Jürgen W. Falter /Siegfried Schumann /Jürgen Winkler
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Zusammenfassung
Wahlverhalten, d. h. die Beteiligung an einer Wahl und die Stimmabgabe für eine Partei oder einen Kandidaten, wird von der modernen Wahlforschung im allgemeinen mit Hilfe bestimmter psychischer, sozialeroderwirtschaftlich-politischer Merkmale zu erklären versucht Je nach der Betonung der einzelnen Erklärungsfaktoren handelt es sich bei den vorgelegten Erklärungsmodellen um eher soziologische, sozialpsychologische oder nationalökonomisch geprägte Ansätze. Einflüsse der Geographie und des Milieus, die von älteren Erklärungsansätzen des Wahlverhaltens (Andr Siegfried, Rudolf Heberle u. a.) herausgestellt worden sind, spielen dagegen in der modernen Wahlforschung kaum noch eine Rolle. Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf eine Darstellung und Diskussion der für die heutige Forschungspraxis wichtigsten drei Erklärungsmodelle von Wählerverhalten: a) des in den vierziger Jahren in den USA von Paul F. Lazarsfeld u. a. entwickelten soziologischen Erklärungsansatzes sowie seiner von Seymöur Martin Lipset und Stein Rokkan vorgelegten makrosoziologischen Erweiterung; b) des stärker sozialpsychologisch geprägten Ansatzes der Autoren des American Voter mit seiner Einflußtriade von Parteiidentifikation, Kandidaten-und Problemorientierung sowie des auf ihm basierenden Analysemodells der „Normalwahl“ und c) des erstmals von dem amerikanischen Nationalökonomen Anthony Downs formulierten rationalistischen Erklärungsansatzes, der sich stark der Ökonomie entlehnter Argumentationsweisen und Denkmuster bedient. Letzterer ist wohl eher als Ergänzung denn als grundlegende Alternative zu den beiden erstgenannten Erklärungsmodellen anzusehen.
I. Nachwahlspekulationen und wissenschaftliche Erklärungen
Schon am Wahlabend, im Anschluß an die ersten halbwegs stabilen Hochrechnungen, interpretieren Politiker und Journalisten im Fernsehen das aktuelle Wahlergebnis. Dabei handelt es sich nicht um Erklärungen im wissenschaftlichen Sinne, sondern um die üblichen Nachwahlspekulationen über Wählerwille und Wählerauftrag, um die Zurückführung des Wahlergebnisses auf Gewinne und Verluste der Parteien in bestimmten Gebieten und bei sozialen Gruppierungen, auf die Attraktivität der Spitzenkandidaten oder auf die Auswirkung von Wahlkampfslogans und politischen Ereignissen. Allzuhäufig sind derartige Deutungen stärker von den politischen Vorlieben und Abneigungen der jeweiligen Interpreten geprägt als von den verfügbaren Daten und wissenschaftlichen Erkenntnissen.
Ein recht typisches Beispiel solch spekulativer Wahlinterpretation war die Deutung des Ergebnisses der niedersächsischen und nordrhein-westfälisehen Landtagswahlen vom 13. Mai dieses Jahres als Protest, ja als verkapptes Plebiszit gegen Art und Inhalt der von Helmut Kohl betriebenen Wiedervereinigungspolitik. Diese Auslegung erfolgte nahezu unisono in den Massenmedien, obwohl die Stimmenverschiebungen gegenüber den Vorwahlen im Saldo eher gering ausgefallen waren und die SPD in der Summe beider Länder insgesamt sogar mehr Wähler verloren hatte als die CDU. In einer Nachwahlanalyse der Forschungsgruppe Wahlen wurden denn auch keine aussagekräftigen Indizien für den vermuteten Einfluß derartiger gegen das Tempo und die Kosten des Einigungsprozesses gerichteten Wählermotive festgestellt Mit wissenschaftlichen Erklärungen hat eine solche Wahldeutung nach Art der Frau Buchela wenig gemein.
Doch was bezeichnen wir als eine wissenschaftliche Erklärung? Und welche Fragen versucht der Wahl-forscher zu beantworten? Das Erklärungsinteresse der Wahlforschung ist hauptsächlich auf zwei Klas-sen von Ereignissen gerichtet, auf bestimmte Wahlergebnisse und auf das für diese Wahlergebnisse verantwortliche Wählerverhalten Dabei gilt ein Ereignis erst dann als erklärt, wenn es auf geeignete, empirisch bewährte Gesetzmäßigkeiten und sogenannte Randbedingungen zurückgeführt werden kann, wobei die Zurückführung im Idealfall in Form einer logischen Ableitung erfolgt. Im Falle der Niedersachsenwahl von 1990 könnte eine aus der Theorie rationalen Handelns abgeleitete gesetzesartige Aussage beispielsweise lauten: „Je mehr ein Wähler aus der Wiedervereinigung Nachteile befürchtet, desto eher tendiert er dazu, sich von der Partei abzuwenden, die er dafür verantwortlich macht.“ Die Verluste der CDU und die Stimmengewinne der SPD in Niedersachsen wären dann im Sinne der obigen Vermutung erklärt, wenn die in dieser Aussage genannten Randbedingungen tatsächlich vorgelegen hätten, d. h. wenn (a) eine ausreichend große Zahl von CDU-Abwanderern entsprechende Befürchtungen hinsichtlich der Kosten des Einigungsprozesses gehegt hätte und wenn (b)
die CDU von diesen Wählern für die befürchteten Kosten der Wiedervereinigung verantwortlich gemacht worden wäre. Beides sind empirische Aussagen, die sich mittels geeigneter Umfragedaten überprüfen lassen, was aber am Wahlabend nur schwer möglich war und angesichts der unterstellten Evidenz dieser Vermutung auch anscheinend von niemandem als nötig erachtet wurde. Sollte mindestens eine dieser Aussagen nicht zutreffen, wäre die Erklärungshypothese als falsch zurückzuweisen.
