Konventionelle Stabilität und Sicherheit in Europa. Truppenreduktionen, Umrüstungen und Wiener VKSE-Konferenz
Heinz Magenheimer
/ 27 Minuten zu lesen
Link kopieren
Zusammenfassung
Die in sicherheitspolitischer und militärischer Hinsicht im Gang befindlichen Maßnahmen in Europa laufen im Grunde genommen auf eine Erhöhung der konventionellen Stabilität hinaus, die sich aber keineswegs nur mit der Festlegung von paritätischen Streilkräfteobergrenzen in Gesamteuropa bzw. in bestimmten Zonen begnügen darf. Die De-facto-Auflösung des Warschauer Paktes, die inneren Schwierigkeiten der sowjetischen Streitkräfte sowie die sowjetischen Truppenabzüge aus Ostmitteleuropa lassen die Suche nach einem neuen Geflecht der sicherheitspolitischen Ost-West-Beziehungen vordringlich erscheinen. Die ständig zunehmende Ausrichtung der Staaten Ostmitteleuropas auf Westeuropa und die EG führt zu neuen politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen; sie wird die traditionelle Ost-West-Konfrontation, militärisch gesehen, in den Hintergrund treten lassen. Unter Abkehr vom bisherigen beiderseitigen Bedrohungsbild rücken neue Gefahren und Herausforderungen aus ganz anderen Weltgegenden in den Mittelpunkt.
I. Einführung
Die am 9. März 1989 in Wien begonnenen „Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa“ (VKSE) haben besonders in ihren ersten drei Runden beachtliche Erfolge gezeitigt, die man in Anbetracht der Ergebnislosigkeit der am 2. Februar 1989 beendeten MBFR-Gespräche über beiderseitige und ausgewogene Truppenreduzierungen kaum für möglich gehalten hätte. Aus Anlaß der seit dem Spätsommer 1989 sich gleichsam überstürzenden Ereignisse in der DDR, in Ostmitteleuropa und auch in der Sowjetunion selbst steht der Beobachter vor dem Erfordernis, einerseits eine sicherheitspolitische Bestandsaufnahme vorzunehmen, die das Lagebild zu einem bestimmten Zeitpunkt widerspiegelt, andererseits vor dem Anhegen, eine kurz-und mittelfristige Entwicklungseinschätzung zu bieten.
Da gewisse Variablen — wie etwa der Transformationsprozeß in der Sowjetunion und die Zukunft des Regimes selbst — nur mit großen „Bandbreiten“ in der Aussage einzuschätzen sind, erscheint es sinnvoller, die einigermaßen festen Größen in der Lage-darstellung bevorzugt zu berücksichtigen. Dazu zählen die vorhandenen und im Abzug befindlichen Streitkräftepotentiale, die Zwischenergebnisse der VKSE, die prinzipiellen Zielsetzungen beider Pakt-gruppen und die bisher erkennbaren Trends in der politischen Ausrichtung der Staaten Ostmitteleuropas.
II. Die Suche nach konventioneller Stabilität in Europa
Der ursprünglich nur von westlicher Seite geprägte Begriff „konventionelle Stabilität" ist Teil eines viel umfassenderen Begriffs der politisch-strategischen Stabilität, wobei ein System umso stabiler ist, wenn es ein Maximum an Friedensfähigkeit mit einem Maximum an Wandlungsfähigkeit vereinen kann. Der Stabilitätswert eines politischen Systems mißt sich also vorrangig am Wandel, den es ertragen kann, ohne in einen militärischen Konflikt zu geraten
In diesem Sinne wird politisch-strategische Stabilität vorwiegend in sicherheitspolitischer Hinsicht verstanden und deckt sich in weiten Teilen mit dem Begriff der „strategischen Stabilität“, die den gesamten Planungs-und Führungskomplex im Hinblick auf die Erreichung eines politischen Ziels zum Inhalt hat. Sie darf keineswegs mit nuklearstrategischer Stabilität verwechselt werden. „Strategische Stabilität“ geht vom Anspruch aus, alle die Sicherheit betreffenden Faktoren zu berücksichtigen, die zwischen den einzelnen Staaten und auch im Inne-ren von Staaten wirken wobei aber dem Aspekt der äußeren Sicherheit der Vorrang eingeräumt wird.
Einen weiteren wichtigen Begriff stellt die „militärische Stabilität“ dar, die praktisch den Wirkungszusammenhang auf operativer Ebene meint und die in Erscheinung tritt, wenn in der Konfrontation zwischen NATO und Warschauer Pakt ein bestimmtes Ausmaß an Unsicherheit für die Erfolgschancen eines Großangriffs von östlicher Seite vorliegt Nach dieser Definition muß sowohl in den Augen der verantwortlichen NATO-Planer als auch aus der Sicht des sowjetischen Generalstabes ein bestimmtes Verhältnis von Potentialen, aber auch von wechselseitigen militärischen Optionen herrschen, um das mit einem Angriff verbundene Maß an Unsicherheit nicht unter eine kritische Grenze fallen zu lassen.
Im Laufe der letzten Jahre kreisten viele Überlegungen um das Ausmaß, die Zusammensetzung (Struktur) und die Qualität desjenigen Militärpotentials, das die jeweils schwächere Partei benötige, um die „Hinlänglichkeit der Verteidigung“ bzw. militärische „Hinlänglichkeit“ schlechthin aufrechtzuerhalten. Die jahrelangen Auseinandersetzungen über Sinn und Zweck der alternativen Verteidigungskonzepte betrafen im Grunde genommen die Frage, wie ein Militärpotential gestaltet werden könne, das bei einem Höchstmaß an Abwehrkraft zugleich ein Höchstmaß an Stabilität in politisch-strategischem Sinne — auch aus der Perspektive des potentiellen Gegners — besitze, das also vertrauensbildend wirke
Zentrales Anliegen der „konventionellen Stabilität“ war und ist somit die Umgliederung und Umrüstung zu konventionellen Streitkräftepotentialen, die „nach Organisation, Struktur, Bewaffnung und Strategie erkennbar zu einer militärischen Aggression unfähig sind“ Sehr bald wurde zudem die Forderung erhoben, daß es nicht nur um die Neustrukturierung und Umrüstung der Streitkräfte auf ihren verschiedenen Ebenen, sondern auch um eine Neuformulierung der Militärdoktrin bzw. Einsatzdoktrin ginge, die mit den nach ihren Zielsetzungen geschaffenen Potentialen übereinstimmen müßte.
