Hamburg. Um einen in den siebziger Jahren aktiv gewesenen „Kreis der Freunde des Islam in Berlin" ist es inzwischen still geworden. Dieser Kreis gab eine bescheiden wirkende Zweimonatsschrift Allahu akbar heraus.
In Soest wirkt eine bundesdeutsche Vertretung des Muslimischen Weltkongresses, der in Karachi seinen Sitz hat und über Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen verfügt. Diese Stelle versucht, die zersplitterten Gruppen bundesdeutscher Muslime zu einigen. Ihre Bemühungen um die gesetzliche Anerkennung des Islam im Sinne einer Körperschaft des öffentlichen Rechts sind bisher ergebnislos verlaufen. Ein vordringliches Anliegen aller Muslime in der Bundesrepublik ist die Einführung eines geregelten Religionsunterrichts für die Schü-ler islamischen Glaubens. In einigen Bundesländern gibt es Ansätze zu einer zufriedenstellenden Lösung. Muslimischerseits erhofft man sich von diesem Unterricht eine Hilfestellung zur Erhaltung der religiösen Identität der Jugend. Die Behörden dürften bei diesen Bemühungen an der Beseitigung eines gefährlichen religiös-ethischen Vakuums in diesem Bevölkerungsteil interessiert sein.
Zwei universitäre Institutionen, die sich mit dem Islam befassen, verdienen eine besondere Beachtung: das vom türkischen Professor Fuat Sezgin 1982 im Rahmen der Universität Frankfurt gegründete Institut für Geschichte der arabisch-islamischen Wissenschaften und die einige Jahre vorher entstandene, unter der Leitung des iranischen Professors Abdoldjaved Falaturi stehende Islamische Wissenschaftliche Akademie in Köln. Das Institut in Frankfurt hat sich inzwischen als eine Forschungsstätte von erstrangiger Qualität erwiesen. Unter Falaturis Leitung läuft ein großangelegtes Projekt: Der Islam in den Schulbüchern der Bundesrepublik Deutschland. Es hat sich bisher in vier beachtenswerten Bänden der Allgemeinheit präsentiert. Eine Ausweitung des Projektes auf Österreich und die Schweiz ist im Gange.
IV. Muslime in Frankreich
Mit einem Anteil von 3, 5 Prozent an der Gesamtbevölkerung ist der Islam die zweitgrößte Religionsgemeinschaft in Frankreich. Wirtschaftlich fällt er kaum ins Gewicht. Dies ist darauf zurückzuführen, daß er hauptsächlich durch mindergebildete, schlecht organisierte Gastarbeiter vertreten ist. Es sind lediglich die Linksparteien, die von der Existenz dieser Muslimgruppen Notiz nehmen und sich um ihre Gunst bewerben. Sie sehen in ihnen ein brauchbares politisches Potential. Neben diesen Parteien ist es in erster Linie die katholische Kirche, die sich in humanitärer Hinsicht dieser meist verarmten Menschen annimmt.
Herkunftmäßig sind die französischen Muslime überwiegend Maghrebiner. Die meisten stammen aus Algerien. Es gibt auch Schwarzafrikaner, Türken und Jugoslawen. Etwa 8 000 Mitglieder der Gemeinschaft sind französischer Abstammung. Berufsmäßig handelt es sich überwiegend um Arbeiter. Es gibt auch Studenten, vor allem aus Marokko. Eine besondere Gruppe bilden die Kriegsveteranen des Zweiten Weltkriegs.
Die größten Probleme der Gemeinschaft sind die mangelnde Bildung, das fehlende Selbstvertrauen, die kulturelle Unverträglichkeit mit der Umgebung, die wirtschaftliche Unausgeglichenheit innerhalb der Muslime und in vielen Fällen die bittere Armut.
Die Jugendlichen vergessen zusehends ihre Muttersprache. Die religiösen Inhalte, die in Wochenendkursen vermittelt werde, bewirken nicht selten ein Spannungsverhältnis zur Alltagswirklichkeit. Zeitgemäße religiöse Erziehung fehlt völlig. Für ein neues, den Erkenntnissen der modernen Wissenschaften angepaßtes Koran-und Traditionsverständnis plädiert Professor Muhammad Arkoun. Auf einer volkstümlicheren Ebene laufen die modernistischen Bemühungen des algerischen Professors 'All Meräd. Er setzt sich über eine Islamisch-christliche Vereinigung für den interreligiösen Dialog ein. Ähnliche Ziele verfolgen noch einige andere Vereinigungen, an ihrer Spitze die internationale Organisation „Islam und der Westen“.