Genau dieses aber scheint in Niedersachsen der Fall gewesen zu sein: Weder war unter den CDU-Ab-wanderern die Angst über die vermuteten Kosten der Einheit überdurchschnittlich stark ausgeprägt, noch scheint sie das Hauptmotiv für die Abwanderung dieser Wähler in die Stimmenthaltung oder zur SPD gewesen zu sein. Hinzu kommt, daß der behauptete Zusammenhang auch dann erhalten bleiben muß, wenn man den Einfluß möglicher anderer Faktoren kontrolliert.
In der Praxis der empirischen Wahlforschung findet diese Zurückführung des zu erklärenden Ereignisses (der sog. abhängigen Variablen) auf geeignete Gesetzmäßigkeiten und Randbedingungen fast immer in verkürzter Form statt, indem statistisch überprüft wird, ob die abhängige Variable mit geeigneten Erklärungsfaktoren (den sog. unabhängigen Variablen) systematisch variiert. Auf das Beispiel der Niedersachsenwahl bezogen würde man die Annahme einer Protestwahl gegen die Kosten der Einheit nur dann als bestätigt ansehen, wenn signifikant mehr Personen mit entsprechenden Befürchtungen und Zuschreibungen der politischen Verantwortung von der CDU zur SPD gewechselt als bei der CDU verblieben wären und dieser Zusammenhang auch nach Kontrolle anderer potentieller Einflußfaktoren — wie etwa einer überdurchschnittlichen Unzufriedenheit mit der eigenen wirtschaftlichen Lage oder einem tiefsitzenden Mißfallen über die Skandale der bisherigen Landesregierung — nachweisbar bliebe.
Zur Erklärung von Wählerverhalten werden von der Wahlforschung im allgemeinen zwei Klassen von Bedingungsfaktoren herangezogen: Persönlichkeits-und Umweltfaktoren. Unter ersteren versteht man alle Arten von psychischen Merkmalen wie Einstellungen, Werthaltungen, Verhaltensabsichten, motivationale Bedürfnisse oder tiefsitzende Persönlichkeitszüge, unter letzteren alle außerhalb der Persönlichkeit liegenden sozialen Charakteristika wie Einkommen, Bildung, Wohnort, Gruppenmitgliedschaften oder politische und wirtschaftliche Einflüsse aller Art. Dabei wird üblicherweise davon ausgegangen, daß die Umweltfaktoren das Wahlverhalten des einzelnen nur indirekt, d. h. durch die Persönlichkeitsfaktoren vermittelt, beeinflussen. Aus der Beobachtung, daß viele Personen ungeachtet differierender Persönlichkeitszüge in ähnlich gelagerten sozialen Situationen die gleichen parteipolitischen Vorlieben und Abneigungen entwickeln, wurde schon früh der Schluß gezogen, daß von den Umweltmerkmalen gleichförmige Einflüsse ausgehen, die entsprechende Einstellungsmuster und mit deren Hilfe wiederum politische Verhaltensregelmäßigkeiten erzeugen. Umgekehrt können Personen mit gleicher Konfession, gleichem Sozialstatus oder gleichem Familienstand durchaus sehr unterschiedliche Einstellungen und Verhaltensweisen zeigen. Politische, soziale und psychische Prozesse greifen folglich bei der Bestimmung des Wählerverhaltens ineinander. Die meisten Erklärungsmodelle berücksichtigen das. Sie unterscheiden sich vor allem durch die Rolle, die verschiedene Umwelt-und Persönlichkeitsmerkmale in ihnen einnehmen, ferner durch die Begründungsmethode und durch die Fragen, die innerhalb der Ansätze sinnvoll beantwortet werden können.
II. Der soziologische Erklärungsansatz
Abbildung 2
Tabelle 2: Die Wahlabsicht für CDU/CSU und SPD bei der Bundestagswahl 1987 in Abhängigkeit von der Parteiidentifikation, der Kandidatenorientierung und der Beurteilung politischer Streitfragen (in Prozent) Quelle: FGW-Panel zur Bundestagswahl 1987; 1. Welle.
Tabelle 2: Die Wahlabsicht für CDU/CSU und SPD bei der Bundestagswahl 1987 in Abhängigkeit von der Parteiidentifikation, der Kandidatenorientierung und der Beurteilung politischer Streitfragen (in Prozent) Quelle: FGW-Panel zur Bundestagswahl 1987; 1. Welle.
1. Das mikrosoziologische Erklärungsmodell der Columbiaschule Schon früh arbeitete die empirische Wahlforschung heraus, Parteien Gebieten unterschiedlicher die in Sozialstruktur unterschiedlich erfolgreich waren: Die Unionsparteien weisen noch heute auf dem katholischen Land deutlich günstigere Wahlergebnisse auf als in evangelischen Industrieregionen, die SPD schneidet in Arbeitergemeinden sehr viel besser ab als in landwirtschaftlich geprägten Gebieten. die FDP hat ihre Hochburgen vor allem in städtischen Mittelschichtbezirken und wohlhabenden Randgemeinden der Großstädte und die GRÜNEN erzielen ihre besten Wahlerfolge in den Universitätsstädten. Diese sozialräumliche Verteilung der bundesdeutschen Wählerschaft findet ihre Entsprechung in der unterschiedlichen Affinität sozialer Gruppen zu den Parteien. Auch in anderen Ländern tendieren Wähler je nach Konfession. Kirchenbindung, sozialer oder geographischer Herkunft, Einkommen und Bildung dazu, unterschiedlich abzustimmen. Diese Beobachtung führte Anfang der vierziger Jahre zu der Formulierung eines äußerst einflußreichen Erklärungsmodells, das auch heute noch bei der Beschreibung der Struktur der Wählerschaft und der Erklärung der Stabilität von Wählerverhalten von Bedeutung ist. Es handelt sich um das von Paul F. Lazarsfeld und seinen Mitarbeitern vom Bureau of Applied Social Research der Columbia University vorgelegte, mikrosoziologisch orientierte Erklärungsmodell Die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppierungen mit erkennbaren Wahlnormen, die Kommunikation mit sogenannten Meinungsführern und das politische Klima der nächsten Umgebung sind diesem Ansatz zufolge die entscheidenden Bedingungsfaktoren des Wahlverhaltens. Gleiche Gruppenzugehörigkeit führt tendenziell zu gleichem Wahlverhalten. Das Zusammenwirken der verschiedenen Faktoren versuchten Lazarsfeld und seine Mitarbeiter in einem „Index der politischen Prädisposition“ zu erfassen: Je stärker sich die verschiedenen Gruppenmitgliedschaften des einzelnen im Sinne politischer Homogenität decken, je geringer die Wirkung gegenläufiger Einflüsse, desto wahrscheinlicher geht die Wahlentscheidung in die durch die Gruppennormen vorgegebene Richtung — eine Erkenntnis, die Lazarsfeld zu der viel zitierten Aussage inspirierte, daß das politische Denken und Fühlen der Wähler sozial geprägt sei. Soziale Merkmale bestimmten die politischen Vorlieben der Wähler.