Mit einer gewissen Berechtigung war des öfteren zum Ausdruck gekommen, daß es nicht allein genüge, ein ungefähres zahlenmäßiges „Gleichgewicht der Kräfte“ oder gar eine rechnerische Parität zu schaffen, sondern ein „Gleichgewicht der militärischen Optionen“ herzustellen, um die als subjektiv empfundenen jeweiligen Angriffschancen der Gegenseite zu minimalisieren Nicht umsonst konnte man immer wieder das kriegsgeschichtlich bedeutsame Argument vernehmen, wonach Staaten oder Bündnisse mit einer dem Kontrahenten etwa ebenbürtigen oder sogar zahlenmäßig unterlegenen Streitmacht dennoch siegreich geblieben wären. Schon daraus ergibt sich, daß „Gleichgewicht“ bzw. „zahlenmäßige Parität“ einen dem Streben nach Stabilität untergeordneten Zustand darstellt
Ergänzend sei noch auf den Begriff der „Krisenstabilität“ verwiesen, wobei „Krisenstabilität“ im wesentlichen dann vorliegt, wenn keine der Konfliktparteien eine Chance sieht, im Zuge einer krisenhaften Entwicklung mittels eines militärischen Einsatzes einen bedeutsamen Vorteil zu erringen. Dies hängt vor allem mit dem Präemptionsvorteil eines Überraschungsangriffs zusammen, der sowohl die nukleare als auch konventionelle Präemption betrifft. Darunter kann eine umfassende Luftoperation seitens des Warschauer Paktes gegen Westeuropa zum Unterlaufen der „nuklearen Schwelle“ genauso fallen wie Angriffe zu Kriegsbeginn mit überraschend einsetzbaren Waffensystemen, etwa mit Raketenwaffen, gegen das gegnerische Hinterland. Ob allerdings die umstrittene Aufstellung von Pershing-II-Raketen ab Ende 1983 der Krisenstabilität zuwidergelaufen sei muß angesichts der mit einem angenommenen Präemptivangriff gegen diese Raketenziele verbundenen ungeheuren Eskalationsrisiken und Unwägbarkeiten dahingestellt bleiben.
Die zahlreichen Kontroversen um die Vor-und Nachteile der diversen alternativen Verteidigungskonzepte haben trotz aller Unterschiede den Eindruck vermittelt, daß eine eindeutig defensive Ausrichtung, die nicht nur die strategische und operative, sondern auch die taktische Ebene betrifft, nicht erreichbar ist. Eine solche Ausrichtung wäre nur bei Verzicht auf jedes Gegenstoß-und Gegenangriffselement vorstellbar. Da man ein abschließendes Urteil über den offensiven bzw.defensiven Charakter von militärischen Potentialen nicht fällen kann, müssen andere Kriterien herangezogen werden. Dazu zählen z. B. die Berücksichtigung der gegenseitigen Bedrohungseinschätzungen, des politisch-strategischen Rahmens sowie der Verzicht auf „Invasionsfähigkeit“, d. h. auf die Fähigkeit, gegnerischen Raum im operativen Ausmaß zu erobern und auch zeitweise zu halten Letztlich wird viel davon abhängen, ob es gelingt, die „Effizienzhypothese der Verteidigung“, die sich auf der Ebene des Bataillons und des Regiments als stichhaltig erwiesen hat, auch im größeren operativen Rahmen einer positiven Überprüfung zu unterziehen.
Aber selbst unter den genannten Gesichtspunkten kann der Verteidiger noch über ein Potential verfügen, das in den Augen des potentiellen Gegners konventionelle und nukleare Optionen mit hohem Bedrohungscharakter bereithält. Es wurde daher vorgeschlagen, die Streitkräfte in Ausmaß, Gliederung und Ausrüstung so zu gestalten, daß sie nicht mehr imstande wären, der Gegenseite einen existentiellen Schaden auf ihrem Territorium zuzufügen Bei konsequentem Durchdenken dieses Ansatzes kommt man zu dem Schluß, daß hiermit vor allem der Verzicht auf nukleare Optionen einschließlich des nuklearen Ersteinsatzes sowie der Verzicht auf jede Art von Präemptivhandlung eingeschlossen wären — ein gedanklicher Ansatz, der von offizieller NATO-Seite in jüngster Zeit nicht mehr völlig abgelehnt wird. Die gegenwärtig in der Bundeswehr zu erkennende Entwicklung läßt auch den Schluß zu, daß auf Grund der militärischen Schwächungen und Umgliederungen im östlichen Bündnis mit einer Aufwertung der operativen Führung trotz einer der strategischen Defensive verpflichteten Grundhaltung der NATO zu rechnen ist
Eine voll der Defensive verpflichtete Militär-bzw. Einsatzdoktrin sollte somit von folgenden Grundsätzen ausgehen:
1. Territoriale Selbstbeschränkung („Selbstbeschränkungsprinzip“): Alle militärischen Planungen und operativen Zielsetzungen müssen sich auf Handlungen zum Schutz des eigenen Staatsgebietes beschränken; alle militärischen Handlungen (samt Luftkriegsoperationen) dürfen nur der Herstellung des Status quo ante dienen; 2. Verzicht auf den ersten Gebrauch von Waffengewalt („Reaktionsprinzip“): Beschränkung der Kampfhandlungen auf die militärische Reaktion; 3. Verzicht auf die existentielle Schädigung des Gegners („Prinzip der Schadensminimierung“): Jede Maßnahme, die zu einer Eskalation in Reichweite und Waffenwirkung führen kann, soll rein militärischen Erfordernissen unterworfen werden; 4. Ausrichtung des gesamten militärischen Apparates in militärstrategischer, operativer und taktischer Hinsicht auf die Defensive („Richtlinienprinzip“).