Die zentrale Moschee von Paris mit ihren Nebeninstituten wird von einem algerischen Gelehrten geleitet. Sie verwaltet den einzigen in Frankreich bestehenden muslimischen Friedhof. Der Islam in Frankreich ist von einem national-und traditionalgebundenen Stammesdenken geprägt. In Paris lebt und wirkt ein Wortführer des rigoristischen Islam, der Inder Muhammad Hamidulläh, dessen Schriften weltweit die Wiederbelebung des Islam gefördert haben.
V. Muslime in Großbritannien
In England haben zwei wichtige muslimische Institutionen ihren Sitz: Islamic Council of Europe und The Islamic Foundation. Dort erscheinen auch zahlreiche religiöse, kulturelle und politische Publikationen des Islam, und zwar nicht allein in englischer Sprache. London ist ein Treffpunkt muslimischer Prominenz. Die Londoner Moschee am Regent Park ist die größte in Europa.
Die englische Gesellschaft ist an einer Integration der Muslime insoweit interessiert, als sie von ihnen eine vollkommene Assimilierung erwartet. „The key-word of such discussion usually is assimilation. Assimilation is smetimes interpreted as the complete fusion of the immigrant with the host Community and the complete absorption of the former by the latter.“ Über die Zahl der muslimischen Bevölkerung in England liegen keine amtlichen Angaben vor. Die Schätzungen bewegen sich zwischen 900 000 und 1 500 000. Zweihundert bis dreihundert Organisationen sorgen für die religiöse Betreuung. Ungefähr ebenso viele Gebetsräume stehen zur Verfügung.
Eine der ältesten und aktivsten Organisationen ist die Waltham Forest Islamic Association. Beachtenswerte Arbeit leistet Muslim Educational Trust in London. Dieses Institut betreut mit Hilfe von einem Dutzend Religionslehrern 57 staatliche Schulen und ist dabei, eigene Bildungsanstalten zu gründen. Als Dachverband aller lokalen islamischen Vereinigungen gilt die Union of Muslim Organisations of UK and Eire, die sich für die Einführung des islamischen Familienrechts für die im Land lebenden Muslime einsetzt. Die Organisation vertritt ein antiquiertes Glaubensverständnis und stellt sich jeglichen reformistischen Bemühungen entgegen.
Die Shah-Jehan-Moschee in Woking, Surrey, eine Gründung der Ahmadiyya, die Mitte dieses Jahrhunderts die angesehene Zeitschrift The Islamic Review herausgegeben hat, ist inzwischen inaktiv geworden. Kurz zuvor ist die Zeitschrift einige Male mit dem erweiterten Titel The Islamic Review and the Arabic Affairs erschienen. Die Zeitschrift war viele Jahre ein Kristallisationsort des intellektuellen Islam in Europa. Zwischen den beiden Weltkriegen stand ihr die von S. M. Abdullah, einem indischen Gelehrten, redigierte Berliner Moslemische Revue zur Seite. Von England aus gehen viele kulturelle und religiös-politische Impulse auf die Islamszene des europäischen Kontinents aus. Der Islam-Rat verlegt seine Konferenzen nach Paris und die Islamic Foundation bringt immer mehr Schriften in deutscher Sprache heraus.
In England sind muslimische Studenten aus aller Welt vertreten. Unter der übrigen muslimischen Bevölkerung ist die zypriotisch-türkische Volksgruppe besonders bemerkenswert. Diese Zyprioten haben sich an die englischen Lebensgewohnheiten weitgehend angepaßt. Die Gruppe zählt etwa 40 000 Mitglieder. Die muslimische Jugend in Großbritannien lebt wie überall im europäischen Westen in einer dauernden Spannung zwischen zwei Kulturen. Auch das Empfinden der pakistanischen Mehrheit, daß sie wegen ihrer Hautfarbe, von der englischen Gesellschaft wohl niemals voll akzeptiert wird, hemmt ihren Integrationsprozeß. Dazu tragen auch Rassenunruhen, die im Zuge der wirtschaftlichen Rezession Großbritannien erschüttern, ihren Teil bei. Bemerkenswert ist, daß es in England eine Siedlung englischstämmiger Islam-Bekenner gibt.