Erworben werden diesem Erklärungsmodell zufolge die Parteibindungen vor allem durch politisehe Sozialisation und Kommunikation mit Meinungsführern, verstärkt und immer wieder aktualisiert durch soziale Kontrolle in Form von Gruppen-druck, Anpassung an die Bedürfnisse und Wünsche der nächsten Umgebung und durch die Tendenz des einzelnen, mit seiner Familie, seinen Freunden und Arbeitskollegen in einem möglichst spannungsfreien Verhältnis zu leben. Unterstützt werde die soziale Determinierung des politischen Verhaltens durch die Tendenz zur selektiven Mediennutzung und einseitigen Wahrnehmung und Verarbeitung politischer Informationen: Die meisten Wähler setzten sich bevorzugt Informationen aus, die in ihr politisches Weltbild paßten. Wo dennoch andere, den eigenen Anschauungen widersprechende Nachrichten aufträten, würden diese häufig im Sinne der eigenen politischen Vorlieben und Abneigungen interpretiert und im Gedächtnis behalten. Aus diesem Grunde beschränke sich der Einfluß von Wahlkämpfen hauptsächlich auf die Aktivierung politischen Interesses, auf die Mobilisierung der jeweiligen Parteianhänger und auf die Verstärkung existierender Prädispositionen. Parteiwechsel während der heißen Wahlkampfphase seien die Ausnahme. Nur wo sich parteipolitisch gegensinnige soziale Einflüsse überkreuzten, wo sich also Wähler unter „cross pressure“ befänden, wie dies etwa in der Bundesrepublik bei zugleich kirchlich und gewerkschaftlich gebundenen katholischen Arbeitern oder bei Mittelstandsangehörigen mit Gewerkschaftsbindung der Fall ist, sei ein häufiger politischer Wechsel zu beobachten. Ganz allgemein zeichne sich die Gruppe der unter cross pressure stehenden Wähler durch inkonsistenteres Wahlverhalten, deutlich geringeres politisches Interesse und eine niedrigere Wahlbeteiligung als der Durchschnitt aus. 2. Zur Sozialstruktur der bundesdeutschen Wählerschaft Solche sozialen Vorprägungen und Überlagerungen von Einflüssen finden sich in der bundesrepublikanischen Wählerschaft noch Anfang der neunziger Jahre wieder. Während heutzutage, anders als in den fünfziger und sechziger Jahren, das Geschlecht kaum noch zwischen den Anhängern der verschiedenen Parteien differenziert existieren mittlerweile zwischen den Altersgruppen teilweise erhebliche Unterschiede im Wahlverhalten. So weist die Union vor allem in der Gruppe der Zwanzig-bis Dreißigjährigen, inzwischen aber auch bei den dreißig-bis vierzigjährigen Wählern enorme Stimmendefizite auf, während sie bei Wählern über fünfzig, vor allem bei Personen über 60 Jahren ein beträchtliches Stimmenplus verzeichnen kann. Die Wählerschaft der GRÜNEN verhält sich hierzu fast genau spiegelbildlich. Auch bei anderen Sozial-merkmalen treten teilweise geradezu dramatische Abweichungen vom Durchschnitt auf: So ist eine überdurchschnittliche Affinität von Wählern mit höherem Bildungsabschluß zur FDP und zu den GRÜNEN festzustellen, tendieren Selbständige und vor allem Landwirte sowie Katholiken und Kirchgänger beider Konfessionen eindeutig zu den beiden Unionsparteien, fühlen sich Facharbeiter und Gewerkschafter stärker zur SPD hingezogen etc.
Interessanter noch als der isolierte Einfluß einzelner Merkmale ist die Überlagerung verschiedener Sozialfaktoren. Denn niemand ist nur Katholik oder Protestant, nur Arbeiter oder Angehöriger der Mittelschicht, sondern gleichzeitig auch Groß-oder Kleinstadtbewohner, Mitglied einer Gewerkschaft oder nicht etc. In Tabelle 1 versuchen wir die Überlagerung einiger Einflußfaktoren des (bundes) deutschen Wählerverhaltens zu erfassen, indem wir die Wähler durch die Kombination verschiedener sozialer Merkmale in einem sogenannten Kontrastgruppenvergleich so gruppieren, daß der Einfluß einer parteipolitisch gleichgerichteten Überlagerung und gegensinnigen Überkreuzung (also 25 Prozent) als im Durchschnitt. Unter denjenigen Katholiken, die häufig zur Kirche gehen, erhielt sie 27 Prozentpunkte mehr (also 59 Prozent), unter denjenigen Nicht-Katholiken, die selten zur Kirche gehen, dagegen 12 Prozentpunkte weniger (also 20 Prozent). Ihren höchsten Wert erreichte die CDU/CSU bei den katholischen, oft zur Kirche gehenden Angehörigen der Mittelschicht ohne Gewerkschaftsbindung, wo sie 32 Prozentpunkte über dem Durchschnitt lag und damit 64 Prozent der Stimmen erhielt. Diese Merkmalskombination wiesen insgesamt 413 (von 645) Befragte auf, was ein hochsignifikantes Ergebnis garantiert.