Hinsichtlich des letztgenannten Punktes käme z. B. die räumliche „Zerlegung“ der Großverbände unter Trennung der Kampftruppen einerseits, der Kampfunterstützungstruppen und der Logistik (Versorgung) andererseits in Frage, wobei gerade die logistische Kapazität ein wesentliches Merkmal für die Kennzeichnung einer defensiven oder offensiven Ausrichtung der Militärdoktrin darstellt
III. Die Transformation des Warschauer Paktes: Truppenreduktionen, -abzüge, -umgliederungen
Die De-facto-Auflösung des Warschauer Paktes infolge der politischen Umwälzungen seit dem Spätherbst 1989 hat offensichtlich die Frage nach Schaffung struktureller Nichtangriffsfähigkeit in den Hintergrund gedrängt, auch wenn sie ihre Bedeutung grundsätzlich nicht verloren hat. Bereits die Ankündigungen des sowjetischen Generalsekretärs vom 7. Dezember 1988, über einseitige Verringerungen sowjetischer Truppen in den vier westlichen Vorfeldstaaten und die seit dem März 1989 tatsächlich beginnenden Abzüge schufen — gemeinsam mit den grundlegenden Zielsetzungen der VKSE — eine Erwartungshaltung, die zunächst auf die Herstellung zahlenmäßiger Parität bei den wichtigsten militärischen Kenngrößen ausgerichtet war. Die bereits im Mandat für die VKSE vom 10. Januar 1989 formulierten Zielsetzungen sprachen von der „Schaffung eines stabilen und sicheren Gleichgewichts der konventionellen Streitkräfte“ (unter Einschluß der konventionellen Bewaffnung und Ausrüstung) auf niedrigerem Niveau sowie von der „Beseitigung von Ungleichgewichten“. Damit sollte beiden Paktgruppen die „Fähigkeit zur Auslösung von Überraschungsangriffen und zur Einleitung großangelegter offensiver Handlungen“ genommen werden. Als Maßnahmen hierzu schienen u. a. Reduzierungen, Begrenzungen und Redislozierungen (Umgruppierung, Verteilung) von Truppen zweckmäßig
Damit trat zutage, daß sich beide Allianzen mit der Beseitigung von „Invasionsfähigkeit“ zufrieden gaben, d. h. mit der Angriffsfähigkeit in strategisch-operativem Rahmen, mit der Beseitigung der strategischen Überraschung und mit der Herstellung von paritätischen Obergrenzen bei Mannschaften und Hauptwaffensystemen in bestimmten geographischen Zonen. Die besonders in den ersten drei Sessionen erfolgreich verlaufenden Verhandlungen ließen einen Vertragsabschluß noch im Herbst 1990 erreichbar erscheinen. Die Truppenabzugsverträge zwischen Moskau und Prag (26. Februar 1990) bzw. zwischen Moskau und Budapest (10. März 1990) haben allerdings die sicherheitspolitische Lage mit zusätzlicher Dynamik angereichert: Zieht man in Betracht, daß die sowjetischen Streitkräfte in der SFR und Ungarn, die Ende Mai 1990 noch 48 000 bzw. 44 000 Mann betragen haben, vertragsgemäß zur Jahresmitte 1991 nicht mehr in diesen Ländern vorhanden sein werden, so dürfte sich das Problem der Beseitigung von „Invasionsfähigkeit“ endgültig gelöst haben, aber sicherlich nicht in der von Moskau gewünschten Form bzw. Abfolge. Die sowjetische Führung wird zu diesem Zeitpunkt, falls keine unvorhersehbaren dramatischen Ereignisse eintreten, in ihrem Vorfeld nur mehr über die „Westgruppe der Streitkräfte“ verfügen, die angesichts des Bedeutungsverlustes bzw. Auflösung der NVA und der kaum ins Gewicht fallenden „Nordgruppe der Truppen“ in Polen die einzige sowjetische Kräftegruppe in Ostmitteleuropa darstellt, die im operativen Sinne zumindest eingeschränkt angriffsfähig ist. Die noch Mitte der achtziger Jahre in Betracht gezogene Option eines Großangriffes auf Westeuropa allein mit den in den Vorfeld-staaten stationierten sowjetischen Kräftegruppen verliert somit noch mehr an Realitätsnähe.
Das Attribut der eingeschränkten Angriffsfähigkeit beruht nicht zuletzt auf den zahlreichen Mißständen innerhalb der Land-und Luftstreitkräfte der „Westgruppe“ (u. a. sinkende Wehrmoral, zahlreiche Dienstvergehen, Übergriffe der Vorgesetzten, sinkendes Bedrohungsbewußtsein Kann man einer solchen zwar zahlenmäßig beachtlichen Kräfte-gruppe, jedoch ohne Abstützung auf verläßliche Verbündete, ohne Zusammenwirken mit der „Zentralen Gruppe der Truppen“, den gleichen Angriffswert zusprechen, wie es ein intaktes Kräftedispositiv des Warschauer Paktes noch Mitte der achtziger Jahre besessen hat? Läuft nicht ein Festhalten am derzeitigen Stationierungsumfang der „Westgruppe“ in der DDR (ca. 363 000 Mann) vor allem nur darauf hinaus, das letzte militärische „Faustpfand“ im Hinblick auf den VKSE-Vertrag und die Vereinigung Deutschlands nicht aus der Hand zu geben?
Betrachtet man den zahlenmäßigen Umfang der sowjetischen Stationierungstruppen Ende Mai 1990, so ergibt sich folgendes Bild „Westgruppe der Streitkräfte“ (DDR): ca. 363 000 Mann „Nördliche Gruppe der Truppen“ (Polen): ca. 54 000 Mann „Zentrale Gruppe der Truppen“ (CSFR): ca. 48 000 Mann „Südliche Gruppe der Truppen“ (Ungarn): ca. 44 000 Mann Summe: 509 000 Mann Vergleicht man diesen Stand mit dem Streitkräfte-potential vor Beginn der Reduzierungen (insgesamt ca. 583 000 Mann), so ergibt sich eine Verminderung um immerhin 13 Prozent; unter Berücksichtigung des kompletten Abzugs sowjetischer Truppen aus Ungarn und der SFR bis Mitte 1991 und des für 1990 angekündigten Abtransports von ca. 5 000 Mann der „Nordgruppe“ verbleiben (unter Annahme einer unveränderten „Westgruppe“) ab Mitte 1991 voraussichtlich nur mehr 412 000 Mann in Ostmitteleuropa; die Reduktion betrüge somit fast 30 Prozent.