Die in Irland lebenden Muslime sind mit jenen Englands organisatorisch verbunden. Ihre Stärke und Bedeutung fallen jedoch — mit Ausnahme einiger Studentengruppen — nicht ins Gewicht. In England ist, ähnlich wie in den Niederlanden, der Schweiz und Frankreich, die Süfi-Bewegung stark. Neben moderneren Süfi-Schulen wie jener des 'Inayat Khan wirkt dort auch der traditionelle Naqsbandt-Orden.
Fast in jedem Jahr wird eine neue islamische Gebetsstätte in England eröffnet. Meist handelt es sich dabei um neuadaptierte profane Objekte oder auch nur Einzelräume. 1978 wurde in London eine von Muslimen gekaufte Synagoge als Moschee adaptiert. Etwa 100 Moscheen sind mit mehr oder weniger reichhaltigen Bibliotheken versehen. Im ganzen Land gibt es mehrere muslimische Friedhöfe. Der innerhalb der Moscheenräume stattfindende Religionsunterricht läuft — im Unterschied zu jenem in Frankreich — vielfach über die ganze Woche. Eine Besonderheit der englischen Moscheenaktivitäten sind die regelmäßigen Lesungen aus anerkannten Traditionssammlungen. Diese werden nach dem Abendgebet vorgenommen. Sie tragen dazu bei. daß das Traditionserbe unreflektiert in die Zukunft weitergetragen wird.
Nicht nur die Vorliebe reicher Persönlichkeiten aus Erdölländem für die Vorzüge des englischen Lebensstils und der darauf begründete Tourismus lassen manche Gelder nach England fließen, die auch islamischen Institutionen zugute kommen; auch der wirtschaftliche Aufstieg einzelner Einwanderer trägt dazu bei, daß die finanzielle Lage der Gemeinden in England wesentlich besser ist als jene der Moscheen in Frankreich. Fast in allen britischen Städten sieht man Geschäfte, die Pakistanern, Indern, zypriotischen Türken oder Bangladeschis gehören. Meistens sind es handwerkliche Kleinbetriebe, Restaurants für orientalische Spezialitäten, Teppichläden und Spezereien.
VI. Muslime in Jugoslawien
Das in Jugoslawien seit 1945 herrschende kommunistische Regime hat vor der Wende im Jahre 1990 religiöse Aktivitäten nur in äußerst begrenztem Rahmen zugelassen. Um zu überleben, mußten sich die Religionsgemeinschaften auf das Wesentliche ihres Auftrags konzentrieren. Der Besuch von muslimischen Theologieschulen (Medressen) durfte erst nach der Beendigung der achtklassigen Grundschule oder der ersten vier Gymnasialklassen erfolgen. Die jungen Menschen kommen so mit der Theologie erst zu einem Zeitpunkt in Berührung, zu dem sie bereits geistig geformt sind. Außerdem ist die Medresse-Ausbildung seit 1982 von früher acht bzw. fünf Jahren auf vier Jahre reduziert worden. Der weitaus überwiegende Teil der Jugend hat überhaupt keine Möglichkeit, sich mit dem Glaubenserbe vertraut zu machen. Die Jugend hat den Kontakt mit der Religion weitgehend verloren. Vor einigen Jahren schrieb die einzige muslimische Zeitung in Jugoslawien „Preporod“: „Wir nähern uns dem Atheismus. Unsere Ausreden, daß die Zeit daran schuld sei, sind nicht akzeptabel. Die Schuld trifft auch jene, die mit der Verkündigung des Islam beauftragt sind. Heute will niemand ein primitives Religionsverständnis gelten lassen. Kein denkender Mensch wird in der Zeit der Kybernetik, der hoch-entwickelten Anthropologie, der Kernphysik und der bewundernswerten technischen Errungenschaften aller Art primitive Deutungsmuster der Welt und des Menschen akzeptieren. Wenn es eine Zeit-widrigkeit in unserem konkreten Dasein gibt, dann ist es eine stockkonservative, unreflektierte Auslegung des Islam.“
Die islamische Tradition wird in Jugoslawien — vielleicht etwas weniger radikal als im benachbarten Bulgarien — von innen und von außen ausgehöhlt. In der östlichen Hälfte des Staates sieht sich der Islam seit einigen Jahren einer Flut von Verdächtigungen und Desavouierungen ausgesetzt. Antidemokratische, antiwestliche und dogmatische Handlungen werden ihm vorgeworfen. Die Angriffe richten sich auf alle Formen des islamisch-religiösen Lebens. Im Kossovo-Gebiet und in Makedonien werden die Mauern, die seit Urzeiten traditionsgemäß die muslimischen Höfe umgeben, gewaltsam abgetragen — ein Vorgehen der lokalen Behörden, das sehr stark an restriktive Maßnahmen gegen einheimische Muslime im mittelalterlichen Ungarn erinnert
Wie in allen kommunistisch regierten Staaten war auch in Jugoslawien bis Anfang 1990 die amtliche Haltung dem Islam gegenüber von der Parteiideologie bestimmt. Sie legte die Grenzen der Tolerierbarkeit fest. Der Soziologe Muhamed Filipovid versuchte, sich über diese Grenzen hinwegzusetzen, indem er Karl Marx in bezug auf den Islam eine Fehlanalyse vorwarf. Nach Filipovi wird in der Dritten Welt die entscheidende revolutionäre Kraft der Zukunft nicht der Kommunismus, sondern der Islam sein.