Legende zu Tabelle 1 Stimmenanteil der Parteien 1989/90; Abweichung vom Gesamtmittelwert in Prozentpunkten; Der Gesamtmittelwert ist unter „Alle“ aufgeführt; Basis: befragte Wahlberechtigte; „Sonntagsfrage“. Unterste Zeile: Fallzahl.
Alle Gesamtgruppe aller Befragten katholisch Katholiken nicht katholisch Nicht-Katholiken Kirchgang häufig Befragte, die häufig zur Kirche gehen;
für Katholiken: jeden Sonntag/fast jeden So.
für Nicht-Katholiken: jeden Sonntag/fast jeden So. /ab und zu Kirchgang selten Befragte, die selten zur Kirche gehen;
für Katholiken: ab und zu/einmal im Jahr/seltener/nie für Nicht-Katholiken: einmal im Jahr/seltener/nie Mittelschicht Mittelschicht (= Nicht-Arbeiter)
Arbeiter Arbeiter Gewerkschaft ja Befragter ist Gewerkschaftsmitglied Gewerkschaft nein Befragter ist kein Gewerkschaftsmitglied verschiedener Sozialfaktoren in den kontrastierenden Gruppen klar erkennbar wird. So wird deutlich, daß in der Bundesrepublik die Konfession vor allem über die Kirchenbindung wirkt: Bei häufig zur Kirche gehenden Wahlberechtigten weisen die beiden Unionsparteien einen Stimmenvorsprung von 27 Prozentpunkten gegenüber ihrem Durchschnittsergebnis bei allen Wahlberechtigten auf, bei selten oder nie zur Kirche gehenden Wählern dagegen nur von einem Prozentpunkt. Gehören die kirchentreuen Katholiken der Mittelschicht an, wächst die überdurchschnittliche Unionsneigung nochmals um drei auf 30 Prozentpunkte; sind diese Wähler jedoch gleichzeitig Mitglied einer Gewerkschaft, sinkt die Affinität zur CDU/CSU um sieben Prozentpunkte, sind sie es nicht, steigt sie bis auf 32 Prozentpunkte. Auf der anderen Seite wird die Wahl der SPD von folgender Faktorenkombination in besonderem Maße begünstigt: Nicht katholisch, selten oder nie zur Kirche, Arbeiter, Gewerkschaftsmitglied. Wo diese Merkmale Zusammentreffen, erreicht die SPD ein um 27 Prozentpunkte über dem Bundesdurchschnitt liegendes Ergebnis. Bei den kleineren Parteien treten dagegen nicht so große Ausschläge nach oben oder unten auf. Dies gilt insbesondere für die Republikaner, die sozial-strukturell im Vergleich zu den anderen politischen Gruppierungen geradezu eine Partei ohne Eigenschaften darstellen. 3. Das makrosoziologische Erklärungsmodell von Lipset und Rokkan Gegen dieses, von den herangezogenen Erklärungsmerkmalen her gesehen klar individualsoziologisch orientierte Modell wurde eingewandt, daß es bei der Auswahl der untersuchten Merkmale im allgemeinen atheoretisch verfahre, indem es prognostischer Fähigkeit den Vorrang vor kausaler Erklärungskraft einräume. Aus diesem Grunde legten in den sechziger Jahren Seymour Martin Lipset und Stein Rokkan die makrosoziologische Cleavage-Theorie des Wahlverhaltens vor, die sozialhistorische und politikgeschichtliche Elemente in den soziologischen Ansatz integriert
Von einer vagen Interessentheorie ausgehend, postulieren sie, daß die Konfliktstruktur einer Gesellschaft die Entwicklung der Parteien bestimmt. Die Sozialstruktur einer Gesellschaft und die institutioneilen Regelungen entschieden dabei über die Größe der Anhängerschaft einer Partei. Die Anzahl der Konflikte und die Art der Koalitionsbildungen zwischen Eliten und sozialen Gruppen beeinflußten die Nachfrage nach Parteien und die Seg-mentierung der Wählerschaft. Koalitionen würden sich dann bilden, wenn eine soziale Gruppe erstmals mobilisiert werde. Langandauernde Koalitionen von politischen Parteien und gesellschaftlichen Großgruppen wie den Gewerkschaften, der katholischen Kirche, bestimmter ethnischer oder sozialer Gruppen etc. nennen sie Cleavages. Diese Koalitionen hätten sich aufgrund tiefgreifender historischer Konflikte im Verlaufe der Nationalstaatsbildung, der Reformation und der Säkularisierung sowie der industriellen und sozialen Revolution herausgebildet. Sie prägten nach Ansicht von Lipset und Rokkan die Parteiensysteme der meisten westlichen Staaten bis in die Gegenwart hinein.
Es lassen sich in ihrem Entwicklungsmodell zwei grundlegende Cleavagetypen unterscheiden, die sich einerseits in Konflikten über ethnische, territoriale und kulturelle, andererseits über sozialökonomische Streitfragen äußern. Konflikte der ersten Art bestehen etwa zwischen nationalem Zentrum und regionaler Peripherie sowie zwischen Nationalstaat und Kirche. Sie betreffen Fragen der kulturellen Assimiliation, des Erziehungswesens und der Integration von Minoritäten. Konflikte der zweiten Art entstehen zwischen Agrar-und Industrieinteressen sowie zwischen Arbeitern und Unternehmern. Konflikte des ersten Typs hängen mit dem Prozeß der Nationenbildung, der territorialen und kulturellen Konsolidierung des Nationalstaates zusammen, solche des zweiten Typs mit dessen Industrialisierung und Modernisierung; sie entstanden im Gefolge der industriellen Revolutionen im 19. und 20. Jahrhundert. Im ersteren Falle wählt man unabhängig von seiner sozialökonomischen Position mit seiner Gemeinde, seiner Sprachgruppe oder seiner Glaubensgemeinschaft und deren Führern. Typische Parteien dieser Art waren in Deutschland etwa die Welfen und Polen als territoriale bzw. ethnische Protestbewegungen oder das Zentrum als katholische Weltanschauungspartei. Im anderen Falle wählt man unabhängig von seinen regionalen, ethnischen und kulturellen Zugehörigkeiten so, wie andere in der gleichen Position auch wählen würden, also sozialistisch als Arbeiter, liberal als Unternehmer oder konservativ als Landbesitzer.