Diese Reduktionen fallen insgesamt noch viel gravierender ins Gewicht, wenn man die z. T. radikalen Verringerungen und Umgliederungen der Streitkräfte in der DDR, in Polen, in der SFR und in Ungarn betrachtet, die man einerseits durchgeführt, andererseits für 1990/91 angekündigt hat. Erst daraus entsteht ein abgerundetes Bild von der Einbuße an militärischem Potential des Warschauer Paktes. Unter die im Gange befindlichen Änderungen fallen die Verminderung der polnischen Streitkräfte auf ca. 300 000 Mann (gegenüber ca. 390 000 Mann 1987), die Umgliederung auf nur mehr sechs „mechanisierte Divisionen“ der Bereitschaftskategorie I, des weiteren die Verringerung der Streitkräfte der ÖSFR auf voraussichtlich 170 000 bis 180 000 Mann Ende 1990 mit einer Substanz von nur fünf Divisionen (darunter nur eine Panzerdivision) der Bereitschaftskategorie I und die laufende Verringerung der ungarischen Streitkräfte auf ca. 75 000 Mann mit nur mehr 15 Kampfbrigaden; eine weitere Reduktion in Ungarn auf ca. 60 000 Mann, 750 Kampfpanzer, 900 Geschütze und 90 Kampfflugzeuge wird angestrebt
Dazu kommen noch die Verkürzungen der Wehr-dienstzeiten auf 18 Monate in Polen (voraussichtlich ab Herbst 1990), auf 18 Monate in der SFR (bereits in Kraft) und auf zwölf Monate in Ungarn (vorgesehen ab 1990/91). In allen diesen Ländern herrscht aus volkswirtschaftlichen Gründen ein anhaltender Druck auf die Streitkräfteführung, Einsparungen im Wehrbudget in großem Umfang vorzunehmen, während Maßnahmen zur Rüstungskonversion mittel-und langfristig Entlastungen zugunsten der zivilen Sektoren bringen sollen. Für Polen wurden z. B. Einsparungen an Verteidigungsausgaben von 16 Prozent im Jahre 1989 gegenüber 1988 bekanntgegeben
Zu den Streitkräften in der DDR sei in Anbetracht der aktuellen Veränderungen nur angemerkt, daß inoffizielle Schätzungen übereinstimmend im Februar/März 1990 von einer Stärke von ca. 90 000 bis 100 000 Mann sprachen, wogegen offiziell Ende Mai die Stärke mit etwa 135 000 Mann angegeben wurde. Der Staatssekretär für Abrüstung nannte am 29. Juni in Wien eine Ist-Stärke von 95 000 Mann Militärpersonal. Die Verminderung der Wehrausgaben soll sich auf 30 Prozent belaufen. Die Wehrdienstdauer beträgt ab Mai 1990 nur mehr zwölf Monate.
IV. Führen die Umgliederungen in den sowjetischen Streitkräften zu einer neuen Bedrohung?
Diverse Informationen betreffen die Änderungen in der Gliederung der sowjetischen und ostmitteleuropäischen Streitkräfte, die man des öfteren als Beleg für den Übergang zur Defensivorientierung im taktisch-operativen Bereich angeführt hat. Der Abzug bzw. die Auflösung von je einem Panzerregiment in den sowjetischen Panzer-und MotSchützendivisionen in den Vorfeldstaaten hat zwar die Zahl der Kampfpanzer je nach Divisionstyp um 18, 4 Prozent bzw. um 39 8 Prozent verringert ein Kriterium für Nichtangriffsfähigkeit liegt jedoch darin nicht. Auch der Übergang zur „Norm" -Division von vier MotSchützenregimentern mit je 40 Kampfpanzern (gemäß Aussage von Marschall Viktor Kulikov in Wien am 29. Mai) mit einem Verzicht auf offensivfähiges Pioniergerät und Kampfhubschrauber kann nur als Indiz für die Verringerung an Stoßkraft dienen. Andererseits erscheint der mögliche Trend, wonach ein vorwiegend mit Kampfschützenpanzern und Selbstfahrlafetten-Artillerie ausgestattetes sowjetisches Heer künftig mehr Angriffsfähigkeit als bisher in Mitteleuropa entfalten könnte, überzeichnet
Damit rückt ein weniger bedrohliches Kampfmittel als der bisher als Hauptbedrohung angesehene Kampfpanzer in den Mittelpunkt der Betrachtung, wogegen ins Treffen geführt werden mag, daß die NATO dagegen leichter Abwehrmaßnahmen ergreifen kann als gegen die Panzerbedrohung und daß es vor allem auf die Organisation und Ausstattung dieser Großverbände ankommen wird, ob man diesen eine höhere Offensivfähigkeit gegenüber Westeuropa als bisher zusprechen kann.
Vor allem aber liegen zahlreiche Indizien vor, wonach sich die sowjetische Volkswirtschaft in der größten Krise ihrer Geschichte befindet, was sich unweigerlich negativ auch auf die Rüstungsindustrie und damit auf die künftige Ausstattung der Streitkräfte auswirkt. Man kann davon ausgehen, daß die Belastung der sowjetischen Volkswirtschaft durch die Wehrausgaben im weitesten Sinne im Laufe der Jahre so enorm gestiegen ist, daß nur mehr radikale Einsparungen im Wehr-und Rüstungsbereich sowie tiefgreifende Umschichtungen der Ressourcen Erfolg versprechen.