Die elitären muslimischen Kreise in Jugoslawien sehen im Islam nicht nur eine Religion, sondern auch einen Humanismus besonderer Art. Darin manifestiert sich eine Abgrenzung zum traditionellen Islam. Das traditionalistische Religionsverständnis stößt bei ihnen eher auf Ablehnung. Der größte Teil der Gläubigen folgt einem traditionellen Glaubensverständnis. „Wollte jemand über unsere Mentalität ein Buch schreiben“, beklagt sich über den Habitus dieser Menschen Arif Zuri, „so würde er einen Roman über ein totes Meer, über ein blutloses Totschlägen der Zeit zustandebringen. Die Tage und Jahre ziehen dahin — träge und faul, wie ein schwerer Herbstnebel. Nichts passiert. Der alte Troß zieht durch die Landschaft. Von Geschlecht zu Geschlecht lernen wir unsere Gebete mit meist unverständlichen arabischen Texten. Wir erfahren von Glaubensartikeln, die den Islam ausmachen, und knien mechanisch fünfmal am Tage, indem wir das Gesicht nach Mekka wenden.
Nur wenige von uns verstehen den Korantext. Die Zeit bleibt bei uns stehen. Wir benehmen uns so, als ob es keine andere Weisheit auf der Welt gäbe als jene, die wir geerbt haben. Es herrscht ein eifersüchtiges Wachen über das einst erworbene Wissen. Fast niemand ist daran interessiert, den tieferen Sinn des Islam zu ergründen und die Botschaft des Koran zu erfahren. Niemand fragt sich, ob der eingeschlagene Weg richtig ist. Während alles um uns herum sich ändert, bleiben wir unbeweglich auf ein und demselben historischen Standort stehen. Nichts ist imstande, uns in Bewegung zu setzen. Findet sich jemand, der gegen die Lethargie Stimme erhebt, so werden all unsere verborgenen Ventile geöffnet und der angestaute Galleninhalt wird auf ihn ausgeschüttet. Es fallen schwere Worte. Das ist eine Verhaltensweise, die unsere Ignoranz und unsere Geistesarmut aufdeckt.“
Eines der schwierigsten Probleme der Muslime in Jugoslawien ist es, sich in der modernen, urbanisierten Industriegesellschaft zurechtzufinden. Ein Großteil der traditionellen Lebenspraxis muß aufgegeben werden, weil man sonst mit Mitbürgern nicht verkehren kann. Bisher verwechselte die Masse der Bevölkerung Frömmigkeit mit Ritual; nun beginnen die Menschen zu lernen, Glaube und Frömmigkeit zu verinnerlichen.
Die Aufrufe der religiösen Führung an die Bundesbehörden, den Muslimen in der Armee eine Ernährungsweise gemäß den Vorschriften ihrer Religion zu ermöglichen, werden nicht befolgt. So gibt es seit der demokratischen Wende von 1990 in Jugoslawien weitgehend Meinungs-und Entscheidungsfreiheit, doch zehntausende junge Bürger — jeder fünfte Soldat ist ein Muslim! — dürfen nicht selbst entscheiden, was sie essen wollen. Ihre Ernährungsweise wird für die Dauer des Einsatzes für das Vaterland von oben geregelt. Die Vergewaltigung des Gewissens zählt auf dem Balkan nicht viel.