Die beiden Hauptspannungslinien der deutschen Politik sind heute, nachdem die regionalen und ethnischen Konflikte weitestgehend verschwunden sind, die zunächst eher konfessionelle, mittlerweile stärker religiös definierte und die klassenbezogene Spaltung, die beide im 19. Jahrhundert entstanden und aus dem Gegensatz von Staat und katholischer Kirche während des Kulturkampfes einerseits und der Auseinandersetzung zwischen Arbeitern und Unternehmern während der Industrialisierung des Reiches andererseits herrühren. Die CDU/CSU als Nachfolgerin der katholischen Parteien der Weimarer Republik und des Kaiserreiches und die SPD als Partei der deutschen Arbeiterbewegung repräsentieren diese beiden Hauptkonfliktlinien der bundes-republikanischen Gesellschaft
III. Parteiidentifikation, Kandidaten und Streitfragen: das Ann Arbor-Modell
Die Stärke des soziologischen Modells liegt in der Beschreibung und historischen Fundierung der sozialen Korrelate von Parteibindungen. Der Wandel zwischen dicht aufeinanderfolgenden Wahlen dagegen kann vom soziologischen Modell nur unter Zuhilfenahme zusätzlicher Annahmen erklärt werden, indem etwa auf die unterschiedliche Bedeutung bestimmter gruppenspezifischer Normen bei den verschiedenen Wahlen verwiesen wird. Derartige ad hoc-Erklärungen sind jedoch wissenschaftlich unbefriedigend. Als Alternative zum soziologischen Erklärungsansatz Lazarsfelds und seiner Mitarbeiter entwickelten daher in den fünfziger Jahren Angus Campbell, Philip E. Converse, Warren E. Miller und Donald E. Stokes von der University of Michigan in Ann Arbor ein zugleich stärker sozialpsychologisch und politologisch orientiertes Erklärungsmodell, das sich schnell zum führenden, die Diskussion bis heute prägenden Ansatz der empirischen Wahlforschung entwickelte Das Wählerverhalten wird dem Ann Arbor-Modell zufolge durch das Zusammenwirken politisch-institutioneller, sozialökonomischer und psychischer Bedingungsfaktoren verursacht. Der Verursachungsprozeß ist dabei mit einem Trichter zu vergleichen, an dessen engster Stelle, der Wahlentscheidung kausal unmittelbar vorgelagert, die direkten Einflußfaktoren des Wählerverhaltens liegen: die Einstellung des Wäh-lers gegenüber den verschiedenen Kandidaten, den im Wahlkampf umstrittenen Problemen und der Fähigkeit der Parteien und Politiker, diese Probleme zu bewältigen. Diese direkten Einflußfaktoren verbinden das Wahlverhalten mit einer Reihe weiterer, zeitlich vorangehender psychischer und sozialer Faktoren — als wichtigster der Parteiidentifikation, die wiederum von entfernteren, sie strukturierenden Einflußfaktoren wie der Mitgliedschaft in bestimmten sozialen Gruppen, der politischen Prägung durch das Elternhaus etc. abhängen. Die Einflußkette weitet sich immer mehr aus, je weiter man in die Vergangenheit des betreffenden Wählers eindringt und endet, was den einzelnen Wähler angeht, in dessen früher Kindheit.
Die individuelle Wählerentscheidung kann folglich aus der Sicht des Ann Arbor-Modells als eine Funktion gegenwärtiger und vergangener Ereignisse angesehen werden oder, genauer, als eine Resultante aus dem Zusammenspiel von vorgängiger Erfahrung und subjektiver Situationsdeutung. Alle Hintergrundfaktoren mit Ausnahme bestimmter objektiver, handlungsbegrenzender Situationsvariablen sind durch individuelle Wahrnehmung vermittelt. Die subjektive Interpretation sozialökonomischer Faktoren ist demzufolge wichtiger für das Verhalten als deren objektive Beschaffenheit, die Identifikation mit einer sozialen Gruppe bedeutsamer als die tatsächliche Gruppenmitgliedschaft. Einfluß auf die Wahlentscheidung können dabei nach Ansicht von Campbell u. a. nur „persönliche“, d. h. innerhalb des Wahrnehmungsfeldes des einzelnen Wählers liegende, und „politische“, d. h. vom einzelnen Wähler als politikrelevant erachtete Faktoren gewinnen.
Von großer, ja ausschlaggebender Bedeutung für die konkrete Wahlentscheidung ist neben den kurzfristig wirksamen Faktoren der Kandidaten-und Problemorientierung die Parteiidentifikation, worunter eine für gewöhnlich länger andauernde, gefühlsmäßig tief verankerte Bindung des einzelnen an eine bestimmte Partei zu verstehen ist. Als hoch-generalisierte Einstellungsdimension mit — vom Modell her gesehen — längerer Lebensdauer ist die Parteiidentifikation den Kandidaten-und Problemorientierungen zeitlich im allgemeinen vorgelagert; sie kann jedoch umgekehrt von diesen ebenfalls beeinflußt und schließlich auch verändert werden.