Ohne auf die zahlreichen Abhandlungen über die negativen Auswirkungen der sowjetischen Wehr-aufwendungen einzugehen sei nur auf einige Größenrelationen verwiesen: Man nimmt an, daß das sowjetische Bruttoinlandsprodukt (BIP) nur mehr ca. ein Drittel des amerikanischen — bei aller Problematik der Umrechnung — beträgt; rechnet man ca. 280 bis 320 Mrd. Dollar Verteidigungsausgaben für die UdSSR im Jahre 1989 (unter Berücksichtigung der zahlreichen „versteckten“ Ressourcen), so entspräche dies einem Anteil der Wehrausgaben von derzeit ca. 15 Prozent am BIP — ein Wert, der auch von der CIA im Großen und Ganzen als zuverlässig angegeben wird Die entsprechenden Quoten für die USA und die Bundesrepublik betragen ca. 5, 5 Prozent und 2, 5 Prozent am BIP. Die erstmals vorgelegte aufgeschlüsselte Summe der sowjetischen Wehrausgaben für 1989 (77, 3 Mrd. Rubel) liegt zwar bedeutend über den bisher gewohnten Veröffentlichungen, darf aber nur als Gegenwert für die Wehrausgaben im „engeren Sinne“, gelten, die erst dann korrekt überprüft werden können, wenn alle Ressorts ihre verteidigungsrelevanten Budgetansätze offenlegen. Im Juni 1990 nannte der sowjetische Staatspräsident sogar einen Anteil der Wehrausgaben von bis zu 18 Prozent des Volkseinkommens.
Die zahlreichen sonstigen Mißstände der sowjetischen Volkswirtschaft, darunter der rapide Rückgang der Produktivität, das zunehmende Budgetdefizit, das Wachstumstief, in das die Wirtschaft seit etwa Mitte der siebziger Jahre geraten ist, die abnehmende Arbeitsmoral, vor allem die auf eine Katastrophe zusteuernde Versorgungslage und nicht zuletzt die nationalen Erosionserscheinungen lassen einen Modernisierungsschub bei den Streitkräften, selbst bei deutlich reduzierten Beständen, so gut wie ausgeschlossen erscheinen. Die zahlreichen von der Verringerung der Streitkräfte ausgelösten sozialen und psychopolitischen Erscheinungen — so suchen über 160 000 Familien von Offizieren und Unteroffizieren der aufzulösenden Verbände eine Wohnung — lassen kurz-und mittelfristig viel eher auf einen weiteren Bedeutungsverlust der Streitkräfte und auf eine Verschärfung der Sinnkrise schließen.
Nicht umsonst ist seit Ende 1988 eine heftige Kontroverse um die Einführung einer Berufsarmee im Gange; nicht umsonst wird seit Mai 1990 die Gesetzesvorlage zur Einführung eines Wehrersatzdienstes beraten, um den drohenden Zerfall der Streitkräfte durch zentrifugale, nationalistische Tendenzen aufzufangen. Die Ankündigung, eine verkleinerte, dafür aber hochmoderne Armee aufzubauen, die eine höhere Kampfkraft besitze, kann daher in erster Linie nur als Mittel zur leichteren Verträglichkeit des verordneten Schrumpfungsprozesses gegenüber den Militärs gelten. Dazu kommen die hochgespannten Erwartungen, die in den angelaufenen Prozeß der „Rüstungskonversion“ gesetzt werden und deren Erfolg noch keineswegs gesichert ist: Während 1989/90 etwa 40 Prozent der von den Rüstungsbetrieben erzeugten Güter für den zivilen Gebrauch vorgesehen sind, soll dieser Anteil bis 1995 auf 60 Prozent steigen
Schon dieser ambitionierte Umstrukturierungsprozeß macht das Erfordernis einer prinzipiellen, mit Opfern verbundenen Verlagerung der Ressourcen deutlich, so daß von einem künftigen Qualitäts-und Modernisierungsschub in den Streitkräften höchstens in einigen wenigen Teilbereichen die Rede sein kann. Die überraschende Ankündigung von Verteidigungsminister Jasov Anfang Juni 1990 — Übergang zu einer 18monatigen Wehrpflicht, später zu einer Armee, die überwiegend aus Berufs-und Zeitsoldaten bestehen soll — zeigt, unter welchem Anpassungsdruck die Streitkräfteführung steht Die angestrebte Reduzierung der Rüstungsproduktion um 19, 5 Prozent bis Ende 1990 spricht ebenfalls eine deutliche Sprache.
Unter diesen Auspizien kann man die Führungsmacht Sowjetunion im Sommer 1990 tatsächlich nur mehr als „Koloß auf tönernen Füßen“ betrachten, und unter diesen Umständen gewinnt die Neuorientierung der noch dem Warschauer Pakt angehörenden Staaten Ostmitteleuropas im Rahmen einer künftigen Architektur Europas neue sicherheitspolitische Qualitäten. Wenn auch inzwischen nur Ungarn offiziell den Austritt aus dem Warschauer Pakt ins Auge faßt, kann man mittelfristig durchaus von einer sich anbahnenden Neukonstellation sprechen. Dem Versuch Anfang Juni 1990, dem War-schauer Pakt eine neue tragende politische Basis zu geben, kommt nur eine retardierende Bedeutung zu. Neben der sich abzeichnenden De-facto-Auflösung des östlichen Bündnisses und dem Bedeutungsverlust des COMECON ist auch die völkerrechtliche Möglichkeit eines Außerkrafttretens auf Grund des Eintritts von auflösenden Bedingungen vorstellbar. In erster Linie kommt hier das Rechts-institut des „Wegfalls der Geschäftsgrundlage“ („clausula rebus sic stantibus“) in Betracht
Die Ereignisse in der Sowjetunion, insbesondere die Ergebnisse des XXVIII. Parteitages (2. bis 13. Juli), die eine wesentliche Veränderung in der Zusammensetzung des Zentralkomitees und des Politbüros brachten, aber auch der neuerliche Streik der Bergarbeiter im Donbass zeigten, welcher Zerreißprobe das sowjetische Imperium entgegengeht. Die Versorgungskrise und die Abspaltungsbewegung der einzelnen Nationalitäten, nicht zuletzt die blutigen Ausschreitungen in Tadschikistan und Usbekistan im Juni 1990 haben solche Ausmaße erreicht, daß die Führungsspitze immer mehr von der katastrophalen Entwicklung im Innern in Anspruch genommen wird; somit setzt sich fast zwangsläufig der Machtverfall in den auswärtigen Beziehungen fort. Die Äußerung Gorbatschows vom 13. Juli, an der Schwelle zu einem Mehrparteiensystem zu stehen, bietet noch keine Gewähr für die Einführung eines Wirtschaftssystems nach westlichem Muster. Die Eingeständnisse des Verteidigungsministers über tiefgreifende Mißstände in der Armee verdeutlichen u. a., wieweit diese von der Krise der Partei betroffen ist, wobei man sich noch immer weigert, den Forderungen nachzugeben, die den völligen Verzicht auf den Einfluß der KPdSU in den Streitkräften zum Inhalt haben 28a).