Obwohl eine der staatstragenden Nationen die „Muslime im nationalen Sinne“ — ein Ersatzname für die Bosniaken islamischen Glaubens — sind, gibt cs keine Institutionen, die mit der Wahrung und Pflege des muslimischen Kulturerbes beauftragt sind. Ganz im Gegenteil: Jede Möglichkeit wird von nationalistischen Kräften ausgenützt, um die islamische Kultur im Lande zu vernichten. Es bewahrheitet sich Grillparzer’s berühmtes Wort: „Von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität.“ Seit dem Kriegsende wurden allein in Mostar vierzehn Moscheen zerstört. In Foa an der Grenze zu Serbien erlitten fünf und in Banjaluka im Norden von Bosnien zehn Moscheen dasselbe Schicksal. Hierbei kommen dieselben Antagonismen zum Tragen, die kurz nach den erfochtenen Siegen über die Türken im 19. Jahrhundert freien Lauf bekamen. Ein Beispiel dafür: 1878 wurde die Stadt Leskovac durch die Serben erobert. Damals hatte diese Stadt acht Moscheen mit sechs Minaretten und zehn Tekes (Exerzitienhäuser der Derwische). Zehn Jahre später waren nur noch drei Moscheen und ein Teke vorhanden. Inzwischen existieren auch diese nicht mehr.
Seit dem Aufkommen homogenisierender nationalistischer Tendenzen in Serbien Ende der achtziger Jahre zeigt sich immer deutlicher, daß ein gewisser Handlungsfreiraum dem Islam nur in den drei westlichen Republiken des jugoslawischen Staatsbundes verblieben ist. In Bosnien hat das Volk, selbst unter den schwierigen Bedingungen der kommunistischen Kulturpolitik, zahlreiche neue Moscheen errichten können. In Zagreb wurde 1988 eine Pracht-moschee mit einer Anzahl von Begleitobjekten eröffnet. Die rasch einsetzende rege kulturelle Tätigkeit dieser Institution scheint die Aktivitäten der leitenden Organe in Sarajevo, wo immer noch regressive Nachwirkungen des Stalinismus spürbar sind, in den Schatten zu stellen.
Die wichtigsten islamischen Erziehungs-und Bildungsanstalten in Europa befinden sich in Sarajevo (Bosnien-Herzegowina). In dieser Republik bilden die Muslime die Mehrheit der Bevölkerung. In Sarajevo wirken neben einer Islamischen theologischen Fakultät noch die 500jährige Gäzl Hüsrew Be^ Medresse mit ihren Knaben-und Mädchenabteilungen und die an alten Handschriftenbeständen reiche Gäzi Hüsrew Beg Bibliothek. Vier weitere Medressen sorgen heute in Europa für die Heran-bildung des theologischen Nachwuchses. Sie befinden sich in Prishtina und Üsküp (Jugoslawien) und in Gümülcine und Iskece (Griechenland). Im Unterschied zu dem 1981 von der Islamischen Weltliga in Mekka gegründeten Imamen-Institut in Brüssel (Belgien), das sich noch immer in einem Experimentierstadium befindet, verfügen diese Anstalten über eine lange Erziehungserfahrung. Diese ist aber in den beiden griechisch-türkischen Medressen ausgesprochen konservativ und veraltet.
VII. Europa und das Menschenrechtsverständnis des Islam
Der Inhalt der islamischen Lehre, wie sie sich selbst versteht, gründet in einer vom Schöpfergott ausgehenden geistigen Botschaft, die zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte, in stärkerer oder schwächerer Form, gegenwärtig war. Dieser Botschaft muß, so glauben die Muslime, schon der erste bewußte Mensch — Adam — begegnet sein. Als naturgegeben ist sie, würde man heute sagen, vielleicht jene Veranlagung des Menschen, die Friedrich Schleirmacher das Gefühl „schlechthiniger" Abhängigkeit genannt hat.