Durch diese gefühlsmäßige Parteibindung, die auch als eine Art psychologische Mitgliedschaft in einer Partei verstanden werden kann, wird die Wahrnehmung und Verarbeitung einkommender politischer Informationen beeinflußt, die Bewertung politischer Vorgänge und Kandidaten „gefärbt“ und die Wahlentscheidung des einzelnen geprägt — wenn auch nicht festgelegt, da vom Konzept hier ausdrücklich Abweichungen von der längerfristigen Parteibindung aufgrund kurzfristiger Einflüsse vorgesehen sind. Die Partei, mit deren Zielen, Handlungsweisen und Images man sich identifiziert, dient dabei als eine Art politischer Bezugsgruppe, mit deren Hilfe — ohne allzu hohe Informationskosten — Ordnung in die schier unüberschaubare Vielgestaltigkeit des politischen Raumes gebracht wird. Als Mittel zur Reduktion politischer Komplexität sorgt sie auch bei politisch weniger informierten und weniger interessierten Wählern für ein hohes Maß an längerfristiger Verhaltenskonsistenz. Sie trägt damit potentiell zur Stabilisierung des politischen Systems und zur Immunisierung der Wähler gegenüber extremistischen Strömungen bei.
In Tabelle 2, die wiederum als Kontrastgruppenvergleich aufgebaut ist, wird das Zusammenspiel von Parteiidentifikation, Kandidaten-und Problemorientierung bei der Bundestagswahl 1987 dargestellt. Wie schon in Tabelle 1 erfolgt die Darstellung in Form von sog. Abweichungsprozentpunkten. Es zeigt sich, daß trotz einer starken Korrelation der einzelnen Erklärungsvariablen alle drei Faktoren das Wahlverhalten beeinflussen: Wer sich mit der Union identifiziert, tendiert zwar sehr stark dazu, Kohl als Kanzlerkandidaten sympathischer zu finden als Rau und die CDU/CSU als insgesamt lösungskompetenter zu betrachten als die SPD. Doch gibt es Abweichungen von diesem Muster, die es erlauben, den unterschiedlichen Effekt der drei Komponenten des Modells auf das Wahlverhalten abzuschätzen. So liegt der Anteil der Unionswähler bei denjenigen, die sich mit der CDU oder CSU identifizieren, Kohl sympathischer finden und die Unionsparteien als lösungskompetenter erachten, um 57 Prozentpunkte höher als im Durchschnitt aller Wähler, also bei 95 Prozent, während er bei denen, die zwar mit ihrer Kandidaten-und Problemorientierung zur Union neigen, ohne sich jedoch mit dieser gefühlsmäßig zu identifizieren, bei 71 Prozent, also um „nur“ 33 Prozentpunkte über dem Durchschnitt aller Wähler liegt. Analoge Resultate sind auf der anderen Seite des Kontrastgruppenbaums zu beobachten, wobei allerdings der kombinierte Einfluß von SPD-Partei-bindung, Kandidaten-und Problemorientierung auf das Wahlverhalten etwas geringer gewesen zu sein scheint als im Falle der Union. Auf jeden Fall belegt Tabelle 2, daß die vom Modell geforderten Abweichungen von der längerfristigen Parteibindung aufgrund kurzfristiger Einflüsse auch in der Bundesrepublik auftreten können, obwohl derartige Abweichungen noch stärker als in den USA eine seltene Ausnahme darstellen. Ausgangspunkt des Ann Arbor-Modells ist die Überlegung, daß die meisten Wähler nicht bei jeder Wahl vor einer völlig offenen Entscheidungssituation stehen, sondern längerfristig begründete Vorlieben und Abneigungen gegenüber den zur Wahl stehenden Parteien mitbringen, die gemeinsam mit den jeweils nur für die anstehende Wahl gültigen Kandidaten-und Problemorientierungen die individuelle Wahlentscheidung bestimmen. Wenn bei einer fiktiven Wahl keinerlei kurzfristige politische Einflußfaktoren wirksam wären, dann würde die individuelle Stimmabgabe dem Ann Arbor-Modell zufolge allein von der jeweiligen Parteiidentifikation und von „unpolitischen“ Größen bestimmt. Durch diese Unterscheidung einer längerfristigen, durch die Partei-identifikationbeschriebenen Einflußkomponente und kurzfristiger, auf die zur Wahl stehenden Kandidaten und die jeweils strittigen politischen Probleme bezogener Einflußfaktoren ist es möglich, nicht nur das individuelle Wählerverhalten, sondern auch ein bestimmtes Wahlergebnis in einen durch Langzeiteinflüsse und einen durch kurzfristige Faktoren bestimmten Anteil zu zerlegen und damit den Effekt bestimmter Streitfragen und der Spitzenkandidaten für den Ausgang der untersuchten Wahl quantitativ zu bestimmen. Dies erfolgt im Rahmen der sogenannten Normalwahlanalyse, einem der bislang elegantesten Analyse-modelle von Wählerverhalten überhaupt, das wir aus Raumgründen hier jedoch nicht im einzelnen darstellen können
IV. Die rationalistische Theorie des Wählerverhaltens
1. Der rationalistische Ansatz Im soziologischen Erklärungsansatz und im eher sozialpsychologisch ausgerichteten Ann Arbor-Modell des Wählerverhaltens werden die Ursachen der Wahlentscheidung beim individuellen Wähler gesucht, indem man u. a. auf die Prägung durch Gruppenmitgliedschaften oder auf seine Partei-identifikation und seine Beurteilung von Kandidaten und politischen Streitfragen hinweist. Diese Erklärungsgrößen des Wählerverhaltens werden in den sogenannten rationalistischen Ansätzen als gegeben vorausgesetzt. Rationalistische Ansätze zur Erklärung des Wählerverhaltens beabsichtigen daher auch nicht, etwa die Frage zu beantworten, wie sich der Einfluß der Bewertung einer politischen Streitfrage auf das Wahlverhalten über die Zeit entwickelt oder warum eine Person einen wahrgenommenen Sachverhalt als Problem ansieht, d. h. warum beispielsweise die eine Person tropische Regenwälder schützen möchte, während dies für eine andere Person kein Problem darstellt. Vielmehr besteht das Bestreben darin, politisches Verhalten bei gegebenen und nicht weiter analysierten individuellen Präferenzen als Anpassung an variierende politische Bedingungen, sogenannte situative Restriktionen, zu erklären und vorherzusagen. Es geht also darum, Verhaltensveränderungen als Anpassung an die Veränderungen situativer Bedingungen, also etwa Parteiprogramme, Regierungserfolge etc., zu erklären. Die auf das Wahlverhalten wirkenden Einflüsse werden zunächst nicht unmittelbar beim Wähler selbst gesucht. Allerdings betrachtet man auch im Rahmen des rationalistischen Ansatzes die individuelle Wahlentscheidung als Resultat subjektiver Wahrnehmungen externer situativer Bedingungen.