Selbst wenn man an einer stark verminderten weiteren Lebensfähigkeit des Warschauer Paktes festhält, so erscheint eine solche nur auf Grund einer vollen Entscheidungsfreiheit der einzelnen Mitglieder denkbar Bei Einräumung einer solchen Ent-scheidungsfreiheit ist aber viel eher mit einer noch rascheren Hinwendung dieser Staaten in Richtung EG bzw. zu einem Status der Neutralität zu rechnen. Wenn daher von manchen Beobachtern der Machtverfall des östlichen Bündnisses unter Hinweis auf eine zu befürchtende Destabilisierung Osteuropas bedauert wird, so kann dem nur entgegnet werden, daß es keineswegs im Sinne der NATO gewesen ist, sich mit der militärischen Stärke der Gegenseite und den damit verbundenen, letztlich aggressiven Intentionen auf Dauer abzufinden. Es erscheint also durchaus natürlich, über den politischen und militärischen Machtverfall des sowjetischen Imperiums — mit der Folge der demokratischen Öffnung — mehr Genugtuung zu zeigen, als dies in der Öffentlichkeit des Westens zumeist geschieht
Die bequeme Gewöhnung an einen nunmehr seit 35 Jahren bestehenden Zustand sollte nicht vergessen machen, daß die NATO immer wieder die bedrohliche konventionelle und nukleare Überlegenheit des östlichen Bündnisses betont hat. Sollte man gar am Ende das Schrumpfen bzw. das Verschwinden dieser Bedrohlichkeit unter Hinweis auf eventuelle Unwägbarkeiten als neue Bedrohung empfinden? Sollte man nicht besser daran gehen, aus der „sicherheitspolitischen Konkursmasse“ tragbare Elemente für ein künftiges besseres „gemeinsames Haus“ zu gewinnen?
V. Die Truppenabbauverhandlungen und die Suche nach Verbesserung der Sicherheit in Europa
Der gegenwärtige Stand der „Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa“ (VKSE oder auch CFE: Conventional Forces in Europe) ist von weitgehender Einigung in grundsätzlichen Fragen, aber auch vom Dissens in schwierigen Einzelheiten gekennzeichnet. Zu den grundsätzlichen Konsensbereichen zählt die Absicht, die konventionelle Stabilität und Sicherheit in Europa zu erhöhen, die „Invasionsfähigkeit“ und die Fähigkeit zur strategisch-operativen Überraschung zu beseitigen. Auch das Bestreben, langfristig zu einer Defensiv
Orientierung der Militärdoktrinen und auch bei den Großverbänden zu gelangen, ist nicht umstritten. Seit dem 14. Dezember 1989 liegen die Vertragsentwürfe beider Paktgruppen vor Übereinstimmung herrscht bei der Festlegung einer zahlenmäßigen Obergrenze bei Kampfpanzern mit je 20 000 pro Bündnis — davon je 16 000 in aktiven Verbänden — im Gesamtraum des Mandatsgebietes (Europa zwischen dem Atlantik und dem Ural-Fluß unter Einschluß der Atlantikinseln, jedoch unter Aussparung des Südostteils der Türkei). Des weiteren herrschte zeitweise Konsens bei den gepanzerten Gefechtsfahrzeugen („Armoured combat vehicles") mit je 28 000 pro Bündnis, von denen nur je 12 000 zur Unterkategorie der Schützenpanzer zählen sollten. Allerdings kreisten die Differenzen um die Subsumtion der sogenannten „leichten Panzer“, die auf Vorschlag der sowjetischen Seite den „Kampfpanzern“ zugerechnet werden sollten, da man ihnen in mancher Hinsicht eine ähnliche Kampfkraft wie den Kampfpanzem zuschrieb, und man außerdem argwöhnte, daß die NATO im Falle einer Ausklammerung dieser Unterkategorie künftig eine unangenehme zahlenmäßige Überlegenheit in diesem Bereich erlangen könnte.
Die NATO-Staaten haben daher schon am 12. Dezember 1989 einen Ergänzungsvorschlag unterbreitet, wonach die Obergrenze von „gepanzerten Gefechtsfahrzeugen“ auf je 30 000 angehoben und dafür die Unterkategorie der „leichten Panzer“ dieser Hauptkategorie unterworfen werden sollte. In der Frage der Kampfpanzerdefinition hat man im Laufe des Frühjahrs 1990 informell weitgehende Überein-stimmung erzielt. Der am 14. Juni 1990 von der polnischen und französischen Delegation präsentierte Kompromißvorschlag legt bei den Kampfpanzem ein Minimalgewicht von 16, 5 t, bei den gepanzerten Gefechtsfahrzeugen eine Obergrenze in Europa von je 30 000 und eine solche für Schützenpanzer und schwere Unterstützungsfahrzeuge von je 18 000 fest; die Zwischenobergrenze für diese Unterstützungsfahrzeuge soll bei je 1 500 liegen. Die endgültige Einigung in der Definition der „Kampfpanzer“ und der „gepanzerten Gefechtsfahrzeuge“ erfolgte schließlich am 27. Juni, womit ein wesentlicher Schritt in Richtung Vertragsabschluß getan wurde
Ein weiterer wichtiger Konsens betrifft die Festlegung der Obergrenze bei den Kampfhubschraubern mit je 1 900 pro Bündnis, obwohl noch keine Übereinstimmung in der Definition dieses Waffensystems erzielt worden ist. Die weitaus größten Schwierigkeiten bereitet jedoch die Ermittlung einer Obergrenze bei den „Kampfflugzeugen“. Sowjetischerseits wurde zwar der Kompromiß eingeräumt, wonach alle Jagdbomber, Erdkampfflugzeuge, Jäger, Aufklärer und ECM-Flugzeuge (für elektronische Stör-und Abwehrmaßnahmen) der „Frontfliegerkräfte“, d. h.der taktischen Fliegerkräfte in den Vorfeldstaaten und in den Militärbezirken, zu berücksichtigen wären; die Abfangjäger der Heimatluftverteidigung wurden anfangs zur Gänze ausgeklammert, da man sie als reine Verteidigungsmittel deklarierte.