Das arabische Wort islam bedeutet Hingabe oder Hinwendung. Im religiösen Sinne ist das die Hin-wendung an Gott. Der Islam definiert sich selbst als eine Lebens-und Leidbewältigung im Zeichen der Hingabe an Gott. Diese Hingabe ist sowohl jenseits-als auch diesseitsbezogen. Die Frage nach dem Sinn des menschlichen Lebens wird in den konventionellen Katechismen des Islam meist dahin gehend beantwortet, daß der Mensch erschaffen worden sei, um Gott zu dienen. Die Unterwerfung des Geschöpfs unter die Schöpfungsgesetze ist zwar im alltäglichen Leben mehr als augenscheinlich, doch kann das nicht der Sinn seiner Existenz sein. Unter dem Gottesdienst ist daher der bewußte Einsatz für die durch die Offenbarung kundgewordenen humanen Ziele zu verstehen. Der Mensch ist nach dem Koran Statthalter Gottes auf Erden. In diesem Sinne partizipiert er an der Kreativität, die er allerdings unter steter Beachtung der seinem Auftrag angemessenen Verantwortung einzusetzen hat. Seine Handlungsfreiheit ist sittlichen Grenzen unterworfen.
Gott hat den Menschen in der denkbar schönsten Gestalt erschaffen (Koran 90, 4) und ihm darüber hinaus eine natürliche Würde verliehen (17, 70). Deshalb ist er angehalten — aufbauend auf dieser Auszeichnung — den göttlichen Eigenschaften nachzustreben. Es liegt im Bereiche seiner Möglichkeiten, ein vollkommener Mensch (al-insän al-kämil) zu werden. Dennoch ist die Vergöttlichung oder Anbetung des Menschen eine schwere Verirrung. Sie führt zum Verlust des einzigen untrüglichen Lebenskompasses, und das ist in den Augen der Religion Gott allein. Entschiedener als die Theologie will die islamische Philosophie — dies wohl in Anlehnung an Plato — die wichtigsten Determinanten des menschlichen Glücks in dem Streben des Menschen nach Gottähnlichkeit begründet wissen.
Die gläubigen Muslime verstehen die Menschenrechte durch den Islam. Daher kann die Aufklärungsmaxime „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ in ihrem Rechtsdenken schwerlich eine ausschlaggebende Bedeutung haben. Die Selbstverwirklichung des Menschen darf nie bis zum Exzeß geführt werden. An Grundfreiheiten kennt der Islam: Recht auf Gleichheit, Unversehrtheit. Eigentum. Widerstand gegen Unterdrückung, Ausschluß jeglichen Zwanges in der Religion und Entzug des Gehorsams den Behörden gegenüber, wenn von diesen eine Verletzung der göttlichen Gebote oder der sittlichen Grundforderungen betrieben werden sollte. Die Schan’a, das ist der im Mittelalter auf Grund des Koran und der Tradition ausgearbeitete Corpus der islamischen Lebens-und Kultusregeln, hat im besonderen die Aufgabe, fünf grundlegende menschliche Güter zu schützen: Leben, Religion, Familie, Vernunft und Besitz. Innerhalb des staatlichen Rechts kennt die Schan’a u. a. das Recht auf Arbeit, Bildung und soziale Sicherheit.
Eine von der UNESCO gemeinsam mit einer internationalen islamischen Organisation 1981 in Paris veranstaltete Konferenz über die Menschenrechte im Islam fand heraus, daß der Islam zwanzig grundlegende Menschenrechte seinen Gläubigen bewußt gemacht hat. Darunter sind: Recht auf Leben, Freiheit, Schutzrecht vor Aggression und Mißhandlung, Asylrecht, Minderheitenschutz, Glaubensfreiheit (allerdings im Bereich der monotheistischen Glaubenspraxis), soziale Sicherheit und Arbeitsschutz. Die wirtschaftlich Benachteiligten haben nach dem Koran (51, 19) Anspruch auf einen Teil des Vermögens der Gutsituierten oder des Staates. Die vermögenden Gläubigen, ob Männer oder Frauen, sind verpflichtet, im Fastenmonat Ramadan wenigstens 2. 5 Prozent (nach einigen Interpretationsschulen zehn Prozent) ihres Jahresumsatzes zugunsten der Armen abzuführen. Es verdient angemerkt zu werden, daß diese als Frömmigkeitstat geltende Sozial-steuer auch bedürftigen Nichtmuslimen zugeführt werden darf und unter Umständen zugeführt werden muß.