Auch in methodologischer Hinsicht unterscheiden sich rationalistische und nicht-rationalistische Ansätze zur Erklärung des Wählerverhaltens. So gehen weder Lazarsfeldu. a. noch Campbell u. a. von einer allgemeinen Verhaltenstheorie aus. Vielmehr besteht ihr theoretisches Gebäude aus empirischen Verallgemeinerungen über das Wählerverhalten, die aus Einzelbeobachtungen gewonnen wurden. Demgegenüber benützen die Autoren, die von rationalistischen Ansätzen ausgehen, Methoden der Problemlösung, wie sie bisher insbesondere für Wirtschaftswissenschaftler kennzeichnend waren, indem sie das entscheidungslogische Instrumentarium der modernen Wirtschaftstheorie für die Erklärung und Vorhersage politischer Prozesse anwenden. Bei der rationalistischen Theorie des Wählerverhaltens handelt es sich um eine spezielle Variante einer allgemeinen Theorie rationalen Handelns, deren zentrales Axiom das Rationalitätsprinzip ist. Es postuliert, daß Individuen in einer gegebenen Situation diejenige Verhaltensalternative wählen, von der sie den größten Nutzen erwarten. Zudem wird angenommen, daß die Menschen in der Lage sind, ihre Wünsche und Ansprüche zu ordnen und Verhaltensalternativen entsprechend dieser Präferenzordnung zu bewerten 2. Grundzüge einer rationalistischen Theorie des Wählerverhaltens Der erste, der die Implikationen der Annahme rationalen Wahlverhaltens systematisch untersuchte, war der amerikanische Nationalökonom Anthony Downs In der Downsschen Theorie gibt es zwei Arten von Akteuren: Wähler und Parteien. Das Verhalten dieser Akteure wird durch Annahmen festgelegt, die als Axiome in die Theorie eingehen. Die erste Annahme geht davon aus, daß das Ziel der Parteien darin besteht, Wahlen zu gewinnen, weshalb sie Programme entwickeln, die ihnen helfen sollen, Wählerstimmen zu gewinnen. Die Parteien müssen demzufolge die Präferenzen der Wähler berücksichtigen, wenn sie ihre Stimmen maximieren wollen.
Will eine regierende Partei an der Macht bleiben, so muß sie diejenige Position einnehmen, die den Wünschen der Mehrheit der Wähler entspricht. Die zweite Annahme der Downsschen Theorie ist die, daß sich die Wähler rational verhalten, d. h. durch ihre Wahlentscheidung ihren politischen Nutzen zu maximieren versuchen. Ein Wähler verhält sich dann rational, wenn er für die Partei stimmt, von der er glaubt, daß sie am ehesten seine individuellen Ziele zu realisieren vermag.
Nach Downs fällt der Wähler seine Wahlentscheidung, indem er den Nutzen (d. h. wahrgenommene Vorteile aus staatlichen Leistungen) ermittelt, den ihm jede der in Betracht kommenden konkurrierenden Parteien brächte, wenn sie an die Regierung gelangen würde. Um festzustellen, welche Partei dies ist, stellt er für die Parteien ein Nutzendifferential auf und schätzt die Kosten des Wählens und die Anzahl der Personen, die sich seiner Erwartung nach an der Wahl beteiligen werden. Der Wähler trifft eine Entscheidung, indem er die erwarteten künftigen Leistungen der konkurrierenden Parteien vergleicht. Er überlegt, was die Parteien tun würden, wenn sie an der Regierung wären. Um eine Vorstellung darüber zu haben, was eine Partei in der Zukunft tun wird, vergleicht der Wähler das, was die Regierungspartei in der abgelaufenen Legislaturperiode in seinen Augen getan hat. mit dem, was seiner Meinung nach die Oppositionsparteien getan hätten, wenn sie an der Regierung gewesen wären. Ist sein derart ermitteltes Parteidifferential ungleich Null, d. h. erwartet er, daß eine bestimmte Partei an der Regierung für ihn vorteilhaft ist, so schätzt er, wie knapp der Ausgang der Wahl sein wird. In der Regel wählt er die Partei, von deren Regierungstätigkeit er sich den größten Vorteil verspricht. Ist sein Parteidifferential gleich Null, weil er zwischen den Parteien keinen Unterschied wahrnimmt, so wählt er nicht. In einem Mehrparteiensystem ermittelt der Wähler zudem die Wahlabsichten der anderen Wähler, um so die Chancen der von ihm bevorzugten Partei zu bestimmen. Hat die präferierte Partei keine Chance, alleine die Wahl zu gewinnen, so zieht der rationale Wähler unter bestimmten Bedingungen die Möglichkeit in Betracht, für eine andere Partei als die Partei erster Wahl, also für das „geringste Übel“ zu stimmen, um so entweder seine Partei doch noch an die Macht zu bringen oder um zu verhindern, daß eine von ihm abgelehnte Partei die Wahl gewinnt.