Anfang Februar 1990 kam es zu einer teilweisen Einigung: Beide Seiten akzeptierten eine Obergrenze bei „Kampfflugzeugen“ in Europa von je 4 700, wobei gemäß NATO-Intention eine separate Obergrenze von je 500 Jagdflugzeugen zu gelten hätte. In diesem Vorschlag waren auch die mittleren Bomber und die landgestützten Marineflugzeuge eingeschlossen, wogegen die Frage der schweren Bomber einer gesonderten Regelung unterworfen werden sollte. Die sowjetische Seite verlangte hingegen die Konzession einer separaten Obergrenze für die Jagdflugzeuge der Heimatluftverteidigung von 1 500 sowie für ca. 1 600 kampffähige Schulflugzeuge; die offiziellen sowjetischen Angaben sprachen von ca. 1 800 Abfangjägern der Heimatluftverteidigung (PVO).
Im Lichte der sicherheitspolitischen Entwicklung bis zur Jahresmitte 1990 erklärt sich das Beharren der Sowjetunion auf ihren bisherigen Positionen dadurch, daß man nur mehr wenig „Verhandlungsmasse“ besitzt, um die rapiden Veränderungen der strategischen Landkarte in Mitteleuropa auszugleichen: Der seit dem 31. Mai planmäßig beendete Abzug von fast 26 000 Mann, 551 Kampfpanzern und 409 Artilleriegeschützen aus der SFR und der laufende Truppenabzug aus Ungarn dürften ein „Festkrallen“ an den letzten noch bestehenden Forderungen bewirken: So wurde etwa seitens Marschall Kulikovs Ende Mai nochmals die Einbeziehung der Seestreitkräfte samt den seegestützten Marineflugzeugen in die VKSE verlangt, und nicht von ungefähr fordert die sowjetische Delegation in Wien seit Februar 1990 eine „kollektive Obergrenze“ von je 700 000 bis 750 000 Mann in Mitteleuropa unter Einbeziehung sämtlicher NATO-Verbündeten.
Eine Reduktion der sowjetischen und amerikanischen Truppen in Mitteleuropa gemäß der im Februar vereinbarten Obergrenze von je 195 000 Mann würde ein NATO-Potential zulassen, bei dem allein die Kräfte der Bundeswehr (unter den derzeitigen Bedingungen) und der 7. US-Armee zusammen fast schon 690 000 Mann ergäben. Allerdings liegen Entscheidungen vor, daß die Bundeswehr ihren Umfang noch 1990 auf etwa 400 000 Mann durch die Verkürzung der Wehrdienstzeit auf zwölf Monate verringern wird. Der Zivildienst soll künftig nur mehr 15 Monate betragen. Auch von britischer, belgischer und niederländischer Seite bestehen Tendenzen zum Abzug bzw. zur Verringerung der Stationierungstruppen. Demgegenüber kann die Sowjetunion nur mehr die „Westgruppe“ in der DDR und die „Nordgruppe“ in Polen in die Waagschale werfen, da alle Vorfeldstaaten politisch die Annäherung an den Westen suchen. Daher findet man seit dem Spätwinter 1989 immer wieder die sowjetische Forderung nach drastischer Reduzierung der Bundeswehr, nicht zuletzt im Hinblick auf ein zu erwartendes Verschmelzen der Streitkräfte beider deutscher Staaten. Dies alles sind eindeutige Zeichen einer Macht, die aus einer Position der Schwäche heraus versucht, Schadensbegrenzung vorzunehmen und ihre letzten Trümpfe in einen leidlichen Kompromiß umzumünzen.
VI. Bewahrung der Stabilität: Zum Wert oder Unwert einer „Sicherheitspartnerschaft“
Selbst das Gipfeltreffen von Washington hat trotz „atmosphärischer“ Erfolge keine Formel für die Einbettung eines wiedervereinigten Deutschland in das vielbeschworene europäische „Sicherheitssystem“ und für die Errichtung eines „Fangnetzes“ für die UdSSR gefunden (was man auch gar nicht erwartet hatte). Viel eher scheint man einer Entwicklung entgegenzusteuern, die einen fortgesetzten Zerfall des sowjetischen Imperiums, eine dramatische Zunahme der inneren Schwierigkeiten, vor allem eine dramatische Zuspitzung der Nationalitätenkämpfe in der UdSSR nach sich zieht Soll der Westen das Risiko eingehen, dieser kaum von außen beherrschbaren Entwicklung entgegenzuwirken? Welchen Sinn hätten selbst hohe Kredite für einen Staat, dem dies nur hilft, die Agonie des augenblicklichen Zustandes zu verlängern? Worin hegt der Vorteil einer „Sicherheitspartnerschaft“, bei der ein Partner, nämlich Westeuropa, der gebende, der andere Teil allein der nehmende ist. und dies angesichts einer vornehmlich selbstfabrizierten Bedrohung der UdSSR von innen heraus?
Das rasche Einschwenken von führenden Politikern innerhalb der NATO-Staaten seit Ende März 1990 auf einen Modernisierungsverzicht bei den „Lance“ -Raketen sowie die beabsichtigten Verhandlungen über den Abbau von nuklearen Kurzstreckensystemen lassen erkennen, daß man Abschied von Waffen nehmen will, die neben Mitteleuropa nur Staaten Ostmitteleuropas bedrohen können, die keineswegs mehr als „kommunistisch“ anzusprechen sind. Die Überlegungen über den Verzicht auf einen nuklearen „Ersteinsatz“ lassen auf eine Änderung in der NATO-Einsatzdoktrin schließen.