In der islamisch geprägten Dritten Welt gibt es Denkmuster, die das Gerechtigkeitsgefühl des aufgeklärten Menschen und somit auch etwa den Geist der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (European Convention on Human Rights) von 1950 verletzen. Dazu gehört z. B. die Art der Behandlung der Frau im familiären und öffentlichen Leben. Eine mißverständlich für normativ gehaltene indikative Aussage des Koran (4. 34) wird als Begründung dafür verwendet. In der ScharFa, die — völlig zu Unrecht — häufig mit dem Islam per se identifiziert wird, gibt es viele Entlehnungen aus dem altarabischen und dem jüdischen (levitischen) Recht. Aus dem ersten stammt z. B. die Bestrafung des schweren Diebstahls mit Handabhacken; aus dem letzteren die Steinigung für Ehebruch. Mit diesem Rechtserbc müßte es sich so verhalten wie mit dem Recht der hebräischen Bibel, das nach der Ansicht jüdischer Reformer nicht religiös-jüdisch, sondern national-jüdisch ist — nach der Art etwa des preußischen Landrechts, das nicht christlich-religiös, sondern lediglich preußisch war. In der Tat hat die Schar’a im Laufe der Geschichte stets eine sehr flexible Handhabung erfahren. Der Umfang und die Form ihrer Anwendung sind in beträchtlichem Maße von dem jeweiligen Herrscher und dem aktuellen Zustand der Gesellschaft abhängig gewesen. In diesem Sinne stehen dem islamischen Reformismus legitime Anpassungsmöglichkeiten zur Verfügung. Die ewigen Werte wie Gerechtigkeit, Rechtssicherheit, soziale Gesinnung, zwischenmenschliche Solidarität und Barmherzigkeit gegen Mensch und Tier — also lex caritatis — sind im islamischen Sittenkodex ebenso fest verankert wie etwa im Christentum.
Der exzessive Charakter einiger politisch pervertierter Ausformungen des Islam läßt sich schwerlich mit der authentischen Lehre des Islam und seinem Geist in Einklang bringen. So verurteilt der Koran z. B. ganz entschieden jeglichen unberechtigten Übergriff auf das menschliche Leben. In Vers 5, 32 heißt es: „Wer einen Menschen, der sich keines Mordes schuldig gemacht noch Unheil auf der Erde gestiftet hat, tötet, der hat auf sich eine so schwere Schuld geladen, als hätte er die ganze Menschheit getötet.“
Auch die in halbfeudalen oder diktatorischen Gesellschaftssystemen einiger muslimischer Länder praktizierte Unterdrückung der Gedankenfreiheit darf nicht dem Islam, sondern muß einem undifferenzierten Verständnis der religiösen und politischen Autorität angelastet werden. Mehrere Koran-Aussagen sind eindeutig auf die Gedankenfreiheit ausgerichtet. „Geh’ nicht einer Sache nach, von der du kein Wissen hast: Gehör, Gesicht und Verstand — für all das gilt es, sich einmal zu verantworten“ (17, 36) und „Sind die Wissenden auf dieselbe Stufe zu stellen wie die Ignoranten?“ (39, 9).
VII. Das Problem der islamischen Identität in Europa
Das Verharren in zum Teil schon längst überholten patriarchalischen Lebensgewohnheiten wird auf die Dauer im aufgeklärten Europa nicht möglich sein. Die Religion kann ja ohnehin nicht aus solchen Gewohnheiten bestehen. Orientalische Verhaltensweisen und Lebensgewohnheiten, die als fremde Einschübe oder als übernommenes arabisches Erbe im Islam wirken, werden im Sittenkodex des europäischen Muslims kaum ihren Platz beibehalten können. Das Barttragen der Männer, das Kopftuchtragen der Frauen, die Ablehnung von Speisen, die Andersgläubige zubereitet haben (ein absolut koranwidriges Verhalten, soweit Juden oder Christen Küchenmeister sind), die Weigerung der muslimischen Frau, die entgegengestreckte freundschaftliche Hand eines fremden Mannes entgegen-zunehmen, das Spielen mit Rosenkränzen in der Öffentlichkeit und das Demonstriergehabe beim Vollzug von religiösen Pflichten machen wohl keinen Islam aus. Gott ist sicherlich ein diskretes Gebet lieber als ein manifestes, schablonenhaftes. Der Muslim in Europa ist darauf angewiesen, seiner Glaubenspraxis einen Sinn zu geben. Dies um so dringender, als er hier eine stete Beweislast zu tragen hat. Diese Last wird ihn so lange bedrücken, wie es exzessive Verhaltensweisen gibt, die im Namen des Islam — wo immer in der Welt — gesetzt werden.