Aufgrund des Umstandes, daß die individuellen Präferenzen der Wähler in der Regel stabiler sind als die Restriktionen, werden in der rationalistischen Theorie des Wählerverhaltens daher Wandlungen im politischen Verhalten durch Änderungen der Restriktionen, insbesondere der wahrgenommenen Verschiebungen der Parteipositionen, erklärt. Wenn sich die Präferenzordnung eines Wählers (z. B. Werthaltungen bzw. Bewertungen politischer Streitfragen oder Kandidaten) nicht ändert und er auch keine Veränderungen der Restriktionen wie z. B. eine Kurskorrektur einer Partei feststellt, ändert sich auch nichts an seiner Leistungsbewertung der Parteien. Eine Person nimmt eine solche neue Abschätzung nur dann vor, wenn sie eine Veränderung des Handlungsraumes wahrnimmt. Entscheidend für die Verwendung des rationalistischen Ansatzes in der empirischen Wahl-forschung ist nun die Identifikation derjenigen Situationsbestandteile, die als Veränderungen des wahrgenommenen Handlungsraumes zu Veränderungen des Wahlverhaltens führen. Eine besondere Rolle fällt dabei wirtschaftlichen Indikatoren wie Inflationsraten, Arbeitslosenzahlen oder Wachstumsraten als Maßstäben erfolgreicher Regierungstätigkeit zu. Dies rührt nicht etwa daher, daß den Individuen allein wirtschaftliche Motive unterstellt würden, sondern vielmehr daher, daß diese Indikatoren besonders gut dokumentiert und leicht meßbar sind. Die Theorie des rationalen Wählerverhaltens geht weiter davon aus, daß Wähler nur über unvollkommene Informationen verfügen, d. h. daß rationale Wähler nur unzulänglich und in der Regel schlecht über die Regierungstätigkeit und ihre Folgen sowie über die Positionen der Parteien unterrichtet sind. Der Wähler ist im allgemeinen unzureichend darüber informiert, welche Mittel geeignet sind, seine politischen Ziele zu erreichen und wie sich die Parteien und die anderen Wähler verhalten werden.
Da nun die Kosten der Informationsbeschaffung über komplexe Zusammenhänge hoch sind, besteht die Tendenz, sich die Informationskosten zu ersparen und die Regierungspartei für ungünstige Entwicklungen verantwortlich zu machen. Um dem Wähler Beurteilungen aufgrund von wenig Informationen zu ermöglichen, bemühen sich die Parteien daher, die Komplexität politischer Zusammenhänge zu reduzieren, indem sie Ideologien bereitstellen.
V. Grenzen der verschiedenen Erklärungsmodelle
Die empirische Wahlforschung hat gezeigt, daß die Theorie rationalen Wählerverhaltens eine ganze Reihe von Phänomenen erklären kann. Dennoch gibt es Vorgänge, die mit der Theorie rationalen Handelns schwer in Einklang zu bringen sind. So kommt die Theorie rationalen Wählerverhaltens beispielsweise zu dem Ergebnis, daß es für einen Wähler rational wäre, sich nicht an der Wahl zu beteiligen. Der Grund ist der, daß der Wähler berücksichtigt, ob seine Stimme das Wahlresultat überhaupt beeinflußt. Ist die Wählerschaft sehr groß, so ist aber die Chance, daß seine Stimme das Wahlergebnis beeinflußt, kaum wahrnehmbar, was Wahlenthaltung zur Folge hat. Tatsächlich jedoch gehen viele Menschen zur Wahl. Dieses Problem hat viele Wissenschaftler beschäftigt. Bis heute ist es jedoch niemandem gelungen, die hohe Wahlbeteiligung in den westlichen Demokratien mit Hilfe der Theorie rationalen Handelns zu erklären Auch kann Downs nicht erklären, warum eine Person eine Partei wählt, die überhaupt keine Chance hat, die Wahl zu gewinnen.
Die im soziologischen Erklärungsansatz und im Ann Arbor-Modell zur Erklärung von Wählerverhalten herangezogenen Größen wie Schichtzugehörigkeit, Konfession oder Parteiidentifikation beeinflussen, wie wir oben gesehen haben, die Präferenzen der Wähler. Die soziologische Theorie geht z. B. davon aus, daß ähnliche soziale Bedingungen ähnliche Präferenzen zur Folge haben und damit auch ähnliches Wählerverhalten hervorgerufen wird. Damit gelingt diesen Theorien unterschiedliches Wahlverhalten auch dann zu erklären, wenn der Handlungsspielraum der einzelnen Wähler gleich ist. Man kann somit festhalten, daß diese Modelle Aspekte des Wählerverhaltens erfassen können, die außerhalb des Erklärungsbereichs der rationalistischen Ansätze liegen. Andererseits blenden die beiden erstgenannten Erklärungsmodelle Veränderungen des Handlungsspielraums der Individuen aus, d. h. sie vermögen nicht, unterschiedliches Wahlverhalten bei unterschiedlichen Restriktionen befriedigend zu erklären Aus dieser Perspektive betrachtet, handelt es sich beim rationalistischen Erklärungsmodell folglich nicht um eine grundlegende Alternative, sondern eher um eine Ergänzung des soziologischen und insbesondere des sozialpsychologischen Ansatzes
Jürgen W. Falter, Dr. rer. pol., geb. 1944; Professor für Politikwissenschaft und Vergleichende Faschismusforschung an der Freien Universität Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen zu den Themenbereichen empirische Wahlforschung, Methodologie der Sozialwissenschaften sowie historische Wahlforschung. Siegfried Schumann, Dr. phil., geb. 1957; Mitarbeiter am DFG-Projekt „Wählerverhalten“; 1984 bis 1988 wiss. Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin, Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung. Veröffentlichungen u. a.: Wahlverhalten und Persönlichkeit, Opladen 1989; Politische Einstellungen und Persönlichkeit. Ein Bericht über empirische Forschungsergebnisse, Frankfurt u. a. 1986. Jürgen Winkler, Diplom-Politologe, geb. 1955; wiss. Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin, Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung. Veröffentlichungen u. a.: Die soziale Basis der sozialistischen Parteien in Deutschland vom Ende des Kaiserreichs bis zur Mitte der Weimarer Republik 1912— 1924, in: Archiv für Sozialgeschichte, XXIX (1989); Zur Entwicklung der FDP bei den Landtagswahlen 1980— 1990, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung, 2 (1990).
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