Der NATO-Gipfel in London (5. /6. Juli) hat die bisherigen Tendenzen bestätigt. Man will als wichtigsten Schritt die Vorneverteidigung aufgeben und die Doktrin derart verändern, daß Nuklearwaffen nur mehr die Rolle der „letzten Zuflucht“ spielen. Dies bestätigt nur, daß die Modernisierung der Kurzstreckenraketen endgültig politisch „tot“ ist und daß ein weitgehender Abzug von rund 1 470 atomaren Artilleriegranaten als beschlossene Sache gilt. Allerdings hat man keine Erklärung hinsichtlich eines Verzichts auf den „Ersteinsatz“ abgegeben, wobei die nukleare Abschreckung künftig allein von Flugzeugen und seegestützten Marschflugkörpern übernommen wird. Den Staaten des War-schauer Paktes wurde angeboten, ein gemeinsames Dokument zu unterzeichnen, das den gegenseitigen Gewaltverzicht verkündet, den beide Paktgruppen ohnehin zu früheren Anlässen bereits erklärt haben. Diese Erklärung soll nun allen übrigen KSZE-Staaten zur Unterzeichnung offenstehen, was als entscheidender Schritt zur Überwindung des Blockdenkens gelten darf. Des weiteren wurde dem War-schauer Pakt die Aufnahme ständiger diplomatischer Verbindungen angeboten 343).
Dies alles sind Zeichen einer weitgehenden Entspannungsbereitschaft, wenn auch die NATO in der Frage der Mitgliedschaft eines vereinigten Deutschland im atlantischen Bündnis keine Konzessionen gemacht hat. Nach westlichen Vorstellungen soll die Stärke der gemeinsamen deutschen Streitkräfte im Rahmen eines ersten VKSE-Vertrages bzw. im Rahmen von Folgeverhandlungen geregelt werden, nicht zuletzt deswegen, um den Eindruck einer Singularisierung Deutschlands im Streitkräfteumfang zu vermeiden. Die deutsch-sowjetische Vereinbarung vom 16. Juli bildet hierbei einen wichtigen Baustein im Gewölbe der europäischen Sicherheitsarchitektur: Die Begrenzung der Streitkräfte auf 370 000 Mann, der Verzicht auf eine Ausdehnung des NATO-Dispositivs auf das heutige DDR-Gebiet, solange der Abzug der dortigen sowjetischen Truppen (innerhalb von drei bis vier Jahren) nicht beendet ist, und der Verzicht Deutschlands auf nukleare, biologische und chemische Waffen. Dies alles mag zwar als eine bilaterale Lösung erscheinen; tatsächlich sind die Umrisse dieses Fragenkomplexes schon seit geraumer Zeit sichtbar gewesen. Die einzelnen Punkte bedürfen noch der Einbindung in den KSZE-Verhandlungsprozeß.
Das im Entstehen befindliche Europa sieht sich viel ernsteren Problemen als den bisherigen militärischen Bedrohungen gegenüber, so daß sich auch die NATO offiziell vom Gebrauch des Begriffes „Bedrohungsbild“ zugunsten von „Risikoabschätzung“ distanziert hat. „Sicherheitspartnerschaft“ sollte daher vielmehr den Belastungen Rechnung tragen, die mit dem Drang der Staaten Ostmitteleuropas nach Westeuropa zu tun haben, und darüber hinaus versuchen, jeder Involvierung in den Strudel der Ereignisse in der UdSSR auszuweichen
Da es letztlich wenig aussichtsreich erscheint, einem unhaltbaren Schwebezustand Unterstützung zu verleihen, kann nur die endgültige radikale Absage an den Marxismus-Leninismus in der Sowjetunion mit allen daraus erwachsenden Konsequenzen Erfolg versprechen. In diesem Sinne sieht sich die sowjetische Führung einer alten Welt gegenüber, die nicht sterben will, und einer neuen, die noch nicht lebensfähig ist
Bei der Errichtung der Architektur Europas liegen die Trümpfe eindeutig auf der Seite des Westens. Da selbst von sowjetischer Seite die „Einbindung“ eines vereinigten Deutschland in die NATO seit der Übereinkunft in Moskau und Archys am 16. Juli akzeptiert wird erscheinen die wiederholten Forderungen nach Berücksichtigung der sowjetischen Sicherheitsinteressen taktisch motiviert: Ob nun vertragliche Abmachungen zwischen den beiden Paktgruppen oder bilaterale Verträge zwischen einzelnen Staaten zustande kommen oder nicht, entscheidend wird vielmehr die politische, geistige und wirtschaftliche Anziehungskraft Westeuropas sein. Man kann also durchaus die Einschätzung vertreten, daß es künftig keine deutsche Frage, sondern nur mehr eine sowjetrussische Frage geben wird.
Wenn auch ein Rückfall in den Kalten Krieg nicht völlig ausgeschlossen werden kann, so verlagert sich das Streben nach Bewahrung der „Stabilität“ immer mehr von der sicherheitspolitisch-militärischen auf eine andere Ebene: Werden die Staaten West-und Mitteleuropas die Kraft aufbringen, die mit dem Aufflammen von Nationalismen und Regionalkonflikten in Ost-und Südosteuropa einhergehenden Gefahren einzudämmen? Werden die Staaten West-und Mitteleuropas die Kraft aufbringen, um nicht nur die materiellen, sondern auch die geistigen Herausforderungen zu bewältigen, die mit den Erwartungen in ein neues, besseres und gemeinsames „Haus Europa“ einhergehen? Die Zeitbombe „Einwanderungs-und Asylantenfrage“ tickt lauter als die der militärischen Bedrohung Westeuropas im bisherigen Sinne.
Heinz Magenheimer, Dr. phil., geb. 1943; seit 1972 Mitarbeiter des Instituts für strategische Grundlagenforschung an der Landesverteidigungsakademie Wien; seit 1977 Redaktionsmitglied der Österreichischen Militärzeitschrift; seit 1982 Lehrbeauftragter an der Universität Salzburg. Veröffentlichungen u. a.: Abwehrschlacht an der Weichsel 1945, Freiburg i. Br. 19862; Die Verteidigung Westeuropas. Doktrin, Kräftestand, Einsatzplanung, Koblenz 1986; zahlreiche Zeitschriftenaufsätze und Studien in in-und ausländischen Publikationen zu Themen der Sicherheitspolitik, des Wehrwesens und der Kriegsgeschichte.
Helfen Sie mit, unser Angebot zu verbessern!
Ihre Meinung zählt: Wie nutzen und beurteilen Sie die Angebote der bpb? Das Marktforschungsinstitut Info GmbH führt im Auftrag der bpb eine Umfrage zur Qualität unserer Produkte durch – natürlich vollkommen anonym (Befragungsdauer ca. 20-25 Minuten).