Geistige Umwälzungen von der Art der Renaissance und der Reformation haben bisher die islamische Welt kaum tangiert, wenn auch die islamische Mystik schon lange vorher eine Verinnerlichung der Religion betrieben hat. Die Aufklärung im Sinne des von Ren^ Descartes entworfenen metaphysischen Dualismus hat im Islam nicht stattgefunden. Die Trennungslinie zwischen den zwei Existenzbereichen — jenem der Seele und jenem der sichtbaren Wirklichkeit — ist infolgedessen im Islam wie übrigens auch im Judentum schwach ausgeprägt geblieben. Die mittelalterliche jüdische Philosophie ist — was nur Kennern bekannt ist — auf dem interpretierenden Werk islamischer Gelehrter begründet worden, wodurch die erwähnte Einheitlichkeit erklärlich wird. Auch mittels derjüdischen Philosophie ist der Islam in Kontakt zu Europa getreten. Ein Muslim, der in der westlichen Welt von heute lebt, setzt sich wegen seines Bekenntnisses keinerlei Gefahren aus. Ganz im Gegenteil: Er hat vielfach bessere Möglichkeiten, sich religiös zu artikulieren als in den Stammländern des Islam. Er kann sich z. B.der Rede-und Pressefreiheit bedienen. Niemand hindert ihn an der Ausübung des Kultes. Er könnte ein Netz von wirksamen Sozialanstalten oder Organisationen von der Art einer muslimischen „Caritas“ im Westen aufbauen, ohne daß die Obrigkeit einschreiten würde.
Einer kontinuierlichen Fortdauer der islamischen Identität im Westen stellt sich vor allem das unbefriedigende, den Bedingungen der neuen Umwelt nicht angemessene Glaubensverständnis entgegen. Unter dem Begriff des Islam werden veraltete Denkmodelle und Strukturen, die gar nicht zum Wesenskern der Lehre gehören, sondern lediglich Reste eines alten orientalischen Kulturgutes sind, verstanden. Die Gläubigen, die so rückwärtsgewandt sind, machen sich zu Gefangenen einer einzigen. beklemmenden Perspektive.
Bei Begegnungen, die die neuzeitlichen Migrationen in aller Welt bewirken, kommen sich Christentum und Islam vielfach in der Weltdeutung, der Denkweise, dem Lebensgefühl und den Wertvorstellungen gegensätzlich vor. Diese Gegensätzlichkeit ist aber nicht sehr alt und schon gar nicht den beiden Religionen inhärent. Sie ist zu einem guten Teil auf die Auswirkungen der Aufklärung auf die Geisteshaltung des modernen Christentums zurückzuführen.
Die Frage, wie sich die Muslime zu den demokratischen Gesellschaftsstrukturen des säkularisierten Europa verhalten werden, ist von entscheidender Bedeutung für ihre Zukunft in diesem Weltteil. Es liegt auf der Hand, daß sie sich aus den hier laufenden demokratischen und emanzipatorischen Prozessen auf die Dauer nicht heraushalten könnten, selbst wenn sie es wollten. Von ihrer Anpassungsfähigkeit, ihrem Anteil an den gemeinsamen Problemen, ihrer Solidarität mit den Mitbürgern anderer Weltanschauungen und von einer Erweiterung ihres religiösen Bewußtseins im Sinne einer Aufnahmebereitschaft der großen geistigen Errungenschaften der Aufklärung hängt weitgehend sowohl ihr persönliches als auch ihr kollektives Wohlergehen ab. Das islamische religiöse Leben muß sich neue Prioritäten zu eigen machen. Nur als eine ständige Aufgabe verstanden, die aus der alltäglichen Wirklichkeit erwächst, vermag sich der Islam im europäischen Westen dauernd anzusiedeln.
Smail Balic, Dr. phil., geb. 1920 in Mostar; Studium der islamischen Theologie (Sarajevo), danach der Islamkunde, Arabistik. Turkologie und Slawistik in Wien, Leipzig und Breslau; bis 1988 Herausgeber der Vierteljahresschrift „Islam und der Westen“. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Kulturgeschichte und zum Islam.
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